Feminismus und die Ethik der Versöhnung

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Louise du Toit
Feminismus und die Ethik der Versöhnung
Published 26 June 2007
Original in English
Translation by Bettina Engels
First published in Glänta 4/2006 (Swedish version), 68-82
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© Louise du Toit/Mittelweg 36 Eurozine
Ich gebe Euch mein Himmelreich, das vielleicht einzig konsistente
Element meines politischen Lebens: mein Misstrauen gegen
Versöhnung. Damit verkünde ich ein neues Leben in Südafrika wider
jene, die einen Waffenstillstand zwischen alten Leben ausrufen […].
Ich stehe nicht für eine Bewertung der Versöhnungspolitik zur
Verfügung. Für mich geht Versöhnung nur über meine Leiche. [1]
Die Frage oder das Thema Vergewaltigung verweist auf einen blinden Fleck,
ein besonders auffälliges Symptom oder gar einen paradigmatischen Fall
bzw. Grenzfall [2] dessen, was uns als im Westen dominante “symbolische
Ordnung” übermittelt wurde. [3] In diesem Aufsatz versuche ich zu
verstehen, welche Bedeutung der Vergewaltigung in dieser besonderen
Ordnung zukommt, die ich als patriarchalisch beschreibe. Ein auf diesen
Kontext zugeschnittenes Verständnis erweist sich in mindestens zweifacher
Hinsicht als relevant:
Zum einen bin ich der Ansicht, dass wir die moralische, ethische und
politische Pflicht haben, ein schlüssiges Verständnis des Phänomens der
Vergewaltigung zu entwickeln, nicht nur um nachträglich angemessener auf
Opfer [4]und Täter eingehen zu können, sondern auch um klarer und
strategischer über die Prävention von Vergewaltigungen nachdenken zu
können. Die Dringlichkeit, die meiner Auseinandersetzung mit dem
Phänomen der Vergewaltigung zugrunde liegt oder sie motiviert, lässt sich
sicher auf meine persönliche Situation zurückführen: Ich lebe in einem Land
mit besonders hoher Vergewaltigungsrate (Schätzungen zufolge einer der
höchsten der Welt); [5] das Problem als solches betrifft jedoch natürlich
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nicht nur Südafrikanerinnen und Südafrikaner. Meine Analyse soll darüber
hinaus dazu beitragen, die Thematisierung der weiblichen Subjektivität oder
Individualität in der westlichen philosophischen symbolischen Ordnung zu
beleuchten. Ich möchte zeigen, dass “das Problem Vergewaltigung”
engstens mit der problematischen Identität von Frauen in ebendieser
Ordnung verknüpft ist.
Dieser Beitrag beleuchtet den politischen Übergang zur Demokratie in
Südafrika und den Diskurs der “Versöhnung” und “Vergebung” aus Sicht der
Frauen bzw. genauer: der weiblichen Vergewaltigungsopfer. Nach meiner
Lesart ist das, was allgemein lediglich als absichtsloser Ausschluss
weiblicher Opfer aus den Verhandlungen der Wahrheitsund
Versöhnungskommission (kurz: WVK oder Wahrheitskommission) [6]
wahrgenommen wurde – das Versagen der WVK, Vergewaltigungsopfern
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen –, kein schlichtes Versehen, sondern
vielmehr für die patriarchalische politische und symbolische Ord nung
unseres Landes konstitutiv. Durch ihr Versagen, eine Sprache und einen
Raum zu schaffen, in denen Vergewaltigung als politisches Thema eigenen
Rechts behandelt werden kann, hat die WVK ein “neues” oder
“gewandeltes” Südafrika auf den Weg gebracht, in dem die sexuelle
Differenz keine Anerkennung findet und auch nicht finden kann. Darüber
hinaus hat sie ein Eingeschlechtermodell der Politik etabliert, das männliche
Handlungsfähigkeit und männliches Opfersein sowie einseitig männliche
Belange und Sprechweisen immer noch als allgemein verbindlich darstellt
und auf diese Weise die Besonderheiten und Eigenarten weiblichen Seins
und Werdens in politischen und öffentlichen Räumen wirksam zum
Schweigen bringt. In Südafrika, ebenso wie in anderen Gesellschaften, die
sich am Modell einer “liberalen Demokratie” orientieren, scheint für eine
sexuell differenzierte symbolische Ordnung und eine entsprechende Politik
kein Platz zu sein.
So ist es nicht wirklich überraschend, dass die Vergewaltigungsraten seit
dem Übergang zu einem “demokratischen” Südafrika nicht gefallen, sondern
vielmehr konstant geblieben sind. [7] Eine wichtige Folgerung aus meiner
Lesart der Situation ist, dass die in Südafrika dominanten liberalen Modelle
feministischer Politik, die sich auf Universalität, Gleichheit und Inklusion
berufen (oft “Gender Mainstreaming” genannt), selten tief genug ansetzen,
um der (gegenwärtigen oder angestrebten) Position von Frauen in der Politik
gerecht zu werden, da Frauen als Frauen weder gänzlich ausgeschlossen
noch gänzlich eingeschlossen sind, eine politische Strategie der schlichten
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“Inklusion” mithin nicht weiterführt. Unsere [8] Funktion ist es vielmehr, die
politische Sphäre abzugrenzen. Wir als Frauen nehmen die Position einer
Grenze oder eines Horizonts des Ganzen ein, eine unbequeme, für die
politische Domäne konstitutive Position. Daher ist das liberale Paradigma,
das der Exklusion lediglich die Inklusion entgegensetzt und dabei die Grenze
zwischen “innen” und “außen” unproblematisch als gegeben und valide, als
unbestreitbar und apolitisch annimmt, kritisch zu überprüfen. Meines
Erachtens lassen sich Frauen nicht ohne eine weitgehende (radikale)
Zersetzung der Struktur des Politischen selbst, seiner “Grenzen” sowie
seines “Zentrums”, in die politische Sphäre einschließen.
Das “Weibliche” an der Grenze
Das Konzept “Versöhnung” steht in einer besonderen Beziehung zu dem,
was ich das “Weibliche” der symbolischen Ordnung in der “westlichen
philosophischen Metaphysik” nennen werde. Da man in dieser symbolischen
Ordnung das “politische Schicksal der Frauen”(im weitestgehenden Sinne)
nie ganz vom Schicksal des “Weiblichen” trennen oder scheiden kann,
obwohl es sich davon natürlich unterscheiden lässt, scheint man mit
Betreten des diskursiv unwegsamen Geländes der Versöhnung, des
Übergangs zur Demokratie und der Vergebung unweigerlich die sexuelle
Differenz in Rechnung stellen zu müssen. Der theoretische Blick sollte sich
aber auch in dem Sinne umkehren, dass Frauen und “das Weibliche” nicht
auf die Objektposition beschränkt werden dürfen, sondern gleichermaßen
eine Subjektposition einnehmen sollten. Aus diesem Grund lohnt es sich
meines Erachtens, das Thema “Versöhnung” aus weiblicher Perspektive
wieder aufzugreifen und neu zu formulieren.
Das Argument, Frauen und “das Weibliche” nähmen innerhalb der
traditionellen westlichen Metaphysik, die gegenwärtig zumal in den
einflussreichen liberalen politischen Theorien ihren Ausdruck findet, eine
unbequeme, grenzwertige Stellung ein, kann sich auf unterschiedliche
feministische Quellen berufen. [9] Dieses Unbehagen, diese ambivalente
und problematische Positionierung der weiblichen Subjektivität in den
bestehenden politisch-metaphysischen Ordnungen und Rechtsordnungen
des Westens bedeutet, dass Frauen/das Weibliche in diese Ordnungen
gleichzeitig eingeschlossen und von ihnen ausgeschlossen sind.
Kontinentaleuropäische und andere Philosophinnen [10] kamen folglich zu
dem Schluss, eine feministische Politik dürfe sich nicht mit der Forderung
nach Inklusion der Frauen in die bestehenden philosophischen und
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politischen Systeme, Agenden usw. begnügen. Denn in der Grundstruktur
dieser Systeme und Ökonomien sind Frauen bzw. das Weibliche immer
schon “eingeschlossen”, allerdings auf ambivalente, ironische oder
außergewöhnliche Weise. Statt “kurzerhand” feststellen zu wollen, ob
Frauen nach einer bestimmten Logik oder einem bestimmten Paradigma
eingeschlossen oder ausgeschlossen sind, ist es sinnvoller, die ambivalente
Position von Frauen vis-à-vis jedem beliebigen Paradigma als konstitutiv für
das Paradigma selbst zu betrachten. Nach der Inklusion oder Exklusion von
Frauen in einer beliebigen symbolischen Ordnung zu fragen bleibt eine
oberflächliche Geste, solange Frauen und “das Weibliche” dazu da sind, die
Ränder, Grenzen und die Logik dieses Universums zu gewährleisten,
aufrechtzuerhalten, zu symbolisieren und zu repräsentieren. Frauen stellen
die Grenze an sich dar – unsere Körper, Orte oder Subjektivitäten legen die
Grenzen des Denkbaren, des Vernünftigen, des Politischen fest. In einer
denkwürdigen Einlassung stellt sich Jean-François Lyotard ebendiesen Punkt
folgendermaßen vor:
Alles ist vorbereitet für den männlichen Imperialismus: ein leeres
Zentrum, an dem man die STIMME (Gottes, des Volkes – es macht
keinen Unterschied, nur die Großbuchstaben sind von Bedeutung)
vernehmen kann, der Kreis homosexueller [11] Krieger, der sich zum
Gespräch um das Zentrum gruppiert, das Weibliche (Frauen, Kinder,
Fremde, Sklaven) jenseits der Ränder des corpus socians verbannt
und nur mit den Eigenschaften ausgestattet, mit denen dieser corpus
nichts zu tun haben will: Wildheit, Empfindsamkeit, Materie und
Küche, Triebhaftigkeit, Hysterie, Schweigen, mänadischen Tänzen,
Lügen, teuflischer Schönheit, Dekoration, Laszivität, Hexerei und
Schwäche. [12]
Für Lyotard “schreibt sich der männliche corpus selbst aktive Prinzipien zu”
und kann in Wirklichkeit nicht aufhören, das “passive” Objekt ergreifen zu
wollen, dessen “scheinbare Humanität sich immer entzieht”, weil “die
STIMME im VIRILEN ZENTRUM nur von den Grenzen des REICHES (die die
Frauen bilden) spricht und wir [Männer, das herrschende Geschlecht]
unaufhörlich mit ihrer Exteriorität kämpfen müssen”. Wir treffen hier auf
einen merkwürdigen Rollentausch im Herzen der patriarchalischen Logik:
Man sieht das marginale oder zum Schweigen gebrachte Weibliche
ausgerechnet im Innersten (Zentrum) des corpus socians wirken. Dies bringt
Lyotard zu der Frage:
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Ist ein solches Objekt dann nicht unbewusst mit dem ausgestattet,
was wir Aktivität nennen? Und verrät die diesem Objekt
zugestandene Macht, Ränke zu schmieden, nicht durch die Umkehr
ihrer Rolle [die der Frauen, A.d.Ü.] die heimliche Umkehr der
unsrigen? (Begehrt der westliche Mann denn nicht, von einer Frau
penetriert zu werden?) Ist die Außenseite des männlichen Theaters
nicht überhaupt das Wichtigste, selbst für Männer? Entdeckt er dort
nicht seinen ‘Ursprung’? Und muss dieser Ursprung nicht notwendig
eine Frau sein: Ist die Mutter nicht die ursprüngliche Frau? Das heißt
so, wie das äußere Geschlecht in der Theorie dargestellt wird: selbst
grundloser Grund, in dem Bedeutung erzeugt wird? Das sinnlose
SEIN? [13]
Diese Lyotard-Zitate bringen das Dilemma der “Frauen in der Politik” im
Westen elegant auf den Punkt – Frauen sind der grundlose Grund, müssen
aber an den Rändern des REICHES [14] verharren, von wo aus wir dennoch
eine wesentliche (anstiftende oder anregende, immer aber indirekte oder
vermittelnde) Rolle spielen. Wenn die homosexuellen Krieger das sichtbare
und hörbare Zentrum der westlichen Zivilisation – der politeia – bilden und
von dort aus die Herrschaft über die gesamte Gesellschaft für sich
beanspruchen, dann bildet der Kreis der Frauen oder der Kreis weiblicher
Körper ihren Außenbezirk – unsere Körper sind ihre äußere Grenze, ihre
Grenzen, ihr Grenzland, und als solche gehören wir ebenso zum “Innern” wie
zum “Äußeren”, zum “Jenseits” und sogar zum “Vorher” – wir sind das
Objekt, das menschlich zu sein scheint, es aber nicht ist. Deshalb müssen
wir immer noch “das Menschliche” oder verallgemeinerte Männliche werden,
müssen uns zu diesem Zweck umwandeln und zivilisieren lassen. Das von
der Ordnung der homosexuellen Krieger als ihr Gegenteil definierte
“Weibliche” ist trotz allem von zentralem Interesse, sofern die Grenzen ihres
Reiches und damit auch die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit zentral
sind, wenn auch oft auf verschwiegene oder verdrängte Weise. [15]
Ich entnehme der Beschreibung Lyotards die Vorstellung von der Frau als
Grenze in wenigstens zweifacher Hinsicht: 1. der Frau als Ursprung des
Mannes, als grundloser Grund, in dem Bedeutung erzeugt wird; und 2. der
Frau als Schicksal des Mannes – der äußeren Grenzen seiner Existenz,
desjenigen, was ihn zur (Selbst-)Transzendenz auffordert, was ihn aus sich
selbst herausreißt. Während Frauen als “Vor-Menschen” (im Sinne des noch
nicht Menschlichen) sicherlich mit den Außengrenzen oder äußersten
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Grenzen des vernunftbegabten Lebens, der Zivilisation, der Politik und des
Rechts in Verbindung gebracht werden, werden wir in einem anderen Sinne
(im Sinne jener Menschen, die stets vorhergehen, der ursprünglichen
Menschen, mit anderen Worten der Mütter) als “Vor-Menschen” mit den
inneren Grenzen des vernunftbegabten Lebens in Verbindung gebracht. In
einer etwas technischeren Sprache ausgedrückt, bilden Frauen sowohl einen
transzendenten (abstrakten und idealisierten) als auch einen
transzendentalen (vorausgesetzten) Rahmen oder Horizont für die
männliche symbolische Ordnung. Frauen (bzw. weibliche Körper) befinden
sich darum nicht nur insofern an den Rändern, als wir auf mehrdeutige
Weise sowohl gänzlich außerhalb wie auch auf den inneren Rand der
männlichen Ordnungen postiert werden; wir befinden uns in Wirklichkeit
auch im Herzen dieser Ordnungen, und zwar genau wegen unserer
Abwesenheit vom VIRILEN ZENTRUM. Indem wir die Zuflucht und
Transzendenz, das Sein (das Ins-Leben-Treten oder die Geburt und den
Lebenserhalt) und das Werden der Männer repräsentieren, eröffnen Frauen
einen Spannungsraum, ein Spannungsfeld, einen Erzählrahmen für die
männliche Existenz.
Über die Unmöglichkeit, Vergewaltigung zu
vergeben
Jacques Derridas Essay “Jahrhundert der Vergebung” [16] stellt eine
treffende Verbindung zwischen meinen Überlegungen zur weiblichen
Subjektivität in der zeitgenössischen Philosophie, zur Vergewaltigung und
der südafrikanischen Politik des Übergangs zur Demokratie und der
Vergebung her. Der Essay bezieht sich auf das Nicht-Vergeben [17] einer
bestimmten (ungenannten) Frau, die vor der Wahrheits- und
Versöhnungskommission aussagt. Obgleich Derrida ihrem Geschlecht im
Hauptteil seines Essays keine Bedeutung beimisst, fügt er der Beschreibung
dieser Frau als “weibliches Opfer/Ehefrau des Opfers” eine interessante
Fußnote hinzu, in der er die Aufmerksamkeit auf Geschlechtsunterschiede
lenkt. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Antjie Krogs
Beschreibung [18] der Situation kämpfender Frauen, die während der
Folterung vergewaltigt “und anschließend beschuldigt wurden, keine
Kämpferinnen, sondern Huren zu sein”. [19] “Sie”, so sagt Derrida, “konnten
nicht vor der Kommission und nicht einmal in ihren Familien Zeugnis
ablegen, ohne sich selbst zu entblößen, ohne ihre Narben zu zeigen oder
sich durch ihre Zeugenaussage weiterer Gewalt, einmal mehr der Gewalt
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auszusetzen.” Und er fügt hinzu: “Die ‘Vergebungsfrage’ kann diesen
Frauen, von denen einige heute ranghohe Staatsämter bekleiden, nicht
einmal öffentlich gestellt werden.” [20] In dieser knappen, aber gleichwohl
wichtigen Randbemerkung Derridas bleibt vieles unausgesprochen oder
stillschweigend vorausgesetzt. Ich empfinde es als ermutigend, wie sich
Derrida im Jahr 1999 [21] auf die sexuelle Differenz einlässt, da man ihm ja
oft nachgesagt hat, er neutralisiere diese Frage auf ähnliche Weise wie etwa
Lyotard; [22] dennoch ist es natürlich ebenso bedauerlich wie
verantwortungslos, das Thema in eine Fußnote zu verbannen. Darauf
möchte ich im Folgenden näher eingehen.
Derridas Text wirft etliche entscheidende Fragen auf (ohne sie zu
beantworten). Zunächst einmal: Warum konnten diese Frauen über ihre
Vergewaltigungen nicht vor der Kommission und “nicht einmal in ihren
Familien” (also privat) Zeugnis ablegen? Geht es Derrida hier einfach um die
wohlbekannte Tatsache, dass sich Vergewaltigungsopfer schwer tun, (offen)
über ihre Misshandlung zu sprechen, weil sie sich schämen oder sich
stigmatisiert fühlen? Falls es lediglich um das Sprechen über die eigene
Vergewaltigung geht, warum stellt er dann zunächst fest, dass diese Frauen
nicht öffentlich (und nicht einmal privat) sprechen könnten, um des Weiteren
festzustellen, diesen Frauen, von denen etliche heute, wie er hinzufügt,
Machtpositionen bekleiden, könne die Vergebungsfrage nicht öffentlich
gestellt werden? Was hat die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat
an dieser Stelle zu suchen, wenn Derrida sie gleich darauf durch die
Behauptung sprengt oder ad acta legt, diese Frauen könnten “nicht einmal
in ihren Familien” sprechen. Worin besteht die Unmöglichkeit? Ist es
unmöglich, weil sie Personen des öffentlichen Lebens sind oder obwohl sie
politische Macht haben? Und welcher Logik folgt diese Unmöglichkeit?
Wohlgemerkt sagt er nicht, diese Frauen könnten nicht vergeben. Das ist
zwar mitgemeint, Derridas Behauptung geht aber weit darüber hinaus: Die
Vergebungsfrage kann ihnen nicht gestellt werden – nicht öffentlich, aber
vermutlich auch nicht privat (in “der Familie”). Betrachtet Derrida die
öffentliche “Entblößung”, das “Enthüllen” und “Zeigen” ihrer Narben als
integralen Bestandteil ihrer Zeugenaussage und sieht er diese Art von
enthüllender Zeugenaussage als integral oder unerlässlich für die
Vergebungsfrage an? Und vor allem: Warum sollte eine solche
Zeugenaussage (über die Vergewaltigung eines Mannes oder einer Frau)
notwendigerweise gleichbedeutend sein mit “weiterer Gewalt” und einem
zweiten (oder fortgesetzten) Missbrauch des Opfers, während alle anderen
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Zeugenaussagen – selbst die Dutzender von Männern, die ausgesagt haben,
“anal penetriert” [23] worden zu sein – nicht etwa als Missbrauch, sondern
als eine Art von Befreiung und Anerkennung des Opfers angesehen werden?
Falls Derrida alle Zeugenaussagen als Missbrauch derer, die aussagen,
betrachtet, so spricht er dies nicht aus.
Warum ist es unmöglich, diesen Frauen, nicht aber allen anderen Opfern der
vor 1994 erlittenen Gewalt, die Vergebungsfrage auch nur zu stellen? Und:
Unterscheidet sich die Situation dieser Frauen von der aller anderen
Vergewaltigungsopfer in Südafrika – jener Opfer, die nach wie vor angeblich
“außerhalb politischer Zusammenhänge” in einem rein “unpolitischen”,
“privaten” oder “kriminellen” Sinn” vergewaltigt werden? Macht der
politische Kontext, also die Tatsache, dass es Kämpferinnen waren, die
vergewaltigt wurden, die Vergewaltigungen verzeihlicher oder weniger
verzeihlich? Man sollte in Erinnerung behalten, dass die
Wahrheitskommission versuchte, einen Schlussstrich unter eine gewalttätige
und unrechtmäßige Vergangenheit zu ziehen. Zu den eher üblen Folgen
dieses Versuchs gehört das Vakuum, von dem grobe
Menschenrechtsverletzungen umgeben sind – werden heutzutage Frauen
und Kinder vergewaltigt und verprügelt, betrachtet man dies als rein
“private” Angelegenheit. Da wir nun angeblich in einer ebenso gänzlich
“gerechten” politischen Ordnung leben, wie vormals in einer gänzlich
ungerechten, scheinen Verbrechen nicht mehr aus politischen Gründen
begangen werden zu können. Während der Zeit des politischen Kampfes
wurde die Vergewaltigung von Frauen im Namen ebendieses Kampfes
gerechtfertigt; man sah Vergewaltigung entweder als Waffe des Terrors, als
Foltermethode, oder man nutzte die weibliche Sexualität schlicht als Mittel,
um soldatisches Handeln zu motivieren oder zu belohnen. Dieser Strategie
bedienten sich nebenbei bemerkt beide “Seiten” des “Kampfes”. [24]
Vergewaltigung diente demnach dazu, Frauen vom Kampf als einem
politischen Raum auszuschließen, und sie trug auch dazu bei, symbolisch
das “Homeland”, die Privatsphäre, den friedlichen Ort zu markieren, der
früher existiert hatte und eines Tages wiederkehren würde. Die Körper der
Frauen standen für das, was seinem Wesen nach außerhalb “des Realen”
liegt, außerhalb der Politik und des Krieges, was aber insbesondere auch das
ist, worum gekämpft wird: das Land, die Heimat, der Mutterleib, die
menschliche Existenz. Am historischen und politischen Wendepunkt (den die
Arbeit der Wahrheitskommission in den 1990er Jahren meines Erachtens
darstellt) wurde Vergewaltigung unter andere (männlich geprägte) Diskurse
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des Missbrauchs und der Unterdrückung subsumiert bzw. in deren Schatten
gestellt, obwohl sie kurzzeitig als politisches Phänomen – und insofern sie
politisch verstanden werden konnte – Aufmerksamkeit genoss. Dennoch
trugen die Wahrheitskommission und die von ihr angeregten Debatten leider
dazu bei, die politische Natur und Bedeutung der Vergewaltigung in der Zeit
nach dem Übergang zur Demokratie zu verschleiern. Die
Wahrheitskommission kennzeichnete Vergewaltigung nicht eindeutig als
eine das Politische definierende Handlung und als eine Form der Inschrift
des männlichen Machtkampfs auf weibliche Körper. Die Unfähigkeit bzw. der
Unwille, Vergewaltigung in der gegenwärtigen Ordnung als einen politischen
Akt der Frauenunterjochung anzusehen, zeigt meines Erachtens, in welchem
Ausmaß es die Wahrheitskommission versäumt hat, Frauen im Rahmen des
nationalen politischen Versöhnungsprozesses eine Stimme zu geben. Auch
kam ihr nicht in den Sinn, dass eine politische Versöhnung zwischen den
Geschlechtern nottäte oder ein politischer Wandel oder Wechsel im Hinblick
auf sexuelle Differenz, Geschlechterpolitik und sexuelle Unterdrückung
erforderlich wäre. Als im Laufe der Anhörungen und in den Protokollen der
Wahrheitskommission die offizielle Version dieser Kämpfe geprägt wurde,
stellten andere Formen der Unterdrückung und des Missbrauchs, deren
Opfer in großer Mehrzahl Männer waren, die Vergewaltigung vollkommen in
den Schatten. Indem die Wahrheitskommission “den” Kampf im Sinne
männlicher Kämpfe deutete und Frauen am Wegrand der Geschichte stehen
ließ, trug sie nach 1994 in einer Weise dazu bei, Vergewaltigung und andere
frauenspezifische Themen aus der öffentlichen Wahrnehmung und den
politischen Programmen verschwinden zu lassen, wie sie im Fall von vor
allem Männer betreffenden Menschenrechtsverletzungen – wie etwa
(“geschlechtsneutrale”) Folter – nie möglich gewesen wäre. Obgleich die
Wahrheitskommission einen großartigen Beitrag zum wider Erwarten
friedlichen und transparenten Machtwechsel geleistet hat, steht sie doch
auch für die gegenwärtige Tendenz, die sexuelle Differenz nicht zu
politisieren, ihr in der Politik keine Bedeutung beizumessen und Frauen auf
der politischen Bühne nicht als Frauen erscheinen und sprechen lassen zu
wollen.
Es wäre also durchaus denkbar, dass die Unmöglichkeit von Vergebung, die
Derrida hier (wie ich finde, zu Recht) konstatiert, in keinem der genannten
Faktoren begründet liegt, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie
Vergewaltigung zu Folterzwecken die kämpfenden Frauen als Kämpferinnen
diskreditiert zu haben scheint, dieser Akt sie symbolisch von Kämpferinnen
zu Huren gemacht und ihnen einen (geschlechtsspezifischen) Ort und eine
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ebensolche Identität im Politischen verweigert hat. Man bediente sich der
sexuellen Identität der Frauen, um das Unpolitische, das jenseits oder im
Vorfeld der Politik Gelegene, den Horizont des Politischen zu definieren.
Vergewaltigung wurde zum Mittel, um das Politische als männlich-allgemein
abzugrenzen und die politische und moralische Handlungsfähigkeit von
Frauen aufzuheben oder zu annullieren. In dieser Funktion, als Akt, der die
Grenze oder den Horizont des Politischen und Moralischen festlegt oder
nachzeichnet, konnte Vergewaltigung selbst nicht umstandslos als
Verbrechen innerhalb der Sphären des Moralischen und des Politischen
aufscheinen. Die strukturell notwendige symbolische Unsichtbarkeit der
Vergewaltigung im Kontext des Freiheitskampfes beruht auf der
Unsichtbarkeit von Frauen und verstärkt sie wiederum. Sie befördert unser
Durchdringen eines Systems – gerade weil wir in ihm (gegenwärtig)
abwesend sind -, dem wir als Hüter, Wächter und symbolische Garanten
dienen. Nachdem heute der Übergang zur Demokratie vollzogen ist und wir
uns auf dem Weg in eine neue politische Ordnung befinden, ist zu fragen:
Wenn Frauen (und Kinder) nach wie vor in erheblicher Zahl vergewaltigt
werden, welche politische Bedeutung oder Signifikanz kommt dem eigentlich
zu?
Meine Lesart des Befreiungskampfes und des Übergangs zur Demokratie
kann sich u.a. auf Antjie Krogs Publikation und den Bericht über die spezielle
Frauenanhörung vor der Wahrheitskommission stützen. [25] Aus diesen
Texten geht eindeutig hervor, dass eine der üblichen Methoden,
Kämpferinnen im Gefängnis zu “brechen”, darin bestand, ihnen zu verstehen
zu geben, “echte Frauen” hielten sich der Politik fern, blieben “sicher” zu
Hause und kümmerten sich “verantwortungsvoll” um ihre Familien – eine
Haltung, die – ironisch und bedrohlich zugleich – auch unter einigen
Vertretern der Befreiungsbewegung Widerhall fand. [26] Da gute Frauen
unpolitische, rein private Wesen zu sein haben, war die Teilnahme einer Frau
am Freiheitskampf erklärungsbedürftig und wurde wie folgt stigmatisiert:
“Du bist nicht die richtige Art von Frau – du bist verantwortungslos, du bist
eine Hure [meine Hervorhebung], du bist dick und hässlich oder allein
stehend und dreißig und suchst einen Mann.” [27] Eine
verantwortungsbewusste Frau hat keine unabhängige, reife oder autonome
politische Identität, sondern lediglich eine private, sexuelle und
unterstützende (d.h. abgeleitete). Die Botschaft war und ist
unmissverständlich: Du kannst nicht gleichzeitig eine Frau (ein sexuelles
Wesen) und eine politisch Handelnde sein, und du kannst deiner sexuellen
Besonderheit nur öffentlich oder politisch Gestalt geben, indem du deine
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Sexualität (im elementarsten Sinne) den wahren politischen
Handlungsträgern, nämlich den Männern, zur Verfügung stellst.
Zum politischen Kampf gehörte vor allem die Aktivierung [28] weiblicher
Sexualität durch Vergewaltigungsfolter; sie wurde angewandt, um Frauen
ihre politische Identität, ihre Würde und ihr Selbstbewusstsein zu rauben.
Man versuchte, Frauen durch ihr Verantwortungsgefühl für hilfsbedürftige
Personen zu manipulieren, sie sexuell und moralisch zu demütigen – die
Bindung der Frauen an ihre Kinder oder Föten wurde ausgebeutet, um die
extreme Verletzbarkeit ihrer “Identität” bloßzustellen. Man verunglimpfte
das, wofür sie eintraten, als unbezahlte Prostitution, was wiederum
Vernehmungsbeamten, Polizisten und Soldaten als Lizenz zum sexuellen
Missbrauch diente. Frauen wurden auf ihr Geschlecht reduziert und ihrer
vollen Menschlichkeit beraubt. In den Lagern des ANC außerhalb Südafrikas
wurden die “Kameradinnen” vergewaltigt, man hielt sie als Mätressen und
beschränkte ihre Rolle für die Bewegung auf eine sexuelle Funktion. Hierin
liegt möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Derridas
Rede von der “Unmöglichkeit der Vergebung” oder des schlichten Stellens
der Frage ungeachtet einer möglichen Antwort meint. Frauen befanden sich
zugleich im Herzen des Kampfes (auf beiden Seiten wurden sie häufig zum
eigentlichen Anlass für den Kampf stilisiert) und waren diesem doch von
Grund auf fremd – sie standen am Rande, waren die Ausnahme, sie bildeten
einen Überschuss, man konnte sie ausbeuten, sie waren nicht am rechten
Ort – grundsätzlich Vertriebene.
Es nimmt demnach nichtwunder, dass Frauen unter dem Einfluss der
Wahrheitskommission und der “neuen” politischen Ordnung Schwierigkeiten
hatten, eine Sprache zu finden, in der sie über ihre politische Rolle und ihr
geschlechtsspezifisches Leid hätten Rechenschaft ablegen können. Man
erwartete von ihnen, ihre geschlechtsspezifische Unterdrückung in
sogenannte “neutrale” (maskulin-universelle) Begriffe und Logiken zu
übersetzen. Die von der Wahrheitskommission gesetzten Bedingungen und
die gewählte Terminologie, die in den Aufruf zur Zeugenschaft einging,
drückten bereits eine hochgradige Voreingenommenheit gegenüber den
Geschichten, die Frauen über ihre geschlechtsspezifische Unterdrückung zu
erzählen hatten, aus; sie brachten die Stimmen von Frauen, die als Frauen
sprachen, die dagegen protestierten, wie man sie während des Kampfes auf
unterschiedliche Weise zum Schweigen gebracht hatte, ihrerseits wirksam
zum Schweigen. [29] Es ist keineswegs erstaunlich, dass Frauen auf diese
Schweigen gebietende Geste häufig mit einer bloßen stummen Inszenierung
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ihres zum Schweigen verdammten Zustands reagierten: Manche Frauen
sagten schlicht und ergreifend aus, dass sie nicht aussagen könnten. [30]
Und genauso, wie Derridas Essay über Vergebung Frauen(-belange)
graphisch und textuell an den Rand schiebt, indem er sie lediglich in einer
Fußnote zu Wort kommen lässt und die Frage der sexuellen Differenz aus
dem Kern seines Hauptargumentes über Vergebung heraushält, hat auch
der Bericht der Wahrheitskommission den Ausschluss von Frauen als
politisches Problem ersten Ranges an den Rand seines Textes gedrängt. Das
Versagen der Wahrheitskommission, der marginalisierten Position von
Frauen im politischen Diskurs und in der Realität Rechnung zu tragen, hat
vielleicht mit dazu beigetragen, dass Vergewaltigungen nach 1994 als
“private Verbrechen” unvermindert fortgesetzt wurden. Dies würde auch
erklären, warum die gegenwärtige südafrikanische “Versöhnungs”-Debatte
bisher noch keine “Frauenperspektive” entwickelt hat. Dass es der
Wahrheitskommission nicht gelang, ein Vokabular zur Verfügung zu stellen,
um über den grundsätzlichen, strukturellen Ausschluss von Frauen aus der
Politik (im Sinne einer Marginalisierung) – der sich inter alia in Südafrikas
Vergewaltigungs-“Epidemie” [31] niederschlägt- sprechen zu können,
garantierte tatsächlich, dass es (strukturell, logisch, politisch) unmöglich
blieb, den weiblichen Vergewaltigungsopfern öffentlich die Vergebungsfrage
zu stellen. Das bedeutet, dass sich die Marginalisierung von Frauen nicht auf
eine böse Apartheids-Vergangenheit begrenzen, in ihr “absperren” und
verwahren lässt. Im Gegensatz zu manch plumperer Form von Rassismus
hat sie den politischen Übergang erstaunlich unbeschadet überstanden. Die
Unterdrückung der Frau ist nach wie vor ein strukturelles Merkmal der
südafrikanischen Nation und ihrer Politik (dasselbe kann man gewiss auch
von anderen “feminisierten” Bevölkerungsteilen wie etwa den Armen
behaupten). Dies mag ein weiterer und vielleicht sogar entscheidender
Grund sein, warum diesen Frauen nicht (in der Gegenwartsform) die Frage
nach Vergebung gestellt werden kann. Ihre Unterdrückung hat noch kein
Ende gefunden, sie wurde tatsächlich noch gar nicht als solche anerkannt.
Bisher wurde noch keine öffentliche, von allen gemeinsam benutzbare
Sprache gefunden, “es” (den sexuellen Missbrauch bzw. die Vergewaltigung,
die die Männer dieses Landes in so großer Zahl an Frauen und Mädchen
begehen) auf eine Weise benennen zu können, die für Frauen und Männer,
für Vergewaltigungsopfer und Vergewaltiger, gleichermaßen verständlich
wäre, eine Sprache, die in einem öffentlichpolitischen, intersubjektiven
Rahmen Gewicht besäße. Denn es erscheint grotesk, Personen, auch wenn
die Ungerechtigkeit ruchbar wird, um Vergebung zu bitten, während man sie
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zur gleichen Zeit weiter beschädigt und missbraucht.
Vergebung und Versöhnung scheinen (wenn überhaupt) logisch erst dann
zu folgen, wenn die Ungerechtigkeit beendet ist und das “Verbrechen” oder
der Schaden von beiden Seiten wohl bestimmt und gut verstanden wurden.
Diese Begriffe haben nur Sinn, wenn eine gewisse Zeit der Gewaltlosigkeit
vergangen ist und man die Machtbeziehungen neu definiert hat. In
gewissem Sinne müssen die Parteien der Versöhnung und Vergebung
wenigstens annähernd Gleiche sein und dieselbe Sprache sprechen. Es ist
mithin nachvollziehbar, dass der Schaden, das, was Frauen als Frauen
angetan wurde und am klarsten in Vergewaltigungen, aber ebenso in
“alltäglicheren” Erfahrungen sexueller “Tötung” oder “Desubjektivierung”
zum Ausdruck kommt, in der Sprache der Vergebung (noch) nicht
ausgedrückt werden kann. Nach wie vor ist nicht offensichtlich, welche Art
von Verletzung eine Vergewaltigung darstellt, weil die von der
Ideengeschichte des Westens beeinflussten oder beherrschten symbolischen
Ordnungen Vergewaltigung nicht als politischen Akt und nicht als
geschlechtsspezifisches Verbrechen an Frauen anerkennen können. Frauen
können für Vergewaltigungen nicht um Vergebung gebeten werden, weil
kein klarer öffentlicher und politischer Konsens darüber besteht, dass es
“etwas” zu vergeben gibt (ein Konsens, der heut zutage natürlich im Falle
der Apartheid und anderer Formen kolonialer Unterdrückung hergestellt ist).
Und unter denen, die tatsächlich meinen, dass die Vergewaltigung einer
Frau irgendeine Form der Vergebung erfordert, herrscht wenig
Einverständnis darüber, was genau vergeben werden soll, welcher Art der
Schaden ist, der erlitten wurde. Darüber hinaus ist dieses systematische
“Missverständnis” oder Missverstehen von Vergewaltigung nicht unschuldig,
sondern ideologisch motiviert. Es ist aufs Innigste mit einer der
beharrlichsten Selbsttäuschungsphantasien der westlichen Moderne
verknüpft, nämlich mit der Vorstellung, das spezifisch Männliche
repräsentiere das Allgemeine. Die Unfähigkeit, Vergewaltigung als etwas zu
verstehen, das nach Vergebung schreit, als historisches und anhaltendes
Verbrechen an Frauen als Frauen und als etwas, für das Männer öffentlich
und im Namen politischer Versöhnung um Vergebung bitten sollten,
entspricht dem Unwillen, der sexuellen Differenz im Allgemeinen
systematisch politischen Ausdruck zu gestatten; sie zehrt von ihm und
bestärkt ihn weiter.
Die Vergebung ist eine Frau
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Im letzten Absatz seines Essays stellt Derrida eine Verbindung zwischen
Vergebung und der Geschichte der Souveränität her. Im Akt der Vergebung,
so Derrida, bestätigt sich manchmal Souveränität. Das “Ich vergebe dir”
wird oft “von oben nach unten ausgesprochen, bekräftigt ihre eigene
Freiheit oder maßt sich die Macht an zu vergeben, sei es als Opfer oder im
Namen des Opfers”. [32] Wenngleich er diesen Typus “souveräner”
Vergebung “unerträglich”, “hassenswert”, ja sogar “obszön” findet, scheint
er nichtsdestoweniger anzunehmen, ein gewisser Bestandteil an
Souveränität sei für die Vergebung unerlässlich, wenn er sagt: “Man muss
also auch an eine absolute Viktimisierung denken, eine solche, die das Opfer
des Lebens oder des Rederechts beraubt oder jener Freiheit, jener Kraft und
jener Macht, die es erlauben, die Position des ‘Ich vergebe’ einzunehmen
[meine Hervorhebung].” [33] Das Unverzeihliche besteht hier darin, “das
Opfer dieses Rederechts, der Rede selbst, der Möglichkeit jeder Äußerung,
jedes Beweises zu berauben”. “Das Opfer”, sagt Derrida, “wäre unter diesen
Umständen überdies Opfer, dadurch dass es sich der minimalen,
elementaren Möglichkeit beraubt sieht, [Derridas Hervorhebung] virtuell in
Betracht zu ziehen, das Unverzeihliche zu verzeihen”. Und er fügt
bemerkenswerterweise hinzu: “Dieses absolute Verbrechen geschieht nicht
allein in Form des Mordes. [34]
Vergewaltigung (ob sie sich nun im “Krieg” ereignet oder nicht) ist ein
solches absolutes Verbrechen, auch wenn Derrida die Verbindung zwischen
Vergewaltigung und absoluter Viktimisierung nicht ausdrücklich herstellt.
Vergewaltigung ist eine Form des absoluten Verbrechens, weil sie das
Subjekt-Selbst der Person tötet, an der das Verbrechen begangen wird.
Vergewaltigung ist (nämlich) genau eine Weise, “jene Freiheit, jene Kraft
und jene Macht, die den Zugang zur Position des ‘Ich vergebe’ autorisiert
oder erlaubt“, zu rauben. Vergewaltigungsopfer können oftmals nicht einmal
die Position des “Ich klage an” erreichen, ganz zu schweigen von der
Position des “Ich vergebe”. Das liegt meines Erachtens nicht an einem
irgendwie gearteten inneren Wesen der Vergewaltigung, sondern an der Art
und Weise, in der Funktion und Bedeutung von Vergewaltigung in einer
patriarchalischen, sexistischen, zu Vergewaltigung neigenden Gesellschaft
wie der südafrikanischen konstruiert werden. Die Unmöglichkeit,
Vergewaltigung zu vergeben, ist deshalb vor allem in den strukturell
ungleichen Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen zu suchen.
Diese These wird durch Derridas Argument gestützt, dass das
“Unverzeihliche” vielleicht nicht nur aufgrund des Ausmaßes des zugefügten
Schadens [35] als unverzeihlich definiert oder wahrgenommen wird, sondern
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auch aufgrund der besonderen Machtkonstellationen, die dazuführen
können, dass schwere Ungerechtigkeiten systematisch unsichtbar [36] und
unsagbar und für immer unbeachtet und unbeantwortet bleiben. Die Frage
der Macht (der Macht, um Vergebung, um Verzeihung gebeten zu werden,
darum, die Vergebung des Unverzeihlichen in Erwägung zu ziehen) ist daher
von großer Bedeutung für das Problem der Vergebung. Nur die relativ
Mächtigen können schließlich überhaupt in die Position gelangen, aus der sie
möglicherweise berechtigt und ermächtigt sind (symbolisch, sozial und in
anderer Hinsicht), Vergebung in Betracht zu ziehen. Da Menschen an sich
soziale (d. h. sozial und sprachlich konstituierte) Wesen sind, ist es praktisch
unmöglich, die Vergebung von etwas in Erwägung zu ziehen, von der
bedeutende andere im privaten und öffentlichen Umfeld nicht glauben, sie
bedürfe der Vergebung, weil sie den angeblichen Schaden des angeblichen
Verbrechens nicht als solchen erkennen. Die Sprache der Vergebung setzt
auf einer fundamentalen, intersubjektiven Ebene eine gemeinsame Sprache
des Schadens, ein geteiltes Verständnis des Wesens und Ausmaßes der
Verletzung voraus.
Nachdem er festgestellt hat, dass “Vergebung, wann immer sie wirksam
ausgesprochen wird, eine souveräne Macht zu erfordern scheint”, wiederholt
Derrida seinen “Traum”, seinen “Wahnsinn”, das, was er “als die ‘Reinheit’
einer Vergebung, würdig dieses Namens, […] eine Vergebung ohne Macht
[meine Hervorhebung]: unbedingt, aber ohne Souveränität”, zu denken
versucht. [37] Wir wissen, dass Derrida mit diesem Traum, diesem Wahnsinn
reiner Vergebung (“nur das Unverzeihliche kann vergeben werden” – meine
Hervorhebung) einen transpolitischen, translegalen Bereich
herauszuarbeiten versucht, ein Verständnis von Vergebung, das sich nicht
auf das Politische reduzieren oder darin fassen lässt, und doch möchte er
“aus diesem transpolitischen Prinzip ein politisches Prinzip” machen: “Man
muß in der Politik auch das Geheimnis respektieren, das, was Politik
übersteigt oder das, was nicht mehr vom Rechtlichen herkommt.” [38] Dies
ist meines Erachtens das Herzstück seiner These zur Vergebung. “Reine”
Vergebung, die unbedingt und ohne Souveränität geschieht, gehört zu dem,
was das Politische (das Zweckmäßige, das Kalkulierte, das Durchsichtige,
das Vernünftige) übersteigt, aber dennoch von der Politik respektiert werden
sollte. Aus dieser Einstellung heraus steht er dem Gebrauch des Begriffs
“Vergebung” (etwa) in der Arbeit der südafrikanischen Wahrheitskommission
kritisch gegenüber, weil er Vergebung hier auf die pragmatischen Vorgänge
der Versöhnung reduziert sieht. Die beiden von ihm identifizierten Pole,
nämlich den der Vergebung im Sinne einer “nicht verhandelbaren, nicht
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ökonomischen, apolitischen, unstrategischen Unbedingtheit” (oder reinen
Vergebung) und den der Vergebung als politischer Prozesse der Versöhnung
und Wiederherstellung der Gesundheit und Normalität des corpus socians,
lassen sich ebenso wenig aufeinander reduzieren wie voneinander trennen.
Dieser Horizont einer “hyperbolischen” ethischen Vision der Vergebung ist
aus Derridas Sicht unerlässlich für die Möglichkeit eines Fortschritts im
Recht, und dieses “Feld” zwischen dem Empirischen und dem Idealen ist der
“Raum”, den er für alle ethischen und politischen Entscheidungen öffnen
und offenhalten möchte.
Für Derrida [39] eröffnet also “die Frau” in ihrer jüngsten Verkleidung als
reine Vergebung auch ein Feld für das Werden des (männlichen) Rechts. Wie
Derrida aber selbst anzuerkennen scheint, wenn auch nur in einer
Randbemerkung, bleibt “die Frau” und bleiben “die Frauen” ungeachtet
dieser positiven Bewertung der “Gestalt der Frau” (oder vielleicht gerade
wegen ihr) in einer Zwischenwelt gefangen, in der sie sich sowohl innerhalb
wie außerhalb der legalen, politischen und symbolischen Ordnungen
befinden. Die ketzerische Frage, die ich dieser Tradition (im Einklang mit
Irigarays Denken) gerne stellen möchte, lautet: Was ist mit dem Werden, der
Vergebung und Versöhnung der Frauen selbst? Wenn Frauen diese
konstitutive, aber grenzwertige Position vis-à-vis dem “Realen” und den
realistischen Prozessen der Politik, Versöhnung und Vergebung innehaben,
wenn wir durch unsere Nicht-Inklusion und unser systematisches VerletztWerden die Erinnerung an die “reine” Vergebung wachhalten, dafür aber
unter anderem den Preis zahlen, dass man uns nicht einmal um Vergebung
bitten kann, sollten wir Frauen dann Widerstand leisten oder sollten wir
diese weibliche, patriarchalisch zugeteilte Position als Platzhalterinnen des
Jenseits nicht vielmehr bereitwillig annehmen?
Indem diese philosophische Tradition das, was das Politische, das Rationale,
das Strategische übersteigt, zugleich feminisiert und idealisiert, bringt sie
den Grenzstatus der Frauen immer wieder in ein neues Format, als das, was
das männliche “Ich” (oder “sein” Gesetz, seine Moralität) aus dem Zentrum
der symbolischen Ordnung zur Selbstüberschreitung, zum Werden und
Wachsen verleitet, verführt, verlockt. Das heißt, die sexuelle Differenz der
Frau (im Vergleich zum Mann) wird wieder einmal und immer aufs Neue auf
die Verlockung, auf eine Funktion für das Werden des Mannes reduziert. Als
unbedingter Empfang (Lévinas) und als unbedingte, unaussprechliche und
machtlose Vergebung (Derrida), als grundloser Grund oder Ursprung des
menschlichen/ männlichen Werdens (Lyotard) bedeutet die grenzwertige
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Subjektposition der Frau, dass ihr sowohl eine Grenze als auch ein Grund für
ihr eigenes Sein und Werden fehlt. Sie ist Differenz – zum männlichen
Allgemeinen und Differenz – für das männliche Allgemeine. In dieser
Metaphysik bleibt die Differenz der Frauen tendenziell immer schon für das
männliche Sein (Zugehörigkeit, Heimkehr) und das männliche Werden
(Fortkommen) angeeignet, sowohl in ihrer transzendentalen wie
transzendenten Form.
Nach Irigarays Vorstellung [40] bedeutet dies, dass bislang noch keine
Beziehung zwischen Frau und Mann existiert – die Frau ist immer noch
gefangen in der männlichen Selbstbespiegelung (und sei es auch im
Spiegelbild seines idealisierten Selbst), und er hat noch nicht entdeckt, dass
sie für ihn eine Andere, eine radikale Alterität und absolute Grenze darstellt,
die er nicht überschreiten und die sein Geist nicht fassen kann. Sie hat sich
noch nicht als absolutes, ungezähmtes und unfassbares Anderes zum Mann
gesetzt.
Vielmehr bleibt sie die weibliche Mutter/Andere [m/other], die ihm seinen
Maßstab, sein Haus gibt. In Irigarays Begriffen bleibt sie “die Andere
desselben”, ohne den Aspekt des (für das Männliche) radikal zerstörenden,
von Grund auf herausfordernden “Anderen des Anderen” anzunehmen, also
eines anderen Gesichts, dem er begegnen muss.
Vor diesem Hintergrund könnte man behaupten, dass ein Begriff wie
“Versöhnung”, der die Rückkehr in eine verlorene “Heimat”/ein verlorenes
“Heim” oder zu einer zerrissenen “Zusammengehörigkeit” beinhaltet,
teilweise auf einer feminisierten und nostalgischen Vorstellung der “Heimat”
als des ursprünglichen und unbedingten (fast sinnlosen) Lévinas’schen
Ur-“Empfangs” [41] basiert, nämlich der Mutter oder Gebärmutter. Diese
statische und zeitlose Heimat wurde immer außerhalb der Zeit des
männlichen Werdens konzipiert und als ein Rahmen für ebendiese Reise
gebraucht: Das männliche Subjekt nimmt seinen Ausgang in der “Heimat”
und kehrt dorthin zurück, in die Heimat, im Vergleich zu der er weit kommt
und ein Held wird. Alles Bedeutsame findet in der Zeit der Männer statt: die
lineare Zeit heldenhaften Handelns, Wachstums, Wandels, heldenhafter
Produktivität und Transzendenz. “Die Heimat” und “das Weibliche” dienen
als starrer Hintergrund, vor dem die männliche Leistung und das Vergehen
der Zeit messbar werden.
Das Weibliche repräsentiert so etwas wie einen absoluten, “reinen” und
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unbedingten Empfang – eine Logik oder Ökonomie, die “offensichtlich” in
den Realitäten der männlichen Reise, der (männlichen, realen und
realistischen) Politik weder funktionieren noch erscheinen kann, aber
trotzdem die schweigende Inspirationsquelle zu dieser Reise selbst bildet.
Überträgt man dies nun auf die politischen Prozesse der Versöhnung und
Vergebung in Südafrika, so kann man davon ausgehen, dass Frauen in einer
von zwei möglichen Positionen gefangen bleiben werden: 1. in der
(ursprünglichen, transzendentalen Frauen oder Mutter-) Position unbedingter
Vergebung, der Position der je schon Geopferten, [42] der Mutter-Heimat,
die letztlich keine eigenen Bedingungen stellt und keine eigenen Grenzen
setzt, bei der wir uns darauf verlassen können, dass sie all ihren
“verlorenen” Söhnen verzeiht und alle wieder bei sich aufnimmt; oder 2. in
der Position der (immer sich entziehenden, idealisierten und distanzierten,
transzendenten) “Geliebten”, die das männliche Werden und Überwinden
hin zum mysteriösen “Anderen” befördert, während sie selbst auf diese
Weise von der Möglichkeit des Seins und Werdens ausgeschlossen, daraus
vertrieben ist. Die Vertreibung der Frau aus der Politik kann entweder zum
transzendentalen (mütterlichen) oder zum transzendenten (erotischen) Pol
neigen, in beiden Fällen aber wird das Politische eindeutig als MännlichAllgemeines gekennzeichnet und der Politik die sexuelle Differenzierung
verwehrt. Grenzen und Werden der Frau fallen damit unkritischen
(unreflektierten) Theorien der Versöhnung und Vergebung zum Opfer, womit
es Frauen strukturell unmöglich wird, anzuklagen und zu vergeben. Hier liegt
auch der Grund für eine Reduktion von “Versöhnung” und” Vergebung” auf
nichts anderes als die brüderliche Umarmung im Haus der Mutter, in dem
von der Mutter hergerichteten Haus (das sie in gewissem Sinne selber ist)
und das sie auch führen soll, allerdings auf Kosten ihrer eigenen
Zugehörigkeit (und ihres eigenen Werdens). Sie ist die notwendige
Bedingung der Versöhnung, von der sie selbst getilgt bleibt.
Ungeachtet der zwischen beiden bestehenden Unterschiede scheinen
sowohl Lacan als auch Irigaray davon auszugehen, dass eine tiefe, aber
verdrängte Sehnsucht – getrieben von Schuldgefühlen gegenüber der Mutter
und von einem Verlangen nach ihr – die männliche Identität durchdringt.
[43] Man darf darüber hinaus annehmen, dass diese Sehnsucht in Zeiten
(kollektiven oder individuellen) Traumas stärker oder tiefer, das Bedürfnis
sicherer und unbedingter Zugehörigkeit sogar noch ausgeprägter sein wird.
Paradoxerweise wäre es genau dieses brennende Bedürfnis nach
selbstverständlicher und unbedingter Zugehörigkeit, das wiederum seinen
Teil zu traumatisierenden Ereignissen wie Völkermord oder Apartheid
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beitragen würde. Dieselbe unreflektierte und unproblematisierte männliche
Sehnsucht nach dem Mütterlichen wäre mithin ein Beweggrund sowohl für
die Zufügung eines Traumas als auch für das anschließende Bedürfnis nach
Versöhnung. Sofern sich beide, Völkermord und Versöhnung, also
möglicherweise aus derselben (männlichen) Sehnsucht nach der
Mutter/Gebärmutter oder einer politischen (maskulinisierten) Version der
Mutter speisen, sind beide Sehnsüchte natürlich hochproblematisch. Anders
gesagt: Das Verlangen nach Zugehörigkeit, nach Heimat kann mit dem
Verlangen gleichgesetzt werden, im Vertrauten zu bleiben, und daraus kann
schnell der Wunsch erwachsen, an einem Ort zu sein, an dem nichts anders
oder andersartig ist, für immer in einer jungfräulichen Ordnung des Reinen,
Ungeteilten oder Selben zu bleiben, in einer Ordnung, in der eine
grundlegende Intoleranz gegenüber dem Fremden, Anderen oder NichtÄhnlichen regiert. [44]
Eine neue mütterliche Heimat?
Im Laufe des Befreiungskampfes wurden wir Frauen immer wieder
sexualisiert und in unsere Rolle der privaten, sorgenden Kreatur und
Sexdienerin des Mannes zurückgedrängt und auf diese Weise jeder öffentlichpolitischen Handlungsfähigkeit und Identität beraubt. So lässt sich
Vergewaltigung in jener Zeit auch als das verstehen, was eine Grenze
zwischen Mitteln und Ziel, zwischen gewalttätiger Gegenwart und utopischer
Zukunft, zwischen der Realität männlichen Kampfes, Heldentums und
pragmatisch-politischen Handelns einerseits und dem Ideal weiblicher
Passivität, Gerechtigkeit und Versöhnung andererseits setzte.
Vergewaltigung grenzt die private, sexuelle von der öffentlich-politischen
Sphäre ab, indem sie Frauen, die am Öffentlich-Politischen teilnehmen,
bestraft und (re)sexualisiert, doch destabilisiert sie diese Aufteilung auch
wieder durch den Einsatz sexueller Gewalt als Mittel des Krieges.
Vergewaltigung ist weder privat noch öffentlich, und sie ist beides zugleich:
Mit ihrer Hilfe wird die Grenze zwischen beiden Bereichen gezogen und
kontrolliert.
Damit es Männern möglich werden kann, Frauen für Vergewaltigungen
öffentlich um Vergebung zu bitten, muss die Aufteilung zwischen öffentlich
und privat so grundlegend korrigiert werden, dass Frauen in der öffentlichen
Sphäre sowohl als vollkommen Gleiche wie auch als vollkommen sexuell
differenzierte Subjekte erscheinen können. Das Unbehagen, das wir aus
Derridas Formulierungen über Frauen, die öffentlich oder privat über ihre
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Vergewaltigung aussagen, heraushören, und seine Furcht, sie würden sich
unweigerlich “weiterer Gewalt” aussetzen, wenn sie öffentlich aussagten,
muss vor diesem Hintergrund verstanden werden. Vergewaltigung ist
(wenigstens in bestimmten Gesellschaften) das Mittel der Wahl, um der
Aufteilung zwischen beiden Sphären Nachdruck zu verschaffen und um uns
Frauen durch gewaltsame Sexualisierung unserer Identität aus dem
Öffentlich-Politischen heraus und ins Private zurückzudrängen.
Vor dem Hintergrund der problematischen Beziehung, die Frauen sowohl
zum privaten Heim als auch zur öffentlich-politischen Heimat haben, ist es
meines Erachtens wichtig, alternative Versionen oder Visionen von
Heim/Heimat zu entwickeln, die Frauen nicht dadurch obdach- bzw.
heimatlos machen, dass sie Frauen oder das Weibliche mit dem Heim bzw.
der Heimat der Männer gleichsetzen. Positiv formuliert: Mir ist daran
gelegen, dass wir Frauen uns heimisch oder zugehörig, geborgen und in
unserer geschlechtsspezifischen Identität voll und ganz anerkannt fühlen.
Damit Frauen Männern als gleiche und sexuell unterschiedene, “sexuell
andere” Subjekte im öffentlich-politischen Bereich begegnen können (sodass
aus der abstrakten Idee einer Vergebung für Vergewaltigungen eine reale
Möglichkeit wird), ist es, wie ich glaube, unverzichtbar, dass wir uns
symbolisch und physisch geborgen und zugehörig fühlen. Diese
Geborgenheit, diese Zugehörigkeit darf nicht zur Disposition stehen. Auch
wenn “Souveränität” vielleicht ein allzu starker Begriff ist (zu männlich in
seinen Ursprüngen und Zielen?), bringe ich die Vorstellung von ZuhauseSein oder Zugehörigkeit doch mit einem Stand-Punkt in Verbindung, einem
sicheren Selbstgefühl, einem sicheren Ort für das Selbst, von dem aus man
auf den anderen zugehen kann. Soll eine Politik der sexuellen Differenz
Wirklichkeit werden, dann müssen wir Frauen ein starkes Gefühl für unsere
(sexuell unterschiedliche und unterscheidende) Subjektivität entwickeln,
damit wir Männern in öffentlichen Räumen eher in Bejahung unserer
andersartigen Subjektivität als in Verneinung dessen, was uns von ihnen
unterscheidet, begegnen können.
Nach meiner Einschätzung müssen wir uns offen und unmissverständlich
mit den weiblichen Konnotationen von Versöhnung auseinandersetzen.
Sofern Versöhnung mit Passivität, (Selbst-)Aufopferung, dem Empfangen des
anderen, mit Umarmung, Rückkehr, dem unendlichen und lockenden
Horizont und dem Unbedingten assoziiert wird, steht sie im Banne der
westlichen Metaphysik und ihrer traditionellen Konzeptionen des Weiblichen.
Das Problem stellt sich nach der jüngeren philosophischen “Wende zum
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Weiblichen” folgendermaßen dar: Obwohl dem Weiblichen ethische Priorität
zugestanden wird und man es sogar als ethisches Modell für das männliche,
virile Subjekt ansieht, sind die Auswirkungen dieses Schachzugs für Frauen
und insbesondere für unser Sein und Werden, unsere Subjektivität und
Transzendenz in keinem der entsprechenden philosophischen Werke
ausbuchstabiert. In meiner Kritik an einer allzu simplifizierenden
Identifikation der Frau mit Heim/ Heimat habe ich zu zeigen versucht, dass
Vergebung und Versöhnung auf dauerhafte und konsistente Weise von einer
Sehnsucht nach der Mutter zu trennen ist, da die Sehnsucht nach der Mutter
erstens sexuelle Gewalt gegen Frauen provozieren kann (im Versuch, den
privaten, sexuellen Bereich rein und abgeschieden zu halten) und zweitens
die öffentliche Vergebung für Vergewaltigung zu einer Unmöglichkeit
macht.
Versöhnung sollte für uns stattdessen die Bedeutung annehmen, zu lernen,
“wie man im Raum hängt, ohne durch irgendetwas gestützt zu werden”.
Diese Formulierung findet sich in Jeanette Wintersons Kurzgeschichte
“Orion”. [45] In der Geschichte vergewaltigt der Gott Orion die Göttin
Artemis, nachdem es ihr in gewissem Maße gelungen ist, sich in ihren
Jagdgründen zu Hause zu fühlen. Eine Jägerin zu sein und damit eine
traditionell männliche Rolle einzunehmen, wird in der Geschichte als etwas
für eine Frau und selbst für eine Göttin Waghalsiges geschildert: Sie muss
ihren Vater unter Druck setzen, um dafür die Erlaubnis zu bekommen.
Artemis versucht, für sich etwas von der “langbeinigen Freiheit” der Männer
zu ergattern, die die Welt als Jäger durchstreifen. Schnell begreift sie, dass
die eigentliche Herausforderung der Freiheit mehr mit geistiger Kraft zu tun
hat (und damit, zu lernen, wie man mit all den unterschiedlichen eigenen
Ichs lebt) als mit physischer Stärke. So richtet sie sich ein, findet irgendeine
notdürftige Unterkunft, lebt mit ihren Hunden in einer Hütte, jagt und lernt
mit sich selbst in all ihren Erscheinungen (Kind, Königin, Jägerin usw.) zu
leben. Statt ihre Identität von einem Mann (Vater, Ehemann oder Sohn)
abzuleiten und ihm ein Heim zu bereiten, gibt sie dieser Existenz den
Vorzug. Ihre Behausung wird von Orion entdeckt, der sie implizit dafür
bestraft, das Leben eines Mannes zu führen, statt seine Frau zu werden. Er
zerstört ihr Heim, tötet ihre Hunde und vergewaltigt sie schließlich. Durch
die Vergewaltigung nun auch noch des notdürftigen und provisorischen
Sicherheitsgefühls dieses “Lagers” beraubt, das auf unsicheren Beinen
zwischen Frauenwelt und Männerwelt balancierte, entdeckt Artemis, dass es
möglich ist, “im Raum [zu hängen], ohne durch irgend etwas gestützt zu
werden”. Die Geschichte lässt mehrere Interpretationen dieses Satzes zu.
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Was ich hier damit zum Ausdruck bringen will, ist zunächst einmal die
Zurückweisung einer Sehnsucht nach dem perfekten, zeitlosen, mütterlichen
Heim und zweitens die Idee oder den Traum, dass man “im Raum hängen”
oder “weitermachen” kann, ohne am Ende doch irgendjemanden oder
irgendetwas für das eigene Sein und Werden verantwortlich zu machen.
Es ist also auch der Traum, zu lernen, wie man seine eigenen Ängste und
Verluste erträgt, ohne sie auf andere zu projizieren, denen man dann die
Last dieser Projektion aufbürdet. Durch die Verletzung ihres grundlegenden
Heimat oder “Zuhause-Sein”-Gefühls, ihres Körpers und die Zerstörung ihres
Lagers lernt Artemis, weitgehend ohne (metaphysischen) Halt zu leben. Die
Vergewaltigung zerstört die Grundlagen ihrer persönlichen Existenz so
radikal, dass sie sich dadurch unweigerlich vor die Frage gestellt sieht, ob
sie ohne jeden Halt und ohne jeden Grund leben, einen Raum einnehmen,
jemand sein kann. Vergewaltigung zwingt eine Frau letztlich anzuerkennen,
dass ihre Existenz auf nichts Substantiellem ruht – weder in physischem
noch in symbolischem Sinn. Die Geschichte wirft die wichtige Frage nach
Zugehörigkeit und Subjektivität der Frau auf: Können Frauen eine Identität
oder Subjektivität haben, die sich weder an der traditionellen
(metaphysischen) männlichen Identität oder Subjektivität orientiert, noch
ganz und gar aufhört, Identität oder Subjektivität zu sein? Diese Frage lässt
sich allerdings nicht einfach auf die Frage postmetaphysischer Identität oder
Subjektivität im Allgemeinen reduzieren, denn eine solche Allgemeinheit
verliert unweigerlich alles Geschlechtsspezifische aus dem Blick und schreibt
damit die eingeschlechtliche Logik der westlichen Metaphysik fort. Die
Geschichte hält uns vielmehr Möglichkeiten weiblicher Subjektivität vor
Augen, die weder metaphysisch noch das reine Nichts sind, das die
Metaphysik Frauen traditionell zugeschrieben hat. Dieser Traum, dieser
Wahnsinn (um mich der Derrida’schen Begrifflichkeit zu bedienen) wird von
dem Ausdruck “im Raum hängen” eingeholt, der das Einnehmendes Raums
und damit das Person-Sein und den Mangel an letztem Grund oder an letzter
Hilfe in einem einzigen Bild auffängt.
Solange Versöhnung also implizit als Rückkehr zu der alles verzeihenden,
passiven und nährenden Mutter verstanden oder konzipiert wird, deren
Empfang unbedingt zu sein hat und die für sich selbst keine Grenzen setzt,
die niemals nein sagt und nie aufhört zu vergeben, [46] werden solche
“Heimkünfte”, ob man sie nun in politischem, religiösem oder anderem
Sinne begreift, immer nur zu Lasten der Zugehörigkeit und des Werdens der
Frauen selbst und zu Lasten der Gerechtigkeit für Frauen als Frauen
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geschehen. Die Bedingung der Möglichkeit für Vergebung ist, kurz gesagt,
dass Frauen endlich nicht mehr aus der symbolischen Ordnung
ausgeschlossen werden. Und dies ist nur dann möglich, wenn die
Geschlechter aneinander (an dem jeweils irreduzibel anderen Geschlecht)
ihre absolute Grenze und damit ihre Heimat finden. Die Geschlechter
müssen sich durch radikale Abgrenzung voneinander und durch die
Sexualisierung oder sexuelle Differenzierung des Politischen gegenseitig zur
Welt bringen und einander eine Stimme geben. Nicht weniger als ein solcher
Prozess wäre nötig, um die politische Wunde zwischen den Geschlechtern in
Südafrika zu heilen – eine Wunde, die sich als dauerhafter und verderblicher
erweisen könnte als unsere gewalttätige rassistische Vergangenheit mit
ihrer zugegebenermaßen schrecklichen Rassentrennung.
Eine längere Version dieses Aufsatzes findet sich in: Law and the Politics of
Reconciliation, hrsg. v. Scott Veitch, Aldershot 2007.
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Footnotes
1. Der südafrikanische Schriftsteller Njabulo S. Ndebele legt diese Worte in
seinem Roman über Ausgrenzungserfahrungen von Frauen während der
Apartheid und des Befreiungskampfes der selbstreflexiven fiktiven Figur
Winnie Mandela im Namen aller südafrikanischen Frauen in den Mund. Vgl.
Njabulo Ndebele, The Cry of Winnie Mandela, Claremont, Südafrika, 2003,
S.112f.
2. Ich verwende den Begriff "Grenze" hier nicht, um Marginalität im Sinne
von Unwichtigkeit oder Unklarheit zu bezeichnen, sondern vielmehr im Sinne
einer für das gesamte System maßgeblichen Abgrenzung. Ich lehne ihn an
Karl Jaspers Gebrauch des Begriffs Grenzsituation an. Für Jaspers sind solche
Grenzsituationen die tiefste Quelle der Philosophie. Vgl. Karl Jaspers,
Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, 31. Aufl.,
München/Zürich 1994, S.18.
3. Das Phänomen der Vergewaltigung, verstanden als erzwungener
Geschlechtsverkehr, ist gewiss nicht auf sogenannte westliche
Gesellschaften beschränkt. Für die Zwecke dieser Untersuchung möchte ich
mich jedoch auf den "Ort" bzw. die Bedeutung der Vergewaltigung innerhalb
der kulturellen Symbolik des Westens konzentrieren, ohne irgendwelche
Vermutungen darüber anzustellen, wie andere Kulturen oder symbolische
Ordnungen mit Vergewaltigung "umgehen" oder sie symbolisch abbilden.
4. Vergewaltigungsopfer wie feministische Aktivistinnen lehnen den Begriff
"Opfer" ab, einige ersetzen ihn durch den Terminus "Überlebende". Vgl.
Charlene Smith, Proud of Me. Speaking Out against Sexual Violence and HIV,
London 2001. Wenn ich den Begriff "Opfer" beibehalte, so möchte ich weder
die Gefühle derer verletzen, die eine Vergewaltigung überlebt haben, noch
gar damit fortfahren, die Handlungsfähigkeit oder Subjektivität von Frauen
zu verleugnen, indem ich unsere Machtlosigkeit gegenüber
Vergewaltigungen betone. Nach meiner Überzeugung sollten wir diese
Gefühle lieber kritisch hinterfragen, als sie einfach zu bejahen.
Vergewaltigungsopfer wehren sich ungleich stärker als andere Opfer (etwa
von Autounfällen) gegen die mit dem Begriff des "Opfers" verbundenen
Vorstellungen von Machtlosigkeit, weil es im Kern ebendiese Machtlosigkeit
ist, die man durch die Verletzung und Demütigung einer Vergewaltigung
demonstriert bekommt. Es ist also wichtiger, sich mit dem Ursprung des
Problems zu befassen (der mangelnden politischen Subjektivität und
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Handlungsfähigkeit von Frauen), als sich mit oberflächlichen sprachlichen
Veränderungen zufriedenzugeben. Man wird nicht zu einer Überlebenden,
indem man das Ausmaß verleugnet, in welchem man Opfer gewesen ist.
Tatsächlich kann ein derartiges Verleugnen des Opferseins und die mit ihm
einhergehende Betonung der Handlungs- und Widerstandsfähigkeit des
Opfers ungewollt zur Folge haben, dass Untersuchungen, die analysieren,
wie allgemeine gesellschaftliche Überzeugungen einer "Ethik des
Vergewaltigens" Vorschub leisten, gar nicht durchgeführt werden.
5. Im September 2004 berichtete der Präsident der südafrikanischen Polizei,
Jackie Selebi, dass die Polizei zwar bei der Bekämpfung der meisten
Verbrechen Erfolge zu verzeichnen hat, nicht aber bei der von
Vergewaltigungen. 1994 wurden 115,3 Vergewaltigungen pro 100.000
Einwohner aktenkundig, 2003/04 waren es 113,7 pro 100.000. Im Gegensatz
zu einer Schätzung der Kommission zur Rechtsreform [Law Reform
Commission], die von 1,7 Millionen Vergewaltigungsfällen im Jahr ausgeht,
erstatten jedes Jahr nur etwa 54.000 Vergewaltigungsopfer Anzeige. Nach
Angaben von Interpol hat Südafrika weltweit die höchsten Vergewaltigungsund HIV-Raten. 2002 berichtete der medizinische Forschungsrat [Medical
Research Council], dass 26 Prozent der Ärzte/innen und
Krankenpfleger/innen, die Opfer von Vergewaltigungen behandelten,
Vergewaltigung nicht als gravierendes medizinisches Problem betrachteten.
Und der möglicherweise schrecklichsten Statistik Südafrikas ist zu
entnehmen, dass 41 Prozent der Vergewaltigungsopfer jünger als zwölf Jahre
alt sind. All diese Statistiken sind Charlene Smiths Artikel "Rape has become
a sickening way of life in our land", The Sunday Independent, 26. September
2004, S.5, entnommen.
6. Die Einrichtung dieser Kommission erfolgte nach langen Verhandlungen
zwischen Vertretern verschiedener politischer Gruppierungen in Südafrika
Anfang der 1990er Jahre. Von Anfang an wurde die Kommission als wichtiges
Instrument zur Berücksichtigung der moralischen, ethischen und religiösen
Dimensionen des politischen Übergangs und Machttransfers betrachtet.
7. Die jüngsten Verbrechensstatistiken Südafrikas (vom September 2005)
zeigen, dass außer Entführungen und Gewalt gegen Frauen und Kinder alle
Verbrechensformen zurückgegangen sind. Letztere hat im Vergleich zum
Vorjahr gar um 4 Prozent zugenommen.
8. Wenn ich über Frauen spreche, verwende ich in diesem Artikel die erste
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Person Plural des Personalpronomens, wohl wissend, dass sich ebenso viele
gute Gründe für wie gegen den Gebrauch des "Wir" anführen lassen. Ich
sehe keinen schlüssigen Ausweg aus diesem Dilemma, habe aber
beschlossen, mich stilistisch als Frau zu identifizieren und meine Stimme mit
der "Frauen... wir/unsere" Position zu verbinden, weil mein Argument darauf
zielt, dass wir stets gänzlich von unserem Geschlecht bestimmt sind (auch in
unserem Denken und Schreiben) und dass wir uns alle (Frauen und Männer vielleicht vor allem die Männer) dessen zunehmend bewusst werden sollten.
9. Dazu gehören beispielsweise: Carole Pateman, The Sexual Contract,
Cambridge/Oxford 1988; Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen
Geschlechts, übers. v. Xenia Rajewsky u. a., 6. Aufl., Frankfurt/Main 1996.
10. Belege für die These, dass eine Mehrheit der australischen Feministinnen
zu ähnlichen Schlüssen gekommen ist, finden sich in: Carole
Pateman/Elizabeth Grosz (Hrsg.), Feminist Challenges. Social and Political
Theory, Boston 1986.
11. Ich bin mir nicht sicher, was Lyotard hier unter homosexuell versteht.
Der Satz bezieht sich vielleicht nur auf eine Bevorzugung der homosexuellen
vor der heterosexuellen Liebe in der antiken griechischen Philosophie und
Praxis, etwa in Platons Symposium; er erinnert aber auch sehr an Irigarays
Konzept der "hom(m)osexuellen" politischen und symbolischen Ordnung,
deren ökonomische Logik durch die männliche "Liebe zum Selbst oder Liebe
zum Selben" bestimmt wird. Vgl. Irigaray, Speculum, S.124-132.
12. Jean-François Lyotard, "One of The Things at Stake in Women's
Struggles", in: Andrew Benjamin (Hrsg.), The Lyotard Reader,
Oxford/Cambridge 1989, S.111-121.
13. Ebd.
14. Im Kapitalismus verschwinden die Frauen nicht durch Exilierung, sondern
durch Homologisierung: Lyotard zufolge "verschwinden [Frauen] im
männlichen Zyklus, entweder als Arbeiterinnen in der Warenproduktion oder
als Mütter in der Reproduktion der Arbeitskraft oder wiederum als Waren; sie
selbst (Covergirls, Prostituierte der Massenmedien, Hostessen der Human
Relations) oder gar als Sachwalterinnen des Kapitals (Managerfunktionen).
Daraus folgt, dass "Frauen nur Teil der modernen Gesellschaft sein können,
wenn ihre Unterschiede neutralisiert werden" und dass die zeitgenössische
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"Kultur der Erotik" durch und durch kapitalistisch ist: Sexuelle Unterschiede
werden neutralisiert und "geraten weltweit unter das Gesetz der
Austauschbarkeit." Ebd., S.116.
15. In diesem Sinne spricht Luce Irigaray von einem symbolischen
Muttermord als Gründungsgeste der westlichen philosophisch-politischen
Ordnung und Rechtsordnung. Irigaray, Speculum.
16. Jacques Derrida, "Le siècle et le pardon", in: Le Monde des Débats,
Dezember 1999, S.1-10; deutsch: "Jahrhundert der Vergebung", Jacques
Derrida im Gespräch mit Michel Wieviorka, in: Lettre International, Heft
48/2000, S. 10-18. (In der deutschen Version fehlt die Fußnote, um die es
hier geht. Sie wird im Folgenden aus der englischen Übertragung zitiert, A.
d. Ü.). Engl.: On Cosmopolitanism and Foregiveness, London/New York 2002.
17. Die besagte Frau wurde gebeten, im Namen ihres Mannes, der während
des Freiheitskampfes getötet wurde, zu vergeben und lehnte dies folglich
ab. Daraufhin bat man sie nur indirekt selbst zu vergeben, nämlich das ihr
als Frau des (eigentlichen) Opfers zugefügte Leid. Dies war die typische
Situation, in der sich Frauen, die an den Prozessen der Wahrheitskommission
teilnahmen, wiederfanden - die Situation, im Namen der eigentlichen,
männlichen Opfer, mit denen sie als in einer engen Verbindung stehend
angesehen wurden, um Vergebung gebeten zu werden. Die Frau, auf die
sich Derrida im Haupttext bezieht, ist in diesem Zusammenhang also
insofern beispielhaft, als sie nicht um Vergebung für etwas gebeten wird,
was ihr selbst widerfahren wäre.
18. Antjie Krog, Country of My Skull, Johannesburg 1998, S.117ff.
19. Derrida, On Cosmopolitanism, S. 60.
20. Ebd.
21. In diesem Jahr erschien On Cosmopolitanism auf Französisch; vgl.
Anm.16.
22. Vgl. etwa Rosi Braidotti, Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual
Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994, S.124.
23. Antjie Krog bemerkt, dass sich Männer im Verlauf der WVK-Prozesse
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weigerten, in ihren Aussagen das Wort "Vergewaltigung" zu verwenden. Sie
sagten aus, "anal penetriert worden zu sein oder dass man ihnen
Eisenstangen eingeführt" habe. Ihr Kommentar dazu: "Dadurch machen sie
Vergewaltigung zu einer Frauensache. Indem sie ihre eigene sexuelle
Unterwerfung unter männliche Brutalität verleugnen, verbrüdern sie sich mit
den Vergewaltigern und verschwören sich mit ihnen gegen ihre eigenen
Frauen, Mütter und Töchter..." Der Begriff "Vergewaltigung" ist also Krogs
Interpretation nach ausschließlich für die sexuelle Unterwerfung der Frauen
reserviert und wird dadurch in seiner Bedeutung sexistisch. Vgl. Antjie Krog,
Country, S.182.
24. Ebd., S.181.
25. Diese "speziellen Frauenanhörungen" oder "geschlechtsspezifischen
Anhörungen" fanden statt, nachdem das Zentrum für angewandte
Rechtswissenschaften (CALS) an der Universität von Witwatersrand 1996 bei
der Kommission wegen ihrer "mangelhaften Aufmerksamkeit für
geschlechtsspezifische Themen" eine Eingabe gemacht hatte.
26. Govan Mbeki, ein ANC-Veteran, sagte, "Frauen stellten ein Problem für
die Befreiungsbewegung dar, weil sie etwas wissen wollten [über die Politik,
die Bewegungen ihrer Ehemänner]". TRC of SA Report, Bd. 4, S.289.
27. Krog, Country, S.179.
28. Krog zitiert die Wissenschaftlerin Sheila Meintjes, die davon ausgeht,
dass die sexuelle Folter von Männern und Frauen gegensätzliche Ziele
verfolgt. "Die sexuelle Folter von Männern soll sexuelle Passivität
hervorrufen und politische Macht und Stärke vernichten, während Folter die
Sexualität von Frauen aktivieren soll." Sie fügt den entscheidenden Zusatz
an, dass es "viel Wut auf Frauen gibt -- weil Frauen keine Befugnis haben,
aber oft eine ganze Menge Macht". Krog, Country, S.182.
29. Das Gesetz zur Förderung der nationalen Einheit und Versöhnung (Nr. 34
von 1995) erteilte der Wahrheits- und Versöhnungskommission unter
anderem den Auftrag, "sich ein möglichst umfassendes Bild vom Wesen, den
Gründen und dem Ausmaß grober, politisch motivierter
Menschenrechtsverletzungen (wie z. B. der Folter, Tötung, Entführung und
schweren Misshandlung) zu machen". Aus einer frauenspezifischen
Perspektive lassen sich zwei Gesichtspunkte dieses Auftrags kritisieren: 1.
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Geschichtlich betrachtet wurden Frauen in Südafrika traditionell von
Definitionen "des Politischen" durch hochgradig patriarchalische Kulturen
und soziale Institutionen ausgegrenzt, sodass die Bestimmung "politisch
motiviert", wenn sie, etwa aufgrund der Annahme, das Leben von Frauen
gehöre per definitionem eher in den Bereich des Privaten als in den des
Politischen, unkritisch verwendet wird, zur Ausblendung weiblichen Leids
führen kann. Und 2. wird auf der Liste der "schweren
Menschenrechtsverletzungen" Vergewaltigung nicht eigens aufgeführt, wohl
aber Folter. Auf diese Weise wird implizit eine Verbindung zwischen
Rechtsverletzungen im Allgemeinen und typisch männlichen
Rechtsverletzungen geschaffen, die dann als universelle
"Menschen"-Rechtsverletzungen figurieren.
30. Mark Sanders, Complicities. The Intellectual and Apartheid,
Pietermaritzburg 2002, S. 209; Krog, Country, S.178f.
31. Die Rede von einer Vergewaltigungs-"Epidemie" lässt sich im Südafrika
des 21. Jahrhunderts nicht von jener anderen Epidemie, der verheerenden
HIV-Seuche, trennen, die zur gleichen Zeit wütet. Eine Übertragung des Virus
vom Mann auf die Frau im Vollzug des Geschlechtsverkehrs ist achtmal
wahrscheinlicher als der umgekehrte Übertragungsweg von der Frau auf den
Mann, und Unicef berichtet, dass Mädchen in Afrika sechsmal so oft mit HIV
infiziert sind, weil Frauen zum Sex gezwungen werden. Charlene Smith,
"Rape has become a sickening way of life in our land", in: The Sunday
Independent, 26. September 2004, S. 5.
32. Derrida, "Jahrhundert der Vergebung", S.18.
33. Ebd.
34. Ebd.
35. Dies träfe auf die Beispiele für "das Unverzeihliche" zu, die Derrida
anführt, wenn nämlich jemandes Kindern die Kehlen aufgeschnitten werden
oder jemandes Familie in einer Gaskammer umgebracht wird. Derrida,
"Jahrhundert der Vergebung", S.18.
36. Vgl. Lyotards Formulierung dieses Gedankens in: Jean-François Lyotard,
Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, München 1987.
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37. Derrida, "Jahrhundert der Vergebung", S.18.
38. Ebd.
39. Derrida, On Cosmopolitanism, S. 60.
40. Vgl. z. B. den Aufsatz "Die sexuelle Differenz", in dem Irigaray das fast
ausnahmslose Fehlen einer "fruchtbaren Begegnung zwischen den
Geschlechtern" beklagt. Luce Irigaray, Die Ethik der sexuellen Differenz,
übers. v. Xenia Rajewsky, Frankfurt/Main 1991, S. 12.
41. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die
Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i.
Breisgau/München 1987, S. 216.
42. Im Anschluss an Girard und Mauss erklärt Van der Walt (2003, S. 641)
das Opfer zur rituellen Handlung, durch die "die Gesellschaft ihre Antinomien
und Ambiguitäten bewahrt und/oder erträgt". Das Opfer versucht, was ihm
letztlich nicht gelingt: die Antinomie aufzulösen und das Mehrdeutige auf
das Eindeutige zu reduzieren. "Das Opfer" geht deshalb "um eine Reinigung,
die ihre Unreinheit nicht loszuwerden vermag". Johan Van der Walt, "Psyche
and sacrifice. An essay on the time and timing of reconciliation", in: Tydskrif
vir die Suid-Afrikaanse Reg [Zeitschrift für südafrikanisches Recht], 2003,
Bd. 4, S. 635-651. In diesem Zusammenhang betrachte ich das Opfer der
Mutter oder der fraulichen anderen als gescheiterten Versuch, sexuelle
Differenz und Ambiguität dadurch zu bewältigen ("ertragen"), dass man alles
auf das Männlich-Allgemeine und dessen Abarten reduziert.
43. Vgl. Christine Battersby, The Phenomenal Woman. Feminist Metaphysics
and the Patterns of Identity, Cambridge 1998, S. 112.
44. Was war der ruandische Völkermord anderes als ein Versuch, die Heimat
von problematischen, aufreibenden Beziehungen zu befreien, die
jahrhundertelang Bestand hatten? (Véronique Tadjo, Der Schatten Gottes.
Reise ans Ende Ruandas, übers. v. Sigrid Groß, Wuppertal 2001). Und was
war der südafrikanische Apartheidstaat anderes als der Versuch, einen
Raum, eine Heimat, ein Land zu räumen, damit weiße Südafrikaner die
Begegnung, Interaktion oder den Wettbewerb mit dem Anderen in Form
schwarzer Haut vermeiden konnten?
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45. Jeanette Winterson, In dieser Welt und anderswo. Erzählungen, übers. v.
Monika Schmalz, Berlin 2000.
46. In diesem Sinne ist es nicht ohne Bedeutung, dass Derrida in seinem
Text über Vergebung eine Frau auftreten lässt, die sich weigert zu vergeben.
Diese weibliche Figur widersetzt sich der Rolle des Weiblich-Mütterlichen,
das sich der Vergebung vor allem deshalb niemals verweigert, weil es nie
darum gebeten wird. In einem (anderen, nicht-Derrida'schen) Sinne tut diese
Frau das "Unverzeihliche", indem sie sich weigert, das zu vergeben, was ihr
unverzeihlich erscheint. Auch ist es kein Zufall, dass Derrida ausgerechnet
diese anonyme Frau, die nicht verzeiht, mit einer Fußnote markiert, die
unsere Aufmerksamkeit auf Probleme und Fragen im Zusammenhang mit
sexueller Differenz und Vergebung lenkt.
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