Islamische Botschaft Nr. 1 Interreligiöser Dialog Grundlage einer friedlichen und gedeihlichen Koexistenz Islamisches Zentrum Hamburg Das qur’anische Prinzip der friedlichen Koexistenz der Religionen von Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami Der 24. Dezember ist der Geburtstag von zwei großen göttlichen Persönlichkeiten, nämlich zum einen der Geburtstag des großen göttlichen Propheten Jesu (Friede sei mit ihm) und zum anderen der Geburtstag des achten Imams von uns Muslimen, ImÁm Ri±Á (Friede sei mit ihm). In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass in einer islamischen Überlieferung von ImÁm Ri±Á berichtet wird, dass der Geburtstag des Messias im Mondmonat ©u-l-QaþdÁ an einem Freitag stattgefunden hat. Deshalb ist der Freitag für uns Muslime ein gesegneter Festtag. Das Zusammentreffen dieser beiden Geburtstage kann zugleich Anlass und Symbol für viele Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum sein und trägt die Botschaft der freundlichen Koexistenz und Freundschaft der Anhänger dieser zwei großen abrahamitischen Religionen. Auch für uns Muslime ist das Weihnachtsfest, das an die Geburt des Messias erinnert, ein Festtag. In Überlieferungen von großen islamischen Autoritäten wird berichtet, dass der Tag, an dem Maria Jesus zur Welt brachte, ein Freitag war. An jenem Tag ist der vertrauenswürdige Gabriel auf die Erde gekommen und hat gesagt, dass es für die Muslime kein wichtigeres Fest gibt als diesen Tag, und dass Gott diesen Tag als einen großartigen Tag bezeichnet hat; und Prophet Muhammad hat diesen Tag zu einem großen Tag für die Muslime erklärt und ihnen gesagt, dass sie diesen Tag als Festtag begehen sollen. Deshalb kann man zum Weihnachtsfest nicht nur den Christen gratulieren, sondern der Geburtstag von Jesus ist auch für uns Muslime ein gesegneter Festtag. Abgesehen davon, dass wir Muslime zwischen uns und dieser Gesellschaft keine Trennung sehen, fühlen wir uns dieser Gesellschaft gegenüber verantwortlich, teilen Freuden und Schwierigkeiten dieser Gesellschaft und empfinden Mitgefühl. Mit den Anhängern der anderen Religionen friedlich zusammenzuleben ist eine der wichtigsten Lehren und Empfehlungen im Qur’Án. Der Islam entstand in einer Umgebung, in der nicht nur 2 Freitagsansprache vom 24.12.2004 viele Religionen präsent waren, sondern wo es auch viele arabische Stämme gab, die Anhänger keiner Religion und ungläubig waren. Aus diesem Grund haben der Islam und die Muslime von Anfang an Erfahrungen für ein friedliches Zusammenleben mit Anhängern verschiedener Religionen und Nichtmuslimen gesammelt. Viele Qur’Ánverse erläutern dieses Grundprinzip der friedlichen Koexistenz im Unterschied zu manchen falschen und unwahren Vorstellungen. Aus qur’Ánischer Sicht basiert die Koexistenz der Menschen miteinander nicht nur auf Gemeinsamkeiten im Glauben und in der Religion. Ethik und Menschenrechte an sich reichen alleine für die Etablierung einer großen menschlichen Gesellschaft und friedlichen und freundschaftlichen Verbindung zwischen den Menschen aus. Der einzige Grund, der die friedliche Koexistenz der Menschen stören kann, ist die Anwendung von Gewalt und die Missachtung der Rechte der Anderen; abgesehen davon ist jeder, gleich welchen Glauben oder welche Überzeugung er hat, und sofern er keine feindlichen Absichten hegt und Anderen nicht schaden will, ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, mit dem man freundlich und fromm umgehen sollte. Der Qur’an formuliert in diesem Zusammenhang sehr klar und deutlich ein grundsätzliches Gesetz und gebietet den Muslimen, mit allen Menschen mit Freundlichkeit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu verfahren, ausgenommen jene Fälle, in denen jemand mit Gewalt die Rechte der anderen beeinträchtigt und andere Menschen verletzt (vgl. Sure al-Mumta½ana, Vers 7). Wenn die Menschen gläubig und Anhänger einer abrahamitischen Religion wie Judentum oder Christentum sind, wird diese Verbindung und Beziehung besser und enger. Die Koexistenz der Menschen und insbesondere die Koexistenz der Anhänger der abrahamitischen Religionen ist aus qur’anischer und islamischer Sicht niemals eine Taktik oder politische Methode, die aus einer Not heraus angewendet wird, sondern es ist ein Prinzip und Ziel, das auf der göttlichen Offenbarung und Lehre basiert. Das Konzept, das der Islam für die Koexistenz der Anhänger der Religionen vorsieht, wird getragen vom Zusammenleben und zwar einem friedlichen Zusammenleben. Es ist folglich kein Konzept, das ein Zusammenle- 3 ben wie z. B. zwischen zwei Nachbarn, die nebeneinander aber nicht miteinander leben, vorsieht. Obwohl im Islam die Unterschiede der Religionen berücksichtigt werden, wird die Koexistenz der Anhänger dieser Religionen betont, und es ist unter keinen Umständen erforderlich, dass man für diese Koexistenz auf seinen Glauben und seine religiöse Überzeugung verzichtet. Aus islamischer und qur’Ánischer Sicht sind die Gemeinsamkeiten der abrahamitischen Religionen vielmehr so zahlreich, tiefgehend und entscheidend, dass für die Bildung einer großen Familie die große Familie der gläubigen Menschen, die an einen Gott glauben viele Elemente zur Verfügung stehen. So sieht das islamische Konzept für eine Koexistenz der Anhänger der Religionen aus. Diese Koexistenz, von der der Islam spricht, basiert nicht auf der Entstehung von zwei Familien nebeneinander bzw. einer Parallelgesellschaft, sondern es ist eine Gesellschaft, die aus unterschiedlichen Elementen und Gliedern besteht und in der die Gläubigen und Anhänger der Religionen ein Glied darstellen. Das steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Anhänger jeder Religion mit ihrer jeweils besonderen gemeinsamen religiösen Tradition eine besondere Beziehung untereinander haben. In diesem Sinne fühlen sich z. B. Muslime, Christen und Juden, die unter sich jeweils eine Gemeinschaft bilden, sich dieser gegenüber verantwortlich fühlen und ihren besonderen religiösen Zeremonien treu sind, gleichzeitig wie die Mitglieder einer Familie, die freundlich und herzlich miteinander umgehen. So hat Prophet Mu½ammad eine Verfassung und ein Gesetz für die Menschen in Medina geschaffen, wo die Mehrheit Muslime waren und die Juden, obwohl sie eine Minderheit darstellten, wie die Muslime als ein wesentliches Glied dieser Gesellschaft angesehen und gezählt wurden, und in der Muslime, Juden und Christen insgesamt zu einer geeinten Gemeinschaft erklärt wurden. D. h. die Anhänger aller Religionen waren unter Bewahrung ihrer Religion, also der Muslim mit seinem Islam, der Christ mit seinem Christentum und der Jude mit seinem Judentum, ein Teil einer größeren Gesellschaft. Es verhielt sich keineswegs so, dass jede Gruppe für sich eine Gesellschaft oder Parallelgesellschaft gegründet hat oder eine von ihnen mit dem Argument des Minderheitenstatus’ von der Gesamtheit 4 der Gesellschaft isoliert worden wäre. Der Prophet des Islam hat die Tatsache, dass die Muslime die Mehrheit bildeten, niemals als ein Argument benutzt, auf dessen Grundlage die Minderheiten wie Christentum und Judentum von der Gesamtheit der Gesellschaft zu trennen wären. Prophet Mu½ammad (s.a.s.) und andere große islamische Autoritäten haben in ihrem gesellschaftlichen Umgang und ihren sozialen nicht den geringsten Unterschied gemacht zwischen einem Muslim, einem Juden oder einem Christ. Dies geschah in einer Zeit, in der die Muslime die gesellschaftliche Mehrheit stellten und Prophet Mu½ammad wie auch andere religiöse Autoritäten mächtig waren. Prophet Mu½ammad und seine Nachfolger, wie z. B. ImÁm þAlÍ (Friede sei mit ihm) haben mit Christen und Juden wie mit Muslimen freundschaftliche und herzliche Beziehungen gehabt und sie sehr respektvoll behandelt. So hat z. B. der Prophet den Leichnamen von religiösen Minderheiten seine Ehre erwiesen und die Trauernden seiner Anteilnahme versichert. ImÁm þAlÍ hat in einer Zeit, da er die absolute politische Macht besaß und viele islamische Gebiete zu seinem Herrschaftsbereich gehörten, einmal eine Reise unternommen, wobei ihn ein Angehöriger einer religiösen Minderheit begleitete. Bei dieser Gelegenheit entstand zwischen diesem Mann und ImÁm þAlÍ eine Freundschaft, so dass an der Stelle, an denen sich ihr Weg trennen sollte und jeder eine andere Richtung einzuschlagen hatte, ImÁm þAlÍ aus Achtung vor dieser Person und als Zeichen seiner Freundschaft diesen Mann einen Teil seines Weges begleitete, bevor er umkehrte und seinen eigenen Weg fortsetzte (s. UÈÚl al-KÁfÍ, II, S. 670.) Es ist selbstverständlich, dass diese Freundlichkeit und Herzlichkeit seitens ImÁm þAlÍs für einen Nichtmuslim auf dieser tiefen inneren Überzeugung gründet, die ihre Wurzel in den islamischen und qur’anischen Lehren hat. Das Konzept der Koexistenz basiert aus Sicht des Islam auf Freundlichkeit und Herzlichkeit, wobei Muslime und Nichtmuslime als Glied einer Familie in einer Gesellschaft verbunden werden. Gleichzeitig darf dieses Zusammenleben jedoch nicht als Nichtbeachtung von Glaubensüberzeugungen und religiösen Vorschriften verstanden werden. Muslime, Christen und Juden können ihrem Glauben und ihren religiösen Werten in einer 5 Gesellschaft treu bleiben, und der Qur’an erwähnt und betont für die Muslime, dass die Praktizierung der islamischen Vorschriften nicht zur Entfernung von der Gesellschaft, Trennung von der Gesamtheit der Gesellschaft und Störung der Beziehungen und herzlichen und freundlichen Verbindungen mit den Anhängern anderer Religionen führen darf. So sind beispielsweise Muslimen manche Speisen und Getränke verboten, wie auch andere Religionen, z. B. das Judentum, derartige Traditionen und Vorschriften kennen. Aber der Qur’Án empfiehlt, dass diese besonderen Vorschriften die Verbindung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen nicht stören und die Freundlichkeit, Herzlichkeit und Einheit in der Gesellschaft nicht angreifen sollen, so dass nicht der Gedanke entsteht, keine Verbindung mit Nichtmuslimen aufzunehmen, die diese Vorschriften nicht haben, um damit dieses Problem zu beseitigen. Grundsätzlich heißt es, dass die Speise der Christen und Juden für die Muslime erlaubt ist und umgekehrt ist die Speise der Muslime auch für jene erlaubt (vg. Sure al-MÁ’ida, Vers 5). Interessant ist im Hinblick auf diesen Vers, dass dieses gegenseitige „füreinander erlaubt sein“ betont wurde. D. h. es wurde betont, dass das Essen von Anhängern der anderen Religionen für die Muslime und umgekehrt das Essen der Muslime für die Anhänger der anderen Religionen jeweils erlaubt ist. Diese Erlaubnis hätte auch nur einseitig ausgesprochen werden können, d. h. dass z. B. die Speise von Christen und Juden für Muslime erlaubt ist; aber der Qur’Án geht darüber hinaus und sagt weiter, dass das Essen von Muslimen für sie auch erlaubt ist. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass den Muslimen Freundlichkeit und Herzlichkeit im Umgang mit Nichtmuslimen nahe gelegt wurde und diese freundliche und herzliche Verbindung gegenseitig sein soll; um diese Gegenseitigkeit zu verdeutlichen erwähnt der Qur’Án, dass die Muslime mit den Christen und Juden essen und umgekehrt die Christen und Juden mit den Muslimen essen sollen. Das verdeutlicht, wie sehr der Qur’Án die Muslime unter Bewahrung ihrer islamischen Identität zur Freundlichkeit und Beziehung mit Nichtmuslimen motiviert. Dies widerlegt den Gedanken, dass Muslim sein und die Praktizierung der islamischen Vorschriften notwendigerweise 6 eine Abtrennung von der Gesamtheit der Gesellschaft und die Gründung einer Parallelgesellschaft erforderlich mache. Mit der Gesamtheit der Gesellschaft und Juden und Christen einen herzlichen Umgang zu pflegen ist eine qur’Ánische Lehre und für einen Muslim notwendig. Es scheint, als bedürfe die menschliche Gesellschaft in unserer Epoche eines Konzeptes der Koexistenz, das Prophet Mu½ammad vor 1500 Jahren, in der Zeit des Mittelalters, geprägt hat, eines Konzeptes, das ungeachtet aller zivilisatorischen und menschenrechtlichen Ansprüche in der heutigen Welt in vielen Fällen nicht nur unberücksichtigt bleibt, sondern in sein genaues Gegenteil verkehrt und so praktiziert wird. Wir hoffen, dass eine Zeit kommen wird, in der allen religiösen Minderheiten, wie z. B. Muslimen, in allen Gesellschaften alle Rechte zugestanden werden und nicht, weil sie Muslime sind und dem muslimischen Glauben angehören, Diskriminierungen erfahren, beschimpft werden oder sich gewissen Hindernissen in der Gesellschaft gegenübersehen. Eine ideale menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Minderheiten als wesentlicher Teil der Gesellschaft gezählt werden und nicht als zweit- oder drittrangig. Mögen wir uns im Sinne der Liebe und Freundschaft, die Jesus für die Menschen gebracht hat, und des Friedens, den Prophet Mu½ammad der Menschheit gebracht hat, und der Freiheit und Spiritualität, die Moses betonte, zur Realisierung einer solchen idealen Gesellschaft engagieren. 7 Neue Strukturen für den Islam in Deutschland Am 26. und 27. Februar 2005 fand in Hamburg ein Seminar statt, an dem die größten islamischen Organisationen aus den verschiedenen deutschen Bundesländern teilnahmen. Im Verlaufe dieser Tagung wurde die Konzeption einer demokratischen Struktur durch Kooperation aller Vereine und islamischen Zentren beraten, auf deren Grundlage die Meinungen und Ansichten der Muslime kundgetan und eine friedliche Koexistenz der Muslime in dieser Gesellschaft ermöglicht werden sollen. Ayatollah S. A. Hosseini Ghaemmaghami, der Imam und Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg, hieß als Vorsitzender der Schura-Hamburg die Gäste willkommen und warf in seiner Eröffnungsrede, die wir nachfolgend im vollständigen Wortlaut dokumentieren, einen konzisen Blick auf die Zukunft der Muslime. Wir sehen uns in dieser Gesellschaft mit einigen objektiven Wahrheiten konfrontiert, und zwar · Die Muslime sind in dieser Gesellschaft präsent. · Die Muslime sind eine Minderheit. · Die Muslime gehören verschiedenen Nationen, Ethnien und Rechtsschulen an. Von dem Faktum abgesehen, dass die Muslime im vergangenen Jahrhundert als Immigranten in diese Gesellschaft gekommen und nun in ihr gegenwärtig sind, gilt es eine weitere Realität zu beachten, nämlich dass die deutsche Gesellschaft als unser Gastgeber eine Vielzahl von Werten, Traditionen und Überzeugungen repräsentiert, die Ausdruck ihrer zivilisatorischen, kulturellen und historischen Identität sind. Die dauerhafte Präsenz von Immigranten in einer Gesellschaft wird überhaupt nur möglich, wenn die zugewanderte Minderheit in ihrem Verhältnis zur Gesamtgesellschaft eine Art von Zusammenhalt entwickelt. Was die deutsche Gesellschaft aktuell von den Zuwanderern erwartet, ist eine Art Homogenität, die, wenngleich sie manchen von uns Immigranten schwer fällt, dennoch das Recht dieser Gesellschaft reflektiert. Ich möchte 8 mich hier nicht auf eine wissenschaftliche soziologische Diskussion der Theorien über das Wesen der Gesellschaft, die kollektive Identität und die konstituierenden Elemente einer Gesellschaft einlassen, und ich möchte hier auch nicht die Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft noch das Verhältnis zwischen Minoritäten und Majoritäten erörtern. Egal, welche Gesellschaftstheorie wir vertreten und ungeachtet dessen, mit welcher Theorie wir das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu erklären versuchen, ob wir die Individualität oder die Kollektivität betonen oder beidem den gleichen Stellenwert beimessen, müssen wir die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung als eine Realität anerkennen, die nicht angezweifelt werden kann. Alle soziologischen Theorien messen der Verpflichtung zur gesellschaftlichen Ordnung große Bedeutung bei. Wenn die gesellschaftliche Ordnung und Einheit beeinträchtigt wird, wenn Segmente der Gesellschaft von Separatismen beherrscht werden und die Gesellschaft gespalten wird, wird sie sich mit ernsthaften Problemen konfrontiert sehen. Ich bin davon überzeugt, dass niemand das grundlegende Prinzip in Zweifel zieht, wonach das Fortbestehen einer jeden Gesellschaft auf der Ordnung und Harmonie ihrer Teile und des sie beherrschenden Geistes der Einheit gründet. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sind für die Beständigkeit und den Schutz dieser Ordnung wie auch für die Stärkung des in ihr herrschenden Geistes verantwortlich; das ist die primäre Verantwortung, die jedes Gesellschaftsmitglied wahrnehmen soll, und in diesem Sinne müssen jene, die in eine Gesellschaft kommen, mit ihrem Eintritt in diese Gesellschaft automatisch diese Verantwortung akzeptieren. Folglich ist die Integration der Zuwanderer das Recht der Gesellschaft, und die Verantwortung, sich zu integrieren, obliegt jedem Immigranten. Jede Entwicklung einer Art vertikaler oder horizontaler Parallelgesellschaft widerspricht dieser Verantwortung gegenüber der Hauptgesellschaft und wird selbstverständlich seitens dieser negative Reaktionen hervorrufen. Wie ich bereits anfänglich hervorgehoben habe, impliziert die Integration bestimmte Verpflichtungen gegenüber der indigenen Gesellschaft, wobei 9 jedoch die Divergenzen im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Rechtsschulen, Nationen und Ethnien der muslimischen Immigranten einerseits und zur deutschen bzw. umfassender ausgedrückt, europäischen Gesellschaft, reale Faktoren darstellen, die weder außer Acht gelassen noch ignoriert werden können. Die wichtigste Frage, die sich im Kontext des Integrationsprozesses stellt, ist die Frage, welches Konzept und welche Methode verfolgt werden sollen? Ist es notwendig, zugunsten einer Integration die religiöse Identität zu negieren? Bedauerlicherweise wird Integration zuweilen so definiert, dass die quantitativ kleine Minorität in der Mehrheitsgesellschaft untergeht, obgleich die Präsenz anderer kultureller, religiöser und ethnischer Minderheiten nicht per se mit der Ordnung und Einheit der Mehrheitsgesellschaft im Widerspruch stehen muss. Deshalb sollten beide Seiten umsichtig sein, das bedeutet, die Minderheiten sollen ihre jeweiligen Charakteristiken und kulturellen Eigenarten nicht in einer Art Parallelgesellschaft leben und dadurch die gesellschaftliche Ordnung schwächen, und andererseits darf die Mehrheit Minderheiten nicht ignorieren, denn eine solche Missachtung der Interessen der Minderheiten wird negative Folgen wie z. B. die Negierung der gesellschaftlichen Verantwortung, die Entwicklung von Parallelegesellschaften oder Isolation der Angehörigen der Minderheiten nach sich ziehen. Deshalb sehe ich es als eine der wichtigsten Aufgaben der Intellektuellen in den muslimischen Gesellschaften an, ein Konzept zu entwickeln, das einerseits auf eine erfolgreiche Integration abzielt und andererseits den Schutz der religiösen Identität und Rechte der Muslime gewährleistet. Die Konkretisierung eines solchen Konzeptes setzt die Berücksichtigung einiger Aspekte voraus, und ich möchte diese Gelegenheit im Kreis von gelehrten und klugen Menschen nutzen, und einige dieser Punkte ansprechen, ohne eventuelle Reaktionen seitens uninformierter Menschen befürchten zu müssen. Organisation ist eine wesentliche Notwendigkeit für die Gemeinschaft der Muslime und birgt nicht nur Nutzen für die Muslime und im weiteren Sinne für jede Minderheit in sich, sondern auch für die Mehrheitsgesell- 10 schaft und die Herrschaft, denn mittels einer Organisation können die Muslime ihre Rechte einfordern und die Ansprechpartner der Muslime sehen sich mit klar definierten Rechten und Forderungen konfrontiert und können sich, anstatt mit einzelnen kleinen Gruppen zu sprechen, an eine gesellschaftliche Vertretung der Muslime wenden. Es scheint jedoch, dass die immigrierten Muslime vor einer Organisation zunächst eines positiven gedanklichen Wandels im Sinne einer Veränderung ihrer ideellen Strukturen bedürfen. Ich muss in aller Klarheit und Deutlichkeit feststellen, dass sich die Gedanken und das Verhalten mancher Muslime grundsätzlich von den Lehren des Islam unterscheiden. Die Gemeinschaft der Muslime in Deutschland und Europa bedarf vor allem der Selbstkritik und des Überdenkens ihres Glaubens und Verhaltens, so dass ausgeschlossen werden kann, dass diese auf einer oberflächlichen und falschen Interpretation der religiösen Lehren beruht. Ich vermute, dass jede Art von Engagement, das eine Veränderung in den Beziehungen der muslimischen Gemeinschaft bewirken und die Minderheit-MehrheitBeziehung korrigieren soll, zunächst einer gedanklichen Revision bedarf. Es ist eine Tatsache, dass der Islam, so wie er durch das Verhalten und das Predigen mancher Muslime in dieser Gesellschaft dargestellt wird, keine Gemeinsamkeiten mit der historischen gedanklichen Struktur der deutschen Gesellschaft aufweist. Fundamentalistische Interpretationen, die auf einer bestimmten politischen Sichtweise oder auf einem oberflächlichen Religionsverständnis von Glauben und Unglauben basieren, sollen durch die wahren islamischen Gedanken gereinigt werden. Leider sind viele von uns noch immer in der Gefangenschaft falscher traditioneller gedanklicher Strukturen, die wir fälschlicherweise als religiöse Rechtsschule verstehen. Viele von uns haben noch nicht gelernt, ein Minimum an Toleranz und Verständnis für Andersdenkende aufzubringen, so dass wir einen Dialog miteinander führen und auf dieser Grundlage die artifiziellen Divergenzen zwischen den verschiedenen Rechtsschulen überwinden können. Einheimisch zu sein birgt das Geheimnis der historischen und gesellschaftlichen Beständigkeit in sich. Solange sich ein Phänomen nicht gemäß den 11 Gegebenheiten und Besonderheiten der Umgebung entwickelt, kann es kein wesentlicher Bestandteil dieser Gesellschaft sein. Die Rationalität und Mäßigkeit des Islam schaffen die Voraussetzung für das Verfolgen des Prozesses, der ein Einheimischwerden in der europäischen Gesellschaft ermöglicht. Wenn wir wollen, dass der Islam von der Ebene der Religion der Gastarbeiter zu einem anerkannten Hauptelement dieser Gesellschaft wird, und wenn wir weiter möchten, dass die muslimischen Immigranten von der Ebene der Gastarbeiter zur Ebene der engagierten und geschätzten Mitbürger gelangen, sind wird gezwungen, selbst das wahre Gesicht des Islam zu kennen und dieses rationale und humane Gesicht des Islam unabhängig von unseren persönlichen Vorlieben und Interessen widerzuspiegeln. Die Mäßigkeit und Rationalität des Islam vermag das notwendige Verständnis zwischen den Muslimen und der europäischen Gesellschaft zustande zu bringen. Eine Vernachlässigung dieses Aspektes wird zu einem weiteren Ausbau von Parallelgesellschaften anstatt zu einen konstruktiven Engagement führen und zu einem Störfaktor in dieser Gesellschaft werden oder zu einer Art von religiöser Entfremdung führen, die zu einem Vergessen und letztlich einem Verzicht auf die religiöse Identität führen. Die Kultur der Demokratie und des Pluralismus, die die Hauptelemente und wesentliche Identität der deutschen Gesellschaft ausmachen, kann schnell und einfach eine gemeinsame Sprache mit der islamischen Mäßigkeit und Rationalität finden und zu Verständnis und der Beseitigung der vielen vorhandenen Missverständnisse beitragen. Hier wird die Rolle und Funktion der islamischen Gelehrten, Denker und Intellektuellen beim Zustande bringen eines solchen strukturellen Wandels deutlich. In diesem Sinne kann jedes Konzept, das für die Zukunft der Muslime entwickelt wird, kein rein soziales Konzept sein, das die Gründung einer zivilen Organisation allein um sozialer Ziele und Ideen willen verfolgt, sondern ein solches Konzept muss auch dem psychischen und ideellen Unterbau hinreichend Achtung schenken, und dies ist nicht möglich, ohne islamische Gelehrte und Denker einzubeziehen. Es ist darüber hinaus selbstver- 12 ständlich, dass die allgemeine Akzeptanz eines solchen Konzeptes die entsprechende religiöse Legitimation voraussetzt. Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Kontext beachten müssen, ist, dass wir ein für allemal die Stellung der islamischen Gelehrten und der Muslime im Zusammenhang mit dem Islamismus und politischen Islam klar und deutlich verstehen müssen, und es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass der politische Islam und Islamismus in dieser Gesellschaft bedeutungslos ist und mit den islamischen Lehren nicht vereinbar ist. Jede Art von soziopolitischem Engagement der Muslime muss im Rahmen der Demokratie und Zivilgesellschaft stattfinden. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer wichtiger Punkte, die es zu diskutieren gilt, und die ich nur kurz erwähnen möchte: · Die Reduzierung des wahren Islam auf bestimmte Nationalitäten und Ethnien. · Das Verhältnis der zurzeit bestehenden großen islamischen Zentren zu den kleineren islamischen Vereinen und Gemeinschaften im Hinblick auf den Zukunftsprozess. · Die Entwicklung eines Konzeptes für einen erweiterten Gedankenaustausch und Dialog zwischen den islamischen Rechtsschulen. · Die Kenntnis der gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten für die individuellen und gesellschaftlichen Rechte der Muslime. · Die Erkennung und Bestimmung derjenigen islamischen Persönlichkeiten, die die Muslime repräsentieren können und die Legitimation solcher muslimischer Abgeordneter als Sprachrohr der Muslime. Grundsätzlich muss die Frage untersucht werden, ob diese Abgeordneten das Recht haben, sich im Namen der Muslime zu äußern und als Sprachrohr der Muslime angesehen zu werden. · Feststellung und Definition der Besonderheiten des europäischen Islam und die Bewahrung der religiösen Identität der dritten und vierten Generation der Muslime. · Die Wirkung und konstruktive Funktion des Islam auf der Grundlage der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung seitens des Individuums. 13 · Untersuchen und Feststellung der Voraussetzungen für die Entwicklung größeren Verständnisses der muslimischen Gemeinschaft. · Die Untersuchung der Stellung der Gelehrten, Rechtsgelehrten und religiösen Persönlichkeiten im Zukunftsprozess des Islam. Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer Themen, und ich hoffe, dass diese Sitzung ein gesegneter Anfang für die Beantwortung solcher Fragen und letztlich für das Erreichen eines vollkommenen und akzeptablen Konzeptes für die Zukunft sein wird. 14 Eine wichtige Anmerkung Die heiligen islamischen Quellen (Qur’an und Sunna) sind interpretierbar; bei vielen qur’anischen Versen kann man die äußere Bedeutung nicht als Maßstab und Grundlage heranziehen. Der Qur’an selbst betont diesen klaren Punkt und unterteilt seine Verse in zwei Kategorien: Erstens Verse, deren Bedeutung vollkommen klar und deutlich ist (ÁyÁte mo½kam - eindeutige Verse), und zweitens Verse, deren Bedeutung nicht vollkommen klar ist und die interpretiert werden müssen (ÁyÁte mutaÊÁbih – mehrdeutige Verse). Dem Qur’an zufolge sind die eindeutigen Verse die Wurzel und wesentliche Grundlage des Heiligen Buches, die man für die Interpretation der mehrdeutigen Verse zu Hilfe nehmen muss. Bei der Interpretation eines jeden Qur’anverses muss der gesamte Qur’an, und nicht nur ein Teil davon, berücksichtigt werden. Der Qur’an stellt fest: „Er ist Gott, der das Buch (Qur’an) auf dich (Mohammad) herabgesandt hat. Ein Teil dieses Buches sind die eindeutigen Verse (mit einer klaren und deutlichen Bedeutung), und diese Verse sind die Mutter (Wurzel) dieses Buches (Qur’an) dar. Und ein Teil dieses Buches sind mehrdeutige Verse, (die der Interpretation bedürfen). Diejenigen, in deren Herzen Abweichungen und Krankheiten vorhanden sind, benutzten die mehrdeutigen Verse, um Zwietracht zu verursachen, und sie wollen die Verse aus sich selbst heraus interpretieren, obwohl niemand die Interpretation dieses Buches kennt, außer Gott und denjenigen, die ein tiefes Wissen über alle Qur’anverse haben. (Qur’an, Sure Ale-þImrÁn, Vers 7). Wir sind darum bemüht, die Qur’anverse mittels der vom Qur’an selbst erklärten Methode zu interpretieren, und nicht nach persönlichem Interesse zur Rechtfertigung von Tradition, Kultur oder einer persönlichen Überzeugung, damit wir wissen, was der Qur’an sagt. Was Sie nun in Händen haben, ist eine Bemühung in dieser Hinsicht. 15