457 16 Hämostasestörungen 16.1 Ablauf und Komponenten der Hämostase Chr. M. Schambeck, H. D. Bruhn An der Blutstillung (Hämostase) sind beteiligt: 쐌 die Gefäßwand, 쐌 die Thrombozyten und 쐌 die im Plasma und in der interstitiellen Flüssigkeit vorkommenden, gerinnungsfördernd und gerinnungshemmend wirkenden Stoffe. 16.1.1 Primärhämostase Mit dem Begriff Primärhämostase wird die Bildung des primären Plättchenpfropfes bezeichnet. Bei Traumatisierung der Gefäße bleiben die Thrombozyten an den stimulierten Endothelzellen und am freigelegten Subendothel, vorzugsweise dem Kollagen, hängen. Dabei fungiert der Von-Willebrand-Faktor, der Rezeptoren für Plättchen und Kollagen hat, als Brückenprotein. Als primärer Wundverschluss entsteht ein fester Plättchenpfropf, der durch das bei der nachfolgenden plasmatischen Gerinnung entstehende Fibrin stabilisiert wird. Für diese wichtige Reaktionsfolge werden die Phospholipidoberflächen der aktivierten Plättchen zur Reaktionsoberfläche für den Ablauf der plasmatischen Gerinnung. Dies trägt mit dazu bei, dass die Blutgerinnung auf den Verletzungsort begrenzt bleibt. Darüber hinaus präsentieren die aktivierten Plättchen zum einen Rezeptoren, die die Anlagerung fördern, und sezernieren zum anderen sowohl Plättchenaktivatoren (z. B. Serotonin) als auch Gerinnungsfaktoren (z. B. Faktor V). Für den regelrechten Ablauf der Hämostasemechanismen ist nicht nur eine genügende Zahl von Thrombozyten erforderlich (ca. 30−40 × 109 Throm- bozyten/l), auch Struktur und biochemische Funktionsfähigkeit der Plättchen spielen eine wichtige Rolle. 16.1.2 Plasmatische Gerinnung Unabhängig von den genannten zellulären Reaktionen wird vom (Sub-)Endothel auch die plasmatische Gerinnung ausgelöst. Die daran beteiligten Faktoren sind Proteine, vornehmlich Glykoproteine, die mit Ausnahme von Fibrinogen nur in niedriger Konzentration im Blut zirkulieren. Sie sind durch römische Ziffern gekennzeichnet und lassen sich nach enzymatischen Gesichtspunkten klassifizieren. Enzyme bewirken die Überführung der zunächst inaktiven Proenzyme oder Kofaktoren in ihre aktive Form. Kofaktoren sorgen durch die Konzentration der Enzyme auf Oberflächen und durch Konformationsänderungen für eine Beschleunigung der enzymatischen Reaktion. Strukturproteine, insbesondere das Fibrinogen, führen schließlich zur Ausbildung eines mechanisch stabilen Gerüsts, wie in diesem Fall dem Gerinnsel. Die meisten Enzyme (Faktoren IX, VII, X, II) können, im Gegensatz zu anderen Proteinasen, an die Phospholipidoberflächen aktivierter Zellen binden. Die Wechselwirkung erfolgt über Calciumionen, für deren Bindung die Faktoren mit einer spezifischen Aminosäure ( w -Carboxylglutaminsäure) ausgestattet sind. Die Kofaktoren beschleunigen katalytisch den Ablauf der Hämostase. Sie akzelerieren den Prozess der Aktivierung: Faktor VIIIa diejenige von Faktor X und Faktor Va diejenige von Prothrombin. Die Aktivierung von Faktor X durch Faktor IXa wird z. B. durch Faktor VIIIa 1 000-fach beschleunigt. Daran kann man einerseits die Bedeutung der Kofaktoren ermessen, zum anderen erklärt dieser Tatbestand die hohe Blutungsneigung von Hämophilen. 458 16 Hämostasestörungen Der Gerinnungskaskade (Abb. 16-1) kann über zwei Wege angestoßen werden: über das exogene und das endogene System. Durch Freisetzung von Tissue factor aus geschädigten Zellen wird die exogene Gerinnung eingeleitet und läuft innerhalb von Sekunden ab. An das verfügbar gewordene Phospholipoprotein wird Faktor VII unter Vermittlung von Calciumionen gebunden. Tissue factor hat die Funktion eines Kofaktors und macht es möglich, dass Faktor VII gerinnungsphysiologisch wirksam wird. Faktor VIIa stellt den Faktor-X-Aktivator des exogenen Systems dar. Die weiteren Reaktionsschritte, d. h. die gemeinsame Endstrecke der plasmatischen Gerinnung, sind im Rahmen des endogen ausgelösten Ablaufs beschrieben. Das endogene System kann über zwei Mechanismen für den Gerinnungsablauf in vivo von Bedeutung sein: Der Tissue factor Faktor VIIa kann über die so genannte Josso-Schleife Faktor IX aktivieren. Schließlich aktiviert Thrombin Faktor XI. Faktor XIa wandelt Faktor IX, der über Calciumionen an die Phospholipide der Plättchenmembran gebunden ist, in seine enzymatisch aktive Form um. In Bindung an unphysiologische Oberflächen kann Faktor XIIa den Faktor XI aktivieren. Auf der nächsten Stufe dieser kaskadenartigen Reaktionsfolge (endogene Gerinnungskaskade) bildet Faktor IXa zusammen mit dem Faktor VIIIa den Faktor-X-Aktivator des endogenen Gerinnungssystems. Faktor VIIIa entsteht dadurch, dass Spuren von Thrombin, die innerhalb von Sekunden auf dem exogenen Weg entstanden sind, auf die Vorstufe des Proteins wirken. Faktor Xa ist zusammen mit dem Faktor Va in der Lage, Prothrombin, das ebenso wie alle anderen in Abhängigkeit von Vitamin K synthetisierten Gerinnungsfaktoren über Calciumionen an Phospholipide gebunden ist, in Thrombin umzuwandeln. Unter der Einwirkung von Thrombin wird Fibrinogen durch Abspaltung der Fibrinopeptide A und B zu Fibrinmonomeren umgesetzt, die spontan zu langen Fibrinketten polymerisieren. Jeweils zwei Fibrinketten lagern sich zu einem Doppelstrang zusammen. Dieses so genannte lösliche Fibrin wird unter der Einwirkung des durch Thrombin aktivierten Faktors XIII in Gegenwart von Calciumionen quervernetzt. Das resultierende unlösliche Fibrin stellt ein stabiles dreidimen- endogener Weg exogener Weg Oberfläche, F XII, HMWK, Präkallikrein F XI Thrombin, F Xa, F XIIa F VIIa + Gewebsaktivator F XIa Ca2+ F IX PL F IXa F IX F VIIIa Ca2+, PL FX F Xa F VII FX F Va Ca2+, PL Prothrombin Thrombin Fibrinogen Fibrin F XIIIa Abb. 16-1 Schematische Darstellung des exogen und endogen ausgelösten Gerinnungsablaufs. Fibrin (vernetzt) 16.1 Ablauf und Komponenten der Hämostase 459 sionales Netzwerk dar. Damit ist durch Einwirkung von Faktor XIII ein stabiles Fibringerinnsel entstanden, das nach einer Verletzung und Blutung eine Wunde zuverlässig wieder verschließt. 16.1.3 Protein-C-System Das Protein-C-System (Abb. 16-2) verdient aufgrund seiner Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Hämostase besondere Beachtung. Seine Aktivierung geschieht rückkoppelnd durch entstandenes Thrombin selbst, indem Thrombin an einen membranständigen Kofaktor (Thrombomodulin) bindet. Aktiviertes Protein C (APC) wird über seinen löslichen Kofaktor Protein S an Phospholipidoberflächen gebunden und inaktiviert dort proteolytisch die Kofaktoren Va und VIIIa des Gerinnungssystems. Die Synthese von Protein C, Protein S und Thrombomodulin ist Vitamin-K-abhängig. Das Protein S liegt im Plasma zu ca. 60 % an C4 b-Binding-Protein (C4 b-BP) gebunden vor. C4b-BP ist ein Inhibitor des Komplementsystems und kann bei Entzündungen erhöht sein. Dadurch kann sich das Gleichgewicht zwischen dem antikoagulatorisch aktiven, freien Protein S und dem inaktiven, komplexierten Protein S zu Ungunsten der gerinnungshemmenden Aktivität verschieben. 16.1.4 Fibrinolytisches System Plasmin, das proteolytisch wirksame Enzym der Fibrinolyse, entsteht aus der inaktiven Vorstufe, dem Proenzym Plasminogen, durch Einwirkung verschiedener Aktivatoren. Unter physiologischen Bedingungen ist der Gewebsplasminogenaktivator (t-PA) als wesentlicher Aktivator von Plasminogen zu Plasmin anzusehen. Unter therapeutischen Bedingungen werden Streptokinase oder Urokinase als Aktivatoren zur Umwandlung von Plasminogen in Plasmin eingesetzt. Bei der Proteolyse des Fibrins entstehen die hochmolekularen Fibrinspaltprodukte X und Y, durch weiteren Abbau die niedermolekularen Fibrinfragmente D und E sowie ein Dimer von Spaltprodukt D. Der Abbau von Fibrinogen führt zum Auftreten der hochmolekularen Fibrinogenspaltprodukte X und Y sowie der niedermolekularen Fibrinogenbruchstücke D und E. Auch das Fibrinolysesystem wird durch Hemmstoffe kontrolliert. Der von Endothelzellen synthetisierte Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI) reguliert die Umwandlung von Plasminogen in Plasmin und verhindert unter physiologischen Bedingungen eine übermäßige Lyse von Fibrin bzw. Fibrinogen. ⁄ 2-Antiplasmin und ⁄ 2-Makroglobulin sind weitere wichtige Hemmstoffe intrinsisches System F VIIIi Phospholipide Ca2+ F VIIIa APC F Xa F Va Protein S F Vi Thrombin F II Abb. 16-2 Schematische Darstellung des Protein-C-Systems. Fibrinogen Thrombomodulin Protein C Fibrin 460 16 Hämostasestörungen für Plasmin, die die in die Zirkulation gelangte aktive Protease Plasmin sofort binden und hemmen. Dagegen sind diese Inhibitoren nicht in der Lage, das im Fibringerüst befindliche Plasmin zu hemmen. 16.2 Blutungsneigung Chr. M. Schambeck, H. D. Bruhn Mit hämorrhagischer Diathese einhergehende Erkrankungen werden nach dem vorwiegend betroffenen System in vaskuläre Störungen, thrombozytäre (Thrombozytopenien und -pathien) und plasmatische Hämostasestörungen (Koagulopathien) unterteilt. In jeder Kategorie sind angeborene und erworbene Erkrankungen möglich. 16.2.1 Anamnese Zur Abklärung einer Blutungsneigung ist die Anamnese sorgsam zu erheben. Der Manifestationszeitpunkt sollte genauso eruiert werden wie Ort, Größe und Häufigkeit von Hämatomen, das betroffene Os nasi und die Häufigkeit bei Epistaxis, der Nachweis von Blut im Stuhl oder Urin oder sofortiger bzw. verzögerter Beginn von Blutungskomplikationen nach Eingriffen wie Tonsillektomie, Zahnextraktionen oder größeren Operationen. Eine verstärkte oder verlängerte Regelblutung kann nach Aus- schluss gynäkologischer Ursachen ein Indiz für eine hämorrhagische Diathese sein. Ferner muss nach einer Blutungsneigung in Familie und Verwandtschaft gefahndet werden. Überaus wichtig ist die Medikamentenanamnese: 쐌 Fällt der Manifestationszeitpunkt mit dem Wechsel der Medikation zusammen? 쐌 Werden oder wurden in den letzten 10 Tagen Medikamente, die Thrombozytenfunktion nachhaltig beeinflussen, gegeben? Die Anamnese gibt einen wichtigen Hinweis zum Blutungstyp. Schleimhautblutungen sprechen eher für thrombozytäre Störungen und eine Von-Willebrand-Krankheit. Gelenkblutungen weisen auf einen ausgeprägten Mangel eines Einzelfaktors hin (Tab. 16-1). 16.2.2 Labordiagnostik Abzuklären sind thrombozytäre Störungen, eine Von-Willebrand-Krankheit und Einzelfaktorenmängel, die mit den im Folgenden aufgeführten Tests ausgeschlossen werden können. Blutungszeit Die Blutungszeit erfasst die Reaktion der Gefäßwand, die Zahl und Funktion der Thrombozyten sowie die Anwesenheit des Von-Willebrand-Faktors. Die meistverwendete Methode der Blutungszeitbestimmung ist – nach Stau mit einer Blutdruckmanschette auf 40 mmHg – Tab. 16-1 Differenzialdiagnose von Blutungsleiden. Symptom Koagulopathie Thrombozytopathie Von-Willebrand-Krankheit Blutungen aus oberflächlicher Verletzung möglich typisch Hämatome ausgedehnt, tief klein, oberflächlich Schleimhautblutungen selten +++ Gelenkblutungen ++ selten Blutungen aus tiefen Verletzungen, Zahnextraktion verzögert, tagelang sofort, selten tagelang anhaltend