Mathematik im Kontext Christian Tapp An den Grenzen des Endlichen Das Hilbertprogramm im Kontext von Formalismus und Finitismus Mathematik im Kontext Herausgeber: David E. Rowe Klaus Volkert In der Reihe „Mathematik im Kontext“ sind bisher erschienen: F. Böttcher: Das mathematische und naturphilosophische Lernen und Arbeiten der Marquise du Châtelet (1706–1749) M. Audin: Jaques Feldbau, Topologe M.R. Schneider: Zwischen zwei Disziplinen. B.L. van der Waerden und die Entwicklung der Quantenmechanik A.-M. Décaillot: Cantor und die Franzosen. Mathematik, Philosophie und das Unendliche Christian Tapp An den Grenzen des Endlichen Das Hilbertprogramm im Kontext von Formalismus und Finitismus Christian Tapp Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland ISSN 2191-074X ISBN 978-3-642-29653-6 DOI 10.1007/978-3-642-29654-3 ISSN 2191-0758 (electronic) ISBN 978-3-642-29654-3 (eBook) Mathematics Subject Classification (2010): 00A30, 00A35, 00A07, 01-02, 01A60, 01A72, 03-02, 03-03, 03A05, 03F03, 03F05, 03F07, 03F25, 03F40, 03F55 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: deblik Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer.com Für Marcus und Johannes Vorwort David Hilbert (1862–1943) entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts die Beweistheorie, um die Grundlagenprobleme von Mathematik und Logik „ein für allemal“ zu lösen. Sein „Hilbertprogramm“ war als ein Forschungsprogramm mit eminent philosophischen Absichten konzipiert: Ausgehend von ganz grundlegenden Prinzipien sollte der Erkenntnisanspruch der Mathematik gerechtfertigt und die Mathematik als Wissenschaft auf ein festes Fundament gestellt werden. Dazu sollten die Grundlagenfragen der philosophischen Diskussion entzogen und mit den präzisen Mitteln von Mathematik und Logik „ein für allemal“ beantwortet werden. Nach landläufiger Meinung hat sich mit den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen herausgestellt, daß diese Ziele nicht erreichbar sind. Hilberts formalistische Philosophie der Mathematik besitzt überhaupt kaum Tragfähigkeit und das eigentliche Hilbertprogramm ist so tot wie sein Entwickler. Die Beweistheorie konnte ihre großen Erfolge nur dadurch erwirtschaften, daß sie sich von den fruchtlosen philosophischen Auseinandersetzungen ihrer „Gründerzeit“ verabschiedet und zu einer rein mathematischen Disziplin entwickelt hat. In dieser Sichtweise sind Wahrheit und Irrtum so miteinander vermischt, daß es kaum möglich scheint, ihr kurz und bündig eine Alternative entgegenzusetzen. Die vorliegende Arbeit will daher insgesamt ein Ansatz zu einer solchen Alternative sein. Sie will die philosophische Suche nach einem tieferen Verständnis von Hilberts Programm, seiner Konzeption von Axiomatik, seinem Formalismus und seinem Finitismus einen Schritt voranbringen. Daß diese Suche nicht nur in Bezug auf Hilberts Standpunkt, sondern auch auf die Grundlagen der Mathematik überhaupt bis heute sehr lebendig ist, zeigt, daß auf diesem Terrain noch lange nicht alle philosophischen Fragen „ein für allemal“ erledigt sind. Im Gegenteil hat gerade das Hilbertprogramm selbst eine ganze Reihe neuer Fragen aufgeworfen. Welche Implikationen haben denn genau die Gödelsätze für das Hilbertprogramm? Wie sind die Grenzen des Finitismus abzustecken? Verlangt ein solches Programm, eine formalistische Philosophie der Mathematik zu vertreten? Hat Hilbert wider bessere Einsicht an seinem Programm geklammert oder ist seine Position rational doch tragfähiger, als seine Gegner und auch manche seiner Freunde zugestehen wollen? Das vorliegende Buch will zu diesem Fragenkreis eine eigene Perspektive anbieten, die nicht nur in sich möglichst kohärent sein soll, sondern zugleich auch den Leistungen VII VIII Vorwort Hilberts und seiner Schüler angemessen, und das kann nur heißen: ihren philosophischgrundlagentheoretischen Standpunkten gegenüber so adäquat wie möglich und so kritisch wie nötig. Die erkenntnistheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Fragenstränge werden daher verwoben mit dem Versuch einer sorgfältigen Interpretation der historischen Quellen. Bei der Auseinandersetzung mit Problemen und Positionen, die nicht nur ad hoc erdacht, sondern auch tatsächlich vertreten wurden, ist eine gewisse problemgeschichtliche Perspektive unabdingbar. Wer historische Angemessenheit bei philosophischem Arbeiten für überflüssig oder gar störend hält, der wird bei komplexeren Zusammenhängen kaum der Gefahr entgehen, seine Fragen nur deshalb so elegant, so „rein sachlich“ und so „rein systematisch“ beantworten zu können, weil er sie passend konstruiert hat. Will man sich hingegen tatsächlich mit „großen Gedanken“ auseinandersetzen, sich von ihnen anregen und herausfordern lassen, muß die erste Devise sein, diese Gedanken so gut wie möglich zu begreifen. Schließlich gilt auch in der Wissenschaftsphilosophie, was Martin Heidegger im Kontext der Metaphysik einmal allgemein so formuliert hat: Die Erledigung der philosophiehistorischen Aufgaben „wird der rein philosophischen Ausdeutung die lebendige besondere Gestaltung und Fülle geben, die nun einmal aus der tiefer gefaßten Geschichte immer entspringt.“ Heidegger, Duns Scotus [1916], 16 Die sachliche Auseinandersetzung mit einem historisch gewachsenen Problemkreis weiß sich unter mehr Ansprüche gestellt als Arbeiten, die sich einzig der sachlichen und fachinternen Auseinandersetzung mit einem Problem stellen. Sie ist der Gefahr ausgesetzt, daß der Kritiker das Principle of Charity vergißt und in der disziplinübergreifenden Breite logischer, erkenntnistheoretischer, wissenschaftsphilosophischer und -historischer Fragen reichlich Angriffsfläche findet. Aus einer ähnlichen Diagnose zog der Philosoph, Logiker und Mathematiker Gottlob Frege schon 1893 in seinen Grundgesetzen der Arithmetik in gewohnter Deutlichkeit und Schärfe den Schluß: Es „müssen alle Mathematiker aufgegeben werden, die beim Aufstossen von logischen Ausdrücken, wie ,Begriff ‘, ,Beziehung‘, ,Urteil‘ denken: metaphysica sunt, non leguntur! und ebenso die Philosophen, die beim Anblicke einer Formel ausrufen: mathematica sunt, non leguntur!“ Frege, Grundgesetze [1893], xii Dem bleiben nur noch diejenigen hinzuzufügen, die zu Studien über verstorbene Denker sagen: historica sunt, non leguntur! Dank gebührt entsprechend allen, die diese Arbeit trotzdem lesen. Er galt in erster Linie den Professoren Carlos Ulises Moulines, Godehard Link und Karl-Georg Niebergall, die die Mühe der Begutachtung auf sich genommen haben. Außerdem vielen Freunden und Kollegen für ihre freundschaftliche Unterstützung und für bereichernde Diskussionen. Besonders erwähnen möchte ich von meinen akademischen Lehrern Justus Diller, Godehard Link, Karl-Georg Niebergall, Wolfram Pohlers, Rosemarie Rheinwald (†) und Wilfried Sieg. Viel von ihren Anregungen ist in diese Arbeit eingeflossen. Meine Forschungsarbeiten Vorwort IX wurden finanziert u. a. durch eine Stelle im Rahmen eines DFG-Projekts zur Geschichte der Beweistheorie (Dank an Menso Folkerts und Godehard Link) und durch ein Forschungsstipendium der Fritz-Thyssen-Stiftung. Zu danken habe ich auch meiner Ehefrau Stephanie für Vieles, das hier weder aufgezählt werden kann noch soll. Die Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LMU München hat die Arbeit im Wintersemester 2006/2007 als Dissertation angenommen. Sie wurde in der damaligen Fassung online publiziert. Wenn sie nun in überarbeiteter Form als Buch einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, verdankt sich dies dem Zuspruch einer Reihe von Freunden und Kollegen, besonders von Matthias Wille. Das Erscheinen wurde erheblich erleichtert durch die freundliche Aufnahme in die Reihe „Mathematik im Kontext“ des Springer-Verlags, wofür ich dem Verlag, v. a. dem Programmleiter Clemens Heine, sowie den beiden Reihenherausgebern Klaus Volkert und David E. Rowe sehr verbunden bin. Aufgrund meiner derzeitigen Arbeitsbelastung mußte ich auf neuerliche Literaturrecherchen verzichten. Der Stand der Dinge ist inhaltlich daher im Wesentlichen derjenige von Ende 2006, als das Manuskript abgeschlossen wurde. Ich hoffe, daß das Buch auch so für den am Hilbertprogramm interessierten Leser gewinnbringend genug sein wird. Ein besonderer Dank gilt Sebastian Paasch, Helmut Pulte und ganz besonders Wolfram Pohlers für die Durchsicht der Endfassung und eine Reihe hilfreicher Kommentare. Für etwaige Fehler und Ungenauigkeiten bleibe ich allein selbst verantwortlich. Diese Arbeit ist und bleibt meinen beiden Brüdern, Marcus und Johannes, gewidmet, ohne deren kontinuierliche Ermutigung vor vielen Jahren sie nicht entstanden wäre. Bochum, im September 2012 Christian Tapp Inhaltsverzeichnis . . . . . 1 1 10 22 25 2 Das Hilbertprogramm und seine Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Wurzeln: Axiomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Geometrie als Paradigma der traditionellen Axiomatik . . . . . 3.2 Hilberts neue Axiomatik und die Grundlagen der Geometrie 3.3 Axiome als implizite Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Axiomatik als Metawissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Kriteriologie für Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Ziele und denkerische Verortung der Axiomatik . . . . . . . . . 3.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 40 47 53 56 60 72 74 4 Kontext: Logizismus und Intuitionismus 4.1 Logizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Formelspiel vs. methodische Einstellung . . . . 5.2 Alternative Formalismusbegriffe . . . . . . . . . 5.3 Hilberts Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Widerspruchsfreiheit, Wahrheit und Existenz 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Warum die Mathematik für die Philosophie interessant ist 1.2 Hilbert, Mathematik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ausgangspunkte, Ziele und Programm der Arbeit . . . . . . 1.4 Methodische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Konzeption des Hilbertprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 . 76 . 101 . 112 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 116 120 122 126 133 XI XII Inhaltsverzeichnis 6 Finitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erste begrifflich-inhaltliche Abgrenzungen 6.2 Finite Zahlentheorie . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Finite Metamathematik . . . . . . . . . . . . . 6.4 Formale Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 136 139 145 149 153 7 Die Methode der idealen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ideale Elemente in der Mathematik des 19. Jahrhunderts 7.2 Analogiemißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Hilberts ideale Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 156 160 162 166 8 Instrumentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der Instrumentalismus und die instrumentalistische Auffassung des Hilbertprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Kritik der instrumentalistischen Interpretation von Hilberts Programm 8.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 . 169 . 171 . 180 Teil II Zur Durchführung des Hilbertprogramms 9 Hilberts Widerspruchsfreiheitsbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Hilbert und Bernays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Reduktion durch Angabe eines Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Erste syntaktische Überlegungen: Heidelberg 1904 . . . . . . . . . . . . 9.4 Wiederaufnahme und Weiterentwicklung: Vorlesungen 1917–1920 9.5 Übergänge und neue Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Hilbertsche Beweistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Hilbertschule I: Wilhelm Ackermann 10.1 Ackermanns Ziele . . . . . . . . . . . 10.2 Das formale System . . . . . . . . . . 10.3 Analyse des Beweises . . . . . . . . . 10.4 Deutung, Diskussion und Kritik . 10.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . 11 Intuitionistische und Klassische Zahlentheorie: HA und PA . . . . . . . . . . . 251 11.1 Das Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 11.2 Die Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 183 184 190 194 198 207 222 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 226 228 233 245 248 Inhaltsverzeichnis 12 XIII Hilbertschule II: Gerhard Gentzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Logische Kalküle, Hauptsatz und Widerspruchsfreiheit der induktionsfreien Zahlentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Der erste, nicht veröffentlichte Widerspruchsfreiheitsbeweis für die Zahlentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Der erste veröffentlichte Widerspruchsfreiheitsbeweis für die Zahlentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Beweisbarkeit der transfiniten Induktion und Ordinalzahlanalyse . . . . 12.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 . 256 . 265 . 277 . 280 . 282 Teil III Zur Reflexion des Hilbertprogramms 13 Der Problemkreis „Poincaré“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Das Petitio-principii-Problem mit der Induktion . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Das Circulus-vitiosus-Problem mit den imprädikativen Definitionen 13.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 286 298 304 14 Der Problemkreis „Gödel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Meinungsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Die Reichweite der Gödelschen Sätze . . . . . . . . . . . . . 14.3 HP gegen Gödel, oder: das Formalisierbarkeitsproblem 14.4 Gödel-2 gegen HP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Gödel-1 gegen HP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Das HP als Konservativitätsprogramm? . . . . . . . . . . . 14.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 308 313 317 321 326 328 337 15 Der Problemkreis „Kreisel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Was Ordinalzahlen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Wofür Ordinalzahlen in der Beweistheorie verwendet werden 15.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 339 346 352 16 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Hilberts Ziele und Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Aufklärung über das Unendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Reduktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Ist Hilberts Programm denn nun gescheitert? – Versuch einer Antwort . . . . . . 353 353 354 357 359 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 1 Einleitung 1.1 Warum die Mathematik für die Philosophie interessant ist Oὐδεῖς αγεομέτρετος εἴσετο. Niemand trete ein, der der Mathematik nicht kundig ist. Platon1 Die Philosophie hatte immer schon ein besonderes Interesse an der Mathematik. Wer die platonische Akademie betrat, sollte sich seiner mathematischen Kenntnisse sicher sein. Der epistemische Zugang zu mathematischen Objekten bildete für Platon das Vorbild, nach dem er sein Bild von Erkenntnis überhaupt strukturierte: Ideen leben in einem Reich reiner Formen und ihr Vergleich mit den Erfahrungen der Welt liefert bei Übereinstimmung wahre Erkenntnis. Für die Philosophen des Rationalismus war es mehr als eine bloße Vorliebe, ihre philosophischen Lehrsätze „more geometrico demonstrata“ zu präsentieren. Sie wollten die philosophische Erkenntnis auf wenige grundlegende Definitionen und Axiome begründen und ansonsten nur die streng logische Beweisführung gelten lassen, wie sie seit dem Altertum als das Idealbild der Geometrie gelehrt wurde. (Die Elemente des Euklid konnten dieses Ideal zu einem sehr großen Teil realisieren, aber nicht vollständig.) Das Streben nach argumentativer Gewißheit wie in der Mathematik ist ein Charakteristikum rationalistischer Philosophie. Die empiristischen Gegner der Rationalisten forderten, die Sinneswahrnehmung und die Erkenntnisse der letztlich auf der Sinneswahrnehmung basierenden Naturwissenschaf1 Dieser Spruch soll über dem Eingang der platonischen Akademie angebracht gewesen sein. Vgl. z. B. die Überlieferung bei Johannes Philoponus, De Anima Kommentar [1897], 117 (26–27), der allerdings wörtlich „ἀγεομέτρος μὴ εἰσίτο“ hat. Die Übersetzung von „γεομέτρετος“ als „Mathematiker“ und nicht als „Geometer“ ist gerechtfertigt, weil Mathematik damals im Wesentlichen aus Geometrie bestand und umgekehrt der Ausdruck „μαϑηματιϰή“ eher allgemein das Gewußte und weniger das spezifisch Mathematische meinte. C. Tapp, An den Grenzen des Endlichen, Mathematik im Kontext, DOI 10.1007/978-3-642-29654-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 1 2 1 Einleitung ten zum Vorbild jeder Erkenntnis zu nehmen. Und da die modernen Naturwissenschaften ohne Mathematik nicht auskommen können, kommt ihr auch in der empiristischen Erkenntnistheorie eine besondere Stellung zu. Allerdings ist sie nicht immer so sehr im Vordergrund der Diskussionen zu sehen wie bei David Hume, für den die mathematische Erkenntnis zum regelrechten Problem wird. Denn wo soll man sie einordnen, unter die rein empirischen „matters of fact“ oder unter die rein denkerischen „relations of ideas“? Keine der beiden Antworten kann befriedigen, da schon die Möglichkeit, Mathematik in den Naturwissenschaften erfolgreich anzuwenden, eine Art Zwischenstellung und die Möglichkeit zu einer Art „Verknotung“ geistiger und empirischer Anteile fordert. Immanuel Kant wachte bekanntlich auf, als er diesen Knoten bemerkte, und machte sich daran, ihn gar nicht auf eine der Seiten aufzulösen, sondern regelrecht zu durchschlagen. Er trennte die Unterscheidungen analytisch/synthetisch und a priori/a posteriori von einander und eröffnete dadurch die Möglichkeit apriorisch-sicherer Erkenntnis, die dennoch nicht analytisch-trivial ist. Für ihn gibt es synthetische Sätze in der Mathematik, doch lassen sie sich a priori wissen. Sie gehören also in die Abteilung synthetischer Aprioris, in die nach seiner Auffassung auch die wesentlichen Sätze der Metaphysik gehören. Aber gibt es überhaupt sinnvolle metaphysische Sätze? Kants Parallelisierung zwischen mathematischer und metaphysischer Erkenntnis bringt dafür einen regelrechten Plausibilitätsschub: Während die Metaphysik immer unter dem Verdacht steht, gar nicht zu existieren (weil es keine sinnvollen metaphysischen Sätze gebe oder man über solche nichts wissen könne), wird das über die mathematische Erkenntnis niemand ernsthaft behaupten. Also ist die Menge der synthetisch wahren und a priori wißbaren Sätze nicht leer. Und das macht mehr als plausibel, daß es auch noch andersartige synthetische Aprioritäten geben kann, beispielsweise die metaphysischen (vgl. KrV B4). Und schließlich arbeitet sich auch ein Martin Heidegger noch an der Mathematik ab, wenn er das eigentliche Denken von einer uneigentlichen Form unterscheidet, die sich unseres technikdurchwirkten Alltags fast vollständig bemächtigt hat, und diese uneigentliche Form das „rechnende“ Denken nennt. Lassen wir dahingestellt, in welch negatives Licht die Mathematik hier getaucht wird, und lassen wir auch dahingestellt, ob es sich hier überhaupt um eine adäquate Sichtweise der Mathematik handelt. Es bleibt, daß auch für einen Heidegger die Mathematik, oder zumindest das, was er unter „rechnendem Denken“ versteht, eine philosophische Herausforderung ersten Ranges ist. Die Mathematik spielte also für fast alle Epochen und Strömungen der Philosophiegeschichte eine irgendwie besondere Rolle – und dabei haben wir gerade vor allem Strömungen und Epochen aufgerufen, die man kaum in einem modernen Handbuch über „Philosophie der Mathematik“ antreffen würde. Aber was ist es eigentlich neben dem synthetischen Apriori, was die Mathematik philosophisch so interessant macht? Der erste und wichtigste Aspekt ist die Sicherheit mathematischer Erkenntnisse. Kaum eine andere Wissenschaft kann problemlos davon sprechen, die eigenen Lehrsätze „bewiesen“ zu haben. Selbst in René Descartes’ radikalem Zweifel bleibt es – wie die sorgfältige Analyse der Meditationen zeigt – letztlich in einer vielsagenden Schwebe, ob er die erwähnten mathematischen Sätze auch für zweifelhaft erklärt oder nicht. Kann Descartes wirklich 1.1 Warum die Mathematik für die Philosophie interessant ist 3 daran zweifeln, daß 2 + 2 = 4 ist, oder gar daran, daß ein Quadrat vier Seiten hat? Was sollte der täuschende Dämon uns stattdessen glauben machen? Sollen wir eine Vorstellung, ein Trugbild haben, in dem ein Quadrat fünf Seiten hat? Gibt es irgendeinen ganz schwachen Sinn von „möglich“, sozusagen „traumbild-möglich“, unter den auch ein fünfseitiges Quadrat fällt, dessen Begriff ja einen logischen Widerspruch beinhaltet? Wie auch immer man Descartes hier genau verstehen will, die Überzeugung einer besonderen Sicherheit der mathematischen Erkenntnis hat er jedenfalls sicher geteilt. Diese Überzeugung ist auch heute so weit verbreitet, daß der Mathematiker nicht selten von außerhalb der Zunft mit der Frage konfrontiert wird, was es denn in der Mathematik überhaupt noch zu forschen gebe. Die Sicherheit der verfügbaren Erkenntnisse läßt sich eben leicht mit der Verfügbarkeit der sicheren Erkenntnisse verwechseln! Jedenfalls ist die Mathematik immer schon das Beispiel für die Sicherheit von Erkenntnissen gewesen, und die Philosophie bringt schon deshalb der Mathematik ein besonderes Interesse entgegen, weil es ihr ganz allgemein um Erkenntnis, um das Verhältnis von Meinen und Wissen, um den Wahrheitsbegriff und die Frage der Rechtfertigung von Wissensansprüchen geht. Die Sicherheit mathematischer Erkenntnisse verdankt sich zu einem Gutteil dem streng deduktiven Aufbau der mathematischen Theorien. Dies führt zu einem zweiten Aspekt, warum Mathematik philosophisch interessant ist. Sie ist eine deduktive Wissenschaft, die durch ihr Bestreben, Argumentationen durch rein logische Schlüsse zu führen, eng an die Logik gebunden ist. Dabei ist hier nicht die Rede davon, auf welchen Wegen die Mathematiker faktisch zu neuen Vermutungen und Theorien gelangen. Diese Wege sind sicher häufig induktiv oder sogar experimentell. Manchmal gewinnt der Mathematiker einen neuen Kandidaten für ein Theorem (nicht nur, aber auch) durch Betrachtung einzelner Beispiele, die alle eine bestimmte Eigenschaft haben, und er fragt sich, wie allgemein man Bedingungen an eine Klasse solcher Objekte formulieren kann, damit alle Objekte in dieser Klasse jene Eigenschaft haben. Mit einem solchen „Ergebnis“ wird sich der Mathematiker aber erst zufriedengeben, wenn er es im Rahmen einer akzeptablen Theorie bewiesen hat.2 Die Betonung liegt hier mehr auf dem Beweisen als auf der akzeptablen Theorie. Denn die Mathematik hat auch kein Problem damit, hypothetische Erkenntnisse als solche zuzulassen, d. h. daß ein bestimmter Satz nur unter Zusatzannahmen gilt, deren Wahrheit keineswegs allgemein anerkannt ist. Dann lautet die mathematische Erkenntnis eben nicht, daß p, sondern, daß p, falls die Zusatzannahmen z gelten. In jedem Fall wird der Mathematiker für eine wirkliche mathematische Erkenntnis auf einem Beweis beharren und „Wissen“ und „Bewiesen-sein“ geradezu gleichsetzen. Nimmt man diese Orientierung am Paradigma des Beweises ernst, so wird man die Mathematik tatsächlich in erster Linie als rein deduktive Wissenschaft beschreiben müssen, ja man könnte fast sagen: Wenn es überhaupt erfolgreiche deduktive Wissenschaft gibt, dann die Mathematik. Theorien gelten in ihr erst dann als ausgereift, wenn sie in axiomatische Form gebracht werden können, d. h. wenn bestimmte Grundbegriffe und Grundannahmen festgelegt sind, aus denen sich die weiteren Sätze 2 Zu der hier starkgemachten Trennung zwischen Gewinnung einer neuen mathematischen Erkenntnis und ihrer Begründung vgl. auch Frege, Begriffsschrift [1879], III.