67 III.2 Kleine Schwingungen III.2 Kleine Schwingungen In der Physik, oder in der mathematischen Modellierung eines physikalischen Systems, kommt oft das folgende Problem vor. Gegeben ein mechanisches System, beschrieben durch eine LagrangeFunktion L t, q(t), q̇(t) , ist die Lösung der entsprechenden Bewegungsgleichungen für bestimmte Anfangsbedingungen bekannt. Sei q0 (t) diese Lösung. Das System — in der Praxis entweder das gleiche oder eine Kopie davon, wobei alle relevanten Bedingungen gleich bleiben — wird irgendwie leicht „gestört“, entsprechend z.B. einer kleiner Änderung der Anfangsbedingungen. Die Frage ist dann, was ist die neue Lösung q(t) der Bewegungsgleichungen für das gestörte System? Intuitiv kann man sich vorstellen, dass in manchen Fällen q(t) „in der Nähe“ (18) der ungestörten Lösung q0 (t) bleibt. Andererseits kann eine kleine Störung auch manchmal zu einer großen Änderung führen, wie z.B. wenn eine Kugel auf dem schmalen Gipfel eines Hügels ein wenig verschoben ist, und damit anfängt, hinabzurollen. Dieser Abschnitt befasst sich mit diesem Problem der kleinen Auslenkungen aus einer Bezugslösung, erstens für ein System mit einem einzigen Freiheitsgrad (§ III.2.1), dann für Systeme mit mehreren Freiheitsgraden (§ III.2.2). Dabei werden die beiden oben diskutierten Verhalten gefunden. Im letzteren Fall mit s > 1 Freiheitsgraden wird auch gezeigt, dass auch wenn diese unter einander gekoppelt sind, jedoch kann man immer s Linearkombinationen ihrer kleinen Variationen finden, die sich unabhängig von einander bewegen. Der Einfachheit halber beschränken sich die Diskussionen auf zeitunabhängige Systeme mit konservativen Kräften — der Fall mit dissipativen Kräften, die sich im Rahmen des LagrangeFormalismus nicht natürlich behandeln lassen, wird in § III.2.3 kurz erwähnt. Darüber hinaus wird angenommen, dass die Referenzlösung eine „Gleichgewichtslösung“ der Euler–Lagrange-Gleichungen darstellt, d.h. sie ist stationär (q0 ist zeitunabhängig), woraus sofort q̇0 (t) = 0 folgt. III.2.1 Eindimensionales Problem Wir betrachten zuerst ein physikalisches System mit einem einzigen Freiheitsgrad q(t). Dies kann z.B. die eindimensionale Bewegung eines Massenpunkts sein, oder die mehrdimensionale Bewegung mit genug Zwangsbedingungen damit am Ende nur s = 1 Freiheitsgrad übrig bleibt. Wie in der Einleitung angekündigt wurde, ist das System zeitunabhängig, d.h. seine LagrangeFunktion L hängt nicht von der Zeit ab. Für diese wird die Form f q(t) L q(t), q̇(t) = q̇(t)2 − V q(t) (III.20) 2 angenommen, mit einer kinetischen Energie die quadratisch von der generalisierten Geschwindigkeit abhängt. Dabei sind f und V genug reguläre Funktionen einer Variable. Sei q0 eine stationäre Lösung der assoziierten Euler–Lagrange-Gleichung, d.h. q̇0 (t) = 0. Damit q0 wirklich eine Gleichgewichtslösung ist, soll das Potential hat ein Extremum bei q0 haben V 0 (q0 ) = 0, (III.21) entsprechend einer verschwindenden generalisierten Kraft. Hier und danach bezeichnet der Strich die Ableitung nach der verallgemeinerten Kraft. Die Euler–Lagrange-Gleichung (II.9) lautet hier f 0 q(t) f q(t) q̈(t) + f q(t) q̇(t) = q̇(t)2 − V 0 q(t) , 2 0 2 so dass q̇0 (t) = 0 und damit q̈0 (t) = 0 automatisch zur Bedingung (III.21) führen. (18) Um diese qualitative Redensart mehr quantitativ auszudrücken, sollte man einen Abstand in einem Funktionenraum einführen, was hier nicht gemacht wird. 68 Lagrange-Formalismus: Anwendungen Wir betrachten nun eine kleine, zeitabhängige Variation der generalisierten Koordinate um den Gleichgewichtswert q(t) = q0 + δq(t), (III.22) wobei δq(t) „klein“ sein soll, d.h. höhere Potenzen [δq(t)]n sollen viel kleiner als die niedrigeren Ordnungen sein. Die Zeitableitung δ q̇(t) wird als kleine Größe der gleichen Ordnung wie δq(t) betrachtet. Die Taylor-Entwicklung der Lagrange-Funktion (III.20) zur zweiten Ordnung in δq, δ q̇ lautet f (q0 ) V 00 (q0 ) L q(t), q̇(t) = [δ q̇(t)]2 − V (q0 ) − V 0 (q0 )δq(t) − [δq(t)]2 + O [δq(t)]3 , 2 2 wobei im ersten Term auf der rechten Seite die höheren Terme in der Taylor-Entwicklung von f q0 +δq(t) nicht beitragen, weil [δ q̇(t)]2 schon zweiter Ordnung ist. Dank der Bedingung (III.21) verschwindet der dritte Term, während der zweite konstant ist, und daher zu den Bewegungsgleichungen nicht beiträgt. Somit bleibt f (q0 ) V 00 (q0 ) L q(t), q̇(t) ' [δ q̇(t)]2 − [δq(t)]2 − V (q0 ), 2 2 (III.23) d.h. die Lagrange-Funktion ist quadratisch in der verallgemeinerten Koordinate und der zugehörigen Geschwindigkeit, ohne Mischterm. Die Erklärung „δq(t) soll klein sein“ ist in der Tat sehr schlampig: da q(t), und somit δq(t), im Allgemeinen eine physikalische Dimension besitzen kann, hängt sein Zahlenwert von der gewählten Einheit ab, so dass δq(t) nicht „klein“ sein kann, sondern nur klein gegenüber einem Referenzwert. Ein mathematisch mehr präziser Weg von Gl. (III.22) nach Gl. (III.23) lautet wie folgt. Sei q1 (t) beliebig und δq(t) ≡ εq 1 (t), wobei |ε| 1 ist; dann gilt δ q̇(t) = εq̇1 (t). Betrachtet man L q0 (t)+εq1 (t), q̇0 (t)+εq̇1 (t) als eine Funktion von ε, so kann man ihre Taylor-Entwicklung um ε = 0 schreiben. Zur Ordnung ε2 gilt f (q0 ) V 00 (q0 ) [εq̇1 (t)]2 − V (q0 ) − V 0 (q0 )εq1 (t) − [εq1 (t)]2 . L q0 (t)+εq1 (t), q̇0 (t)+εq̇1 (t) ∼ 2 2 Mit εq1 (t) = δq(t) und εq̇1 (t) = δ q̇(t) ist dies genau Gl. (III.23). Ausgehend von der Lagrange-Funktion (III.23) und unter Verwendung von ∂/∂q = ∂/∂(δq) und ∂/∂ q̇ = ∂/∂(δ q̇) lauten die partiellen Ableitungen auf beiden Seiten der Euler–LagrangeGleichung (II.9) ∂L ∂L = −V 00 (q0 )δq(t), = f (q0 )δ q̇(t). ∂q ∂ q̇ Nach einer Zeitableitung des letzteren Terms lautet die Bewegungsgleichung schließlich δ q̈(t) = − V 00 (q0 ) δq(t). f (q0 ) (III.24) Je nach dem Zahlenwert des konstanten Verhältnisses V 00 (q0 )/f (q0 ) > 0 — oder eigentlich von V 0 ), weil f (q0 ) in physikalischen Problemen immer nicht-negativ ist, wie hiernach angenommen wird — lassen sich drei Fälle unterscheiden. 00 (q • Für V 00 (q0 ) > 0 kann man ω 2 ≡ V 00 (q0 )/f (q0 ) definieren. Dann ist Gl. (III.24) die Bewegungsgleichung eines harmonischen Oszillators mit Kreisfrequenz ω. Die allgemeine Lösung der Gleichung δq(t) = A cos(ωt) + B sin(ωt) mit Konstanten A und B, die von den Anfangsbedingungen abhängen, bleibt begrenzt: das System führt kleine Schwingungen um die Gleichgewichtslage q0 durch, die somit stabil ist. III.2 Kleine Schwingungen 69 • Für V 00 (q0 ) < 0 kann man κ2 ≡ −V 00 (q0 )/f (q0 ) einführen. Dann ist die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung δq(t) = Aeκt + Be−κt . Einer der beiden Terme — der erste falls κ > 0 ist — wächst exponentiell schnell mit der Zeit und ist daher unbegrenzt, d.h. bleibt nicht in der Nähe der Gleichgewichtslösung, die instabil ist. Wegen des Wachstums wird δq(t) nicht mehr „klein“, so dass die Näherungen, die zur Bewegungsgleichung führen, nicht mehr gelten. Anstatt unendlich zu wachsen, wird wahrscheinlich eine andere (Gleichgewichts)Lösung in endlichem Abstand von q0 gefunden. • Für V 00 (q0 ) = 0 führt die approximative Bewegungsgleichung (III.24) zu einer Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit, d.h. wieder unbegrenzt. Jedoch die höheren Terme in der TaylorEntwicklung könnten dieses Verhalten ändern.