Institut für Qualifizierung und Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Thomas Kobsa Erziehungsleiter Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Mai 2013 Dieser Vortrag ist unseren Kindern gewidmet, die ein Recht darauf haben unbeschadet groß zu werden Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 1. Einleitung In unserem pädagogischen Alltag sind es u. a. zwei große Themen, die besonders unter die Haut gehen: Gewalt und Sexualität Bei den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen wehen sie uns an: in ihrer Familiengeschichte und in ihrer täglichen Kontaktgestaltung. Aggressive Gewaltausbrüche hinterlassen nicht nur verwüstete Räume. Bei uns hinterlassen sie Angst – ist noch mal gut gegangen. Sie sind unverletzt geblieben. Angst, wie soll ich so weiterbetreuen? Wenn Jugendliche uns Situationen um ihren sexuellen Missbrauch eröffnen, hinterlässt dies auch Spuren. Die konkreten Situationen wollen wir uns gar nicht recht ausmalen. Diese Bilder wollen wir gar nicht recht haben. Manche unserer Jugendlichen haben sie und bieten sie uns an. Deren Bilder sind nicht weg. Deren Bilder lassen sich nicht schließen wie ein Fachbuch. Deshalb sind sie hier. Umso mehr stehen wir in Verantwortung, dass unsere Einrichtungen, unsere Teams, unser Kontakt den Kindern und Jugendlichen ein „sicherer Raum“ ist. Verlässlich sicher. Auf dieser Tagung wechselt die Perspektive und will den Mythos der stets guten Helfer in Frage stellen: Wo und wann sind wir es, die in ihrem Handeln übergriffig, tätlich, grenzverletzend sind? Nicht selten steht schnell die eigene Abwehr: bei uns kommt das nicht vor! Wenn Kollegen anderer Einrichtungen über Zwischenfälle erzählen, verstecken wir uns vielleicht noch hinter der abschätzigen Bewertung: das sind ja Zustände bei denen dort. Spätestens, wenn Sie persönlich angesprochen sind, werden Sie für sich in Anspruch nehmen: Nein, ich bin keiner, der sexuell übergriffig wäre – mir würde das nicht passieren. Und doch ist es – bei allem, was wir besonders nach den letzten zehn Jahren wissen: Niemand von uns kann Grenzverletzungen in seinem Haus, in seinem Team, wohl auch bei sich ausschließen! Und selbst, wenn ich für mich und mein Handeln mir sicher scheine, wer mag für seine Kolleginnen und Kollegen die Hand ins Feuer legen, dass Sie vor sexuellen Übergriffen gefeit sind? Wenn wir uns und Sie sich auf diese neue Perspektive einlassen, wird regelmäßig eine Vielzahl von Tabus berührt, die in Zusammenhang mit Sexualität und Gewalt die Thematik prägen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns Mut und Offenheit für die eigene Infragestellung und Freude am persönlichen Austausch! Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 2 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 2. Hinführung zum Thema • Kann ich als verantwortlicher Leiter einer pädagogischen Einrichtung sexuelle Grenzverletzungen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausschließen? Und wie? • Welche Bedingungen brauchen Teams, um sich offen dem Thema stellen zu können? • Wie vermittelt sich unseren Kindern/Jugendlichen und deren Eltern, dass wir uns sensibel und planvoll diesem Thema widmen? • Sind wir vertrauenswürdig? Der erste Entschluss ist fraglos der zur tabulosen Offenheit: Vor allem sich selbst gegenüber, seinen Kollegen und gegenüber seinem Träger. Erste Verlegenheit: Obwohl das Thema der sexuellen Übergriffe wahrlich nicht neu ist, hat es bei uns im WILHELMSTIFT das Jahr 2010 mit der Veröffentlichungswelle gebraucht, damit wir uns offensiv diesem stellen. Glücklicherweise ohne Aufklärungsdruck. Der Austausch in der Bundesarbeitsgemeinschaft BAG leitender Pflegekollegen und Pädagogen mit den Erfahrungen der Schweizer Kollegen aus Bern war ein Impuls. Gleichzeitig war es unser fester Entschluss, als psychiatrische Abteilung eines katholischen Kinderkrankenhauses mit seinen so engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen klaren Standpunkt zu beziehen, der sich deutlich von Ignorieren, Stillschweigen oder Leugnen unterschied - flankiert von Geschäftsführung, Direktorium und kath. Träger, dem Erzbistum Hamburg. Ergebnis war eine ausgearbeitete Selbstverpflichtung, deren Eckpunkte ich später erläutere. Zweite Verlegenheit: Obwohl fachlich viel gewusst wird und viel bekannt ist, sah es bei uns 2010 mit spezifischem Fachwissen zu förderlichen oder hinderlichen Strukturen in Institutionen eher spärlich aus: eine Klinik kennt sich mit Traumatisierungen aus, mit therapeutischen Konzepten, mit systemischer Familienarbeit. Eine Klinik kennt den Umgang mit Verdachtsfällen von sexueller Gewalt, die außerhalb der Einrichtung z. B. in der Familie stattgefunden haben, die aber in der Einrichtung bekannt geworden sind … u. v. m. Wurde vor zehn Jahren in erster Linie die Täter-Opfer-Dynamik besprochen, müssen wir nun dringend erweitern: Heute geht es um Täter-Opfer-Institutions-Dynamiken (vgl. Bundschuh, Claudia, 2010). Diese Frage nach den Bedingungsgefügen musste schnell mit Wissen beantwortet werden. Eckpunkte stelle ich im Folgenden vor. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 3 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Dritte Verlegenheit: Bei viel guter und mehrfach auf die Probe gestellter Erfahrung im hausübergreifenden Management von Notfallsituationen hatten wir 2010 überhaupt kein überlegtes Konzept zur abgestimmten Intervention im ausgesprochenen Verdachtsfall. Kein auf Fachwissen begründetes Handeln. Und selbst drei Jahre später müssen wir einräumen, dass nicht allen Kolleginnen und Kollegen in Leitung und Teams die abgestimmten Schritte der Öffnung und des Handelns gegenwärtig sind. Öffentliche Hinweise im Eingangsbereich der Abteilung oder Stichworte im Internet zu unseren Überlegungen zum Schutz vor sexuellen Übergriffen finden sich noch nicht. Grundlegende Frage an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist also: Hat Ihre Einrichtung – haben Sie in Ihrem Team ein institutionelles Schutzkonzept, das erstens auf der Ebene der Prävention Orientierung und Klarheit gibt über angemessene Stufen von Nähe- und Distanzgestaltung? Und zweitens auf der Ebene der Intervention ausformulierte, transparente Notfallpläne enthalten, wie in Verdachtsmomenten oder Vorwurfsfällen reagiert werden will? Was zu dem Thema passiert konkret auf Ihrer Station, in Ihrem Team? Zwei Perspektiven werden in meinem Vortrag zu kurz kommen: a. sexuelle Übergriffe unter den Kindern bzw. zwischen Kindern und Jugendlichen einer Institution. b. die sexuelle Gewalt in den Medien, denen Kinder und Jugendliche an allen Ecken ausgesetzt sind. Mir ist in meinen Ausführungen bewusst, dass sich die institutionellen Bedingungen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie in mehrerlei Hinsicht unterscheiden: Hierarchieformen, Teamkonstellation, konkrete Dienstbesetzungen und Schichtzeiten etc. Dies denken wir gerne im Hintergrund mit. Die grundlegenden Gedankengänge im Folgenden betreffen jedoch beide Arbeitsfelder. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 4 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 3. Bausteine eines institutionellen Schutzkonzeptes Welches sind nun die relevanten Bausteine eines abgestimmten Schutzkonzeptes, die zurzeit die Fachdiskussion bestimmen? Meine Ausführungen beziehen sich im Kern auf: 1. den Abschlussbericht des „Runden Tisches“ zu sexuellem Kindesmissbrauch mit seinen Leitlinien und Empfehlungen 2. die Abfrage des „Unabhängigen Beauftragen für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“, Herrn Rörig, zum Umsetzungsgrad der Empfehlungen des Runden Tisches in den einzelnen Institutionen 3. ausgewählte Fachlektüre (differenzierte Quellenangaben im Anhang) allen vorweg von Ursula Enders – Grenzen achten Jörg M. Fegert – Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen Mechthild Wolff Werner Tschan – Missbrauchtes Vertrauen 4. den Fachaustausch der Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Pflege- und Erziehungsdienst BAG gemeinsam mit der BAG der Ärzte Eine gute Übersicht über Bausteine, die ein Haus vorhalten soll, entwirft die Abfrage des Unabhängigen Beauftragten zum Umsetzungsgrad in den einzelnen Institutionen: • • • • • • Risikoanalyse Präventionskonzepte Interventionskonzepte Beteiligung und Partizipation Unterstützungs- und Fortbildungsbedarf Kampagne X – kein Raum für Missbrauch Zu 1. Abfrage Risikoanalyse Sie fragt nach Struktur- und Arbeitswelt-spezifischen Risiken (bestimmte Zielgruppe, besonderes Vertrauensverhältnis, die Grenzverletzungen begünstigen oder erst ermöglichen) Welche Themen bringen die Kinder in Ihrer Institution mit in die Betreuungssituation ein? Nähe – Distanz Macht – Machtmissbrauch Setzen und Einhalten von Grenzen Sie alle kennen Kinder mit einem ausgeprägten Sensorium für mangelnde Grenzsetzungsbemühungen. Sie fordern die Mitarbeiter zur Grenzsetzung – im negativen Fall zur Grenzverletzung heraus. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 5 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Wie präsent ist Ihnen die Vorstellung, dass Sie mit Blick auf Grenzverletzungen einer „gefahrgeneigten Tätigkeit“ nachgehen, wie Herr Fegert sagt? Im kinder- und jugendpsychiatrischen Alltag lassen sich vor diesem Hintergrund typische Muster der Beziehungsgestaltung benennen: • • • Einfühlen und Verstehen als Momente der Nähe Kinder und Jugendliche mit großen Wünschen nach ausschließlicher Beziehung: Manche Kinder und Jugendliche mit schweren Versagungen in der Kindheit haben oft übergroße Wünsche nach ausschließlicher Beziehung. Den angebotenen Kontakt scheinen sie aufzusaugen und nicht selten im Gegenüber verschmelzen zu wollen. Sie hinterlassen bei dem Betreuer das exklusive Gefühl, einzigartig verständnisvoll, bedeutsam und manchmal der langersehnte Retter zu sein. Kinder und Jugendliche mit der tatsächlichen Erfahrung von erlebter Grenzverletzung Neben Ruhe, Zurückgezogenheit oder Suizidalität wird in anderen Fällen der Kontakt oder das Klima auf Station deutlich sexualisiert. Oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden sich in Alltagsanforderungen plötzlich in der Rolle von mutmaßlichen übergriffigen Tätern und Vergewaltigern wieder. Die Risikoanalyse fragt also nach den Besonderheiten Ihres Arbeitsfeldes. Teilt Ihr Träger Ihre Einschätzung? Zu 2. Abfrage der Präventionskonzepte • • • • • • • Welche präventiven Maßnahmen gibt es in Ihrem Haus? Gibt es ein umfassendes Präventionskonzept? Gibt es niedergeschriebene Verhaltensregeln zum orientierenden Umgang mit Nähe und Distanz? Einen Ethikkodex? Gibt es verbindliche Selbstverpflichtungserklärungen der Mitarbeiter/innen? Gibt es benannte Ansprechpersonen innerhalb und außerhalb des Hauses? Kinderschutzbeauftragte, Patientenfürsprecher, Ombudsmann? Sind diese Außenstehenden ersichtlich? Wie haben Sie Kinder, Jugendliche, Eltern und Sorgeberechtigte ins Thema einbezogen? Welche Fortbildungen zum Thema gibt es in Ihrer Einrichtung und wie groß ist die Durchdringung? Zu 3. Abfrage zum Interventionskonzept • • Gibt es in Ihrer Einrichtung einen abgestuften Handlungsplan (Notfallplan), der zielgerichtetes Eingreifen regelt, wenn eine konkrete Problemsituation vorliegt? Zu welchen Aspekten enthält er Orientierungshilfen bzw. soll welche zukünftig enthalten? Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 6 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 - Sofortmaßnahmen - Vorgehen bei Verdachtsfällen - Einschalten von Dritten - Einschalten der Strafverfolgungsbehörde - Datenschutz, Geheimhaltung, Informationsweitergabe - Umgang mit den Betroffenen, Schutz, Hilfestellung, Begleitung - Dokumentation - Rehabilitation von unschuldig Verdächtigten - Umgang mit der Presse - Langfristiges Aufarbeiten von (Verdachts-)Fällen • • • Welche Empfehlungen liegen Ihrem Verfahren zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden zugrunde (eigenes Verfahren, vom Träger übernommen, folgt es den Empfehlungen des Runden Tisches) Wie werden in Ihrem Plan die Beschäftigten über das Einschalten der Strafverfolgungsbehörden informiert? Wie werden Kinder und Jugendliche über Ihren Handlungsplan bei vermutetem sexuellem Missbrauch informiert? Zu 4. Abfrage Beteiligung und Partizipation Dies ist sicher ein Bereich, in dem Jugendhilfe traditionell besser aufgestellt ist und mehr Praxis zeigt als die klinische Struktur. • Welche Personengruppen Ihrer Institution waren an der Entwicklung Ihres Präventions- und Interventionskonzeptes beteiligt? • Gibt es Angebote, die Eltern, Kinder und Jugendliche im Entscheidungsprozess einbinden bzw. ihnen Gehör verschaffen? Zu 5. Abfrage Unterstützungsbedarf • • • • • • • • • Benötigen Sie in Ihrer Klinik/Fachabteilung weitere Unterstützung zum Themenkomplex sexualisierte Gewalt? Informationsmaterial Fortbildungen, Prävention/Intervention Zu rechtlichen Fragestellungen Fortbildung/Information „sexualisierte Gewalt zwischen Kindern, Kindern und Jugendlichen“ Sexualisierte Gewalt in den Medien Kontaktinformationen Vorlagen Handlungspläne Gesprächsleitfaden Erstgespräche Zu 6. Kennen Sie die Kampagne X – Kein Raum für Missbrauch.de • Mit eben jener Fülle an Handreichungen, Infomaterialien, Kontaktangeboten, Literaturlisten Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 7 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Im Folgenden werde ich aus den Bausteinen „Präventionskonzepte“ zwei Beispiele vertiefen a. Beispiel Ethikkodex, Leitlinie zum grenzwahrenden Umgang zwischen Nähe und Distanz b. Klare Grenze: Die Selbstverpflichtung 4. Vertiefung ETHIK-KODEX Leitlinien zum konkreten grenzwahrenden Umgang Konzept Nähe und Distanz Gibt es in Ihren Einrichtungen institutionelle Absprachen und Dienstanweisungen zur Sicherung eines grenzachtenden Umgangs? Kein Kontakt im Umgang mit Kindern und Jugendlichen kann den affektiven Bereich ausklammern. Sexuelle oder vorsichtig erotische Tönungen kommen im Alltag immer wieder vor – mal am Rande, mal deutlicher. Sie gehören zu den entwicklungspsychologischen Themen von Kindern und Jugendlichen. Im Kern geht es also nicht um „ob“ oder „ob nicht“, sondern um das alltägliche Ausbalancieren von Nähe und Distanz in unserer Begleitung der jungen Menschen. Zum konkreten Umgang mit Nähe und Distanz im pädagogischen Arbeitsfeld gibt es unterschiedliche Ausarbeitungen: Ein Beispiel ist der „Entwicklungswerkstatt-Ethikkodex“ der Bremischen Evangelischen Kirche für ihre Tageseinrichtung. Anderes Beispiel ist die Erarbeitung von Leitlinien einer Einrichtung, in der es zu einem Übergriff durch einen Professionellen gekommen war. Nachzulesen bei Herrn Fegert, Sexueller Missbrauch, Seite 315. Die Leitlinien folgen alle einem ähnlichen Schema: Ausgehend von Schlüsselsituationen des Arbeitsalltags lassen sich für Ihre Institution passende Richtwerte formulieren, die dem Handeln grundsätzlich Orientierung geben: In unserem Konzept zum Umgang mit Nähe und Distanz im WILHELMSTIFT finden sich im allgemeinen Teil generelle Verhaltensregeln wie • Unklare und widersprüchliche Situationen werden offen im Behandlungsteam angesprochen, vor allem bei Unsicherheiten oder in kritischen Situationen (Jugendlicher verliebt sich in Mitarbeiterin) • Heikles Verhalten von Kolleginnen und Kollegen wird direkt angesprochen. „Gerüchteküchen“ werden nicht unterstützt. Im Weiteren gefolgt von Handlungsstrategien in konkreten Situationen • Zuwendung/Trösten • Zimmer betreten, wecken, zu Bett bringen • Pflege und Massage (Körperliche Intimität entspricht einer familiären Umgangsweise und missachtet eine für den Alltag in Institutionen gebotene fachliche Distanz z. B. den nackten Rücken kraulen) Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 8 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 • • • • • • • Persönliches Ausfragen der Mitarbeiter Inadäquate Äußerungen, anzügliche Witze Respektvolle Ansprache und „Sie“-zen der Patienten ab 16 Jahren Turnen, Baden, sonstige Aktivitäten Körperliche Untersuchungen/Durchsuchen Angemessene, körperliche Kleidung SMS, soziale Netzwerke Am Beispiel „angemessene körperliche Kleidung“ zeigt sich die Bedeutung des Aushandelns, es zeigen sich Grenzen der willkürlichen, privaten Meinung und es wird deutlich, wie eine orientierungsgebende, dienstliche Entscheidung Klarheit bringt: Fachliches Ziel ist: Wir dürfen nicht durch eine allzu sexuell getönte Kleidung zu einer Sexualisierung der Arbeits- und Betreuungsatmosphäre beitragen. Zu eng, zu durchsichtig, zu ausgeschnitten, zu kurz, zu bauchfrei geht nicht! Zu weit geschnittene Sporthosen, die das Genital sichtbar lassen, allzu eng geschnittene Hosen, die Penis oder Hoden des Pädagogen abzeichnen, gehen nicht! Es scheint unmöglich, eine klare Regelung in Rock-cm oder Hosenlängen zu formulieren. Angemessen erscheint Kleidung dann, wenn ich im Kontakt nicht von zuviel an nackter Haut, von zuviel an Körperlichkeit, von zuviel an sexuellen Reizen abgelenkt bin – nicht erst innehalten muss, um mich im zweiten wieder auf das zu konzentrieren, was ich eigentlich wollte. Klarheit heißt: Wir tragen keine Kleidung, die als sexuell aufreizend empfunden werden kann und tragen gleichzeitig Sorge dafür, dass auch die uns anvertrauten Kinder angemessen gekleidet sind. Vertraute Kolleginnen kommentieren dies bei Kolleginnen oder Patientinnen, ggf. weist die Teamleitung die Kollegin, den Kollegen darauf hin. Eindrücklich weist Herr Fegert auf die Dynamik in Team- oder Diskussionsforen hin, in denen Praktiker eher die Schwierigkeiten der Grenzziehungen betonen, gar eine klare Grenzsetzung unmöglich sehen. Er sieht darin „das“ handlungslähmende Dilemma. Weitere Klarheit bringt im Sinne eines fachlich angemessenen Umgangs mit grenzverletzendem Verhalten eine Differenzierung in a. Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden und/oder aus fachlichen bzw. persönlichen Unzulänglichkeiten oder aus einer „Kultur der Grenzverletzungen“ resultieren (vgl. Enders, Grenzen achten S. 31 ff.), d. h. die Grenzverletzungen Einzelner werden nicht als solche besondere wahrgenommen, geschweige denn geächtet. b. Sexuelle Übergriffe • die Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen • oder Ausdruck grundlegender fachlicher Mängel • oder gezielte Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs sind c. Strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt Gute Checklisten hierfür finden sich bei www.zartbitter.de Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 9 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Zurück zu a.): zu Grenzverletzungen, die beim Aushandeln von Nähe und Distanz geschehen, die unabsichtlich verübt werden. Sie kommen immer auch vor, auch in Einrichtungen, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen sehr respektvollen Umgang pflegen. Zwei Gedanken: • Ob Verhaltensweisen Grenzverletzungen darstellen oder nicht, hängt nicht nur von den jeweiligen Handlungen oder Formulierungen ab, sondern vor allem davon, wie Mädchen oder Jungen diese erleben. Vorderstes Ziel ist hier, in den Institutionen eine Atmosphäre zu schaffen, in der Mädchen und Jungen als verletzend erlebte Erfahrungen an- und aussprechen können. • Zweiter Gedanke: Zufällige und unbeabsichtigte Grenzverletzungen kann man korrigieren! Wenn Sie sich aufgrund der Reaktion des Betroffenen oder durch Hinweise von Dritten Ihrer unbeabsichtigten Grenzverletzung bewusst werden, ist dies korrigierbar. Der feste Wille, das Verhalten in Zukunft achtsam zu vermeiden, macht die Bitte um Entschuldigung glaubwürdig. Grenzverletzungen können in den meisten Fällen durch fachliche Anleitung, Fortbildung, Supervision, Dienstanweisungen und grenzachtende institutionelle Regeln abgestellt werden. Anders dagegen bei sexuellem Missbrauch: Hier ist sich der- oder diejenige der Grenzüberschreitung bewusst! Sexuelle Übergriffe unterscheiden sich von Grenzverletzungen in Massivität und Häufigkeit. Sie geschehen eben nicht zufällig, sondern sind Ausdruck grundlegender fachlicher und/oder persönlicher Defizite. Sicherlich sind nicht alle übergriffigen Handlungen im Detail geplant, doch entwickeln sich übergriffige Verhaltensmuster in Institutionen nur, wenn erwachsene Betreuungspersonen sich über allgemein gültige Normen, institutionelle Regeln, die Kritik von Dritten und den Widerstand der Opfer hinwegsetzen. Sexuelle Übergriffe durch professionelle Betreuungspersonen sind stets auch ein Missbrauch an Vertrauen und Macht. Es ist keinesfalls angemessen, sexuelle Übergriffe auf eine Nähe-Distanz-Problematik zu reduzieren. (vgl. Enders, Grenzen achten, S. 42) Werner Tschan formuliert: „Missbrauch ist strategisches Handeln und beginnt im Kopf des Täters!“ (Tschan, Missbrauchtes Vertrauens, S. 220) Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 10 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 5. Klare Grenze: Die Selbstverpflichtung Wo stehen wir gerade in unserer Betrachtung? Wir bewegen uns noch bei präventiven Bausteinen. Die Eckpunkte der Nähe-DistanzGestaltung werden in Bezug auf Auftrag und Ausrichtung der Institution ausgehandelt, aber festgeschrieben. Sie geben den Mitarbeitern Ausrichtung und Maß für Haltung und Handlung vor. Im täglichen Ausbalancieren mag es zu unabsichtlichen Grenzüberschreitungen kommen, die heilbar sind, wenn sie einvernehmlich entschuldigt werden können. Die Selbstverpflichtung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht einen Schritt weiter und beleuchtet den Graubereich von Grenzverletzungen bei sich anbahnenden sexuellen Übergriffen. Zur Erinnerung: „Missbrauch ist strategisches Handeln und beginnt im Kopf des Täters.“ Im tiefen Sinne des „Slippery slope“, des „rutschigen Abhangs“, wird eine Vorphase des sexuellen Missbrauchs gefasst, die durch zunehmende, sich steigernde Grenzüberschreitungen geprägt ist. Slippery slope: Sie bewegen sich auf rutschigem, nassen Abgrund und sind dabei, Ihren Halt zu verlieren: Von sich steigernden Phantasien bis zum vollzogenen körperlichen Übergriff. In der Selbstverpflichtung des WILHELMSTIFTs sollen sich die Mitarbeiter prüfen: Von • ich beschäftige mich in Gedanken intensiv mit einem Patienten und habe das Gefühl, ihm besonders nahe zu stehen • ich beginne zu genießen, wenn Patienten ihre Wirkung auf mich ausprobieren • ich überschreite den physischen Grenzbereich der Patienten. Ich berühre sie/ihn scheinbar versehentlich mit erotischem Interesse. Körperliche Berührungen häufen sich. • ich habe den Wunsch nach „privaten Verabredungen“ Bis • ich diskutiere sexuelle Vorlieben der Patienten etc. • ich gebe ihm zu erkennen, dass ich an einem erweiterten Kontakt interessiert bin Erster Ansatz ist noch die eigene Reflektion, die vorweggenommene Außenbetrachtung: Dreh- und Angelpunkt ist die Frage: Hält mein Handeln der Öffnung, der kritischen Betrachtung und Besprechung meiner Kollegen und meiner Vorgesetzten stand? Gleichzeitig verpflichten wir uns zweitens, Kollegen darauf anzusprechen, die Gefahr laufen, sich in ihrem Verhalten offensichtlich zu verstricken, noch bevor deren Handeln grenzverletzende Züge annimmt. Wir verstehen kollegiale Ansprache und Hilfe als normales Regulativ. Drittens wird die Abstinenz privater Kontakte hervorgehoben: Privaten Kontakten von Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern zu Patienten erteilen wir eine klare Absage. Sie verbieten sich. Sie sind weder im Dienst noch in der Freizeit, weder während der Behandlung noch nach der Entlassung der Kinder und Jugendlichen aus der Klinik statthaft. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 11 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Diese Gedanken münden in folgende Selbstverpflichtung: 7. Selbstverpflichtung Wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im WILHELMSTIFT verpflichten uns, unser Handeln nach allen ethischen Grundsätzen zum Schutze unserer anvertrauten Kinder und Jugendlichen auszurichten. Sexuelle Grenzverletzungen gegenüber Kindern und Jugendlichen durch Betreuungspersonen, Lehrpersonen oder Mitarbeitende der Klinik stellen straf- und zivilrechtlich relevante Tatbestände dar. Die Klinikleitung wird bei entsprechenden Vorfällen Anzeige erstatten. Arbeitsrechtlich gilt sexuelle Ausbeutung von Schutzbefohlenen als Grund für eine fristlose Kündigung. • • • Ich verpflichte mich, die oben dargelegten ethischen Grundsätze des Hauses einzuhalten. Ich werde den Patienten einen respektvollen, reflektierten und fachlich fundierten Kontakt anbieten. Ich verpflichte mich, bei Kenntnis oder Verdacht auf sexuelle Grenzverletzungen meine Vorgesetzten zu informieren. ____________________ ______________________ ________ ___________________ Name Vorname Datum Unterschrift Sie wird ab 2010 für alle neuen Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern vor Einstellung mit dem Dienstvertrag verschickt, ist auch Bestandteil des Einführungsgesprächs und wird unterschrieben in der Personalakte hinterlegt. Sie ist neben dem erweiterten Führungszeugnis feste Bedingung vor Dienstantritt. Gleiches gilt für Bundesfreiwilligendienstler, Praktikanten aller pädagogischen Fachzweige sowie Absolventinnen unserer Ausbildung „Gesundheits- und Kinderkrankenpflege“. Dort ist die vorbereitende Unterrichtseinheit zum Konzept „Nähe und Distanz“ mit ihrer Selbstverpflichtung fest ins Curriculum geschrieben. Natürlich verhindern diese Instrumentarien nicht das Problem. Wohl sind sie jedoch Ausdruck unseres Bewusstseins, dass Risiken bestehen, und Ausdruck unserer Bemühungen, das Thema offensiv anzugehen. In den drei Jahren dieser Praxis haben wir mit der offensiven Darstellung des Themas und unserer Bemühung nicht einmal schlechte Erfahrungen gemacht oder zu sehr verstört. Wohl aber haben wir auf die unterschriebenen Selbstverpflichtungen disziplinierend Bezug nehmen müssen, • wenn z. B. von Auszubildenden facebook-Freundschaftsanfragen positiv beantwortet und private Mobil-Nummern für private Verabredungen mit den Patientinnen ausgetauscht wurden. • wenn von einem Zivildienstleistenden der private Kontakt zu einer Patientin naiv wie ungeniert aufgebaut und als „Privatsache“ gepflegt wurde. Selbst eine kritische ultimative Ansprache verhalf ihm nicht zur Einsicht. Er wollte sich allenfalls die letzten Wochen seines Einsatzes zurückhalten. Das Bundesamt wurde gleichzeitig mit den sorgeberechtigten Eltern des Mädchens über unsere Haltung und den Stand informiert. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 12 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 • schmerzlich zum Tragen kamen die Instrumentarien, wenn ein nicht unerfahrener Kollege im Verlauf einer anhaltenden persönlichen Krise sein Glück bei einer kürzlich entlassenen Patientin suchte. Hier wird sich jede Einrichtung klar positionieren. Bleibt die Frage, in welchem Rhythmus auch alt eingesessene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich das Thema über die Selbstverpflichtung vergegenwärtigen müssen. Ggf. analog der erweiterten Führungszeugnisse, die bei uns alle 5 Jahre abverlangt werden. Jenseits der vorgestellten Einzelfälle steht jetzt die Frage an, wie zielgerichtet und vorbereitet sich Klinikhandeln im Notfall vollzieht? 6. Interventionskonzepte – Ausformulierter Notfallplan Gibt es in Ihrer Einrichtung einen abgestimmten Handlungsplan, der Ihr zielgerichtetes Eingreifen regelt, wenn eine konkrete Problemsituation vorliegt? Ohne die Leitlinien des Runden Tisches, die eingangs vorgestellt wurden, und die Handlungsstrategien von Zartbitter e. V. in allen Punkten hier zu wiederholen, erscheint es leicht nachvollziehbar, dass transparente Verfahrensregelungen, die vorab festgelegt und dargestellt wurden, allen Verantwortlichen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Sicherheit im Umgang mit Vermutungs- oder konkreten Verdachtsfällen geben. Wer meldet wem was nach oben? Wer wird in jedem Fall verlässlich bis Pflegedirektor und Geschäftsführer informiert? Sind die Zuständigkeiten klar, wer die externe Beratungs- oder Clearingstelle informiert? Unser kirchlicher Träger setzt im Rahmen seiner Präventionsordnung auf ein externes Voruntersuchungsverfahren, das im Verdachtsfall eng mit den Strafverfolgungsbehörden kooperiert. Kein Vertuschen. Kein Verheimlichen. Sondern Verantwortung tragen. Einschub: Beschwerdeverfahren - Meldewesen Es ist unstrittig, dass eine Einrichtung mit transparentem Beschwerdeverfahren und Ansprechpartnern besser aufgestellt ist als ohne. Interne und externe Anlaufstellen sind Mitarbeitern, Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern benannt und zugänglich. Gleichzeitig bleibt es für die meisten Einrichtungsleiter und Mitarbeiterinnen ein Irrtum, sie seien gerade den Menschen eine Vertrauensperson, deren persönliche Grenzen eben innerhalb dieser Einrichtung verletzt wurden. Es werden sich ähnliche Schwierigkeiten ergeben, die es bei Missbrauch durch nahestehende Personen so schwer machen, sich den Eltern anzuvertrauen. Zentrale Merkmale scheinen also a. die von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommene Bereitschaft der Fachkräfte bei Grenzüberschreitung einzuschreiten b. die Verfügbarkeit der Fachkräfte als Vertrauenspersonen c. die große, unterschätzte Bedeutung informierter Gleichaltriger als faktische erste Ansprechpersonen für betroffene Jugendliche Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 13 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 Einschub: Wahrnehmungsblockaden in den Teams gegenüber Missbrauch in den eigenen Reihen sind vielschichtig • je näher man einem Täter/Täterin steht, umso schwerer fällt es die von ihm/ihr verübten Verbrechen wahrzunehmen. • Wahrnehmungsblockaden folgen dem Bedürfnis, den guten Kollegen, den guten Vorgesetzten vertrauen zu können. Je idealisierter, desto schwieriger eine klare Wahrnehmung. • Wahrnehmungsblockaden resultieren ggf. aus der Angst einen Kollegen falsch zu beschuldigen. Wenn sich der Verdacht nicht bestätigt, muss ich weiter mit ihm/ihr zusammenarbeiten. • Wahrnehmungsblockenden ggf. aus der Angst vor Konflikten nach der Aufdeckung des Missbrauchs. „Der Mythos der beschützenden Institution steht in Frage und mobilisiert Abwehr.“ Fegert, Sexueller Missbrauch S. 234 In der Praxis haben wir es häufig eher mit vagen Vermutungen von Übergrifflichkeiten zu tun – mit dem sogenannten „unguten Gefühl“ – das jedoch nicht ausreichend gut belegt ist, um eine Intervention auszulösen. Auch an dieser Stelle ist der eingangs beschriebene Mut zur Offenheit gefragt: Wir erwarten von unseren Kindern, dass sie den Mut finden, sich uns mit ggf. überwältigenden Gefühlen anvertrauen und Worte aus der Sprachlosigkeit finden. Gleichzeitig sind wir schwer bis nicht in der Lage, im Team persönliche Eindrücke auszusprechen, die uns unstimmig erscheinen. Nicht verleumden, sondern Fehlverhalten sachlich benennen: „Mir ist aufgefallen, dass…“ „Ich finde es nicht in Ordnung, nicht fachlich, nicht verantwortlich…, kann es nicht akzeptieren, dass …“ Eine offene Fehlerkorrektur, die fehlerhaftes Handeln benennt und nicht die fehlerhafte Person diskreditiert, ermutigt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch entsprechende Beobachtungen oder Vermutungen zu kommunizieren. Ein Klima der geübten Infragestellung fördert sicher ein Klima der Aufklärung im Problemfall. Zusätzlich bringen formalisierte Verfahren Distanzierung und notwendige Entemotionalisierung. Die Teams sind verantwortlich für informierte und sensibilisierte Wachsamkeit. Im Zweifelsfall melden Sie an Teamkollegen, Teamleitung oder Vorgesetzte. Für nachfolgende Maßnahmen sind die Leitungskräfte verantwortlich. Sie verdeutlichen im besten Fall mit ihrem ruhigen Handeln einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen schwierigen Themen. Lohnende konkrete Ausarbeitungen aus jahrelanger Beratungspraxis zu wesentlichen Bestandteilen von Notfallplänen finden Sie besonders bei Ursula Enders „Grenzen achten“, 2012, S. 243 ff „Was tun bei der Vermutung eines Missbrauchs“ Hilfen für alle Ebenen der Institution bis Angebote für Mädchen und Jungen. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 14 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 7. Studie zu den Folgen sexuellen Missbrauchs bei Kindern und Jugendlichen der KJPP der Uniklinik Ulm Die Flyer der Kollegen lege ich mit freundlichen Grüßen und herzlichem Dank der Uni Ulm aus. Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 15 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 8. Fazit Völligen, verlässlichen Schutz für unsere Kinder und Jugendlichen werden wir auch bei unseren besten Bemühungen in den Einrichtungen nicht sicherstellen können. Unser Mut zur selbstkritischen Betrachtung, unser Entschluss, schwierige Themen aus- und anzusprechen, unser Wissen um Täterstrategien, unser offener Umgang mit Fehlern und unsere Entschlossenheit zum Handeln sind jedoch gute Grundlagen, die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu schützen. Und uns damit unseren Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und Sorgeberechtigten als vertrauenswürdig zu erweisen. Schließen darf ich mit einem Zitat aus dem Abschlussbericht des Runden Tisches Die/wir Leitungskräfte tragen Verantwortung in besonderer Weise: Neben unserer Verantwortung sich Wissen anzueignen und dies ins Haus zu tragen „haben wir die Position und den Einfluss, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen, strukturell zu verankern und im Alltag – auch mit ihrem eigenen Beispiel – umzusetzen. Wir können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Fortbildungen animieren und eine Fehlerkultur fördern. Kurz: Das Klima in unseren Einrichtungen so gestalten, dass Themen wie Missbrauch oder Misshandlung nicht mehr tabuisiert werden.“ Verantwortung von jedem einzelnen von uns: „Heute kann niemand, der Verantwortung für Kinder und Jugendliche trägt, diese Problematik ignorieren oder behaupten, sie oder er wisse nicht, was zu tun sei. Wir sind alle verantwortlich dafür, dass die nächsten Schritte folgen“. Abschlussbericht Runder Tisch, S.49 Mein Dank gilt besonders allen meinen Kolleginnen und Kollegen im WILHELMSTIFT für die gute, offene und vertrauensvolle Zusammenarbeit! Vielen Dank! Thomas Kobsa Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 16 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 9. Quellenangaben • Abschlussbericht Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich 30. Nov 2011 Bundesministerien für Justiz, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie für Bildung und Forschung Der Bericht steht im download zur Verfügung oder lässt sich kostenlos beziehen über den Publikationsversand des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: ŚƚƚƉ͗ͬͬǁǁǁ͘ďŵĨƐĨũ͘ĚĞͬD&^&:ͬ^ĞƌǀŝĐĞͬƉƵďůŝŬĂƚŝŽŶĞŶ͕ĚŝĚсϭϵϱϵϳϬ͘Śƚŵů • Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs Herrn Johannes Wilhelm Rörig [email protected] www.beauftragter-missbrauch.de www.kein-raum-fuer-missbrauch.de hier verwendet die Abfrage zum Umsetzungsstand der Empfehlungen des Runden Tisches Rambøll Management Consulting Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 17 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 • Ursula Enders (Hg.) „Grenzen achten“ Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen Handbuch für die Praxis 2012, Verlag Kieperheuer & Witsch, Köl • Jörg M. Fegert Mechthild Wolff (Hrsg.) „Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen“ Prävention und Intervention - ein Werkbuch 2006, 2. Auflage, Juventa Verlag Weinheim • Werner Tschan „Missbrauchtes Vertrauen“ Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen Ursachen und Folgen 2005, 2. Auflage, Karger Verlag Basel Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 18 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13) Grauzone Sexuelle Gewalt Grenzen-Erfahrungen in Institutionen Vortrag Mai 2013 • Margret Dörr, Burkhard Müller „Nähe und Distanz“ Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität 2012, 3. Auflage, Beltz Juventa, Weinheim & Basel • proJugend Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e.V. „Sexuelle Gewalt verhindern“ Prävention auf struktureller und pädagogischer Ebene Heft 1 / 2013 • WILHELMSTIFT Thomas Kobsa, Kolleginnen und Kollegen „Konzept zum Umgang mit Nähe und Distanz“ Maßnahmen zur Prävention von Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen 2010/ 2012 Tel.: 040 673 77 - 190 Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift GmbH Liliencronstraße 130 22149 Hamburg 19 [email protected] Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift Alle Rechte vorbehalten. Nutzung, Vervielfältigung, Weitergabe und Speicherung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. a Vortrag Grauzone Sexuelle Gewalt (Kobsa 15.05.2013) - Freigabe:T. Kobsa (13.05.13)