Nicht grübeln, sondern leben

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Alter und Spiritualität
Verpflichtungen
«Nicht grübeln, sondern leben»
Am Mittwoch findet im KKL
ein Podium der Pro Senectute über Spiritualität statt.
Unvermeidliches Thema ist
auch der Tod.
exemplarisch zeigen, wie man seinem
eigenen Leben Sinn geben kann. Ingrid
Grave etwa als Ordensschwester, Hugo
Stamm als Kämpfer gegen Sekten, ich
vielleicht als politischer Mensch.
Viele jüngere Menschen haben sich von
der Kirche abgewendet. Ältere auch?
Widmer: Viele Menschen, ob jung
oder alt, lassen sich nicht mehr durch die
Orientierungshilfe der Kirche abholen.
Aber im Unterschied zu der jungen gibt
es bei der älteren Generation noch viele
kirchengeschädigte Menschen, welche
in den Fünfziger- und Sechzigerjahren
noch die Tyrannei der Religion erlebten.
INTERVIEW VON ARNO RENGGLI
[email protected]
Hans Widmer, das Podium über Lebenssinn und Spiritualität, an welchem Sie
auch teilnehmen, ist ausverkauft. Das
Thema bewegt ältere Menschen.
Hans Widmer*: Wir haben heute ein
sehr materialistisches Menschenbild, in
welchem Fitness und Gesundheit eine
grosse Rolle spielen. Doch viele Menschen haben auch das Bedürfnis nach
einer anderen Sichtweise. Dahinter steht
etwa die Erkenntnis, dass der Leistungsabbau des Körpers nur verlangsamt,
aber nicht verhindert werden kann.
Man spricht heute von einer starken
Individualisierung des Glaubens. Man
nimmt sich aus allen möglichen Richtungen, was einem zusagt, und setzt es
selber zusammen. Sind die Menschen
wieder spiritueller geworden?
Widmer: Diese Individualisierung hat
eher im urbanen Bereich stattgefunden. Ausserhalb davon spielt das kollektive Glauben schon noch eine Rolle.
Ob ein Mensch aber spirituell ist, zeigt
sich meines Erachtens vor allem im
Alltag. Was er in bestimmten Situationen fühlt, ob er von etwas ergriffen ist.
Das kann auch Musik sein.
Genau das versuchen heute viele zu
negieren, zu verdrängen. Man will ewig
jung und voll leistungsfähig bleiben.
Widmer: Der physische Abbau ist
eine Realität, ob nun leistungsmässig
oder auch ästhetisch. Es ist lächerlich,
Hat Kultur also etwas Spirituelles?
Widmer: Sicher. Es gibt Menschen, die
fühlen bei Musik etwas wie religiöse
Ergriffenheit, ob das nun im Konzertsaal
oder an einem Open Air ist. Das kann
etwas wie eine mystische Erfahrung
sein, in der man vielleicht sogar einen
Bezug zu etwas Göttlichem erlebt. Zudem bietet Kultur Genuss, was ebenfalls
zu Lebenssinn beitragen kann.
«Es ist lächerlich,
diesem Thema ausweichen zu wollen.»
H A N S W I D M E R , P H I LO S O P H
diesem Thema ausweichen zu wollen.
Die Jungen dürfen es noch verdrängen,
die älteren Menschen nicht. Genauso
wenig wie die Frage nach Lebenssinn.
Selbst auf das Risiko hin, dass man
vielleicht keine positive Antwort findet.
Und irgendwann kommt der Tod.
Widmer: Ich denke, die Endlichkeit
wird uns in unserem ganzen Leben
immer wieder bewusst gemacht. Ob
man als Kind gegen eine Wand stösst,
ob man als Jugendlicher Grenzen erfährt
oder ob im Alter der Körper nachgibt.
Man kann sich der Endlichkeit des Lebens bewusst sein und es trotzdem
geniesssen.
GETTY
Soll man sich also schon in jungen
Jahren mit dem Tod befassen?
Widmer: Nein. Man kann sich auch
zu Unzeiten mit dem Tod befassen. In
meiner Kindheit etwa war der Tod zu
stark präsent. Ich habe noch erlebt,
wie der Leichnam meines Vaters drei
Tage aufgebahrt wurde. Auch in älteren
Jahren kann man es übertreiben. Man
soll sich diesen Fragen regelmässig
stellen, aber für ein paar Minuten,
mehr nicht. Denkerisch wird man das
Thema nie in den Griff kriegen. Man
soll nicht grübeln, sondern sich immer
wieder sagen: «So fertig, jetzt wird
wieder gelebt.»
NACHRICHTEN
Kirchliche Sexualmoral
Missionssynode:
Neue Spitze
Zürich – Mit einem Festgottesdienst im Zürcher Grossmünster hat die dritte Missionssynode geendet. Das internationale Parlament von Mission 21
wählte den Theologen Edwin
Mora aus Costa Rica für drei
Jahre zum Vorsitzenden. Die
Missionssynode von Mission 21
findet alle drei Jahre statt. Delegierte aus Europa, Afrika, Asien
und Lateinamerika legen jeweils neue Schwerpunktthemen fest (für die kommenden
drei Jahre: Wasser). (sda)
Reformierte: Weltweite Gemeinschaft
Bern – 80 Millionen reformierte
Christen in über 200 Kirchen
zählt die «Weltgemeinschaft
Reformierter Kirchen», die heute in Grand Rapids (USA) gegründet wird. Mit dabei ist der
Schweizerische Evangelische
Kirchenbund. Für dessen Vertreter Thomas Wipf bedeutet
der Zusammenschluss einen
«theologischen Meilenstein»,
da sich die Kirchen gegenseitig
Taufe und Mitgliedschaft anerkennen und einander Kanzelund Abendmahlsgemeinschaft
gewähren werden. (sda)
Kann ein Podium Orientierung bieten?
Widmer: Es passt in die heutige Zeit,
die von Events geprägt ist. Und es passt
ins KKL, das man als modernen Tempel
bezeichnen könnte. Inhaltlich darf man
aber keine absoluten Antworten erwarten, sonst wird man nur enttäuscht.
Das eigene Nachdenken kann nicht
ersetzt werden. Vielleicht können die
Persönlichkeiten auf dem Podium
Sie sprechen das Göttliche an. Gott als
Gegenüber, als Ansprechpartner?
Widmer: Man kann Gott auf viele
Arten verstehen. Etwa transzendental
oder pantheistisch. Letzteres, also die
Vorstellung, dass Gott in den Erscheinungen der Welt spürbar ist, gefällt mir
persönlich. Ob es Gott überhaupt gibt,
darüber kann man natürlich geteilter
Meinung sein. Ich finde, nur schon die
Tatsache, dass wir ein Bewusstsein
haben, zeigt die Anwesenheit Gottes.
HINWEIS
* Hans Widmer ist Philosoph und SP-Politiker.
Von 1996 bis 2010 vertrat er den Kanton Luzern im
Nationalrat. Bis 2006 war er Gymnasiallehrer. Er
wohnt in Luzern und ist in zweiter Ehe verheiratet.
Das Podium der Pro Senectute und des Clubs 66
über «Lebenssinn – Religion – Spiritualität» findet
am Mittwoch 17 Uhr im Konzertsaal des KKL statt.
Es ist ausverkauft. Es diskutieren u. a.: Kurt
Aeschbacher (Moderation), Ingrid Grave (Ordensschwester), Hugo Stamm (Sekten-Experte),
Annemarie Pieper (Philosophin), Hans Widmer. V
ieles im Leben hat zwei Seiten.
Gerne sehen wir die schöne
Seite und lassen uns einreden,
dass alles schon seine Richtigkeit
habe. Aber wir dürfen nicht nur
die eine Seite sehen und können
auch die Verantwortung für unser
Leben, unsere Umwelt und unsere
GEDANKEN
ZUM
SONNTAG
von Antje
Gehrig-Hofius
[email protected]
Nachkommen nicht bedenkenlos
anderen anvertrauen. Auch das
gerne gehörte Argument «Das ist ja
weit weg» geht eben nicht auf.
Aus der am 20. April explodierten
«Deepwater Horizon»-Plattform im
Golf von Mexiko fliessen täglich
über 3 Millionen Liter Öl. Je länger
diese Katastrophe dauert, desto
dramatischer sind die Umweltfolgen. Strömungsanalysen zeigen,
dass das Öl bald auch Europas
Küsten erreichen wird. Und ganz
offensichtlich wusste der BP-Konzern bereits Monate vor dem Unfall von erheblichen technischen
Problemen der Plattform. – Gott
hat uns die Erde anvertraut, dass
wir sie bewahren und schützen.
Während der laufenden FussballWM sind nach Einschätzung von
Unicef Kinder und Jugendliche in
Südafrika besonders von sexueller
Ausbeutung bedroht, da in dieser
Zeit die Schulen geschlossen und
viele Kinder unbeaufsichtigt seien.
Gleichzeitig ist Südafrika ein Land
mit hoher Kinderarbeitsquote: Fast
jedes dritte Kind in Afrika zwischen 5 und 14 Jahren muss arbeiten. Allein in Südafrika sind es
850 000 Jungen und Mädchen. Ob
die Kluft zwischen Arm und Reich,
zwischen Schwarz und Weiss
durch die Spiele weiter abgebaut
wird? – Christus hat mit seinem
Leben dafür bezahlt, dass er sich
für Gleichberechtigung und gleiches Lebensrecht für alle einsetzte.
Vielen ist das heutzutage egal.
«Für mich ist Jesus schon lange gestorben», sagen sie. Dankbar dürfen wir Christen sagen: «Für mich
auch.» Doch aus dieser Dankbarkeit erwächst die Verpflichtung,
aufmerksam zu sein und darauf
zu achten, dass die Welt und ihre
Bewohner in Gottes Sinne geschützt und bewahrt bleiben.
Antje Gehrig-Hofius, Theologin.
Kirche soll Sexualmoral neu formulieren
Die kirchliche Basis bringt
Bewegung in die Diskussion
um sexuelle Übergriffe:
Luzerner Katholiken planen
ein Papier zur Sexualmoral.
«Wir schämen uns, weil Vertreter der
Kirche Übergriffe um des Ansehens der
Institution willen verschwiegen haben.»
Eine Gruppe der Römisch-katholischen
Landeskirche des Kantons Luzern findet deutliche Worte für die sexuellen
Übergriffe in der katholischen Kirche.
Die Synode, das Luzerner Kirchenparlament, will das Problem nun bei
der Wurzel packen. Zwei Kommissionen haben an der Sitzung der Synode
einen ungewöhnlichen Vorschlag präsentiert: Sie wollen ein Orientierungspapier zu einer zeitgemässen christlichen Sexualethik erarbeiten lassen.
«Die offizielle Sexualmoral unserer Kirche ist kaum geeignet, ein offenes
Gesprächsklima unter Christen zu
schaffen», heisst es im Schreiben. Florian Flohr, Mitglied des Ausschusses,
der das Papier erarbeitet hat, ergänzt:
«Es gibt kein Dokument, das eine moderne Sexualethik der Kirche darstellt.»
Dicke Post nach Basel
Themen wie Sex vor der Ehe, Verhütung, Homosexualität oder Scheidung
und Wiederheirat sollen darin aufgegrif-
KOMMENTAR
Katholisches Dilemma
V
on der Sexualmoral,
welche die katholische
Amtskirche vertritt, hat
sich der Lebensalltag
vieler Menschen weit entfernt.
Das Verbot, Präservative als Verhütungsmittel und zum Schutz
vor Krankheiten zu benutzen,
empfinden viele Menschen als
schlicht fahrlässig. Homosexualität als Sünde zu bezeichnen,
wirkt auf viele unmenschlich.
Es ist deshalb sehr zu begrüssen,
dass sich eine kantonale Landeskirche dieses Themas annimmt.
Aber: Will die geplante Orientie-
rungshilfe zeitgemäss sein, dann
muss sie zwangsläufig den vatikanischen Vorstellungen in zentralen Punkten widersprechen.
Wie freizügig darf eine Sexualmoral sein, die sich als katholisch bezeichnet? Und wie rigide
darf sie sein, ohne an der Lebensrealität unserer Gesellschaft
vorbeizuzielen? Dass sich die Intitianten diesem Dilemma stellen, ist mutig, aber auch ausserordentlich ambitioniert.
HARRY TRESCH
könne. Richtlinien zum Thema sexuelle
Übergriffe bestünden bereits. Diese
müssten nun aber in den Kirchgemeinden verbindlich erklärt werden.
Begünstigend für sexuelle Übergriffe
sei aber auch die Struktur der Institution Kirche. Deshalb fordert die Kommission das Bistum Basel auf, neue
demokratische Formen zu finden. «Ein
System, das auf hierarchische Macht
«Im Papier wird nicht
stehen: ‹Sex vor der
Ehe ist in Ordnung›.»
F LO R I A N F LO H R
fen werden. «Im Papier wird nicht stehen: ‹Sex vor der Ehe ist in Ordnung›»,
sagt Flohr. «Es soll aufzeigen, was man
sich im Zusammenhang mit Sexualität
überlegen sollte, um einen guten Gewissensentscheid fällen zu können.»
Beauftragt soll der Schweizerische
Katholische Frauenbund werden. «In
der offiziellen Kirchenlehre gibts fast
nur Verbote», sagt Flohr. «Die Praxis der
Gläubigen – auch guter Katholiken –
weicht oft stark von den veröffentlichten Moralvorstellungen der Kirche ab.»
Das Orientierungspapier solle keinesfalls in einen «Erlaubnis- und Verbotskatalog» ausarten, so Flohr. Vielmehr erhofft sich die Synode, dass
Sexualität kein Tabuthema mehr darstelle – und dadurch auch über sexuelle
Übergriffe offen gesprochen werden
baut und die Kontrolle der Gewaltentrennung vernachlässigt, leistet der Vertuschung von Missbräuchen Vorschub», heisst es im Schreiben. Harte
Worte – befürchtet man Sanktionen?
«Das kann ich mir nicht vorstellen»,
sagt Florian Flohr. «Selbst der Papst hat
vor kurzem in einem Buch ausgeführt,
dass mehr demokratische Elemente
möglich seien.»
HARRY TRESCH
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