ISSN 1869-6597 Komplexe Krankheitsbilder brauchen multimodale Lösungen 3344 Papier aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff Gebühr bezahlt 9. 1 4 Jahrg. 28 23 Weiter denken 1 ber m e ez 1. D 2014 NEU . N r. Informationsdienst für Neurologen und Psychiater Editorial Wird in der Medizin „zu wenig gesprochen und zu schnell geschnitten“? Ebola Aus gegebenem Anlass: Was wir unseren Patienten über Ebola sagen können Kommentare Medizinnobelpreis 2014 – grundlegende Forschungsleistungen gewürdigt Neurowoche 2014 in München: Wo uns der Schuh drückt 3 6 9 10 Gesundheitspolitik – wie die deutschen Vertragsärzte ihre Situation einschätzen 11 Hirntumoren Aktuelles zur Therapie maligner Gliome 13 Parkinson / Dystonien Psychiatrische Störungen bei Parkinson und Dystonien 15 Neurologie Neue Entwicklungen: Überblick zu Dystonie, Chorea und Tics 19 Narzissmus Schematherapie – ein Ansatz zur Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörung 23 Arzneimittel Depression und Suizidalität als unerwünschte Arzneimittelwirkung 28 Neuro Quiz Gibt es ein Recht auf Anonymität für Abrechnungsbetrüger? 32 Neuro Chirurgie Neurochirurgische Option bei Hirngefäßerkrankungen – welche neuen Erkenntnisse gibt es bei der Behandlung von Aneurysmen und Angiomen? 32 Neuro Forschung Neues Zellkernprotein möglicherweise wichtiger als Amyloid für die AlzheimerPathologie 37 Schlaganfallprophylaxe – zu häufig Statine für Ältere 37 Narkosemittel Ketamin: Ein Durchbruch in der Behandlung schwerer Depressionen? 38 ADHS durch Paracetamol – Kausalität nicht nachgewiesen 39 Mindestens so erfolgreich wie SSRI: Strom am Schädel lindert Depression 39 Leseprobe Von Abhängigkeit bis Zwangsneurose 40 Ausschreibung / News 44 Letzte Seite An Heiligabend häufen sich Herzinfarkte 51 Impressum 51 Chemie-Nobelpreis 2014 für Fluoreszenzmikroskopie Johanniskraut längst im Brennpunkt der Forschung Westermayer Verlag 82349 Pentenried Mehr auf Seite 26 Ausgabe 9 Dezember 2014 Therapie der Essstörungen Psychopharmaka bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Martin Greetfeld, Ulrich Cuntz und Ulrich Voderholzer, Prien Die Behandlung von Patientinnen (und Patienten) mit Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) ist eine Domäne der Psychotherapie. Aufgrund der Schwere und Chronizität der Symptomatik sowie zur Behandlung komorbider Störungen werden in der klinischen Praxis häufig auch Medikamente verabreicht; hierbei steht der Kliniker bei der Auswahl der geeigneten Pharmakotherapie nicht selten vor Schwierigkeiten. Bei der AN existiert – bei limitierter Studienlage – bislang kein Wirksamkeitsnachweis für Antidepressiva oder Neuroleptika hinsichtlich einer Gewichtszunahme; Neuroleptika können jedoch bei Gedankenkreisen und Bewegungsdrang hilfreich sein. Bei der BN ist die Wirksamkeit von Antidepressiva in der Akuttherapie gut belegt, wobei Langzeituntersuchungen fehlen. be Psy i P ch vo ark iat n P in ris ro s ch f. D on e r. me un Stö Se d. d r ite Me D un 15 y ike s ge bi Ka ton n s ste i 19 n en Inhalt Fortsetzung auf Seite 3 Wird in der Medizin „zu wenig gesprochen und zu schnell geschnitten“? Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, in einem Interview mit der Ärzte-Zeitung (19.09.14) berichtete der Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft und zugleich Sprecher des Deutschen Forschungsverbunds Neuropathischer Schmerz (DFNS), Prof. Dr. Thomas Tölle, München, von den Ergebnissen des 1. Nationalen Schmerzforums. Das Hauptthema sei die Frage nach der Notwendigkeit eines Facharztes für Schmerzmedizin gewesen, um die „über 15 Millionen nicht gut versorgten Schmerzkranken in Deutschland“ angemessener zu betreuen. Woher er diese Zahl hat, blieb im Dunklen. Jedenfalls sei allgemein beklagt worden, „dass in der Medizin zu wenig gesprochen und zu schnell geschnitten“ werde. Das erinnert doch sehr an die schnoddrig-provokanten Sprüche des seinerzeit von den Grünen sehr als sozial und innovativ gepriesenen Arztes und Psychopharmaka-Gegners Ellis Huber: „Liebe statt Valium“. Nun sollte Tölle gerade im Hinblick auf sein spezielles Metier, den neuropathischen Schmerz, wissen, dass dort mehr Gespräche kaum etwas bringen, aber eine vernünftige neurophysiologische Diagnostik und medikamentös physikalische / elektrophysiologische Thera- Fortsetzung von Titelseite Psychopharmaka bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Die hohe Chronifizierungsrate und nicht zuletzt eine hohe Letalität – im Falle der Anorexia nervosa von 5 bis 17% (je nach Schweregrad der untersuchten Patientengruppe) im Langzeitverlauf (siehe z. B. Löwe et al. 2001) – stellen den Arzt häufig vor große Herausforderungen. Die Anorexia nervosa betrifft mit einem Verhältnis von 10:1 vor allem das weibliche Geschlecht; in Übersichtsarbeiten wird eine Lebenszeitprävalenz bei Frauen von ca. 1% angegeben (zur Übersicht: S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Essstörungen“). Klinisch imponiert ein durch restriktive Nahrungsaufnahme, exzessive Bewegung oder seltener durch Missbrauch von Laxanzien und Diuretika selbst herbeigeführter Gewichtsverlust mit einem BMI unter 17,5 kg/m2. Hinzu kommen massive Ängste vor einer Gewichtszunahme, eine Körperschemastörung sowie Störungen pie am ehesten erfolgversprechend sind. Sicherlich lassen sich die psychosozialen Komponenten des Schmerzes nicht wegoperieren. In einer bestimmten Phase wird man diesem psychosozialen Hintergrund gerade von chronischem Schmerz „ohne psychologisches Verständnis“ auch kaum angemessen begegnen können. Das heißt doch aber nicht, dass ein Arzt (!) für psychosomatische Medizin, wie mir ein solcher neulich in einer psychosomatischen Reha-Einrichtung nachdrücklich erklärte, keine Untersuchungsliege brauche, diese gar für seine Tätigkeit schädlich sei, da er Patienten nicht berühre (sic!). Sicherlich kann er die körperlichneurologische Untersuchung den in der Nachbarschaft tätigen Neurologen / Internisten überlassen. Von einem Psychologen kann ich selbstverständlich eine solche Haltung auch akzeptieren. Aber von einem Arzt? Jeder von uns nervenärztlichen / neurologischen Kassenärzten kennt etliche Fälle von Borderline, dissoziativer Störung oder auch „chronischem“ Kopfschmerz, die jahrelang von einem Schmerzkolloquium zum anderen weitergereicht wurden, und bei denen auch eine Reha-Behandlung erfolglos geblieben war, bis die organneurologische Ursache festgestellt wurde. Bestehen wir also darauf, dass zumindest die spezielle neurologische Schmerztherapie weiter in der Hand des klinisch tätigen Neurologen bleibt. Mit freundlichem kollegialem Gruß Ihr Benno Huhn hormoneller Achsen, z. B. mit der Folge einer Amenorrhoe (WHO, ICD-10). Von einer Bulimia nervosa sind mit einem Verhältnis von 20:1 ebenfalls weit überwiegend Frauen betroffen. Kernsymptome der Erkrankung, für die eine Lebenszeitprävalenz bei Frauen von ca. 1,5% angegeben wird (zur Übersicht: S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Essstörungen“), sind wiederholte Essanfälle und gegensteuernde Maßnahmen (v. a. Erbrechen und Laxanzienabusus). Eine übertriebene Beschäftigung mit dem Körpergewicht und dem Aussehen liegen diesen kontrollierenden Verhaltensweisen zu Grunde. Körperliche Begleiterscheinungen im Kontext des Erbrechens (Elektrolytverschiebungen, Zahnschäden etc.) sind häufig (WHO, ICD-10). Die Auswahl einer geeigneten Pharmakotherapie wird oft auch durch komorbide Störungen beeinflusst. Sowohl bei der AN als auch bei der BN finden sich bei der Hälfte aller Betroffenen depressive Störungen, bei ca. 40% Angststörungen (v. a. Soziale Phobie). Bei der AN liegt bei ca. einem Fünftel der Patientinnen eine zwanghafte oder eine selbstunsicher-vermeidende Per- neuro aktuell 9/2014 editorial 3 Pharmakotherapie bei Anorexia nervosa In der Literatur finden sich nur wenige randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs) zur Pharmakotherapie der AN. Die Studiendauer ist meist unter drei Monaten, selten sind mehr als 15 bis 20 Patientinnen pro Therapiearm eingeschlossen. In der Summe ist das evidenzbasierte Wissen über die Wirksamkeit von Pharmaka bei AN gering, Langzeitdaten fehlen. Innerhalb der Gruppe der Antidepressiva haben weder SSRI (Attia et al. 1998; Kaye et al. 2001; Walsh et al. 2006) noch trizyklische Antidepressiva (Biederman et al. 1985; Halmi et al. 1986) einen positiven Effekt auf das Körpergewicht. Während atypische Antipsychotika – beispielsweise in ihrer primären Indikation Schizophrenie angewandt – häufig eine Gewichtszunahme verursachen, gilt dies nicht für die Behandlung von Patientinnen mit Anorexia nervosa; es findet sich kein signifikanter Effekt auf das Körpergewicht im Vergleich zu Plazebo. Es besteht allenfalls ein leichter positiver Trend hinsichtlich der Gewichtszunahme zugunsten der atypischen Antipsychotika (Metanalyse bei Kishi et al. 2012). Auf die Zielsymptome Bewegungsdrang und exzessives Grübeln hat Olanzapin jedoch einen positiven Einfluss (Brambilla et al. 2007; Bissada et al. 2008). Dementsprechend bezieht sich die Empfehlung der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“ auch auf den Einsatz von niedrig dosiertem Olanzapin zur Behandlung der benannten Zielsymptome; eine darüber hinausgehende Pharmakotherapie der Grunderkrankung wird nicht empfohlen. Zu ergänzen ist noch, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva bei AN auch bei komorbiden depressiven Störungen limitiert ist. Meist bessert sich das depressive Syndrom auch im Kontext der Gewichtszunahme. Beim Einsatz von Psychopharmaka bei AN sind die somatischen Folgeerscheinungen der Grunderkrankung zu beachten: Die Pharmakokinetik bei Untergewicht kann schlecht kalkulierbar verändert sein, Elektrolytverschiebungen (v. a. Hyponatriämie, Hypokaliämie) können kardiale Nebenwirkungen begünstigen und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten extrapyramidalmotorischer Symptome ist erhöht (zur Übersicht Greetfeld et al. 2012). Pharmakotherapie bei Bulimia nervosa Im Gegensatz zur AN ist bei der BN die Wirksamkeit insbesondere von Antidepressiva auf die Kernsymptomatik der BN (Essanfälle und Erbrechen) gut untersucht. Für selektive Serontonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) findet sich eine Vielzahl von Studien, teils mit über 100 Studienteilnehmern, einschließlich Studien zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Die Dauer der überwiegend im ambulanten Setting durchgeführten Untersuchungen ist allerdings begrenzt, es existieren kaum Langzeituntersuchungen. Innerhalb der Gruppe der SSRIs wurden etliche Substanzen untersucht (Fichter et al. 1991; FBNCSG 1992; Goldstein et al. 1995; Fichter et al. 1997; Romano et al. 2002; Schmidt et al. 2004; Milano et al. 2004; Capasso et al. 2009). Zusammengefasst lässt sich mit SSRI eine Verminderung der Häufigkeit von Essanfällen und Erbrechen um bis zu 50% erzielen. Insbesondere Fluoxetin erscheint aufgrund seiner langen Halbwertszeit und damit konstanteren Plasmaspiegeln – sollte einmal eine Dosis erbrochen werden – geeignet. Da höhere Dosierungen in Studien effektiver waren, ist eine Tagesdosis von 60 mg empfohlen. Fluctin® und viele Fluoxetin-Generika sind für die Indikation BN bei Erwachsenen zugelassen. Zu beachten ist das hohe Interaktionspotenzial von Fluoxetin (potenter Inhibitor von CYP2D6). Trizyklische Antidepressiva sind zwar ebenfalls effektiv (Pope et al. 1983; Barlow et al. 1988), werden aber aufgrund eines ungünstigen Risiko-Nutzen-Verhältnisses nicht empfohlen, ebenso wenig das ebenfalls effektive Antiepileptikum Topiramat (Hedges et al. 2003; Hoopes et al. 2003), für das aber nur wenige RCTs vorliegen. Monoaminooxidase-Hemmer (Carruba et al. 2001) und Lithium (Hsu et al. 1991) sind Plazebo nicht überlegen. Die S3-Leitline „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“ empfiehlt im Sinne einer „Sollte“-Empfehlung die Gabe von SSRI bei BN quasi als Behandlungsoption der zweiten Wahl, die bei unzureichendem Ansprechen als Kombinationstherapie zur Psychotherapie angeboten werden sollte. Die Gabe von SSRI ist ebenfalls empfohlen, falls eine Psychotherapie nicht verfügbar ist. Das Fehlen von Langzeitstudien macht Empfehlungen zur Behandlungsdauer problematisch. Nur eine Studie mit einem Untersuchungszeitraum von einem Jahr liegt vor, die – bei allerdings extrem hoher DropoutRate – einen tendenziellen Vorteil einer Langzeitbehandlung mit Fluoxetin im Vergleich zu Plazebo zeigen kann (Romano et al. 2002). Fazit für die Praxis Sowohl die Behandlung der AN als auch die der BN sind Domänen der Psychotherapie. Für die AN kann der Einsatz von niedrig dosiertem Olanzapin in Einzelfällen zur Behandlung eines ausgeprägten Bewegungsdrangs oder exzessiven Grübelns als vorübergehende neuro aktuell 9/2014 sönlichkeitsstörung vor. Knapp ein Drittel der Patientinnen mit BN leiden an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Hudson et al. 2007). Psychotherapie ist bei der AN und BN gleichermaßen Behandlungsverfahren der ersten Wahl. Empirische, wenn auch nur moderate Evidenz findet sich bei der AN für kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie und Familientherapie. Bei der BN findet sich eine robuste Evidenzgrundlage für die kognitive Verhaltenstherapie, etwas schwächer auch für interpersonelle Psychotherapie (zur Übersicht Voderholzer et al. 2012). 5 Behandlungsoption – bis ausreichende psychotherapeutische Strategien zur Symptomkontrolle seitens der Patientin erlernt sind – indiziert sein. Einflüsse von Antidepressiva und Antipsychotika auf den Gewichtsverlauf sind in den publizierten Untersuchungen auf Plazeboniveau; große Studien zum Einfluss von Antidepressiva oder Antipsychotika liegen bis heute allerdings nicht vor. Bei der BN sollte Patientinnen, die unzureichend auf Psychotherapie ansprechen oder die keine Psychotherapie wahrnehmen können, eine Behandlung mit Fluoxetin angeboten werden, wobei möglichst hohe Dosen (bis 60 mg) verabreicht werden sollten. Literatur beim Verlag Dr. med. Martin Greetfeld, M.A., Oberarzt Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Ulrich Cuntz, Chefarzt Professor Dr. med. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor und Chefarzt alle: Schön Klinik Roseneck neuro aktuell 9/2014 Korrespondenzadresse: Prof. Dr. U. Voderholzer Schön Klinik Roseneck Am Roseneck 6 · 83209 Prien Tel.: 08051/68-100100 · Fax: 08051/68-100103 E-Mail: [email protected] 6