Das Mädchen mit dem Messer

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Das Mädchen mit dem Messer
Salafismus In Hannover sticht eine 15-jährige Gymnasiastin
einen Bundespolizisten nieder. Vor der Tat erhielten die Behörden
drei Warnhinweise.
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DER SPIEGEL 12 / 2016
Hinterhof, im hannoverschen Stadtteil
Vahrenwald. Er sagt, heute habe er kaum
noch Kontakt zu seiner Schwester und seinem Bruder, aber „damals sind wir alle in
diese Moschee gegangen, haben Arabisch
gelernt und Islamunterricht bekommen“.
In der Nordstadt habe die Familie auch
den Salafisten-Prediger Pierre Vogel kennengelernt, der laut Schouaib „eigentlich
ganz okay war“. Im Internet kursieren Videos, in denen die Grundschülerin Safia
neben Vogel sitzt und den Koran rezitiert.
Safias Eltern trennten sich schon vor
mehreren Jahren. Schouaib wohnt mit seinem Vater nicht weit vom Rest der Familie
entfernt. Der 19-Jährige verweist auf seine
lässige Kleidung, Jeans und Strickmütze.
Mit den radikalen Ideen der Salafisten
„habe ich, wie man sieht, nichts zu tun“,
sagt er.
Anders sein 17-jähriger Bruder Saleh:
Der verteilte kostenlose Korane an Ungläubige bei der Salafisten-Aktion „Lies!“. Er
gilt selbst als überzeugter Salafist. Derzeit
wartet er in einem südtürkischen Gefängnis
auf seine Überstellung nach Deutschland.
Türkische Sicherheitskräfte griffen ihn auf,
als er die Grenze nach Syrien überqueren
wollte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.
Hat Saleh seine kleine Schwester mit
seinen salafistischen Ideen inspiriert?
Erste Ermittlungen ergaben, dass die 15Jährige auch eigene Kontakte zu Terrorverdächtigen pflegte. Sie chattete häufig
mit einem Freund ihres Bruders, einem 19-
QUELLE: FACEBOOK.COM
as Mädchen lehnt sich an eine Brüstung und starrt auf zwei uniformierte Männer. Es trägt ein Kopftuch
und einen hellen Schal, die Polizisten tragen
schusssichere Westen und Pistolen. Ab und
zu geht ein Passant durchs Bild. Ansonsten
passiert in dem Video aus dem Hauptbahnhof Hannover zunächst nichts. Regungslos
steht das Mädchen da, die Männer fest im
Blick, sie sind nur ein paar Schritte entfernt.
Um 17.03 Uhr drehen sich die Polizisten
zu dem Mädchen um. Es folgt eine Szene,
die aussieht wie eine Routinekontrolle.
Plötzlich schnellt ein Arm hoch. Einer der
Männer taumelt rückwärts, hält sich eine
Hand an den Hals. Nach einigen Metern
sackt er auf die Knie und geht zu Boden.
Sein Kollege rangelt mit dem Mädchen.
Später erfährt der verletzte Bundespolizist, dass ein sechs Zentimeter langes
Schälmesser fünf Zentimeter tief in seinen
Hals eingedrungen ist. Nur ein paar Millimeter hätten gefehlt, sagen die Ärzte,
dann wäre der Angriff tödlich gewesen.
Die mit einer Überwachungskamera aufgezeichnete Tat beschäftigt inzwischen die
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Sie hat
das Verfahren übernommen, weil Safia S.
offenbar Kontakte zur Terrororganisation
„Islamischer Staat“ (IS) hatte und nach Syrien reisen wollte. Die Bundesanwälte gehen dem Verdacht nach, dass Safia S. den
Polizisten gezielt angriff. Sie ermitteln wegen der „Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung“. Die Attacke macht die Deutschmarokkanerin
Safia S., 15, zur derzeit jüngsten Terrorverdächtigen in Deutschland.
Die Schülerin ist im salafistischen Milieu
der niedersächsischen Landeshauptstadt
bekannt. Sie unterhielt regen Kontakt zu
Radikalen aus der Szene. Dreimal wiesen
Zeugen aus der Familie und dem Umfeld
des Mädchens die Polizei auf seine Radikalisierung hin. Nahmen die Behörden diese Warnungen nicht ernst genug, weil Safia
ein Mädchen und noch so jung ist?
Bereits als Siebenjährige besuchte Safia
den Deutschsprachigen Islamkreis, einen
Moscheeverein in der Nordstadt von Hannover, der als Treffpunkt religiöser Ultras
bekannt ist. Er wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Safia und ihre beiden
Brüder lernten hier bei den Salafisten eine
mittelalterlich anmutende Auslegung des
Islam kennen.
Safias älterer Bruder Schouaib wohnt
heute mit seinem Vater in einem Haus im
Terrorverdächtige Safia S.
Kontakte zum IS
Deutschland
CHRISTIAN ELSNER HAZ / NP
jährigen Syrer aus dem hannoverschen
Stadtteil Misburg, gegen den die Bundesanwaltschaft ebenfalls wegen Terrorverdachts ermittelt. Er könnte etwas mit den
angeblichen Terrorplänen zu tun haben,
die zur Absage des Fußballländerspiels
Deutschland gegen die Niederlande am
17. November führten.
Der Berufsschüler soll eine zehn Sekunden lange Videosequenz aus dem fast leeren Fußballstadion mit seinem Handy aufgenommen haben. Ein Mann, der eine Ordnerweste trug, ruft darin „Pray for Rakka“,
Bete für Rakka, gemeint ist die inoffizielle
Hauptstadt des IS. Und „al-Daula al-Islamija“, die arabische Selbstbezeichnung des
IS. Am Tag nach dem Terroralarm schreibt
Safia den 19-Jährigen bei WhatsApp an.
Was folgt, sei die typische Kommunikation
zweier islamistisch radikalisierter Personen, notiert ein Beamter.
Am 22. Januar schleicht sich Safia von
zu Hause fort und fliegt vom Flughafen in
Langenhagen nach Istanbul, unbemerkt
von der Polizei.
An diesem Tag schreibt sie erneut an
den 19-jährigen. Zwei Tage lang schicken
sie Nachrichten hin und her. Safia will etwas tun. Sie schreibt, sie beabsichtige
grundsätzlich eine Märtyrertat in Deutschland. Der junge Mann bremst. Sie solle
doch erst einmal davon absehen und nach
Syrien reisen, empfiehlt er. Tatsächlich
geht die Bundesanwaltschaft nach der Analyse von Safias Handydaten davon aus,
dass sie nach Syrien wollte und auch Kontakt zum IS aufnahm.
Insgesamt hat die Polizei in Hannover
drei Hinweise auf das Mädchen erhalten.
Schon Ende November hatte sich die Großmutter gemeldet, weil Safia sich verändert
habe. Das Mädchen weigere sich sogar, bei
ihr in der Wohnung ihr Kopftuch abzulegen, berichtete sie Beamten, die sie zu
Hause besuchten. Sie mache sich Sorgen,
Safia könne sich radikalisieren.
Spurensicherung im Bahnhof Hannover
Fünf Zentimeter tiefe Wunde im Hals
Der zweite Hinweis kommt von der Mutter. Die aus Marokko stammende Hasna
L. meldet sich am Abflugtag ihrer Tochter
bei der Polizei und gibt eine Vermisstenanzeige auf. Sie habe den Verdacht, Safia
sei auf dem Weg nach Syrien, zum IS.
Dann fliegt sie selbst in die Türkei, um
ihre Tochter zurückzuholen.
Vier Tage später kommen Mutter und
Tochter mit Turkish-Airlines-Flug TK 1553
nach Hannover zurück. Nach der Ausweiskontrolle nimmt die Polizei die beiden beiseite, befragt sie. Plötzlich behaupten Mutter und Tochter, ihre Reise sei rein touristischer Natur gewesen, und verweigern die
Aussage.
Noch ein paar Tage später kommt der
dritte Hinweis auf Safia. Diesmal ist es der
Leiter der Käthe-Kollwitz-Schule in Hannover. Er berichtet, das Mädchen habe sich
wohl radikalisiert. Gegenüber Mitschülern
und Lehrern habe die Gymnasiastin ihre
Glaubensrichtung vehement verteidigt.
Hat die Polizei ausreichende Konsequenzen aus diesen Hinweisen gezogen?
Am Dienstag gab die Polizeidirektion
Hannover bekannt, sie werde das intern
überprüfen. Im niedersächsischen Landtag
wollen CDU und FDP einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der sich mit
der Frage befassen soll, ob die Sicherheitsbehörden geschlampt haben. Der parlamentarische Geschäftsführer der CDULandtagsfraktion, Jens Nacke, spricht von
„schweren Versäumnissen“ der niedersächsischen Behörden. „Wir wollen wissen, warum Verfassungsschutz, Staatsschutz und Polizei in diesem Fall nicht
ausreichend kooperiert haben, und vermuten weitere Pannen.“
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius plante, die Altersgrenze, ab der Jugendliche vom Verfassungsschutz beobachtet werden dürfen, von 14 auf 16 Jahre
anzuheben. Nach der Messerattacke zog
der Sozialdemokrat den Vorschlag zurück.
Der Chef des verletzten Beamten, Bundespolizeipräsident Dieter Romann, sagt,
die Tat sei „der erste vorsätzliche islamistische Terrorangriff auf einen uniformierten Polizeibeamten in Deutschland“. Die
Übernahme der Ermittlungen durch die
Bundesanwaltschaft sei „ein gutes Signal
an alle Vollzugsbeamten“.
Safia S. sitzt seit der Attacke in Untersuchungshaft. Sie bestritt in ersten Vernehmungen, dass ihre Tat einen terroristischen
Hintergrund habe. Sie habe zugestochen,
weil sie wütend über die Kontrolle gewesen sei, erzählte sie der Polizei. Ihr Anwalt,
Dirk Schoenian, sagt, man dürfe seine
Mandantin nicht vorverurteilen.
Zunächst hatte die Polizei Schwierigkeiten, die Daten eines zweiten Handys des
Mädchens auszulesen. Inzwischen sei das
Problem jedoch behoben, heißt es. Die
Auswertung läuft.
Hubert Gude
DER SPIEGEL 12 / 2016
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