5/15 © 2001 Schattauer GmbH Chemotherapie und Hämostase unter besonderer Berücksichtigung der Apoptose F. Gieseler, T. Bartscht, H. Schiller, M. Clark, H. D. Bruhn I. Medizinische Klinik im Universitätsklinikum Kiel (UKK)(Direktor: Prof. Dr. U. R. Fölsch) Schlüsselwörter Keywords Thrombin, Chemotherapie, Apoptose Thrombin, chemotherapy, apoptosis Zusammenfassung Summary In klinischen Studien wurden signifikante Korrelationen zwischen zytostatischer Chemotherapie und Strahlentherapie einerseits und dem Auftreten von Thromboembolien andererseits dokumentiert. Der gemeinsame pathophysiologische Mechanismus ist in diesem Zusammenhang in der spontanen oder therapieinduzierten verstärkten Freisetzung gerinnungsaktiver Substanzen aus den Tumorzellen bis hin zur verstärkten Thrombinbildung zu sehen. Die vermehrte Freisetzung von Thrombin bei metastasierenden Malignomen hat offensichtlich jedoch noch weitere Konsequenzen, welche über die rein hämostaseologischen Aspekte hinausreichen: Thrombin wirkt nicht nur als Enzym des Hämostasesystems, sondern kann bei verschiedenen Tumorzellinien eine Proliferation oder in höheren Konzentrationen auch Apoptose induzieren. Wir konnten jetzt zusätzlich demonstrieren, daß die Vorinkubation von Leukämiezellen (HL-60) mit Thrombin zu einer deutlich verminderten Apoptoserate bei Behandlung dieser Zellen mit dem Topoisomerase-Inhibitor Idarubicin führt. Damit wäre eine mögliche Erklärung für die positiven Effekte einer kombinierten Chemotherapie und Antikoagulation gefunden, welche durch weiterführende Zellkulturversuche und klinische Studien erhärtet werden müßte. As a consequence of chemotherapy and radiation therapy an increased rate of thromboembolic complications has been monitored in clinical studies. Spontaneous or therapy induced liberation of thromboplastins and thrombin has been shown to be the molecular mechanism. The increased liberation of thromboplastins by tumour cells has additional consequences: thrombin does not only act as enzyme of the haemostatic system, but is able to induce increased proliferation of tumour cells or, in higher concentrations, even apoptosis. Additionally, we could demonstrate that the preincubation of leucaemic cells (HL-60) with thrombin reduces the rate of apoptosis induced by the topoisomerase inhibitor idarubicin. The reduction of thrombin liberation in tumour patients by anticoagulation therefore might increase the effect of idarubicin to induce apoptosis. This combined effect of anticoagulation and chemotherapy on apoptosis has to be investigated in further clinical studies. Therapieinduzierte Einflüsse dem Auftreten von Thromboembolien wurde eindeutig in einer größeren klinischen Studie bei Patientinnen mit Mammakarzinom von Levine et al. 1988 (21) gezeigt. Eine Untersuchung an 30 Patientinnen mit Non-Hodgkin-Lymphomen konnte eine Gerinnungsaktivierung anhand eines Anstiegs von Thrombinmarkern und DDimeren bereits 4 Stunden nach Chemotherapie zeigen (Abb. 2). Die Befunde können durch eine gesteigerte Exposition des Gewebethromboplastins beim hohen Zellzerfall von zytostatikasensiblen Tumo- Bei der Operation von Tumorpatienten wird die bekannte allgemeine perioperative Thromboseneigung durch die tumorbedingte Hämostasestörung (Abb. 1) weiter verstärkt. Daher ist mit einer 2- bis 4fach erhöhten Thromboseneigung im Vergleich zu Operationen bei Nicht-Tumorpatienten zu rechnen (1). Die signifikante Korrelation zwischen der zytostatischen Chemotherapie und Chemotherapy and hemostasis with impact upon apoptosis Hämostaseologie 2001; 21: 5–11 ren erklärt werden (53). Die Ätiologie dieser Störungen ist letztendlich nicht geklärt, wobei eine Exposition von Tumorzellprokoagulanzien oder auch Monozytenprokoagulanzien zusammen mit einer AkutePhase-Reaktion, neben einer Thrombozytenaktivierung und einer Endothelschädigung mit Freisetzung hochmolekularer Multimere des von-Willebrand-Faktors zu diskutieren sind (19, 21, 23). Thrombosen werden auch bei Vorliegen einer kleinen Tumormasse, d. h. bei der adjuvanten Chemotherapie oder der Therapie in niedrigen Tumorstadien beobachtet. Daher dürften auch von Tumorzellprokoagulanzien unabhängige Mechanismen (Monozytenprokoagulanzien, Akute-Phase-Reaktion, Thrombozytenaktivierung und Endothelschädigung) eine Rolle spielen (19, 32). Auch unter einer Strahlentherapie ist mit thromboembolischen Komplikationen zu rechnen, wie insbesondere Untersuchungen bei Patientinnen mit Zervixkarzinom zeigten (23). Eine Untersuchung von 25 Patienten mit plattenepithelialen Bronchialkarzinomen unter Strahlentherapie zeigte, im Gegensatz zu den frühen Veränderungen der Hämostaseparameter bei Chemotherapie, erst am 3. Behandlungstag einen signifikanten Anstieg von Fibrinopeptid A (FPA) und Thrombin-Antithrombin-III-Komplexen (TAT) (8). Eine Hormontherapie mit Östrogen bei Tumorpatienten ist durch kardiovaskuläre Morbidität kompliziert. Diese ist dosisabhängig, aber auch bei niedriger Dosierung noch gegeben (36). Risikofaktoren sind daher das Alter und kardiovaskuläre Vorerkrankungen. LH-RH-Agonisten, Antiandrogene und Tamoxifen zeigen deutlich niedrigere Inzidenz an thromboembolischen Komplikationen. So liegt diese mit Tamoxifen bei der Therapie des fortge- Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Hämostaseologie 1/2001 6/16 Gieseler et al. schrittenen Mammakarzinoms bei ca. 1–6% und bei der adjuvanten Therapie bei 0,2–0,9% (36). Antithrombotische Therapie beim Tumorpatienten Abb. 1 Tumorzellen exponieren spontan oder induziert durch therapeutische Maßnahmen Prokoagulanzien (Tissue factor = TF oder »Cancer Procoagulant« = CP). Tumorzellen können zudem auch indirekt die TF-Bildung durch Makrophagen induzieren. Weiterhin können Plasminogenaktivatoren (PA) an der Tumorzelloberfläche aktiv werden. Ein Zytokin der Tumorzelle (vaskulärer Permeabilitätsfaktor = VPF) sorgt für die Verfügbarkeit notwendiger Faktoren des Hämostasesystems im Tumorgewebe. Nach Aktivierung des exogenen Gerinnungssystems kommt es im Tumorgewebe zur Thrombin und Fibrinbildung. Marker der Thrombinwirkung und der sekundären Fibrinolyse nach Fibrinbildung können daraufhin in die Blutbahn ausgeschwemmt und dort nachgewiesen werden (modifiziert nach Dvorak 1987). Abb. 2 Marker der Gerinnungsaktivierung und der Fibrinbildung (Thrombin-Antithrombin-III-Komplex = TAT und D-Dimer) sowie des fibrinolytischen Systems (Plasminogenaktivatorinhibitor = PAI) bei Patienten mit disseminierten Adenokarzinomen (n = 57) und mit niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL; n = 30) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (n = 25) Hämostaseologie 1/2001 Die theoretische Grundlage eines solchen therapeutischen Ansatzes ergibt sich nicht nur aus der bekannten Thromboseneigung des Tumorpatienten, sondern auch aus dem Nachweis einer direkten mitogenen Wirkung von Thrombin auf Tumorzellen. Das Thrombin verhält sich also wie ein Gewebshormon (10). Eine antithrombotische Therapie müßte also auch diesen Thrombineffekt hemmen. Bereits 1930 konnte Goerner (17) zeigen, daß eine Antikoagulanzientherapie den Progreß subkutaner Tumoren bei der Ratte verhindert.Terranova und Chiossone (1952) initiierten systematische Studien zu Antikoagulanzieneffekten bei experimentellen Tumoren. Die antithrombotische Therapie beim Tumorpatienten wirft jedoch für den Kliniker prinzipiell ganz besondere Probleme auf. Es ist einerseits mit ungenügender Gerinnungshemmung trotz ausreichender Dosierung, also mit Antikoagulanzienresistenz und daher mit Ineffektivität der Therapie zu rechnen. Andererseits besteht eine deutlich höhere Blutungsgefahr, die nur z. T. lokal ausgelöst wird, wie bei Urogenital-, gastrointestinalen, Hirn- und Lungentumoren (2, 5). Mögliche aktuelle Therapieansätze, die in dieser schwierigen Situation zu empfehlen sind, sind der Verzicht auf eine Antikoagulanzientherapie bei sehr begrenzter Lebenserwartung, die besonders aktuelle niedrigdosierte Antikoagulanzientherapie (4, 27) oder die Implantation eines Kavafilters (13). Trotz erhöhten Thromboembolierisikos wird für die Betreuung von Tumorpatienten derzeit keine allgemeine Empfehlung zur Thromboembolieprophylaxe gegeben. Dieses Vorgehen wird durch eine kürzlich publizierte sorgfältige Analyse gestützt (28). Zur Situation der Thromboseprophylaxe wurde aktuell eine plazebokontrollier- Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 7/18 Gieseler et al. te Studie bei 311 Patienten mit sehr niedrigdosiertem Warfarin (1 mg/die) für 6 Wochen während der Chemotherapie im Stadium IV des Mammakarzinoms vorgelegt (22). Das relative Risiko konnte in der mit niedrigdosiertem Warfarin behandelten Gruppe um 85% gesenkt werden (1 Lungenembolie vs. 1 Lungenembolie und 6 tiefe Venenthrombosen in der Plazebogruppe) ohne erhöhtes Blutungsrisiko. Bei Plättchenzahlen unter 50 000/l wurde die Therapie jeweils unterbrochen. Eine fixe Dosierung von Warfarin (1 mg/die) wurde bisher in 2 Studien benutzt, perioperativ bei gynäkologischen Tumorpatientinnen und bei Tumorpatienten mit liegenden Venenkathetern (4, 27), und hat sich dabei als praktikabel und effektiv erwiesen. Ein schwieriges therapeutisches Problem stellt weiter die Thrombozytenvermehrung bei myeloproliferativen Erkrankungen dar, bei der sowohl thrombotische als auch hämorrhagische Komplikationen drohen (29). Die Häufigkeit ist abhängig vom Subtyp und auch durch subtile Thrombozytenfunktionsdiagnostik nicht sicher vorhersehbar. Weiterhin ist die Korrelation zur Thrombozytenzahl schlecht (33). Daher sollte die Indikationsstellung für Aspirin durch das klinische Bild und die Anamnese gestützt sein. Bei anamnestisch aufgetretener Blutung oder dem Nachweis einer gestörten Plättchenfunktion sollten grundsätzlich keine Thrombozytenaggregationshemmer gegeben werden. Eine unkritische Behandlung mit Aspirin ist für diese Patienten potentiell gefährlich. Die typischen Mikrozirkulationsstörungen bei der Polycythaemia vera oder der essentiellen Thrombozythämie im digitalen oder zerebralen Gefäßgebiet sprechen oft erstaunlich gut und prompt auf die Gabe bereits einer Einzeldosis von 250–500 mg Aspirin an (20). Insbesondere bei Plättchenzahlen über 1 Mill./l oder hämostaseologischen Komplikationen ist eine myelosuppressive Therapie mit z. B. Hydroxyurea oder alphaInterferon zur Senkung der Thrombozytenzahl angezeigt. Sekundäre Thrombozytosen bedürfen keiner spezifischen antithrombotischen Therapie, da sie in der Regel nicht mit erhöhtem Thromboserisiko einhergehen. Bei der Polycythaemia vera spielt die Hyperviskosität bei hohem Hämostaseologie 1/2001 Abb. 3 Einfluß einer 12stündigen Thrombininkubation auf die Proliferation von Zellen einer akuten lymphatischen Leukämie (24 Std. nach Aussaat). Einfarbige Säulen: Zellzahl. Schraffierte Säulen: Thymidinaufnahme pro Zelle. Die beobachteten Unterschiede zwischen Kontrolle und Versuchsansätzen waren auf dem 1-%-Niveau signifikant. Die Abbildung zeigt in der Mitte jeder Säule die Standardabweichung der Mittelwerte. Hämatokrit eine entscheidende Rolle. Dieser sollte daher durch Aderlaßtherapie unter 45% gehalten werden. Die konventionelle Antikoagulanzientherapie bei manifester venöser Thromboembolie bei Tumorpatienten erwies sich Abb. 4 Einfluß einer 12stündigen Thrombininkubation auf die Proliferation von Zellen eines Sarkoms (24 Std. nach Aussaat). Einfarbige Säulen: Zellzahl. Schraffierte Säulen: Thymidinaufnahme pro Zelle. Die beobachteten Unterschiede zwischen Kontrolle und Versuchsansätzen waren auf dem 1-%-Niveau signifikant. Die Abbildung zeigt in der Mitte jeder Säule die Standardabweichung der Mittelwerte. Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 8/20 Gieseler et al. weder als sicher noch als effektiv. In 2 kleineren Studien (32 bzw. 74 Tumorpatienten) war die Blutungsrate mit 34% bzw. 65% sehr hoch und die Rezidivrate 11% bzw. 19%, bei einer allgemeinen Thromboserezidivrate von ca. 2% (25, 12). Risikofaktoren für Blutungskomplikationen sind hohes Alter, fortgeschrittenes Tumorstadium, ein bei der Operation inkomplett entfernter Tumor und Chemotherapie. Eine begleitende Antikoagulanzientherapie zur zytostatischen Chemotherapie könnte unter Kenntnis der dargestellten therapieinduzierten Gerinnungsaktivierung unter zwei Gesichtspunkten für den Tumorpatienten vorteilhaft sein. Zum einen könnte eine Prophylaxe thromboembolischer Komplikationen und zum anderen eine Steigerung der Effektivität der Antitumortherapie erreicht werden. Basierend auf tierexperimentellen Befunden ist ein vorwiegend antimetastatischer Effekt von Heparin (2, 18), von Thrombozytenaggregationshemmern (16) und am wirksamsten von Kumarinen (18) zu erwarten. Klinische Pilotstudien wurden vor über 25 Jahren durchgeführt und lieferten vielversprechende Ergebnisse (34), allerdings mit uneinheitlichen Ergebnissen und größtenteils in nicht kontrollierten, kleineren Studien. Erste multizentrische klinische Studien mit adjuvanter Warfaringabe begannen 1976 bei 431 Patienten mit fortgeschrittenen Lungen-, Kolon-, Kopf- und Halstumoren und Prostatakarzinom (34). Ein Warfarineffekt zeigte sich nur beim kleinzelligen Bronchialkarzinom mit signifikanter Verlängerung des Zeitintervalls bis zum Krankheitsprogreß und in der Gesamtüberlebenszeit von im Mittel 49,5 Wochen versus 23 Wochen mit Chemotherapie allein. Die mittlere Zeit von der Randomisation bis zum Ende der Warfarintherapie betrug 27 Wochen und damit nur 54% der Gesamtüberlebenszeit. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie der Cancer and Leukemia Group B (CALGB; 11) mit Warfarin beim kleinzelligen Bronchialkarzinom (extensive disease) bei 294 Patienten, in der sich eine signifikant höhere Frequenz an Komplett- (17% vs. 8%) sowie Partialremissionen (50% vs. 43%) und eine signifikante Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit von 9,3 Monaten vs. 7,9 MoHämostaseologie 1/2001 naten ergab. Eine Studie beim kleinzelligen Bronchialkarzinom (limited disease) wurde gerade abgeschlossen, ist aber noch nicht ausgewertet (CALGB-Protokoll). Vorliegende Daten zu den Studien wurden in einem Register erfaßt (35). Bereits gesichert für die klinische Anwendung erscheint die Heparintherapie bei der akuten Promyelozytenleukämie, wobei eine Verbesserung der Remissionsraten in erster Linie durch Reduzierung der zerebralen Blutungen erreicht wird (15). Ein Teil der Fälle mit akuter Promyelozytenleukämie weist eine stark ausgeprägte Hyperfibrinolyse mit schwerer Blutungsneigung bei erworbenem alpha2-AntiplasminMangel auf. Bei diesen Fällen war der Einsatz von Fibrinolysehemmern (Tranexamsäure 6 g/Tag) erfolgreich (3). Eine Antikoagulanzienbehandlung unter der Strahlentherapie beim Zervixkarzinom konnte in einer Studie an 2800 Patientinnen nicht nur die tödliche Lungenembolierate signifikant von 1,7% auf 0,4% senken, sondern auch die 5-Jahresüberlebensrate um ca. 7% erhöhen (24). Der mögliche klinische Wert einer adjuvanten Antikoagulanzientherapie bei Strahlenbehandlung auch anderer Tumorpatientengruppen bedarf noch der Klärung durch klinische Studien. Bei der Therapie manifester thromboembolischer Komplikationen galt bislang die Empfehlung, daß trotz erhöhten Blutungsrisikos eine Antikoagulanzientherapie angezeigt erscheint. Mit zunehmender Erfahrung mit Kavafiltern könnte jedoch in Zukunft dieses Vorgehen vorzuziehen sein, zumal bei einer statistischen Kosten-Nutzen-Analyse bei verschiedenen Tumorentitäten ein Vorteil vor der Antikoagulanzientherapie aufgezeigt werden konnte (28). Eine vergleichende Studie von Cohen et al. (1991) bei 18 Tumorpatienten mit Thromboembolien mit Kavafiltern und 11 Patienten unter Antikoagulanzientherapie zeigte signifikant mehr Komplikationen in der Antikoagulanziengruppe (3 Blutungen, 1 Lungenembolie). Der Filter scheint speziell bei Patienten mit metastasierten Tumoren sicherer als die Antikoagulation zu sein. Die bisher bestehende allgemein akzeptierte Indikation für den Kavafilter bei absoluter Kontraindikation gegen eine Antikoagulation oder bei Lungenembolie trotz adäquater Antikoagulation könnte sich daher in Zukunft möglicherweise auf Tumorpatienten ausweiten. Thrombin als Gewebshormon Mögliche Einflüsse des Thrombin auf den Apoptosemechanismus von Tumorzellen Im folgenden sollen kurz die möglichen theoretischen Grundlagen therapeutischer Mechanismen im Hinblick auf die Beeinflussung der Apoptose von Tumorzellen diskutiert werden. Bevor wir uns dieser Thematik zuwenden, müssen wir zunächst einmal die durch Tumorgewebe ausgelöste Erhöhung der venösen Thromboembolierate erörtern und den günstigen Einfluß einer oralen Antikoagulation oder einer Antikoagulation mit einem Heparinpräparat zur Kenntnis nehmen. Steigerung der Effektivität der Antitumortherapie durch Antikoagulation? Möglicher Synergismus zwischen Antikoagulation und Chemotherapie bei der Auslösung der Apoptose In früheren Untersuchungen konnte unsere Arbeitsgruppe zeigen, daß das Gerinnungsenzym Thrombin nicht nur als entscheidendes Enzym des Hämostasesystems anzusehen ist, sondern darüber hinaus als Gewebshormon wirkt, indem es nicht nur die Proliferation von Fibroblasten stimuliert, sondern auch das Wachstum von Tumorzellen, wobei diese Wirkung des Thrombin im Sinne der Wirkung eines Gewebshormons interpretiert wurde (7, 8). Seinerzeit wurde die Stimulation von Tumorzellen durch Thrombin an Zellen einer akuten lymphatischen Leukämie, aber auch an Zellen eines Sarkoms demonstriert (6, 7, 8, 9, 10) (Abb. 3, Abb. 4). Diese Wirkung des Gerinnungsenzyms Thrombin als eine Art Ge- Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 9/21 Chemotherapie und Hämostase webshormon auf Tumorzellen bedingt also eine gesteigerte Proliferation dieser malignen Zellen unter Thrombineinfluß. In neuesten Analysen, gemeinsam mit Gieseler, konnten wir nun noch zusätzliche Ergebnisse betreffend die Thrombinwirkung auf den Apoptosemechanismus dokumentieren. Die Überlegung, welche zur Durchführung dieser Experimente Anlaß gab, war die folgende: Eine Tumorregression kann bedingt sein durch das Fehlen exogener positiv stimulierender Signale, etwa im Sinne eines Wachstumsfaktorenentzuges, der das Todesprogramm (die Apoptose) auslöst (14). Wenn also Thrombin grundsätzlich eine stimulierende Wirkung auf die Tumorzellenproliferation ausübt, so könnte ein Entzug von Thrombin bzw. eine verminderte Bereitstellung von Thrombin durch Antikoagulation den proliferativen Effekt des Thrombin reduzieren oder komplett eliminieren, so daß unter diesen Bedingungen beispielsweise ein durch Chemotherapie ausgelöster Apoptosemechanismus ungehindert induziert werden kann. Damit wäre ein biochemisches Substrat vorhanden, welches erklären könnte, warum Antikoagulanzien nicht nur einen antithrombotischen Effekt, sondern darüber hinaus möglicherweise auch einen zusätzlichen antineoplastischen Effekt haben könnten (Abb. 5). Wir haben ausführliche Untersuchungen durchgeführt, die einen Einfluß von Thrombin auf die Proliferationsaktivität von HL-60-Zellen zeigen. HL-60-Zellen sind humane promyelozytäre Zellen, die von der »American Tissue Culture Collection« erworben wurden. Die Zellen proliferieren in vitro mit einer Verdopplungsrate von 22,2 Stunden. Die Tabelle 1 zeigt, daß eine Koinkubation der Zellen mit Thrombin einen ausgeprägten Effekt auf das Proliferationsverhalten der Zellen hat. Im niedrigen Dosisbereich von 0,3 bis etwa 1,8 U Thrombin fand sich eine Aktivierung der Proliferation mit einer Steigerung bis auf ca. 130%. Im hohen Dosisbereich ab 3 Einheiten fand sich dagegen eine deutliche Suppression des Proliferationsindex. Der Proliferationsindex wurde mit dem »Alamar Blue Assay« untersucht. Bei diesem Nachweis wird im Prinzip das Red/Ox-Potential der Mitochondrien durch Abb. 5 Schematische Darstellung der durch verstärkte Freisetzung von Tumorzellen-Thromboplastinen (spontan, durch Chemotherapie, durch Strahlentherapie) ausgelösten Reaktionen: Die vermehrte Thrombinbildung induziert das bekannte Thromboserisiko über Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin. Darüber hinaus wirkt Thrombin als Wachstumsfaktor (Gewebshormon), indem es die Proliferation von Tumorzellen verstärken kann. Dabei können auch vermehrt Wachstumsfaktoren aus Blutplättchen freigesetzt werden. Durch antithrombotische Maßnahmen besteht die Möglichkeit einer hemmenden Beeinflussung dieser proliferativen Wirkungen. eine Änderung der Fluoreszenz des eingesetzten Indikatorfarbstoffes bestimmt. Es fand sich nicht nur ein dosis- sondern auch ein zeitabhängiger Einfluß der Thrombininkubation auf die Proliferation der Leukämiezellen (Abb. 6). In der Abb. 6 ist gezeigt, daß eine kontinuierliche Inkubation von HL-60-Zellen mit Thrombin in verschiedenen Dosierungsbereichen zeitabhängig zunächst zu einer Proliferationssteigerung und ab unter 20 Stunden auch zu einer deutlichen Verminderung der Proliferation führt. Lediglich der mittlere Dosisbereich von 0,29 U führte zu einer kontinuierlichen Proliferationssteigerung der Zellen auch über mehrere Tage. Diese dosisabhängige Beeinflussung der Zellbiologie wurde auch von anderen Autoren beschrieben. Ahmad et al. beschrieben z. B. eine Induktion der Apoptose Konzentrationsbereichen an 0,1 U/ml (1). Diese Arbeitsgruppe hatte mit nachgewiesen, daß Thrombin nicht nur die Proliferation hemmt, sondern selbst Apoptose induzieren kann. Wir untersuchten darüber hinausgehend den Einfluß von Thrombin auf eine Zytostatika-induzierte Apoptose und fanden, daß im niedrigen Dosisbereich von 0,03–0,8 U eine Vorinkubation von HL-60-Zellen die Apoptoseinduktion durch Idarubicin blockieren konnte. Interessanterweise fand sich dieser Effekt nur nach einer mindestens 24stündigen Vorinkubation der Zellen mit Thrombin. Eine gleichzeitige Gabe von Thrombin und Zytostatikum konnte die Apoptoseinduktion nicht blockieren. Die Thrombinwirkung wird über spezifische Rezeptoren vermittelt, die PAR (Proteaseaktivierte Rezeptoren) genannt werden. Es gibt vier PAR, von denen drei (PAR 1, 3, 4) durch Thrombin aktiviert werden, während PAR 2 durch Trypsin Tab. 1 Stimulation von Leukämiezellen durch Thrombin (4 Tage Inkubation). Die Proliferationsaktivität (Prozent im Vergleich zur Kontrolle) wurde mit dem Alamar-Blue-Assay-R analysiert (fluorimetrische Bestimmung des Red/OxPotentials). Je nach Konzentration werden die HL-60-Leukämiezellen durch Thrombin unterschiedlich stimuliert. Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Hämostaseologie 1/2001 10/22 Gieseler et al. bensfaktoren und durch Entzug von Wachstums- und Differenzierungsfaktoren in aktivierten Zellen oder aber durch extrazelluläre Signale, z. B. über das CD95 (APO-1/Fas)-System ausgelöst werden. Die Identifizierung der Moleküle und Signalwege, die an der Regulation der Apoptose beteiligt sind, hat in den letzten Jahren entscheidend zu unserem Verständnis vom Zelltod und damit auch zum Verständnis des Wirkungsmechanismus von Zytostatika beigetragen. Der hier diskutierte Mechanismus über Thrombin in seiner Eigenschaft als Wachstumsfaktor bedarf zweifellos noch einer weiterführenden biochemischen und klinischen Evaluation. Die hier mitgeteilten ersten Ergebnisse verdienen jedoch in dieser Hinsicht zweifellos unsere volle Aufmerksamkeit. Abb. 6 Proliferation von HL-60-Zellen unter verschiedenen Konzentrationen von Thrombin oder Trypsin-ähnliche Proteasen aktiviert wird (19). Es wird vermutet, daß die Proliferations-induzierende Wirkung des Thrombins über diese Rezeptoren vermittelt wird. Eventuell ist die Proliferations-steigernde Wirkung des Thrombin bei Zellen mit entsprechenden Rezeptoren ein Gegenspieler der Apoptose-induzierenden Wirkung von Zytostatika. Dieser Befund ist auch interessant vor dem Hintergrund einer gesteigerten Thrombinkonzentration im Serum von Patienten mit Tumorerkrankungen. In einer großen Serie von Untersuchungen haben wir in dem entsprechenden Patientenkollektiv eine bis zu zweifache Erhöhung der Thrombinkonzentration im Serum von Patienten mit verschiedenen Tumorerkrankungen geführt. Weitere Untersuchungen sind notwendig, um zu klären, ob die Proliferations-induzierende Wirkung des Thrombin bei Malignomen mit entsprechenden Rezeptoren einen neuen zellulären Resistenzmechanismus darstellen kann. Natürlich muß dieser Synergismus zwischen Antikoagulation einerseits und Chemotherapie oder Strahlentherapie andererseits noch durch weiterführende Experimente an den verschiedensten TumorHämostaseologie 1/2001 zellinien überprüft werden, da das biologische Verhalten der verschiedenen Tumoren in dieser Hinsicht erheblichen Unterschieden unterworfen sein könnte. Beispielsweise ist in Modellversuchen an motorischen Neuronen gezeigt worden, daß Thrombin als extrazelluläres Signal auch intrazelluläre Apoptosemechanismen auslösen können soll. Allerdings handelt es sich hierbei um ein in-vitro-Modell, ohne Einbeziehung von Gerinnungsmechanismen und ohne Einbeziehung von Tumorinduzierter Thrombinbildung. Aufgrund des von unserem Ansatz recht unterschiedlichen Versuchsaufbaus sind die Ergebnisse der Autoren Smirnova et al. (26) unseren experimentellen Daten nicht vergleichbar. Gleiches gilt für die Untersuchungen von Nambi et al. (30), welche in einem Kultursystem von Rattenaorta (glatte Muskelzellen) durch Thrombin eine Stimulation der intrazellulären Topoisomerase-I-Aktivität beobachteten. Aber auch dieser Versuchsaufbau ist dem unserigen wenig vergleichbar. Selbstverständlich sind in diesem Zusammenhang auch andere Apoptosemechanismen zu diskutieren: Prinzipiell kann Apoptose durch das Fehlen von Überle- Literatur 1. 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Medizinische Klinik im Universitätsklinikum Kiel (UKK) Schittenhelmstr. 12, D-24105 Kiel Downloaded from www.haemostaseologie-online.com on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Hämostaseologie 1/2001