16 Hämostasestörungen

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16 Hämostasestörungen
16.1 Ablauf und Komponenten der Hämostase
Chr. M. Schambeck, H. D. Bruhn
An der Blutstillung (Hämostase) sind beteiligt:
쐌 die Gefäßwand,
쐌 die Thrombozyten und
쐌 die im Plasma und in der interstitiellen
Flüssigkeit vorkommenden, gerinnungsfördernd und gerinnungshemmend wirkenden Stoffe.
16.1.1 Primärhämostase
Mit dem Begriff Primärhämostase wird die
Bildung des primären Plättchenpfropfes bezeichnet. Bei Traumatisierung der Gefäße bleiben die Thrombozyten an den stimulierten
Endothelzellen und am freigelegten Subendothel, vorzugsweise dem Kollagen, hängen. Dabei fungiert der Von-Willebrand-Faktor, der
Rezeptoren für Plättchen und Kollagen hat, als
Brückenprotein. Als primärer Wundverschluss
entsteht ein fester Plättchenpfropf, der durch
das bei der nachfolgenden plasmatischen Gerinnung entstehende Fibrin stabilisiert wird.
Für diese wichtige Reaktionsfolge werden die
Phospholipidoberflächen der aktivierten Plättchen zur Reaktionsoberfläche für den Ablauf
der plasmatischen Gerinnung. Dies trägt mit
dazu bei, dass die Blutgerinnung auf den Verletzungsort begrenzt bleibt. Darüber hinaus präsentieren die aktivierten Plättchen zum einen
Rezeptoren, die die Anlagerung fördern, und
sezernieren zum anderen sowohl Plättchenaktivatoren (z. B. Serotonin) als auch Gerinnungsfaktoren (z. B. Faktor V). Für den regelrechten Ablauf der Hämostasemechanismen
ist nicht nur eine genügende Zahl von Thrombozyten erforderlich (ca. 30−40 × 109 Throm-
bozyten/l), auch Struktur und biochemische
Funktionsfähigkeit der Plättchen spielen eine
wichtige Rolle.
16.1.2 Plasmatische Gerinnung
Unabhängig von den genannten zellulären Reaktionen wird vom (Sub-)Endothel auch die
plasmatische Gerinnung ausgelöst. Die daran
beteiligten Faktoren sind Proteine, vornehmlich Glykoproteine, die mit Ausnahme von Fibrinogen nur in niedriger Konzentration im
Blut zirkulieren. Sie sind durch römische Ziffern gekennzeichnet und lassen sich nach enzymatischen Gesichtspunkten klassifizieren.
Enzyme bewirken die Überführung der zunächst inaktiven Proenzyme oder Kofaktoren
in ihre aktive Form. Kofaktoren sorgen durch
die Konzentration der Enzyme auf Oberflächen und durch Konformationsänderungen für
eine Beschleunigung der enzymatischen Reaktion. Strukturproteine, insbesondere das Fibrinogen, führen schließlich zur Ausbildung eines
mechanisch stabilen Gerüsts, wie in diesem
Fall dem Gerinnsel.
Die meisten Enzyme (Faktoren IX, VII, X, II)
können, im Gegensatz zu anderen Proteinasen,
an die Phospholipidoberflächen aktivierter Zellen binden. Die Wechselwirkung erfolgt über
Calciumionen, für deren Bindung die Faktoren
mit einer spezifischen Aminosäure ( w -Carboxylglutaminsäure) ausgestattet sind. Die Kofaktoren beschleunigen katalytisch den Ablauf der
Hämostase. Sie akzelerieren den Prozess der
Aktivierung: Faktor VIIIa diejenige von Faktor X und Faktor Va diejenige von Prothrombin. Die Aktivierung von Faktor X durch Faktor IXa wird z. B. durch Faktor VIIIa 1 000-fach
beschleunigt. Daran kann man einerseits die
Bedeutung der Kofaktoren ermessen, zum anderen erklärt dieser Tatbestand die hohe Blutungsneigung von Hämophilen.
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Der Gerinnungskaskade (Abb. 16-1) kann über
zwei Wege angestoßen werden: über das exogene und das endogene System. Durch Freisetzung von Tissue factor aus geschädigten Zellen
wird die exogene Gerinnung eingeleitet und
läuft innerhalb von Sekunden ab. An das verfügbar gewordene Phospholipoprotein wird
Faktor VII unter Vermittlung von Calciumionen gebunden. Tissue factor hat die Funktion
eines Kofaktors und macht es möglich, dass
Faktor VII gerinnungsphysiologisch wirksam
wird. Faktor VIIa stellt den Faktor-X-Aktivator
des exogenen Systems dar.
Die weiteren Reaktionsschritte, d. h. die gemeinsame Endstrecke der plasmatischen Gerinnung, sind im Rahmen des endogen ausgelösten Ablaufs beschrieben.
Das endogene System kann über zwei Mechanismen für den Gerinnungsablauf in vivo von
Bedeutung sein: Der Tissue factor Faktor VIIa
kann über die so genannte Josso-Schleife Faktor IX aktivieren. Schließlich aktiviert Thrombin Faktor XI. Faktor XIa wandelt Faktor IX,
der über Calciumionen an die Phospholipide
der Plättchenmembran gebunden ist, in seine enzymatisch aktive Form um. In Bindung
an unphysiologische Oberflächen kann Faktor XIIa den Faktor XI aktivieren. Auf der nächsten Stufe dieser kaskadenartigen Reaktionsfolge (endogene Gerinnungskaskade) bildet Faktor IXa zusammen mit dem Faktor VIIIa den
Faktor-X-Aktivator des endogenen Gerinnungssystems. Faktor VIIIa entsteht dadurch, dass
Spuren von Thrombin, die innerhalb von Sekunden auf dem exogenen Weg entstanden
sind, auf die Vorstufe des Proteins wirken. Faktor Xa ist zusammen mit dem Faktor Va in der
Lage, Prothrombin, das ebenso wie alle anderen in Abhängigkeit von Vitamin K synthetisierten Gerinnungsfaktoren über Calciumionen
an Phospholipide gebunden ist, in Thrombin
umzuwandeln. Unter der Einwirkung von
Thrombin wird Fibrinogen durch Abspaltung
der Fibrinopeptide A und B zu Fibrinmonomeren umgesetzt, die spontan zu langen Fibrinketten polymerisieren. Jeweils zwei Fibrinketten lagern sich zu einem Doppelstrang zusammen. Dieses so genannte lösliche Fibrin
wird unter der Einwirkung des durch Thrombin aktivierten Faktors XIII in Gegenwart von
Calciumionen quervernetzt. Das resultierende
unlösliche Fibrin stellt ein stabiles dreidimen-
endogener Weg
exogener Weg
Oberfläche, F XII,
HMWK, Präkallikrein
F XI
Thrombin, F Xa, F XIIa
F VIIa
+
Gewebsaktivator
F XIa
Ca2+
F IX
PL
F IXa
F IX
F VIIIa
Ca2+, PL
FX
F Xa
F VII
FX
F Va
Ca2+, PL
Prothrombin
Thrombin
Fibrinogen
Fibrin
F XIIIa
Abb. 16-1 Schematische Darstellung des exogen und endogen ausgelösten Gerinnungsablaufs.
Fibrin
(vernetzt)
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sionales Netzwerk dar. Damit ist durch Einwirkung von Faktor XIII ein stabiles Fibringerinnsel entstanden, das nach einer Verletzung und
Blutung eine Wunde zuverlässig wieder verschließt.
16.1.3 Protein-C-System
Das Protein-C-System (Abb. 16-2) verdient aufgrund seiner Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Hämostase besondere Beachtung. Seine Aktivierung geschieht rückkoppelnd durch
entstandenes Thrombin selbst, indem Thrombin an einen membranständigen Kofaktor
(Thrombomodulin) bindet. Aktiviertes Protein C (APC) wird über seinen löslichen Kofaktor Protein S an Phospholipidoberflächen gebunden und inaktiviert dort proteolytisch die
Kofaktoren Va und VIIIa des Gerinnungssystems. Die Synthese von Protein C, Protein S
und Thrombomodulin ist Vitamin-K-abhängig. Das Protein S liegt im Plasma zu ca. 60 %
an C4 b-Binding-Protein (C4 b-BP) gebunden
vor. C4b-BP ist ein Inhibitor des Komplementsystems und kann bei Entzündungen erhöht
sein. Dadurch kann sich das Gleichgewicht
zwischen dem antikoagulatorisch aktiven, freien Protein S und dem inaktiven, komplexierten
Protein S zu Ungunsten der gerinnungshemmenden Aktivität verschieben.
16.1.4 Fibrinolytisches System
Plasmin, das proteolytisch wirksame Enzym
der Fibrinolyse, entsteht aus der inaktiven
Vorstufe, dem Proenzym Plasminogen, durch
Einwirkung verschiedener Aktivatoren. Unter physiologischen Bedingungen ist der
Gewebsplasminogenaktivator (t-PA) als wesentlicher Aktivator von Plasminogen zu
Plasmin anzusehen. Unter therapeutischen
Bedingungen werden Streptokinase oder
Urokinase als Aktivatoren zur Umwandlung
von Plasminogen in Plasmin eingesetzt.
Bei der Proteolyse des Fibrins entstehen die
hochmolekularen Fibrinspaltprodukte X und
Y, durch weiteren Abbau die niedermolekularen Fibrinfragmente D und E sowie ein Dimer
von Spaltprodukt D. Der Abbau von Fibrinogen führt zum Auftreten der hochmolekularen
Fibrinogenspaltprodukte X und Y sowie der
niedermolekularen Fibrinogenbruchstücke D
und E.
Auch das Fibrinolysesystem wird durch Hemmstoffe kontrolliert. Der von Endothelzellen synthetisierte Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI)
reguliert die Umwandlung von Plasminogen in
Plasmin und verhindert unter physiologischen
Bedingungen eine übermäßige Lyse von Fibrin
bzw. Fibrinogen. ⁄ 2-Antiplasmin und ⁄ 2-Makroglobulin sind weitere wichtige Hemmstoffe
intrinsisches
System
F VIIIi
Phospholipide
Ca2+
F VIIIa
APC
F Xa
F Va
Protein S
F Vi
Thrombin
F II
Abb. 16-2 Schematische Darstellung des Protein-C-Systems.
Fibrinogen
Thrombomodulin
Protein C
Fibrin
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für Plasmin, die die in die Zirkulation gelangte aktive Protease Plasmin sofort binden und
hemmen. Dagegen sind diese Inhibitoren nicht
in der Lage, das im Fibringerüst befindliche
Plasmin zu hemmen.
16.2 Blutungsneigung
Chr. M. Schambeck, H. D. Bruhn
Mit hämorrhagischer Diathese einhergehende Erkrankungen werden nach dem vorwiegend betroffenen System in vaskuläre
Störungen, thrombozytäre (Thrombozytopenien und -pathien) und plasmatische Hämostasestörungen (Koagulopathien) unterteilt. In jeder Kategorie sind angeborene
und erworbene Erkrankungen möglich.
16.2.1 Anamnese
Zur Abklärung einer Blutungsneigung ist die
Anamnese sorgsam zu erheben. Der Manifestationszeitpunkt sollte genauso eruiert werden
wie Ort, Größe und Häufigkeit von Hämatomen, das betroffene Os nasi und die Häufigkeit
bei Epistaxis, der Nachweis von Blut im Stuhl
oder Urin oder sofortiger bzw. verzögerter Beginn von Blutungskomplikationen nach Eingriffen wie Tonsillektomie, Zahnextraktionen
oder größeren Operationen. Eine verstärkte
oder verlängerte Regelblutung kann nach Aus-
schluss gynäkologischer Ursachen ein Indiz für
eine hämorrhagische Diathese sein. Ferner
muss nach einer Blutungsneigung in Familie
und Verwandtschaft gefahndet werden. Überaus wichtig ist die Medikamentenanamnese:
쐌 Fällt der Manifestationszeitpunkt mit dem
Wechsel der Medikation zusammen?
쐌 Werden oder wurden in den letzten 10 Tagen Medikamente, die Thrombozytenfunktion nachhaltig beeinflussen, gegeben?
Die Anamnese gibt einen wichtigen Hinweis
zum Blutungstyp. Schleimhautblutungen sprechen eher für thrombozytäre Störungen und
eine Von-Willebrand-Krankheit. Gelenkblutungen weisen auf einen ausgeprägten Mangel eines
Einzelfaktors hin (Tab. 16-1).
16.2.2 Labordiagnostik
Abzuklären sind thrombozytäre Störungen, eine
Von-Willebrand-Krankheit und Einzelfaktorenmängel, die mit den im Folgenden aufgeführten Tests ausgeschlossen werden können.
Blutungszeit
Die Blutungszeit erfasst die Reaktion der Gefäßwand, die Zahl und Funktion der Thrombozyten sowie die Anwesenheit des Von-Willebrand-Faktors. Die meistverwendete Methode
der Blutungszeitbestimmung ist – nach Stau
mit einer Blutdruckmanschette auf 40 mmHg –
Tab. 16-1 Differenzialdiagnose von Blutungsleiden.
Symptom
Koagulopathie
Thrombozytopathie
Von-Willebrand-Krankheit
Blutungen aus oberflächlicher Verletzung
möglich
typisch
Hämatome
ausgedehnt, tief
klein, oberflächlich
Schleimhautblutungen
selten
+++
Gelenkblutungen
++
selten
Blutungen aus tiefen Verletzungen,
Zahnextraktion
verzögert, tagelang
sofort, selten tagelang anhaltend
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