Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten Finanzpolitik C.1.1 LASTVERSCHIEBUNGSKONTROVERSE Methodische Vorbemerkungen ► längerfristige (überkonjunkturelle) Effekte der Staatsverschuldung ► Annahme: Vollbeschäftigung bzw. Normalauslastung des Produktionspotentials ► Differentialwirkungen der Kredit- versus Steuerfinanzierung von Staatsausgaben, die ihrem Umfang, ihrer Struktur und ihrer zeitlichen Entwicklung nach gegeben sind ► Leitfrage: Lässt sich durch eine öffentliche Kreditaufnahme die Last heutiger Staatsausgaben auf die Zukunft verschieben? Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten Finanzpolitik C.1.2 LASTVERSCHIEBUNGSKONTROVERSE Last als Ressourcenentzug: Die „Neue Orthodoxie“ ► David Ricardo (1772-1823), Arthur C. Pigou (1877-1959), Alvin H. Hansen (1887-1975), Abba P. Lerner (1903-1982) ► „Last“ öffentlicher Ausgaben = die durch diese in Anspruch genommenen realen Ressourcen ► Inlandsverschuldung: die von der öffentlichen Hand gegenwärtig in Anspruch genommenen Güter müssen anderen, d.h. privaten, gegenwärtigen (!) Verwendungen entzogen werden keine Lastverschiebung möglich auch das Entstehen von Zinsverpflichtungen in der Zukunft verursacht keine volkswirtschaftlichen Kosten für kommende Generationen (Zinsen werden sowohl aufgebracht als auch empfangen) ► Auslandsverschuldung: Gegenwart: inländische Ressourcen durch Realtransfer aus Ausland Zukunft: inländische Ressourcen durch Zins- und Tilgungszahlungen ans Ausland Lastverschiebung auf zukünftige Perioden bzw. Generationen Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten Finanzpolitik C.1.3 LASTVERSCHIEBUNGSKONTROVERSE Last als Nutzeneinbuße: Der Nutzenansatz ► James M. Buchanan (1958): „Public Principles of Public Debt“ ► Kritik der „Neuen Orthodoxie“ als organizistisch ► „Last“ = Nutzeneinbuße (normativer Individualismus) ► Steuerfinanzierung: Kaufkraft wird (in der Gegenwart) zwangsweise entzogen Zensiten erleiden Nutzeneinbuße ► Kreditfinanzierung: Gegenwart: öffentliche Schuldtitel werden freiwillig gezeichnet KEINE Nutzeneinbuße Zukunft: Zins- und Tilgungszahlungen muss der Staat über (höhere) Steuern (Zwangsabgabe!) finanzieren Steuerzahler erleiden Nutzeneinbuße Zinsempfänge können nicht aufgerechnet werden, da öffentliche Kreditaufnahme nicht konstitutiv für Zinsempfang Last vollständig auf zukünftige Perioden bzw. Generationen verschoben Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten Finanzpolitik C.1.4 LASTVERSCHIEBUNGSKONTROVERSE Last als Wachstumseinbuße: Der „Aggregate Investment Approach“ (Wachstumsansatz) ► Richard Musgrave (1910-2007), Franco Modigliani (1918-2003), William Vickrey (1914-1996) ► Schwäche der beiden vorgenannten Ansätze: Wirkungen der öffentlichen Kreditnahme auf private Wirtschaft unberücksichtigt ► Staat kann sich Ressourcen nur zu Lasten des privaten Konsums oder der privaten Investitionen verschaffen ► zentrale Hypothese: bei Steuerfinanzierung: vorwiegend Verdrängung von privatem Konsum bei Kreditfinanzierung: vorwiegend Verdrängung von privaten Investitionen ► verstärkte öffentliche Kreditfinanzierung Investitionen verdrängt Kapitalstock Wachstum des Produktionspotentials künftiges Realeinkommen = „Last“ Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten Finanzpolitik C.1.5 LASTVERSCHIEBUNGSKONTROVERSE Resümee ► Die Antwort auf die Frage nach einer möglichen Lastverschiebung hängt zentral von der Definition von „Last“ ab ► Die Inanspruchnahme realer Ressourcen durch öffentliche Ausgaben lässt sich durch eine öffentliche Kreditaufnahme im Inland nicht verschieben, sondern nur durch eine Verschuldung im Ausland ► Die mit staatlichen Zwangsabgaben einhergehende Nutzeneinbuße lässt sich hingegen durch eine Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben vollständig in die Zukunft verschieben ► Bedeutsam sind auch die Einbußen an Wachstum und damit an zukünftigen Realeinkommen, die mit einer Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben (potentiell) verbunden sind ► Insgesamt ist öffentliche Verschuldung also grundsätzlich geeignet, die zeitliche Inzidenz öffentlicher Ausgaben zu Lasten der Zukunft zu verändern; sie kann deshalb als ein Instrument der zeitlichen Lastverteilung für ganze Volkswirtschaften verwendet werden ► Die finanzpolitische Entscheidung über die Höhe der Staatsverschuldung ist daher der Sache nach immer auch ein Beschluss über die zeitliche Lastverteilung