Herunterladen - Deutsche AIDS

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Schwule Forschungsgruppe München (SFM): Ulrich Biechele,
Manfred Edinger, Christopher KnolI, Dr. Günter Reisbeck
Institut für Psychologie - Sozialpsychologie
der Ludwig-Maximilians-Universität München
© Deutsche A IDS- Hilfe eV.
Di ef fenbachstraße 33
D-l0967 Berl in
November 1996
Redaktion : Klaus-Dieter Beißwenger, Christ ine Höpfner
Satz: CaJa Carmen Jan iesch
Druck: med ialis
all e Berli n
ISSN 0937-1931
ISBN 3-930425-19-X
Spendenkonto: Ber li ner Sparkasse, Konto 220 220 220 (B LZ 100 50000)
Die DAH ist als gemeinnützig und besonders förderungswürd ig anerkannt.
Spenden sind daher steuerabzugsfäh ig.
Bestandsaufnahme: Was w ir aus empirischen Untersuchungen über
schwule Männer aus der Unterschicht w issen
Frankreich
Deutschland
Niederlande
Großbritannien
USA
Australien
Fazit
2.1 Zum Problem der Repräsentativität von Studien über schwule Männer
2.2 Hypothesen zur Unterrepräsentanz der schwu len Unterschicht in der
Sozialwissenschaft
2.3 Begriffsbestimmung
2.4 Um welche Männer geht es also?
37
37
39
45
64
82
103
121
21
22
25
31
31
32
33
35
14
17
19
6.
Literatur
Für eine erweiterte Prävention
5. Zusammenfassung der Ergebnisse
143
139
137
131
13
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
Ergebnisse der bayerischen Netzwerk-Untersuchung
Studiendesign
Schwule Biographien
Sexuelle Identitäten
Stigmamanagement
Schwule Netzwerke
Safer Sex
Schwule Vulnerabilitäten - schwu le Ressourcen
7.
Der Autor
3.
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
8.
Sperma und ungeschützten Analverkehr ein. Es zeigt sich auch, daß Männer aus
diesem Personenkreis zu einem höheren Anteil ungeschützten A nalverke hr haben als Männer mit höheren Bildungsabschlüssen und Berufspositionen ."
Für die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) stellte sich damit die Frage nach den Gründen, aus denen diese Befunde resultieren; es war völlig unklar, ob die Ergebni sse nur dem bekannten schichtspezifischen Verhaltensmuster in bezug auf Gesundheitsvorsorge geschuldet ware n, einem unterschiedlichen Rezeptionsverhalten gegenüber Informationen oder auch einer untersch iedlichen sexuellen
Identität mit schichtspezifischen sexuellen Handlungsstil en . Sollte letzteres der
Fall sein, wäre das Präventionskonzept der DAH für schwule Männer, das im
Kern vo n einer kollektiven schwulen Identität ausgeht, nicht mehr ohne
weiteres tragfähig. Die bisherigen Studien von Michael Bochow und Martin
Dannecker konnten aufgrund ihres quantitativen Ansatzes über diese Fragen
allerdings kaum Auskunft geben.
Die DAH hat deshalb Ulrich Biechele vo n der Schwulen Forschungsgruppe
München (Ludwig-Maximilians-Universität) mit einer qualitativen Untersuchung beauftragt. Die Studie sollte unter Berücksichtigung indi vidueller biographischer Faktoren klären helfen,
• ob sich die sexuelle Identität der schwulen Männer aus der Unterschicht von
derjenigen der Männer aus der Mittelschicht unterscheidet
• ob sich ein schichtspezifisches Stigmamanagement feststellen läßt
• w ie die sozialen Netze innerhalb und außerhalb der Gay Community bei Männern aus den unterschiedlichen Schichten beschaffen sind
• we lcher Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit zur Unterschicht und Risikoverhalten beim Sex besteht.
Die Beantwortung all dieser Fragen sollte auch mit Blick auf die praktischen
Konsequenzen für die Primärprävention der DAH erfolgen. So bemühen w ir
uns zwar schon seit langem, auf unseren Plakaten und vor allem in unseren Fotoleporellos die HIV-Präventionsbotschaften leicht verständ li ch zu fassen. Doch
5
Berlin, im November 1996
Rainer Schilling
- Leiter des Referats "Schwule und bisexuelle Männer"
Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Bundesgeschäftsstelle -
6
pirischen Materials und der vor liegenden Ergebnisse, die ich in Zusammenarbeit mit Günter, Christopher und Manfred erarbeitet habe. Ihnen gilt mein
Dank dafür, daß sie mir diese Arbeit möglich gemacht und sie mit kritischer Solid arität begleitet haben. Jürgen Meggers aus Berlin verdanke ich wertvo lle inhaltliche Anregungen, ebenso Michael Bochow, der nach Lektüre des Manuskripts nützliche Verbesserungsvorschläge beisteuerte. Auch bei Rainer Schilling, Referent für homosexuelle und bisexuelle Männer in der DAH-Bundesgeschäftsstelle, möchte ich mich für die woh lwo llende Begleitung bedanken.
München, im August 1996
Ulrich Biechele
7
tungen und Wertungen über anderer Leute Leben ab. Ich kann diese Vorbehalte verstehen.
Gerade akademische Psychologen gefallen sich häufig darin, in unverständlichen Worten den Eindruck zu erwecken, sie wüßten mehr über die Gesetze des
Lebens und über ihre Mitmenschen als andere . Das kann durchaus auch im Zusammenhang mit subtilen Grobheiten stehen (man sagt nicht mehr "dumm",
sondern "einfach strukturiert" und denkt, der Gesprächspartner merke nicht,
was gemeint ist). Im Extremfall teilt man dann die Welt in Gewinner und Verlierer ein und blickt als Vertreter der ersteren milde auf letztere herab. Eigentlich ist das aber nicht die A ufgabe von Psychologen . Aufgabe der Psychologie
ist es vielmehr, einen Beitrag dazu zu leisten, daß menschliche Potentiale und
Ressourcen, an w elcher Stelle auch immer, entdeckt und gefördert werden.
In diesem Sinne verstehen auch wir von der Sch w ulen Forschungsgruppe
München unseren Auftrag. Es geht nicht darum, uns über andere Schw ule zu
erheben oder gar lustig zu machen. Es geht uns aber auch nicht darum, in falsch
verstandener und naiver schw uler Solidarität an einem Modell festzuhalten,
nach dem w ir alle Opfer von Verfolgung und gesellschaftlichen Zwängen sind .
Ein solcher Determinismus wäre lediglich der alte Wein in rosa Schläuchen. Jeder Mensch lebt, indem er kontinuierlich Kompromisse zwischen Kosten und
Nutzen schließt, indem er sich - bew ußt oder unbewußt - für eine bestimmte
Gestaltung seines individuellen Lebens entscheidet. Insofern übernimmt er die
Verantwortung für sein Handeln. Diese Phänomene der Wirklichkeit zu verstehen und ihnen gerecht zu werden, haben w ir in der vorliegenden Arbeit versucht.
Über die schwule "Unterschicht" schreiben w ir desw egen, w eil w ir uns als
Sprachrohr für Menschen verstehen, die sonst in der Wissenschaft nicht zu Wort
kommen . Denn unser Wissen über schw ules Leben und schwule Sexualität in
Deutschland und ihre Veränderung seit dem Auftreten von AIDS basiert vor al len Dingen auf den umfangreichen Fragebogenerhebungen, die Martin
Dannecker (1974 mit Reimut Reiche, 1990) und Michael Bochow (1988, 1989,
1993, 1994) durchgeführt haben . In all diesen Studien w aren schwule Männer
aus der sog ena n nt en Unt ers chi cht im Verg leich zur Zu sa mmenset zung der Ge-
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aus sonstigen Gründen als soz ial benachteiligt gelten können . Diese Arbeit
möchte die Lebensbedingungen der Männer, die aufgrund ihrer sozialen Position nicht im Scheinwerferlicht der (Sozial-)Wissenschaft stehen, näher beleuchten, möchte auch der Frag e nachgehen, ob - und wenn ja, warum - diese Männer wen iger von der bisherigen HIV-Prä vention profitieren konnten. Dazu werden - nach theoretischen Vorüberlegungen und einer Bestimmung der zentralen Begriffe in Kapitel 2 - in Kapitel 3 zunächst nationale und internationale
Veröffentlichungen zur männlichen Homosexualität unter dem Aspekt ihrer
Aussagen zu Lebensbedingungen der schwulen "Unterschicht" ausgewertet;
Themensch werpunkte hierbei: "sexuelle Identität", "Stigmamanagement",
"schwule Netzwerke" und "Safer-Sex-Verhalten"'. Diese Metaanalyse mündet
in die Formulierung von Forschungsfragen für die schichtspezifische Neuinterpretation qualitativen Materials, das die Schwule Forschungsgruppe München
erhoben hat 2 . Kapitel 4 enthält die Darstellung der empirischen Ergebnisse, die
in Kapitel 5 noch einmal zusammengefaßt und diskutiert werden . Im abschließenden Kapitel 6 werden thesenförmig die wichtigsten Schlußfolgerungen aus
diesen Befunden sowie Konsequenzen für die zukünftige HIV-Prävention bei
schwulen Männern aus der "Unterschicht" dargestellt.
Vermutlich ist es politisch nicht korrekt, von "Unterschicht" zu sprechen. Es
fehlt uns in der deutschen Sprache an einer Entsprechung für den neutraleren
und umfassenderen englischen Begriff "working class". Von schwulen Arbeitern zu sprechen, wäre einfach nicht zutreffend, von "sozial Benachteiligten"
abstrakter und nicht weniger abwertend. Wir haben uns nach mehreren Diskussionen entschieden, es beim Ausdruck" Untersch icht" zu belassen, den wir
1 Diese untersu chten Dimensionen w erden im Kapitel 2.3 erläutert und definiert.
2 Es handelt sich hierbei um halbstrukturierte Interview s, die Manfred Edinger, Christopher Knoll
und Günter Reisbeck im Rahmen des BMFT-geförderten Forschungsprojekts "Netzwerke schwuler Männer im Zeichen von A IDS" durchgeführt und unter anderer Schw erpunktsetzung ausgew ertet haben . Die Projektleitung liegt bei Prof. Dr. Heiner Keupp, Institut für Psychologie Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nähere Angaben zu diesem
Projekt finden sich im Kapitel 4.1. Mit dem Erscheinen des Abschlußberichts ist in einigen Monaten zu rechnen. Eine Darstellung d er Zwischenergebnisse findet , ich in Re isbeck et al. 1993.
10
11
über schwule Männer Anspruch auf Repräsentativität erheben. Darüber herrscht
in der internationalen Schwulenforschung Konsens (vgl. Gonsiorek 1982, Plummer 1981). In Deutschland stellten Dannecker und Reiche bereits 1974 fest: "Es
ist so gut w ie unmöglich, ein Sampie von Homosexue llen zu erstellen, das den
Kriterien der Repräsentativität genügt" (5. 11).
Forschung über homosexuelle Männer hat sich grundsätzlich mit der Gefahr
systematischer Verzerrungen zu befassen. Eine Hauptursache für solche systematischen Verzerrungen ist der sogenannte Klinik-Bias, der dann entsteht,
wenn Schwule, die der Hilfe bedürfen und diese in Kliniken, Beratungsstellen
und psychotherapeutischen Praxen in Anspruch nehmen, untersucht und die Erkenntnisse auf Schwule im all gemeinen übertragen werden . Ein solcher KlinikBias liegt z.B. für den größten Teil psychoanalytischer Forschung vor; hier führten Erkenntnisse über homosexuelle Psychotherapie- und Psychiatriepatienten
zu pathologisierenden Aussagen über homosexuelle Männer im all gemeinen
(Dannecker und Reiche 1974,5.13 ff.). Auch die Forschung über homosexuelle
Männer und ihr Sexualverhalten im Zusammenhang mit AIDS ist einer äh nlichen Gefahr ausgesetzt, wenn die Ergebnisse aus Untersuchun gen mit seropositiven oder an AIDS erkrankten Männern einfach auf die Gesamtpopulation
schwuler Männer übertragen werden (vgl. (oxon 1988, 5. 128f). Diese Fixierung
der Mediz in und ihrer Nachbarwissenschaften auf bereits erkrankte Menschen
sowie auf patho logische Prozesse überhaupt, das sogenannte pathogenetische
Prinzip, ist ein Kind der europäischen Aufklärung, also mithin unseren hergebrachten Paradigmen von Wissenschaftlichkeit verschwistert. Erst in der letzten
Zeit beginnen sich die Hum anwissenschaften auch für das salutogenetische
Prinzip zu interess ieren, d.h. für die systematische Erforschung differentieller
persönlicher Ressourcen zur Bewältigung von Stressoren und Risiken (vgl. Antonovsky 1987). Die Dimension Pathogenese versus Salutogenese ist indes nicht
das Thema d ieser Arbeit; daß diese Dimension ein e w ichtige im Zusammenhang
mit der Forschung über schwule Männer und AIDS se in kann, ze igt z.B. die Untersuchung von Hutter und Koch (1995) .
Das andere Grenzphänomen hergebrachter (Sozial-)Wissenschaftlichkeit
wird heute mit dem Wort Ethnozentrismus bezeichnet. Es besagt, daß Wissen -
13
piri sche Evid enz. Im folgenden Kap itel werden daher einige The sen diskutiert,
die sich mit dem geringen Vorkommen der Unterschicht in der schwu len Forschung befassen.
2.2 Hypothesen zur Unterrepräsentanz der schwulen Unterschicht in der Sozialwissenschaft
Hypothese 1: Es g ibt in der Unterschicht genauso vie l Homosexua lität wie in der
Mittelschicht, aber weniger schwu le Männer.
Jede empiri sche Untersuc hung über homosexue ll e Mä nner (homosexuelle Frauen natürlich entsprechend) muß sich am Anfang entweder für das Einschlußkriterium homosexuelles Sexualverhalten oder das Einschlußkriterium Selbstdefinition als Homosexueller entsche iden; oder in anderen Worten: Wo llen w ir etwas über Denken, Fühlen und Verha lten von Männern erfahren, die Sex mit anderen Männern haben (ganz g leich, ob sie sich als schwul, bisexuell,
heterosexue ll oder gar nicht definieren), oder wo ll en w ir Entsprechendes von
denjenigen Männern erfahren, die von sich se lbst sagen, sie se ien homosexuell
bzw. schwu l (ega l ob sie aussch li eßl ich, mehr oder wen iger oder gar ke in en Sex
m it anderen Männern haben)? Die erste Gruppe ist regelmäßig größer als die
zwe ite (Kinsey et al. 1948, Dannecker und Reiche 1974). Wenn d ieses Phänomen mit dem gefundenen Schicht-Bias zusammenhängt, dann unterscheiden
sich Unterschichtsmänner, die schwu len Sex haben, von ihren MitteIsch ichtsgenossen dadurch, daß wen iger von ihn en sich eine Identität als schwu ler Mann
zuschre iben . Diese Hypothese und ihre Konsequenzen werden we iter unten im
Zusammenhang mit den Ergebnissen zur sexuellen Id entität zu d iskutieren sein.
Hypothese 2: Schwule Männer aus der Unterschicht sind mehr als ihre M itte Ischichtsgenossen darauf angewiesen, sich der (heterose xue ll en) Mehrheit zu -
14
rufl iche Mobi lität aufwiesen als die männliche Allgeme inbevölkerung. Vor allen Dingen Mä nner aus dem Arbeiterm ili eu drängten in Angeste lltenberufe.
Dieses prototyp ische Bild relativiert Zil lich (1988) insofern, als er neben Aufstiegs- auch Stagnations- und Abstiegsszenar ios als typische Varianten der Berufssoz ialisation schwu ler Männer exp li ziert. Fre ili ch sind all e d iese Phänomene
nie abgelöst von der allgeme inen kulture ll en und wirtschaft lichen Entwick lung
zu betrachten. Von der gegenwärtigen Schwäche des Arbe itsmarktes sind potentie ll al le arbeitsfäh igen Mitg li eder der Gese llschaft betroffen, also auch
schwu le Männer. Daher ist für d ie vorl iegende Arbeit die Frage nach der Bedeutung von Margina lis ierungsprozessen auf der berufli chen Ebene von besonderem Interesse. Im engeren Sinne ist hier nach Zusammenhängen von Arbe itsplatzsituation und Gesundheitsbewußtsein und -verhalten zu fragen, im weiteren Sinne nach der Integration in oder Desintegration aus der schwulen Subkultur und schwu len Netzwerken.
Hypothese 4: Wir sehen die schwulen Männer aus der Untersch icht nicht, weil
unsere Erhebungsinstrumente mittelschichtslastig sind .
Diese Hypothese meint das oben angesprochene Phänomen des Ethnozentrismus auch innerhalb der Gay Commun ity und bezieht sich auf die Ebene der
Reichweite empirischer Sozialwissenschaft: Erreichen wir mit unseren Instrumenten diejenigen Schwulen, die nicht oder kaum in die Szene integriert sind?
Diese Frage hat zwei Ebenen, eine direkte und eine indirekte. Die direkte bezieht sich auf die Verteilung des Interviewmaterials bzw. auf die Rekrut ierung
von Interviewpartnern. Die großen quantitativen Untersuchungen der letzten
Jahrzehnte haben sich vor allem dreier Verteilungsverfahren bedient: Verteilung von Bögen durch Kontaktpersonen, Streuung von Fragebögen und Teilnahmeaufrufe in schwulen Zeitschriften und Einrichtungen der schwulen Szene
wie Beratungs- und Informationszentren, Diskotheken, Bars, Saunen usw. Auch
mit größtem Aufwand bei der Streuung des Materials läßt sich letztlich nie der
Vorbehalt entkräften, daß überproportional solche Männer erreicht werden,
die mehr oder weniger in die schwule Sz.ene und ihre Netzw erke integriert sind .
15
besser, als ganz auf Information zu verzichten. Es besteht aber auch die Möglichkeit, einen Schichtfilter einzusetzen, d.h. bei der Zusammenstellung des
Sampies bestimmte Schichtmerkmale wie z.B. Schulbildung zu quotieren . Das
bedeutet zwar einen Verzicht auf den Fetisch Repräsentativität (vgl. Bochow
1989, S. 22), aber wie oben gezeigt wurde, ist diese ohnehin nicht zu erreichen 3 •
Solche Methoden selektiven Samplings führen nicht zu Aussagen über zahlenmäßige (quantitative) Verhältnisse, sondern zu Aussagen über (qualitative)
Strukturen und Zusammenhänge. Im letzten Jahrzehnt haben zwei große Untersuchungen in der Bundesrepublik nach diesem Prinzip gea rbeitet: Norbert
Zillich (1988) quotierte in seiner Studie über Schwule im Arbeitsleben die Teilnehmer nach Bildungsgrad, Jörg Hutter und Volker Koch (1995) quotierten in
ihrer Untersuchung über die sozioepidemiologische Seite der HIV-Infektion
nach soziodemographischen Merkmalen wie Bildung und Wohnort sowie nach
dem Serostatus. Als sich im Verlauf dieser Untersuchung zeigte, daß bestimmte
Merkmale, die am Anfang des Forschungsprozesses noch nicht explizierbar waren, für die Analyse an Relevanz gewannen, wurden im Rahmen einer Suchstrategie gezielt Teilnehmer geworben, die diese Merkmale erfüllten. Zum selektiven Sampling trat also ein "theoretical sampling" (Strauss 1991, S. 70) . Konkret
heißt das z.B .: Es stellte sich heraus, daß es einen Typ sch w uler Mann gibt, der
Sexualität und Partnerschaft ausschließlich über das Medium Kontaktan zeige
lebt. Aufgrund des vergleichsweise abgeschotteten Lebensstils dieser Männer
mußte die Forschergruppe besondere Bemühungen unternehmen, um auch in
dieser Gruppe Interviewpartner zu finden .
3 Der entscheidende Grund für die ni cht zu erreichende Repräsentati vität dürfte sein, d aß das
Merkmal "H omosexualität" nach w ie vor mit rea ler oder befürchteter sozialer und politischer Repression verbunden ist. Diese Befürchtung zeigte sich z. B. an den Boykottaufrufen im Zu sa mmenhang mit der letzten Untersuchung Martin Danneckers (vergl. hierzu den Anhan g in Dannecker
1990). Selbst w enn alle homosexuellen Männ er in d er Bevölkerung bekannt wä ren, ließe sich eine
repräse ntative Sti chprobe nur dann gewinnen, wenn alle zu Befragend en davo n überzeugt
w ären, mit einer Teilnahme keinerl ei persönli ches oder politisches Risiko ein zugehen . Insof ern best eht ein kausa ler Zusammenhang zwisch en Repression und f ehlender Repräsentati vität.
16
Schichtmodelle zur Beschreibung von Strukturen sozialer Ungleichheit zu eng
angelegt, zu einfach aufgebaut, zu starr und zu lebensfern (Hradil 1987, S. 94).
Die klassische Dimension zur Beschreibung der soziologischen Schichtung ist
das sogenannte Prestige. Der subjektive Gehalt dieses Begriffs (soz iales Ansehen einer Person aufgrund ihrer sozialen Position) wird in der Regel operational bestimmt über die objektiven Indikatoren Schulbildung, Beruf, Einkommen
und Vermögen. Je nach Komposition und Gewichtung dieser Indikatoren ließe
sich die Position einer Person in der Gesellschaft bestimmen . Zur Unterschicht
gehören demnach eindeutig Personen mit Hauptschul- oder niedrigerem Schul abschluß, ungelernte Arbeiter und Angestellte, Kleinsthändler und -landwirte
sowie Personen ohne Beruf. Einige Autoren rechnen auch qualifizierte Arbeiter
zur Unterschicht (vgl . hierzu Bolte und Hradil 1988, S. 212 ff.) . Bezüglich des
Einkommens lassen sich eindeutige statistische Kriterien setzen, z.B. die zehn
Prozent, die am wenigsten monat lich verdienen, oder alle Personen, deren Einkommen nicht mehr als der geltende Sozialhilfesatz beträgt. Bei der Bewertung
des Vermögens bereitet die Einordnung z.B . von Haus- und Grundbesitz gewisse Schwierigkeiten.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Zuordnung einer Person zur Unterschicht sehr stark von der Wahl und der internen Differenzierung der Indikatoren abhängt. Sobald man außer dem Beruf als häufigst gewähltem Merkmal
auch andere objektive Merkmale heranzieht, w ächst das Problem uneindeutiger Zuschreibungen, zumal "neuere" (d.h. von der Forschung in jüngerer Zeit
akzentuierte) Kriterien sozialer Ungleichheit nicht mehr zu ignorieren sind: Geschlecht, Region, Familienverhältnisse, Alter, Geburtszeitraum, Nationalität
(vgl. Hradi11987, S 40 ff.). Das Merkmal "Nationalität" als Schichtparameter gewinnt in der letzten Zeit auch in Deutschland an Bedeutung, insofern als Angehörige nicht-christlicher Bevölkerungsgruppen zunehmend von Marginalisierung betroffen sind. Das im Vergleich wesentlich stärkere Homosexualitätstabu
in den meisten dieser Kulturen bildet im Zusammenhang mit der allgemeinen
sozialen und politischen Benachteiligung eine besonders hohe Schwelle für die
wissenschaftliche Erreichbarkeit der in Deutschland lebenden schwulen Türken,
Bosni er usw. Der Schwu len Fo rschungsg rup pe München ist, eben so w ie ande-
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ne angemessenere Bewertungsdimension wäre z.B. hohe/niedrige Belastung.
Eine Ana lyse, die auf solche Maße rekurriert, hat neben einer größeren Elastizität auch und gerade den Vorteil, daß sie psycholog ische Komponenten wie
Coping-Stile einbeziehen kann. Im Gegensatz zum Sch ichtmode ll besteht hier
also die Mög li chke it, d ie Ste ll ung eines Menschen in der Gese ll schaft auch danach zu bestimmen, w ie er sich in seiner Lebenswe lt wahrnimmt, wie er mit
Konf li kten, denen er begegnet, umgeht.
Sexuelle Identität
Vordergründ ig ist dam it gemeint, ob eine Person sich als homosexuell, bisexuell, heterosexuell oder gar nicht defin iert. Diese Etikettierungen verweisen jedoch auftieferliegende Prozesse der affektiven und kognit iven Akzeptanz oder
Ab lehnung homosexue ll er Wünsche und die Art, w ie diese Wünsche und entsprechende Erfa hrunge n in das Se lbstbi ld integriert werden ((ass 1979, 1990,
Tro iden 1989). W icht ige Dimensionen der sexue ll en Identität schwu ler Männer
sind das Verhä ltn is von sexue ll er und soz ialer Ro lle, das Bil d von Männ li chkeit
und die Vorste ll ungen von Partnerschaft und Fam ilien leben.
Stigma management
Das Konzept Stigmamanagement erlangte im Zusammenhang mit schwu len
Männern zuletzt durch die Stud ie von Hutter und Koch (1995) besondere Aufmerksamke it. Durch se in Abweichen von der Heterosexual itätsnorm ist jeder
homosexue ll e Mann notwend igerweise von einem Stigma betroffen, d.h. von
Scham und soz ialen Sit uationen, in denen seine psych ische und sozia le Integrität bedroht ist (vg l. Goffman 1963, 1990). W icht ige Dimens ionen der Bewä ltigung dieses Stigmas sind Informationskontro ll e (wann erzäh le ich wem von
meiner Homosexua lität) und die Verarbeitung von Diskrimin ierungserfahrungen .
18
Einbindung in die Gay Community (Dowsett 1993). Gay Community verstehen
wir als die ku lturelle, soziale und politische und zunehmend auch ökonomische
Gemeinschaft von Männern, die sich selbst als schwu l verstehen. Davon zu unterscheiden sind schwu le Netzwerke mit ihrem Akzent auf sozialen Beziehungen. Begriffe w ie "schwule Szene", "gay scene", "Subkultur" sind unschärfer,
beziehen sich jedoch eher auf sexue ll e und kommerzielle Inhalte. Im Interesse
der Lesbarkeit der vor liegenden Arbeit haben w ir uns aller dieser Begriffe bedient, ohne sie im jewei li gen Kontext näher zu definieren. Falls hierbei gewisse
Unschärfen auftreten, liegt das an der Vielfalt schwu ler Phänomene und auch
an der Vielfalt der Wörte r, mit denen Forscherinnen und Übersetzerinnen sie
benennen.
Schwule Männer
Grundsätzlich bezieht sich das Wort "schwul" eher auf die soziale Identität und
mithin den ganzen Menschen, während das Wort "homosexuell" eher zur k lini schen Beschreibung von Sexualverhalten dient (vgl. Donovan 1992). Da man
aber ebenso sehr woh l von schwulem Sex wie auch von homosexuellen Männern sprechen kann, läßt sich der synonyme Gebrauch der beiden Begriffe im
Interesse der Lesbarkeit kaum verme iden.
2.4 Um welche Männer geht es also?
Ziel dieser Untersuchung ist es, mehr darüber zu erfahren, welche Männer bisher von den Präventionskampagnen der Deutschen A IDS-Hilfe e.V. (DAH) wen iger profitiert haben und warum das so ist. Es g ibt Anha ltspunkte dafür, daß es
sich hierbei um Männer handelt, die der Gay Community eher fernstehen
(B ochow 1994). Di eser Trend w urde auch intern ational bestätigt (Dow sett 1994,
19
Forschung. Unser Titel "schwule Männer" deutet an, daß wir uns auf diej en igen
konzentrieren wo llen, die sich auch se lbst als schwul verstehen.
Aber gibt es hier wirkl ich zwei d istinkte Kategor ien von Männern (Schwu le
auf der einen und MSM auf der anderen Seite)? Sind vielleicht d ie MSM ein
Phantasieprodukt, das homophobe Heterosexuelle erfunden haben, damit sie
ihre Kontaminationsängste darauf proj izieren können (Watney 1993)? Ein
näherer Bl ick auf die Vie lfalt der Phä nomene weist darauf hin, daß w ir es hier
w iederum m it einer Interferenz zwischen Schicht und sexueller Identität zu tun
haben. Bei einer Entscheidung für ontologische Kriter ien des Soseins (wie es der
größte Teil der deutschen Literatur tut) nehmen wir in Kauf, daß vie le Männer
unserem Bli ck entgehen, wei l sie sich dem (Mittelschichts-)Identitätskonzept
verwe igern oder we il ihnen dieses Konzept schlicht nichts bedeutet. Gerade die
austra lischen Befunde legen aber nahe, daß es in der Zukunft in der strukture llen HIV-Prävention vermehrt um so lche Männer gehen w ird (Bartos 1994, Dowsett 1990, 1994). Strukturelle Prävention in diesem Zusammenhang heißt nicht
nur, die Gay (ommun ity, d ie es schon g ibt, stärker zu machen, sondern auch d ie
Ressourcen, die in ih rem Windschatten liegen, zu entdecken und zu fördern.
20
Analyse der nationalen und internationalen Literatur Maße und Dimensionen
sichtbar machen, mit denen sich die soziale Benachteiligung bestimmter schwuler Männer veranschaul ichen läßt.
Besondere Berücksichtigung finden neben den deutschen Untersuchungen
die französische Arbeit Michael Pollaks und drei Untersuchungen aus Australien. Diese Studien sind unseres Wissens bislang weltweit die einzigen, die sich
explizit und systematisch auf der theoretischen wie auf der empirischen Ebene
mit Aspekten von Homosexualität in der Unterschicht befassen 4 .
Sofern es aus den Quellen ersichtlich ist, w erden die Größe des Sampies,
seine Zusammensetzung sowie die Art der Rekrutierung referiert, insbesondere, ob als Einschlußkriterium schwule Selbstdefinition oder homosexuelles Sexualverhalten definiert wurde. Die Kriterien für die Zuordnung zur Unterschicht sind in den meisten Untersuchungen Schulbildung und berufliche Situation . In einigen Studien wird auch die Variable Wohnort als sozi ode mographisches Maß für die Nähe zur Gay Community und somit auch als
indirekter Schichtindikator gewertet. Dies ist insoweit zu verstehen, als die
räumliche Distanz zu den urbanen Zentren durchaus als Faktor von Minderprivilegierung zu sehen ist (Dowsett 1994, Reisbeck et al. 1993 5) . Da zur Zeit
sowohl die Schwule Forschungsgruppe München (für das Bundesministerium
für Forschung und Technologie, BMFT) als auch Michael Bochow (für das niedersächsische Sozialministerium) an Studien arbeiten, die die Leben ssituation
schwuler Männer in ländlichen Regionen zum Thema machen, haben w ir uns
entsch lossen, an dieser Stelle auf eine nähere Analyse der Unterschiede zwischen Stadt und Land zu verzichten und konzentrieren uns auf die Variablen
4 Erst kurz vor Drucklegung dieser Arbeit erreichte uns die Nachricht von einer im Dezember 1995
veröffentlichten irischen Untersuchung über die Zu sammenhänge von Armut und Diskriminierung bei Schwulen und Lesben (Collins et al. 1995).
5 Zu diesem Ergebnis kommen Reisbeck et al. auch in ihrem in Kürze erscheinenden Endbericht
zum Projekt "Netzwerke sch w uler Männer im Zeichen von A IDS" (vergl. Kapitel 4.1). Ein Schw erpunkt di eser Untersuchung ist die Anal ys e sch w uler Netzwerke im Hinblick auf die Unterschi ed e
zw isch en großstädtischen und ländlichen Regionen.
21
und 1989 Umfragen über die Sch w ulen-Wochenzeitschrift "Gai Pied Hebdo"
durchgeführt. Die jeweils ausgew erteten 1.200 bis 1.500 Fragebögen w aren
überw iegend von Angehörigen der gut ausgebildeten Mittelschicht beantwortet worden . Um Schichtunterschiede prüfen zu können, wurden daher in zw ei
Kontrollbefragungen 1986 und 1987 jew eils dreihundert schwule Männer befragt, die nach Alter, Beruf und Wohnort repräsentativ für die männliche französische Bevölkerung w aren. Bei der Analyse der Ergebnisse bezieht sich Pollak
auf die Variable "Beruf" als Schichtindikator. Unterschicht wird synonym mit
Arbeiter gesetzt.
Hauptbefund dieser Untersuchung ist, daß in den unteren Klassen (also der
Arbeiterschaft) riskantere Sexualpraktiken verbreiteter sind als in der MitteIschicht, und daß hier vergleichsweise verzögert auf das Risiko reagiert wird . ,,14
Prozent der höheren Angestellten 1987 und 3 Prozent 1989, aber 58 Prozent der
Arbeiter 1987 und 26 Prozent 1989 haben Praktiken mit hohem Risiko ... die
schichtspezifischen Unterschiede (haben sich zw ar insgesamt zwischen 1987 und
1989) verringert, bleiben aber beim Kondomgebrauch signifikant: 54 Prozent
der höheren Angestellten und Freiberufler benutzen sie regelmäßig und 29 Prozent unregelmäßig . Bei den Arbeitern sind es 32 Prozent und 40 Prozent" (5. 73) .
Obwohl Pollak nur Arbeiter erwähnt, ist aus den Rohwerten (5. 198 ff.) zu ersehen, daß ähnliche Trends für Rentner und Bew ohner ländlicher Gemeinden geiten . Die Variable "Schulabschluß" differenziert lediglich zwischen Teilnehmern
mit und ohne Abitur, schließt also auch Angehörige der Mittelschicht in die untere Kategorie ein. Auch hier ergibt sich für die Gruppe ohne Abitur ein w eniger
konsequentes Präventionsverhalten . In einem semantischen Feld, in das Pollak
nicht nur diese Befunde, sondern auch Tiefeninterviews mit von AIDS betroffenen schw ulen Männern einbezieht (5. 209), ordnet er dem Pol "ohne Schulabschluß" die Qualitäten "uneingestandene Homosexualität" sowie "falsch informiert über AIDS" zu, während am entgegengesetzten Pol "Hochschule" die
Qualitäten "Homosexualität ist bekannt" und "gut informiert über AIDS" (aus
der Schwulenpresse und medizinischen Publikationen) firmieren. Die letztgenannten Männer w ürden eher in Städten mit über 200.000 Einwohnern leben,
ihre z.T. schw ul en Ä rzt e w üßten über ih re Sexualität Besch eid.
22
geht von der Oberklasse weg zu den Unterklassen" (S. 73-74) .
Die Selbstetikettierungen der teilnehmenden Männer analysiert Pollak im
Hinblick auf individuelle und kollektive Erfahrungen und Haltungen bezüglich
erlebter Diskriminierungen. Er beschreibt hier die Wechselwirkung von altersbedingten Unterschieden und soziokulturellen und -ökonomischen Differenzen. So werde "zum Beispiel der Ausdruck ,homophil', der ja ein ästhetisierender Euphemismus ist, nur noch von einer kleinen Zahl von über 50jährigen Homosexuellen verwendet. Die 40jährigen sagen lieber ,schwul' (frz .: pede), und
die 20- bis 30jährigen bevorzugen ,gay'" (S. 29). Damit zeige sich in der älteren
Generation der Zwang, eine defensive Strategie gegen das psychiatrische Etikett einer Geistesstörung zu wäh len . Der Terminus Homophilie verweise sowohl auf die Möglichkeit der Sublimierung der Triebwünsche als auch auf bestimmte Eigenschaften w ie Sensibilität und Vornehmheit. Damit bleibe er im
Rahmen einer "diskreten Subversion" (S. 30) allerdings den beherrschenden Intellektuellen- und Künstlerschichten vorbehalten. Der Ausdruck "pede" (in
Analogie zu "schwul") hingegen verweise auf die Unterschichtssprache. Dieses
Wort gebrauchten engagierte homosexuelle Männer, um verächtlich machende Konnotationen auszulöschen und das Stigma positiv umzubewerten.
Allerdings werden - vor allen Dingen, was Angehörige der wen iger gebildeten Schichten betrifft - diskriminierende Bestandteile aus der Unterschichtssprache mitgeschleppt, w ie Pierre Bourdieu (1977, S. 53) zeigt: Das Schimpfwort
"tous des pedes" ("lauter Schwule") aus dem Mund eines Arbeiters meine "weniger die eigentlich sexuelle Dimension des Verkehrs als vielmeh r die mit beiden Geschlechtern prinzipiell verknüpften Eigenschaften und Fähigkeiten,
nämlich Stärke oder Schwäche, Mut oder Feigheit". Jungen Homosexue llen aus
der Unterschicht, so Pollak, bleibe oft nichts anderes übrig, als diese Bedeutung
wortwört lich zu nehmen und ihre soziale Verwirklichung als schwule Männer in
bestimmten nicht-manuellen Dienstleistungsberufen (v.a. als Friseure und im
Gastronomiegewerbe) mit einem gewissen sozialen Aufstieg zu verbinden.
Eine vergleichbare Sogwirkung übe die großstädtische Mittelschicht mit
ihren verg leichswe ise günstigen Lebensbedingungen auch auf Angehörige der
Oberschicht aus, die ih re schwu le Identität häufiger in abhängigen künstleri-
23
"gay" steht für eine eher "hedonistische Geisteshaltung, die offen ist für die
Lust und für die Vielfalt affektiver und sexueller Bindungen" (S. 31). Dieser
Gruppe, die man "gay scene" nennen könnte, attestiert Pollak, daß sie zwar die
Errungenschaften der Liberalisierung (vor allem auf sexuellem Gebiet) in ihr Leben integriert hätte, aber sich nur in geringem Maße mit der Gemeinschaft, der
Gay Community, identifiziere. Dieser großstädtische Hedonismus wirke für
Schwule vom Lande oder aus minder privilegierten Schichten, die ihre Selbstverwirklichung häufig mit einem Bruch mit ihrem Herkunftsmilieu bezahlen
müßten und ein großes Bedürfnis nach Solidarität und Zusammengehörigkeit
mitbrächten, durchaus abschreckend .
Ein w eiterer Gegensatz bestehe darin, daß sich die "gay scene", nachdem sie
sich von traditionellen Rollenzuweisungen - dem Zwang, sich als weiblich definieren zu müssen - emanzipiert habe, stark am Idealbild des hypermännlichen
und coolen Mannes orientiere. Männer, die im ungebrochenen Heterosexismus
der unteren Schichten oder im Machismo der Ethnien der Einwanderer sozialisiert worden sind, seien jedoch stärker in Polarisierungen verhaftet, mithin stärker dem Zwang, sich weiblich zu identifizieren, ausgesetzt. Die "schrillen
Schwuchteln" entstammten überwiegend diesen Schichten . Mit der provokanten Zurschaustellung ihres Andersseins lösten diese "Prolotunten" (S. 43) eher
Distanzierung von seiten der Szene-Schwulen aus. Der Lebensstil in dieser Szene erscheine ihnen daher zu wenig herzlich und freundlich. Die Polarisierung
der Lebensformen zeige sich in der Unterschicht auch in der Fi xierung entw eder
auf die aktive oder auf die passive Rolle beim Analverkehr. Damit einher gehe
eine Reduktion des Repertoires beim Liebesspiel und der Partnerwahl. Dieses
entweder überkorrekte oder unbeholfene Verhältnis zum eigenen Körper verweise auf die "abgrundtiefe Misere einer in den Unterschichten kaum akzeptierten Homosexualität" (S. 43-44).
24
meter für verschiedene Aspekte schwulen Lebens unterschiedliche Akzente.
Für die berufssoziologischen Betrachtungen beziehen sie sich auf das Merkmal "Beruf" (Arbeiter), für die Analyse der Gesamt-Triebbefriedigung (allgemeine sexuelle Aktivität, Onaniehäufigkeit) auf das Merkmal "Beruf des Vaters". Die Analysen des Lebensstils (Urlaubsreisen, Besuch kultureller Veranstaltungen) rekurrieren auf das Merkmal "Schulabschluß" (Volksschule). Alle anderen Dimensionen schwulen Lebens (sexuelles Verhalten bezüglich der Zahl der
Partner und der Praktiken; sexuelle Identität: Coming-out, Einbindung in Subkultur, Freundschaft und Partnerschaft) werden nicht unter Schichtaspekten,
sondern unter individuellen, meist unter Altersaspekten analysiert.
Bezüglich der allgemeinen sexuellen Aktivität kommen Dannecker und Reiche zu dem Ergebnis, daß je höher die soziale Schicht sei, aus der ein Homosexueller stamme, desto geringer das Maß seiner sexuellen Aktivität im Erwachsenenalter ausfalle (S. 196). Sie erklären dies mit der im Zusammenhang mit dem
Sozialprestige des Elternhauses steigenden Tendenz, sexuell gehemmte Charaktere zu produzieren. Bezüglich des Lebensstils attestieren die Autoren schwulen
Männern mit niedrigerem Bildungsniveau eine we itaus höhere Teilhabe am kulturellen Leben (ausgedrückt in Urlaubsreisen, Theater-, Konzertbesuchen usw.)
als heterosexuellen Männern mit verg leichbaren Schulabschlüssen.
Der mit am meisten rezipierte Befund der Untersuchung ist der von der im
Vergleich zur männlichen Allgemeinbevölkerung extrem großen beruflichen
Mobilität schwuler Männer. Das Sampie umfaßte 10% Arbeiter im Vergleich zu
damals 53% Arbeitern in der männlichen Gesamtbevölkerung . Dannecker und
Reiche leiten daraus nicht in erster Linie eine Unterrepräsentanz schwuler Arbeiter in ihrer Untersuchung ab, sondern suchen an hand von Daten zur individuellen Berufsbiographie nachzuweisen, daß eine berufliche Karriere Bestandteil eines erfolgreichen Coming-out se i. "Wer es ohne größere und andauernde
neurotische Schädigung schafft, ein Homosexueller zu werden, dem gelingt
auch der Rest: der soziale Aufstieg, die Realisierung der speziellen Berufskarriere" (S. 331-332).
Dieser quasi automatische soziale Aufstieg führe schwu le Männer vor allem
an die "Zirkulations- und Dienstleistungsfront" (S. 320). Damit sind Berufe ge-
25
matisch um, z.B. in welchem Sinne sie für die Prävention von Interesse sind oder
sein könnten.
Was bezüglich deutscher schwuler Männer Anfang der siebz iger Jahre gesagt wurde, verlangte in den achtziger und neunziger Jahren nach empirischer
Neubestimmung: Für den Bereich "Arbeit" seien im Folgenden kurz die Arbeiten von Zillich (1988) und der Schwulen Forschungsgruppe München (Knoll et
al. 1995) dargestellt. Für den Bereich "Sexualität, HIV und AIDS" sind die Studien von Dannecker (1990), Bochow (1988, 1989, 1993, 1994) sowie Hutter und
Koch (1995) zu nennen.
Homosexuelle Männer im Arbeitsleben (Norbert Zillich 1988)
Das Hauptanliegen dieser Studie ist, das Bild, das Dannecker und Reiche von der
Berufssoziologie schwuler Männer gezeichnet hatten, zu differenzieren und zu
korrigieren. Zillich wäh lt hierzu ein qualitatives Verfahren und wertet 62 Tiefeninterviews aus. Die Interviewpartner hatte er über schwu le Einrichtungen,
private Kontaktnetze und Kontaktanzeigen rekrutiert. Einschlußkriterien waren zum einen die Selbstdefinition als schwu l, zum anderen Berufstätigkeit.
Da Zillich das Arbeiter- und Angestelltenmilieu, also untere und mittlere
Schichten beschreiben wo llte, besteht jeweils knapp die Hälfte seines Sampies
aus Männern mit Haupt- bzw. Realschulabschluß. Der Interpretationsprozeß
führt Zillich zu einer Typologie mit vier Ausprägungen.
Danach ist der erste Typ, "der Unschlüssige", meist in unqualifizierten Arbeitsverhä ltnissen tätig. Entsprechend bedroht ist auch seine Arbe itsplatzsituation;
seine allgemeine soziale Situation ist durch Marginalisierung und Vereinzelung
gekennzeichnet. Er leidet unter einer eher gebrochenen Id entität, erlebt seine
Homosexualität als bedrohlich, kann aus diesem Grund auch die Angebote der
schwulen Subkultur nicht oder nur unter großer Überwindung nutzen und erlebt seine Freizeit als unausgefüllt. Häufiger als andere schwule Männer ist er
von psychischen Störung en betroffen. Di e meisten "Tunten" gehören di esem
26
Der vierte Typ schließlich, der "Entschieden e", arbeitet meist in gesicherten
Schreibtischberufen. Seine Sozialisation ist eher konfliktreich verlaufen, was ihn
zu einem eher strategischen Handlungsstil und Informationsmanagement geführt hat. Er äußert sich über sein Schwulsein eher unpersönlich in "quasi-amtlichen Verlautbarung(en)" (S. 154), engagiert sich oft in Emanzipationsgruppen. Die schwule Subkultur und Clique dient ihm als Freizeitmittelpunkt, als Ersatzfamilie.
Wenn w ir diese Ergebnisse unter schichtsoziologischen Gesichtspunkten betrachten, kommen wir wo hl zu dem Ergebnis, daß Männer aus allen Herkunftsund Bildungsmilieus unter den vier beschriebenen Typen anzutreffen sind. Soziale Benachteiligung, unter we lcher der " Unschlüssige" zu leiden hat, ist also wen iger mit dem Rekurs auf objektive Statuskriterien zu erklären als vielmehr mit einer Wechselwirkung aus biographisch bedingter Identitätsunsicherheit und ökonomisch bedingter Arbeitsplatzunsicherheit. Inwieweit Zusammenhänge zwischen diesen Unsicherheiten und solchen Variablen wie "Ausbildung" und
"Beruf" bestehen, läßt sich aus dieser Untersuchung nicht näher bestimmen.
Lesben und Schwule in der Arbeitswelt (Christopher Knoll et al. 1995)
Die Analyse von 1.846 Fragebögen, die durch Zeitschriften, Multiplikatorinnen
und an Kontaktstätten verteilt wurden, ergab, daß schwule Männer zwar in allen Bereichen des Arbeitslebens beschäftigt sind und sich nicht nur in bestimmten Berufsnischen konzentrieren. Sehr wohl aber zeigen sich eindeutige Verteilungsmuster im Sinne Danneckers und Reiches (1974). Unabhängig von ihrer Arbeitssituation und der Branche, in der sie arbeiten, ist die überwiegende Mehrheit von Diskriminierung betroffen. Arbeiter sind in dieser Studie mit 6%
unterrepräsentiert.
27
len Beziehung" unabhängig von soziokulturellen Variablen konstatiert. HIVTestverhalten und Serostatus sind die beiden einzigen spezifischen Parameter,
die Dannecker nach den Kriterien "Wohnort", "Schulbildung" und "Beruf" auswertet. Demnach haben in Großstädten mehr Männer den Test gemacht und
sind auch in stärkerem Maß von HIV betroffen als Männer in Kleinstädten.
Bezüglich der Schulbildung ze igen sich weder beim Testverhalten noch beim
Serostatus signifikante Unterschiede zwischen Männern mit Haupt-, Realschuloder Gymnasialabschluß. Hinsichtlich ihres Testverhaltens unterscheiden sich
die Berufsgruppen ebenfalls kaum, wohl aber hinsichtlich des Ergebnisses. Die
am stärksten betroffenen Berufsgruppen sind freie Künstler, Freiberufler, mittlere und niedere Angestel lte sowie Arbeitslose. Demnach wäre zum Befragungszeitpunkt die Unterschicht weniger als die Mittelschicht von HIV und
A IDS betroffen gewesen (S. 177 ff.) .
Befragungsreihe im Auftrag der Deutschen AIDS-Hilfe und der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Sexualverhalten schwuler Männer
in Deutschland und ihrer Reaktion auf AIDS (Michael Bochow 1988, 1989, 1993,
1994)
In bisher vier großangelegten und aufeinander aufbauenden Fragebogenerhebungen in den Jahren 1987 und 1988 in Westdeutsch land sowie 1991 und 1993
in Gesamtdeutschland, die sich am französischen Vorb ild Michael Pollaks orientierten, untersuchte Michael Bochow Lebenssituation, Informationsverhalten
und Wissen bezüglich HIV und AIDS, sexuelle Praktiken und Präventionsverhalten sowie deren Veränderung über die Zeit, eigene Betroffenheit von HIV und
AIDS, Betroffenheit im Freundeskreis, Test- und Hilfesuchverhalten, Einbindung
in die schwule Subkultur usw. Die Fragebögen waren jeweils an schwule Männer adressiert; die Befragten hatten die Möglichkeit, ihr sexuelles Verhalten
der letzten zwölf Monate auf einer mehrstufigen Homosexualitäts-Heterosexualitätsskala zu verorten. In allen Untersuchungen wurden die Parameter
"Schulabschluß", "Beruf" und "Wohnort" erhoben. In allen Erhebungen (mit
28
Die Erhebungen Michael Bochows bieten ein Reservo ir für we itergehende
Auswertungen zu ein igen der in diesem Bericht behande lten Fragestellungen.
Sch ichtspezifische Erkenntnisse aus solchen Neuanalysen wird Michael Bochow
im Laufe des Jahres 1996 in einem vom Bundesministerium für Gesundheit
(BMG) in Auftrag gegebenen Bericht vorlegen.
Soziosexuelle Faktoren in der Epidemiologie von HIV und AIDS. Eine vergleichende Untersuchung inifizierter und nichtinfizierter Männer (Jörg Hutter und
Volker Koch 1995)
Hutter und Koch geht es darum, für das zu erklärende Ereigni s einer HIV-Infektion psych ische Faktoren zu identifizieren: die HIV-Suszeptibilität. Mit anderen
Worten: welche psychischen Strukturen und Situationen begünstigen eine Ansteckung mit HIV? Dieser Frage gehen sie in einer qual itativen Auswertung von
111 Tiefeninterviews mit Männern, d ie Sex mit Männern haben, nach (hier ist
also im Gegensatz zu den meisten vorgenannten Stud ien keine Se lbstet ikettierung als homosexueller Mann vorausgesetzt). Ihre Ana lyse ergibt fünf Typen
von Männern, die sich besonders in ihrem Stigma management und in ihrem sexuellen Handlungsstil unterscheiden.
Charakteristisch für den Typ A ist nach dieser Typolog ie, daß er sich zwar homosexuell verhä lt, es aber nicht se in wi ll bzw. dies ver leugnet. Er ignoriert, daß
das Stigma sich auch auf ihn bezieht und kann infolgedessen keine adäquaten
Strategien der Informationskontrolle und des Stigmamanagements entwickeln.
Homosexualität wird als biographische Restkategorie auf den sexuellen Aspekt
reduziert, Anonymität ist dabei eine Voraussetzung für lustvollen Sex überhaupt. Aus d iesem Grund meidet er Orte der Subkultur, die nicht der direkten
sexue llen Kontaktaufnahme dienen.
Typ B tritt als offen lebender Schwuler auf, wobe i ihm aber die affektive Beziehung zu seinem Begehren fremd bleibt. Sein Stigmamanagement ist weniger se lbstbestimmt als vom Wunsch getragen, der abgelehnten bürgerlichen
Norm das Ideal schwu len Lebens entgegenzuhalten. Di e Subkultur ist ihm sehr
29
genen Sozialisationsdefizite an ihn weitergegeben. Seinem Bedürfnis nach Zu wendung und nach Partnerschaft ordnet er sein Stigmamanagement (falls man
davon sprechen kann) ebenso unter wie sein Verhalten in sexuellen Begegnungen.
Die Arbeit von Hutter und Koch hat vie le Kontroversen hervorgerufen (ein
Überblick findet sich in BVH 1995). Einer der Hauptgründe dafür dürfte in ihrer
ausgesprochen-unausgesprochenen Affinität zum romantischen Liebesideal zu
suchen sein - und der impliziten Aussage, daß eine we itgehende Identifikation
mit diesem Modell (wie sie Typ D indirekt zugeschrieben w ird) die Anfälligkeit
für eine Infektion mit HIV mindert. Bei all en andernorts ausführli ch dargestellten Schwächen der Untersuchung kommt ihr dennoch das Verdienst zu, die Di skussion über Faktoren der HIV-Ansteckung von rein medizinischen, biologischen und stat istischen Paradigmen losgelöst zu haben. Warum sollte AIDS im
Gegensatz zu den anderen w issenschaftlich erforschten Krankheiten keine psychologischen und soziologischen Dimensionen auch bei seinem Erwerb haben
und warum so ll man diese Dimensionen nicht erforschen? Hier ist indessen
nicht der Ort, über die Bedeutung solcher Fragen für die zukünftige Prävention
zu diskutieren 6 . Aber auch für schichtsoziolog ische Analysen ist diese Arbeit interessant. Wie den Tabellen im Anhang zu Beruf und Schulbildung der Teilneh mer zu entnehmen ist, sind die Typen durchaus sch ichtspez ifisch unterschiedlich
verteilt. In der oberen Mittelschicht sind die Typen Bund C überrepräsentiert.
Typus D gehört überw iegend der Mittelsch icht an, während in der unteren
Schicht (Hauptschu le bzw. unqualifizierte Arbeiter und niedere Angeste llte) bis
auf ganz wenige Ausnahmen nur Männer der Typen A und E vertreten sind. Ein
Verg leich mit der Typologie Zillichs, die in einem ganz anderen Kontext entstanden war, zeigt überdies beeindruckende Ähnlichkeiten. Abgesehen vom
Typ E, der ohnehin eine Sonderstellung aufweist, gehen die hier gefundenen
Typen in etwa in den vier Typen Zillichs auf. Wenn auch die empirischen Indikatoren zu den jeweil igen Handlungsstilen unterschiedlich akzentuiert werden,
6 In se iner Replik auf die Kritik an der Untersu chung w idmet sich Jörg Hutter (1996) den ideologischen Rahmenbedingungen, den Normen und Tabus schwu ler Forschung.
30
tersuchung mit einer Kohorte von 742 homosexue ll en Männern . Nach zwö lf in
etwa halbjährlichem Rhythmus stattfindenden Erhebungen gehörten im Jahr
1992 der Kohorte noch 646 Männer an. Mit Zu- und Abgängen umfaßt der 1994
veröffent lichte Bericht Daten von insgesamt 1.103 Männern . Das Gros der Teilnehmer bildeten gut ausgebildete, in Amsterdam lebende Schwule aus der Mittelklasse.
Der einzige schichtspezifische Befund ist, daß bei arbeitslosen Männern d ie
Wahrscheinlichkeit inkon sistenten Safer-Sex-Verhaltens (Analverkehr mal mit,
mal ohne Kondom) relativ hoch ist, währe nd berufstätige Männer eher beim
Safer Sex bleiben, wenn sie sich einmal dazu entschlossen haben . Bezüglich keiner der anderen untersuchten Dimensionen "Präventionsverhalten allgemein",
"Kondomgebrauch", "ungeschützter Sex", "ungeschützter Analverkehr" und
"Risikostrategien" werde n Schichteffekte berichtet.
3.4 Großbritannien
Sex, Gay Men and AIDS (Peter M. Davies et al. 1993)
Die Autoren stellen in dieser Veröffentlichung Ergebnisse des SIGMA-Projekts
vor, einer multizentrischen Längsschnittuntersuchung. In insgesamt vier Erhebungen w urden in den Jahren 1984 bis 1992 jeweils zwischen 930 und 374
7 Hutter und Koch und im Hintergrund Rüdiger Lautmann als Leiter des Bremer Instituts haben also das Wesen, das sie Typ D nennen, keineswegs erfunden. Die Spur reicht indes noch weiter
zurück, in das Jahr 1974. Denn Zillichs "Gelassener" entspricht wiederum Danneckers und Reiches "gewöhn li chem Homosexuellen", dem nicht neurotischen Schwulen also, der Coming-out
und berufliche Soziali sation erfo lgreich bewä ltigt hat. Die Frage, die sich seit über 20 Jahren im
Zusammenhang mit solchen Typolog ien immer wie der stellt, ist : Geht es uns in Forschung und
Praxis um Normen "gesunden Schwulseins" oder woll en wir uns, unter Berücksichtigung der
Vielfalt von Lebensphänomenen, von so lch en Normen emanz ipieren?
31
3.5 U5A
"Wir w issen nichts über die Situation von Männern, die Sex nur mit Männern
haben und die Minderheiten oder der Arbeiterschicht angehören, und die Verbreitung von HIV in Städten w ie Houston, New Orleans, Detroit, Denver und
Tucson bleibt ein Rätsel- von den Todesfall statistiken abgesehen . Bis heute beschränkt sich die Forschung auf die Zentren, in denen we iße, gut ausgebildete
Mittelschichtsschwule leben. Jeder andere an jedem anderen Ort ist terra obscura." (Gagnon 1989, S. 54; Übersetzung U.B.)
An dieser Situation hat sich auch in der Zeit seit 1989 nichts Wesentliches geändert. Theoretische Aussagen und Modelle über Besonderheiten schwuler Sozialisation und Identitätsentwick lung in sozial benachteiligten Klassen fehlen. In
der Mehrzahl der Studien über die Sexualität schwuler Männer seit AIDS werden Schichtparameter zwar erhoben, aber nicht ana lys iert (vgl. das Übersichtsreferat von Gerrard et al. 1993). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß Untersch icht in den USA in der Regel nicht zu definieren ist, ohne ethnische Aspekte
zu berücksichtigen. Die Zugehörigkeit zu einer nicht-weißen Ethnie kann dabei
durchaus mit soz ialer Benachteiligung gleichgesetzt werden. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Ethnien w iederum derart voneinande r, daß es nicht sinnvo ll ist, sie in einen gemeinsamen "Unterschichts-Forschungstopf" zu werfen.
Im Rahmen solcher kulturspezifischer Forschung ist bisher das Merkmal
"mä nnliche Homosexualität" offenbar nicht besonders attraktiv gewesen. Eine
der wen igen Ausnahmen bildet die Untersuchung von Carballo-Dieguez und Dolezal (1994), die 182 Sex mit Männern praktizierende Männer puertorikanischer
Herkunft mit quantitativen und qualitativen Instrumenten untersuchten. Sie fanden, daß bei denjenigen Männern, die bessere Ausbi ldung und höheren Verdienst aufw eisen, die Toleranz für Selbstkonzepte wie "schwul" oder "bisexuell"
32
Im Gegensatz zu allen anderen Staaten sind in Australien die Zusammenhänge
zwischen sozia ler Schicht, sexue ller Identität und sexuellem Verhalten schwu ler
Männer systematisch erforscht worden. Dies erfo lgte in drei Projekten: "Social
Aspects of the Prevention of AIDS" (SAPA, ab 1985); "Class, Homosexuality and
AIDS Prevention" (CHAP, ab 1989); "Male Call" (ab 1992).
Schwerpunkt der SAPA-Untersuchung, die auf strukturierten Interviews mit
535 homosexuellen und bisexuellen Männern (überwiegend aus den urbanen
Zentren) beruht, sind schwule Identität, Einbindung in schwu le Szene und Netzwerke, Präventionsbewußtsein und -verha lten im Zusammenhang mit sozi odemographischen Variablen w ie "Alter", "Schicht", "Wohnort". Demnach haben
Männer mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und größerer geographischer Distanz von der großstädtischen Schwulenszene weniger Zugang zu Informationen über Safer Sex. Entsprechend inkonsistent ist ihr Wissen darüber (Kippax et
al. 1990), und entsprechend weniger erfolgreich sind bei diesen Männern die
Safer-Sex-Kampagnen der schwulen Institutionen . Hauptindikatoren für geringeren Kondomgebrauch sind niedriges Einkommen, niedriger Schulabschluß
und ungesicherte Arbeitsplatzsituation (Connell et al. 1991, Dowsett et al.
1992a). A ls weiterer Schlüsselfaktor für unsafes Sexualverhalten erweist sich die
geringe Einbindung in schwule Netzwerke (Kippax et al. 1993).
Das CHAP-Projekt erwuchs aus dem SAPA-Projekt an der Stelle, an der die
Forscher das Bedürfnis hatten, noch mehr über die Biographien schwu ler Männer aus der Unterschicht zu erfahren (Connell et al. 1993, Dowsett et al. 1992b).
Sie wäh lten eine eher kleinstädtische Industriestadt mit großer Entfernung zu
urbanen Zentren und eine Arbeitervorstadt Sydneys aus und führten dort mit
28 Männern ausführliche b iographische Interviews, die durch Gruppengespräche ergänzt wurden. Insgesamt zeigte sich, daß diese Gruppe weniger aus
der heterosexuellen Lebenswelt ausgegliedert ist und auch weniger das Bedürfnis hat, sich als schwul zu definieren, als dies in der Kerngruppe der MitteIschichtsschwu len der Fall ist. Die Interviewten sind stärker in der traditionellen
Geschlechter(arbeits-)trennung verhaftet, entsprechend größeren Stellenwert
haben Familienideologien und die Einbindung in die Herkunftsfamilie. Das Ideal der Maskulin ität ist bei ihn en ebenso wie die Homophobie stärker ausge-
33
xualität. Deren soziale Anteile wirken eher bedrohlich. Insofern haben die
Präventionskampagnen, die auf eine Stärkung der Gay Community abzielten,
sie von dieser eher entfernt, zumal sie mit dem Jargon und den visuellen Metaphern der urbanen Szene nicht immer vertraut sind. Abseits der Szene, aber
auch im Herkunftsmilieu isoliert, profitieren sie nicht richtig von den Errungenschaften der schwulen Emanzipation, aber auch nicht richtig von der Arbeit der
nach wie vor homophoben Gewerkschaften und anderer politischer Gruppierungen. Da sie zudem häufig in ihrer sexuellen Sozialisation Diskriminierungserfahrungen gemacht haben und als Erwachsene überwiegend in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen leben, ist ihr Gefühl, ausgeschlossen zu sein, sehr
tief verwurzelt und auf eine bestimmte Weise immer spürbar.
Ebenfalls in Anknüpfung an SAPA und unter Übernahme des dort verwendeten Instruments entstand das Projekt "Male Call" (Rodden et al. 1994). Auch
hier war das Anliegen, mehr über Männer zu erfahren, die Sex mit Männern
praktizieren und die außerhalb der Ballungsgebiete wohnen, die weniger in die
schwule Szene eingebunden sind, die Arbeiter sind oder einen nicht englischsprachigen "Hintergrund" haben. Zu diesem Zweck wertete das Forschungsteam insgesamt 2.583 Telefoninterviews aus. Die Teilnehmer waren über Rundfunkspots, Zeitungsanzeigen und Handzettel in schwulen Begegnungsstätten
auf die entsprechende Telefonnummer aufmerksam gemacht worden. Alle
Schichtparameter C.Schulabschluß", "Einkommen", "Beruf/Beschäftigung") erwiesen sich als relevant für Präventionsbewußtsein und -verhalten, für die sexuelle Identität und die Einbindung in die Subkultur. Als wichtigster Faktor erwies
sich hierbei "Beruf/Beschäftigung". Schwulen Sex praktizierende Arbeiter unterscheiden sich demnach von der Gesamtheit schwuler Männer dadurch, daß
sie häufiger verheiratet sind/waren, häufiger mit Frau und/oder Kindern zusammenleben, häufiger Sex mit Männern und Frauen haben und genießen (44,6%
im Vergleich zu 20% in der Gesamtstichprobe) und seltener in einer stabilen homosexuellen Beziehung leben. 52,6% von ihnen definieren sich selbst als bisexuell oder heterosexuell (in den anderen Berufsgruppen variieren die Werte von
24% bis 28%). Das Maß ihres sexuellen Engagements in der Schwulenszene unterscheidet sich nicht von d em der and eren Teilnehm er, hingegen w ei sen sie ei-
34
nicht doch ein Mittelk lassenkonzept sei, das dem se xuellen Erleben und Verhalten von Männern aus der Unterschicht nicht angemessen ist. Da aber aus den
Daten auch ersichtlich sei, daß die Epidemie ihren Verlauf von den städtischen
Mittelschichten hin zu Arbeitslosen und anderen sozial Benachteiligten nehme,
müsse dies auch Konsequenzen für die Präventionskonzepte haben (vgl. auch
Bartos 1994).
3.7 Fazit
Die zusammenfassende Ana lyse der wichtigsten empirischen Ergebnisse führt
uns bezüglich der vier von uns untersuchten Dimensionen zu den im Folgenden
präzisierten Fragestellungen .
Sexuelle Identität
Übereinstimmendes Ergebnis der meisten rezipierten Studien ist die mit dem
Sozialstatus sinkende Bereitschaft oder Motivation, sich als homosexuell oder
schw ul zu etikettieren. Ein Grund dafür scheint die Spaltung von sozialem und
sexuellem Leben zu sein. Unser Interesse ist, genauer zu verstehen, ob und wo
sich eine solche Spaltung zeigt, wie sie sich auf die Identitätsbildung auswirkt.
Wichtige Indikatoren hierfür sind der Verlauf des Coming-out und die subjektiven Idealvorstellungen schwulen Leben s.
Stigmamanagement
Gerade die deutschen Befund e verw eisen auf die eminente Bedeutung, die der
Stil, w ie jem and and eren Personen geg enüber mit Informatio nen über seine
35
haben und welche Konsequenzen das für ihre Veröffentlichungsbereitschaft
hat. Ein we iterer Indikator hierfür ist auch das Verhältnis zu Stereotypen über
die Gay Community.
Netzwerke
Daß Männer, die nicht der urbanen "Kerngruppe" angehören, auch die sozialen, kulture ll en und politischen Angebote der Gay Community weniger nutzen,
wurde ebenfa ll s mehrfach emp irisch belegt. Unsere Fragestellung hierzu ist,
welche Faktoren die Nähe oder Distanz zu den sexue ll en, soz ialkommun ikati ven und politisch/kulturellen Segmenten der Community beeinflussen, wie die
Netzwerke szenenäherer und szenefernerer Männer beschaffen sind, und we iche Präventionsmöglichkeiten im Rahmen dieser Netzwerke bestehen.
Safer-Sex-Verhalten (Risikostrategien, Kondomgebrauch)
Maße des sexuellen Verhaltens sind relativ einfach abzufragen (ob die Antworten auch stimmen oder ob Personen mit flexiblerem Stigmamanagement gerade
auch in wissenschaft lichen Befragungen überzeugender sozia l erwünschte Inhalte kommunizieren können, sei einmal dahingestellt). Die empirischen Befunde we isen aus, daß diejenigen Männer, die in unsicheren Arbeitsplatzverhältnissen leben, arbeitslos oder auf sonstige Art marginalisiert sind, am wenigsten
Motivation dafür aufbringen, ih re Gesundheit beim Sex konsequent zu schützen. Was uns in der vor liegenden Arbeit interessiert, ist weniger, diesen Befund
zu verifizieren oder zu falsifizieren, als vielmehr die Dynamik und die persönliche Bedeutung zu verstehen, die hinter einem solchen Verhalten stehen.
36
Heiner Keupp am Institut für Psychologie - Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München die Studie "Soziale Netzwerke schwuler Männer
im Zeichen von A IDS" durchgeführt. Verantwortlich für die Durchführung der
Befragung war die "Schwule Forschungsgruppe München", die aus den schwulen Diplom-Psycho logen Manfred Edinger, Matthias Junker, Christopher Kno ll
und Günter Reisbeck bestand. Befragt wurden 55 Männer in der Großstadt
München und in einer mittelstädtisch-Iändlichen Region Ostbayerns. Die Interviewpartner wurden teils über Kontaktpersonen (Ärzte, Schwulengruppen, andere Studienteilnehmer), teils über Anzeigen in Lokalzeitungen erre icht; teils
schrieben Mitglieder der Forschungsgruppe Männer an, die Kontaktannoncen
aufgegeben hatten, und luden sie zur Teilnahme ein. Grundsätzlich wurden
nicht nur exp lizit schwule Männer angesprochen, sondern allgemein solche, die
über Erfahrungen im Sex mit Männern verfügten . In einem halbstrukturierten
Interview, das zwischen einer und drei Stunden dauerte, wurden unter anderem folgende empirische Indikatoren für die hier relevanten vier Forschungsdimensionen erfragt:
• sexue lle Identität: Selbstdefinition, Coming-out, sexue ll e Biographie, Ideal
schwu len Lebens;
• Stigmamanagement: Veröffent li chungsbereitschaft, Wahrnehmung und Verarbeitung von Diskriminierungserfahrungen, Stereotype über Schwule und
die Community;
• sozia le Netzwerke: freie graphische Darstellung der Nähe und Distanz zu den
w ichtigsten Personen des sozia len Umfelds (Netzwerkkarte), Überprüfung
der Tragfähigkeit dieses sozia len Bezugsrahmens;
• Safer-Sex-Verhalten: Wissen über die Übertragung von HIV, persönlicher Infektionsvermeidungsstil, persönliche Erfahrungen mit von HIV und A IDS Betroffenen.
Der Abschlußbericht zu dieser Studie w ird zur Zeit erstellt. Eine Darstellung der
Zwischenergebnisse findet sich in Reisbeck, Edinger, Junker, Keupp und Kno ll
(1993).
37
Bei der Interpretation der Interviews geht es uns um biographische Spurensuche. Mit Gagnon (1989, S. 72 f.) sowie Dowsett, Davis und Connell (1992 b, S.
163) wissen wir uns darin einig, daß hinsichtlich der hier behandelten Fragestellungen von klein angelegten qualitativen Untersuchungen mehr Erkenntnisgewinn zu erw arten ist als von groß angelegten Kohortenstudien, bei denen
historische und biographische Besonderheiten verloren gehen. Insofern ist diese Arbeit durchaus als eine deutsche Replikation des australischen CHAP-Projekts zu verstehen. Methodisch folgt diese Spurensuche den Grundsätzen der
"grounded theory" : "Der Sch w erpunkt der Analyse liegt nicht allein darauf,
daß ,Massen von Daten' erhoben w erden, sondern darauf, daß die Vielfalt von
Gedanken, die dem Forscher bei der Analyse der Daten kommen, organisiert
(wird)" (Strauss 1991, S. 52). Dieser Prozeß führt (unter regelmäßiger Gruppendiskussion und stetem Rekurs auf das empirische Material) zu Schlüsselkategorien, die sich schließlich zu einer Theorie über den Forschungsgegenstand ordnen .
Darst ell ung der Ergebni sse
Von den 22 Männern, aus denen das Sam pie besteht, wollen w ir uns mit elf eingehender beschäftigen. Wir haben diese elf ausgew ählt, weil sie sich hinsichtlich Alter, Wohnort und biographischer Besonderheiten voneinander unterscheiden und so das Spektrum der Lebensbedingungen des Sampies w eitgehend abdecken. Jeder dieser elf Männer w ird zunächst anhand einer Kurzbiographie vorgestellt. In den folgenden Kapiteln lassen w ir die Männer selbst zu
Wort kommen. Sie erzählen von ihrer Definition des Sch w ulseins, von der Art,
w ie sie Diskriminierung erfahren und mit ihr umgehen, w ie ihre Beziehung zur
sch w ul en Gemeinde ist und w ie ihre Netzwerke aussehen, und schließlich, w ie
sie mit HIV umgehen . Vor dem Hintergrund dieser Information versuchen w ir
dann im Kapitel 4.7, die soziose xuelle Dynamik zu erfassen, die jeder dieser
sch w ulen Biographien zug r undeliegt. Schließlich leiten w ir aus dieser Dynamik
d ie j e spezifischen Ressou rcen und den j e spezif ischen Unterstützungsbedarf
38
lich war. Andernfalls haben w ir den wört lich wiedergegebenen Ausdruck durch
eine in Klammern gesetzte Erklärung ergänzt. Wörtliche Zitate der Interview partner sind durch Kursivschrift kenntlich gemacht.
Um die Anonymität unserer Interviewpart ner zu schützen, haben w ir alle Namen und andere Details, die zu einer Identifikation führen könnten, verändert.
Wer jemanden zu erkennen glaubt, irrt sich also höchstwahrsc heinlich . Namen
von Städten, Lokalen und außenstehenden Personen we rden mit den Buchstaben X, Y und Z w iedergegeben.
4.2 Schwule Biographien
Die folgenden kurzen Fallgeschichten sollen einen Überblick über die Vielfalt
schwuler Lebensläufe geben. Wir haben hierbei jewe ils versucht, deutlich zu
machen, mit welc hen biographischen Faktoren die Zugehörigkeit zur Untersch icht zu belegen ist.
Karl
Karl ist 51 Jahre alt, lebt alleine am Stadtrand Münchens und arbeitet als Anstreicher. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf dem Land auf. Nach dem
Hauptschulabschluß war er zunächst in der Land w irtschaft tätig. Durch seine
soziale Umgebung unterlag er einem sehr starken Heiratsdruck, dem er aber
nicht nachgab, we il ihm seit dem Alter von etwa 18 Jahren klar war, daß er aussch ließlich Männer begehrt. Als eine psychiatrische Behandlung hin zur Heterosexualität "scheiterte", entschloß er sich, ohne Sex zu leben. Mit 35 Jahren hatte er in se inem alltäglichen Umfeld seine erste sexuelle Begegnung mit einem
Mann. Daraufhin begann er, sich sukzessive das schwule Leben zu erschließen,
zunächst in der Umg ebung, später in München. Mit 40 Jahren lernt e er seinen
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bereichen. Seit acht Jahren weiß Dieter, daß er HIV-positiv ist.
Franz
Franz ist 37 Jahre alt und arbeitet als Elektriker. Er lebt alleine in München.
Franz stammt aus einer kinderreichen und sozial schwachen Familie . Im Alter
von sechs Jahren wurde er von seiner Herkunftsfamilie getrennt und kam in ein
Internat. Als Heranwachsender erlebte er sich dort als wehr loses Objekt der sexuellen Übergriffe eines in der Einrichtung angestellten Erziehers. Er absolvierte dort den Hauptschulabschluß und eine Elektrikerlehre, die er vor dem Abschluß abbrach. Um ein Nest zu haben, das ihm Geborgenheit gibt, heiratete er
mit 18 Jahren eine Frau mit ähnlichem sozialen Hintergrund, obwohl er sich
über seine schwulen Bedürfnisse im Klaren war. Er ging zunächst zur Bundeswehr, wurde dort straffällig und verbüßte eine Haftstrafe. Anschließend versuchte Franz, sich in seinem Beruf selbständig zu machen. Seine Ehe zerbrach,
als ihn seine Frau beim Sex mit einem Mann ertappte. Infolge zunehmender AIkoholabhängigkeit unterzog sich Franz im Alter von 32 Jahren einer stationären Entwöhnungstherapie. Dort lernte er seinen ersten Partner kennen
und erlebte sein Coming-out. Bereits von der Therapieeinrichtung aus unternahm er erste Schritte in die Schwulenszene, in der er dann immer mehr Fuß
faßte. Seit einigen Monaten hat Franz seinen zweiten festen Partner.
Martin
Martin ist 30 Jahre alt und arbeitet als Friseur. Zusammen mit seinem 35jährigen Freund lebt er in einer Stadt mittlerer Größe (50.000 bis 100.000 Einwohner) . Martin wuchs auf dem Dorf in einer Arbeiterfamilie auf. Das Gymnasium,
auf das ihn sein Vater schickte, damit er es einmal besser habe, verließ er nach
sechs Jahren mit dem Hauptschulabschluß und machte eine Friseurlehre . Er
merkte in der Pubertät, daß er homosexue ll e Wünsche hat. Zum ersten sexuel-
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Rumänien auf. Seine Mutter kam bei einem Unfall ums Leben, als er zwölf Jahre alt war. Sein Vater heiratete wieder; in der neuen Familie fand Willi keinen
Halt. Während seiner Pubertät betätigte er sich kritisch gegen das Regime und
wurde im Alter von 16 Jahren erstmals inhaftiert. Nach einer weiteren Festnahme drei Jahre später wurde er zur Großmutter nach München abgeschoben, die
ihn auch wie einen ungeliebten Kostgänger behandelte. Mit dem neuen Lebensabschnitt in München erlebte Willi auch sein Coming-out. Er nutzte intensiv die sozialen und sexuellen Infrastrukturen der Schwulenszene, fühlte sich
dort aber immer als Mitglied zweiter Klasse, weil er wenig Geld und einen anderen sozialen Hintergrund hatte. Er konnte zwar den Realschulabschluß absolvieren, jedoch keinen Ausbildungsplatz finden. Er arbeitete als Bürogehilfe
oder lebte von Sozialhilfe. Ein Jahr vor dem Interview ging er erstmals eine
feste Partnerschaft mit seinem jetzigen Freund ein, dem er dann bald an dessen
Wohnort folgte. Nach kurzer Zeit erkrankte er schwer und erfuhr, daß er AIDS
im Vollbild hat. Seither ist er arbeitsunfähig . Sein Partner wurde ebenfalls HIVpositiv getestet und gab seinen Beruf auf. Zusammen versuchen sie nun, sich
mit einem Party-Service selbständig zu machen.
Andreas
Andreas ist 28 Jahre alt und lebt gemeinsam mit seinem Freund und dessen
Schwester in einer Kleinstadt (10.000 bis 50.000 Einwohner) . Er arbeitet als Angestellter in einem Gartenbaubetrieb. Andreas wuchs auf einem Bauernhof auf
und machte nach dem Hauptschulabschluß eine kaufmännische Ausbildung.
Obwohl ihm seit der Pubertät seine homosexuellen Gefühle bewußt waren,
versuchte er halbherzig, Beziehungen mit Mädchen einzugehen. Mit großen
Widerständen besuchte er dann während seiner Bundeswehrzeit alle paar Monate den Park in der nächstgrößeren Stadt, war dort aber zu gehemmt, um
Kontakt aufzunehmen. Nach über einem Jahr kam es zum ersten sexuellen
Kontakt, dem andere folgten. Er hatte dann eine erste längere Beziehung. Der
Partner führte ihn in das einzige schwule Lokal der Gegend ein und machte ihn
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mit einem Lehrer und einem Geistlichen, die ihm verboten, darüber zu sprechen. Nach dem Hauptschulabschluß absolvierte er eine Müllerlehre. Mit 23
Jahren war ihm klar, daß er schwul ist. Er zog in die nahegelegene Kleinstadt
und übernahm die kleine Gaststätte seines Schwagers. Dort unterhielt Josef rege sexuelle Beziehungen mit zum Teil minderjährigen Männern. Eine Anzeige
führte zu einem Gefängnisaufenthalt von zweieinhalb Jahren und zum Verlust
des Arbeitsplatzes. Er ging nach München, arbeitete in der Automobilindustrie.
Nach einigen Jahren, in denen er seine Freizeit in Schwulenlokalen und auf der
Suche nach Sexualpartnern zugebracht hatte, kehrte er in die Kleinstadt
zurück, obwohl er dort offen stigmatisiert war. Er arbeitete nunmehr als Kellner in verschiedenen einfachen Gasthöfen, wurde ab und zu von betrunkenen
Gästen zu sexuellen Dienstleistungen herangezogen . Er lernte seine Frau kennen, die von ihm schwanger wurde und ihn unbedingt heiraten wollte - obwohl er das unter Berufung auf seine Homosexualität zunächst ablehnte. Aus
Mangel an Alternativen gab er ihr nach und führt seit 19 Jahren eine ruhige
Ehe. Seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt er über Zufallsbekanntschaften an
seinen Arbeitsplätzen, über den Strich und über einige längerfristige sexuelle
Verhältnisse mit anderen verheirateten Männern. Die Frau billigt alles und
räumt im Bedarfsfall die gemeinsame Wohnung.
Bern hard
Bernhard ist 70 Jahre alt und lebt als Rentner in einem Dorf. In der Hitlerjugend
hatte er sexuelle Kontakte mit Gleichaltrigen, betrachtete sich aber nicht als
homosexuell, weil ihm die Todesstrafe für Homosexualität bew ußt war. Als
19jähriger kam er in englische Kriegsgefangenschaft, wurde in einem Lazarett
sexuell mißbraucht und fand dabei Gefallen am Sex mit Männern. Ihm wurde
klar, daß er homosexuell leben wollte, und er entschied sich trotz seines Abiturs
für eine berufliche Laufbahn als Fernfahrer. Dies schien Bernhard der Beruf zu
sein, der ihm in der restriktiven Nachkriegszeit ein Maximum an Auslandsaufenthalten und der damit verbu nden en sex uell en Fre izügig keit gewä hr lei ste n
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Robert
Robert ist 36 Jahre alt, lebt alleine in ein em Dorf. Er arbeitet als Angeste llter bei
einem Transportunternehmen. Robert wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf.
Seinen Vater, einen Alkoholiker, erlebte er als sehr gewalttätig. Nach dem
Hauptschulabschluß begann er eine kaufmännische Ausb ildung . Gleichgeschlechtlichen Erlebnissen in der Pubertät maß Robert wenig Bedeutung bei, er
betrachtete sich als Spätentwickler. In einem von großen Widerständen begleiteten mehrjährigen Coming-out-Prozeß versuchte er immer w ieder erfolglos, es
se inem soz ialen Umfeld gle ichzutun und eine heterosexuelle Liebesbeziehung
aufzubauen. Im A lter von 22 Jahren hatte er im Aus land sein erstes homosexuelles Erlebnis und entschied sich für ein schwules Leben. Er erschloß sich den
Park in der Kreisstadt und das ein zige schwule Lokal in der Gegend. Neben
kurzfristigen sexue ll en Beziehungen ging er zwe imal eine feste Partnerschaft
ein, einmal für drei Jahre und einmal für knapp ein Jahr. Sein Leben wird von
ein em großen Freundeskreis bestimmt, der überwiegend aus schwu len und heterosexuellen Paaren besteht.
Clemens
Clemens ist 28 Jahre alt und lebt bei seinen Eltern in einem Dorf, wo er als Anleiter in einer Behindertenwerkstatt arbeitet. Er litt als Kind unter se inem Vater,
einem gewalttätigen A lkoho li ker. Nach dem Hauptschulabschluß begann er eine handwerkliche Ausbi ldung, entdeckte mit 16, daß er homosexuelle Wünsche
hatte. Er konnte diese Wünsche aber nicht in sein Leben integrieren und entschied sich stattdessen, in ein Nürnberger Kloster einzutreten, in dem er dann
eine heilpädagogische Fortbildung zum Werktherapeuten für Behinderte absolvierte. Relativ bald erlebte er dort se in e schwu le Initiation und unterhielt rege
sexue ll e Kontakte zu Mitbrüdern. Die Kloster leitung tolerierte dies nicht und ermahnte ihn, seine sexue ll en Bedürfnisse außerha lb des Klosters zu befriedigen .
A uf di ese Wei se lernte er Kl appen und sch w ule Kneipen kennen . Nach vier Jah-
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Matthias
Matthias ist 27 Jahre alt. Er hat sich mit seinem ein ige Jahre älteren Freund ein
sehr einfaches altes Bauernhaus auf dem Land gekauft, das die bei den gemeinsam bewohnen und bewirtschaften. Hauptberuflich arbeitet er als Briefträger.
Matthias wuchs in München auf und schlug nach dem Hauptschulabschluß eine
mittlere Postbeamtenlaufbahn ein. Mit 13 wurde sich Matthias zum ersten Mal
se iner homosexuellen Gefühle bewußt, antwortete mit 16 auf eine Annonce,
konnte mit dem anderen Jungen aber nichts anfangen und lebte w ieder zwei
Jahre "Latenzzeit", in der die anstrengend empfundene Ausbildung und se in
lebenslanges Hobby, die Beschäftigung mit Tieren, im Vordergrund standen.
Mit 18 Jahren ver li ebte er sich nach einer kurzen Affäre mit einem schwul liierten Mann zum ersten Mal; seine Liebe wurde jedoch nicht erwidert. Er suchte
über Kontaktanzeigen den Mann fürs Leben und fand ihn dann, 19jährig, in
seinem jetzigen Partner. Beide haben sich für ein einfaches Leben auf dem Land
entschieden, gehen ihren Berufen nach und pflegen einen kleinen privaten
Freundeskreis. Für beide Partner ist die Beziehung monogam.
Was die Kurzbiographien verdeutlichen
Kurzbiographien sind ein probates Mittel, um sich ein erstes Bild von einer Person zu machen. Sie haben es allerdings an sich, spektakuläre Ereignisse überzubelichten und die eher subtilen Bedingungen des täglichen Lebens auszublenden. Insofern ist diese erste Annäherung an die elf Gesprächspartner durchaus
auch als eine Reproduktion der öffentlichen Fassade dieser Männer zu verstehen. Schwerpunkte sind Beruf und Partnerschaft, vielleicht noch die Freizeit.
Wo ein Stigma unübersehbar ist, wird es benannt, wie es bei den Gefängnisaufenthalten vo n Franz, Willi und Josef der Fall ist.
Diese Häufung von Kriminalisierungserfahrung überrascht zunächst, wenngleich es "nur" Josef ist, der in den 60er Jahren auf Grund des § 175 inhaftiert
wurde. Die beiden anderen Männer teilen indes die Erfahrung von Menschen -
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4.3 Sexuelle Identitäten
Was bedeutet für unsere Interviewpartner ihre Homosexualität? Wie haben sie
ihr Coming-out erlebt? Bezeichnen sie sich selbst als schwul oder haben sie einen anderen Namen gewählt? Wie sieht ihr Ideal vom schwulen Leben aus? Wir
haben hier wie auch in den folgenden drei Unterkapiteln je ein wört liches Zitat
quasi als zentrale Aussage der Gesprächspartner an den Beginn jedes Absatzes
gesetzt.
Karl (51): "Homosexualität ... leben, das ist zwar schwierig manchmal, aber
man kann halt nicht anders ..."
Ich kann eigentlich nicht zurück und so von dem weg, das ist unmöglich,
und ich bin eigentlich immerhin noch zufrieden und ausgeglichen. Oder man
sucht halt immer wieder, daß man halt doch mal was findet, wo man miteinander Sex machen kann, daß man wieder befriedigt ist. Das ist eigentlich der Sinn
noch." Karllehnt für sich das Label "sch wu l" ab: "Schwul, das ist jetzt eigentlich
der Ausdruck, wo mich irgendwie stört, weil der Ausdruck ist irgendwie so minderwertig." Er bezeichnet sich lieber als homosexuell, weil er diese Bezeichnung nicht ganz so diskriminierend findet. Karl wußte seit seiner Jugend, daß
er sich für Männer interessiert: "Mit 78, 20 Jahr hab ich Männer angeschaut.
Das hat man so gehabt. Und hab auch immer versucht, das zu verdrängen." Er
führt nicht konkret aus, welche Art von Diskriminierung er befürchtete. Der ungebrochene Heterosexismus seiner bäuerlichen Lebenswelt ließ ihn gar nicht
erst an ein anderes Lebensmod ell denken. Er wo llte sich dem herrschenden Modell anpassen und versuchte, eine sexue lle Beziehung mit einer Frau einzugeh en: "Man hat sich zuerst ein paar Mal so getroffen, daß man nur ins Gespräch
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Erfahrung von Lust.
Er fand nun in sein richtiges Leben, konnte aktiv werden. Seine Hauptanlaufste ile war zunächst ein schwuler Badestrand in seiner Umgebung, er hatte
dort befriedigende sexuelle Kontakte. Nach und nach erschloß er sich München, die Kneipen, d ie Saunen, die Klappen. Er fand einen Partner, mit dem er
dann in eine Wohnung am äußersten Stadtrand Münchens zog. Sie führten eine sechsjährige monogame Beziehung. Seine Herkunftsfamilie spielte für Karl
fortan keine Rolle mehr. Seit fünf Jahren ist er nun alleinstehend, sucht und fin det Sexpartner, wünscht sich einerseits einen neuen Freund, könnte es sich an dererseits auch gut vorstellen, einem Freundeskreis von zehn negativ getesteten Männern mit Partnerwec hsel anzugehören. Die Sexualität, die für ihn immer vitales Zentrum seines Selbstverständnisses gewesen ist, kann sich Karl also
in romantischer Zweisamkeit wie auch in gelebter Promiskuität vorstellen, er
kommt mit beiden Lebensformen zurecht - aber nicht gleichzeitig.
Dieter (44): ,,5chwulsein ... ist die Lebensform, wie ich leben will. Ich könnt's
mir nicht anders vorstellen ... "
" ... Also für mich is' es - jetzt muß ich den Ausdruck mal benutzen, den ich nicht
gerne in diesem Zusammenhang benutze - für mich is' es also das Normalste
auf der Welt." Dieter bezeichnet sich selbst als schwul. Das sei nicht immer so
gewesen. Früher habe ihn der Ausdruck erschreckt, und er habe sich lieber als
homosexuell bezeichnet. Das war während seines Doppellebens in der Bundeswe hrzeit, als er sich seine Homosexua lität zwar eingestand, sie aber von seinem
Alltagsleben abtrennen und in die Wochenenden in München auslagern muß-
te. Schwul war er für sich selbst in dem Moment, als er dann mit 28 Jahren nach
München zog und sich seiner Familie mitteilte. "Seit ich nun ganz in München
(lebte), hab ich das Ins-Lokal-Gehen doch sehr offen ausgelebt. Also das gab
schon Zeiten, wo ich jeden Abend weg war. Ich will jetzt nicht sagen, daß ich
immer dachte, ich versäume was oder ohne mich geht's nicht, aber irgendwie
war das gang und gäbe. "
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nen schwulen Beziehung lokalisiert er lieber bei anderen: "Für mich waren die
beiden immer so 'ne Einheit und so wie ich mir selber eigentlich auch immer gewünscht hatte und vielleicht auch erträumt hatte, selber aber nie so gehabt hatte. Das hat also nichts damit zu tun, daß die nur immer händchenhaltend zusammensaßen und nie der eine ohne den anderen mal irgendwo hingegangen
is', nich, da fühlte sich auch keiner eingegrenzt oder beengt oder was. "
Offensichtlich ist es Dieter in seinen Beziehungen schwer gefallen, das richtige Gleichgewicht zwischen Intimität und Abgrenzung sowie das richtige Maß
für eigene Freiräume zu finden. Seit einigen Monaten ist Dieters sexuelles
Selbstbild einer Veränderung unterworfen. Er hat SM für sich entdeckt. Sehr intensive masochistische (Nacht-)Träume hat er schon länger, nun ist er aber seinem "ich will nicht sagen Traumprinz" begegnet, einem Mann, in den er schon
länger verliebt ist, mit dem er sich angefreundet hat und von dem er dann erfuhr, daß er SM praktiziert. Er machte mit ihm eine neue Erfahrung von" Wollust und Schmerz". Leider hat sich dieser Freund nach einigen Wochen in einen
anderen Mann verliebt und mit diesem eine geschlossene Beziehung begonnen. Dieters Sexualleben hat sich verändert, er hat zum ersten Mal überhaupt
keine Lust mehr auf Klappen und anonymen Sex.
Franz (37): "Ich bezeichne mich schon als schwul, aber nicht als szenenschwul."
Franz definiert auch, was er unter "szenen-schwul" versteht: "Aufgrund meiner
Erfahrungen verbinde ich es mit Promiskuität, mit Kneipenlaufen, also ewig auf
der Suche nach 'ner Beziehung irgendwie, das war so meine vorbelastete Vorstellung. Ich war aber vorher acht Jahre verheiratet, hab mit meiner Alten was
g'habt, dann bin ich fremd gegangen (mit Männern), hab mich also irgendwie
auch so verhalten. Jetzt so nach den ganzen Jahren, wo ich schwul lebe, aber in
einer festen Beziehung immer ... ich bin einfach viel freier. "
Franz hat einige Umwege machen müssen, um zu dieser Freiheit zu finden.
Am Anfang stand di e Erfahrung sexuellen Mißbrauchs im Internat, gegen den
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Befreiung empfunden. Es war in der Therapie für mich so ... also ich bin so ir-
trieb seinen sozialen Aufstieg einzu leiten versuchte. Er ver liebte sich in einen
Mitarbeiter. Dieser ging auch mit ihm ins Bett, aber als Gegenleistung ließ sich
Franz zu geschäftlichen Unregelmäßigkeiten verleiten. Dadurch ruinierte er seinen Betrieb. Der Alkohol wurde ein immer größeres Problem für ihn.
Nach einer Einweisung in die Psychiatrie unterzog er sich einer stationären
Suchttherapie. In der Einrichtung erlebte Franz seine erste erwiderte Liebe zu
einem Mitpatienten, es entstand eine mehrjährige exklusive Beziehung . Bis zu
diesem Punkt hatte Franz Homosexualität also nur über Um- und Abwege lebbar erfahren, jetzt wurde ihm klar, daß es auch direkt geht. " Ich hab's als 'ne
gendwie aufg'wacht." Was Franz das Coming-out an diesem ungewöhnlichen
Ort erleichterte, waren se ine zah lreichen Erfahrungen in geschlossenen Institutionen. Im betreuten Milieu fühlte er sich fast wie zu Hause und profitierte
überdies von einem engmaschigen psychotherapeutischen Netz. Schwulsein ist
für ihn heute lebbar, wenn er eine feste Beziehung hat. One-night-Stands lie-
gen ihm weniger: "Hab's ausprobiert, bin mitgegangen oder hab jemanden
mitgenommen und hab einfach g'merkt, das is' nicht mein Schwulsein. Mein
Schwulsein ist so völlig normal, ich möcht eben sein, wie andere draußen auch,
ganz einfach ihnen zeigen, es geht ... ich weiß, daß es auch ohne Beziehung
geht, weil ich zwei Monate ohne Beziehung war, nur weiß ich auch, wenn ich
wieder eine wil/, 'ne Beziehung, dann kann ich einfach nicht so promisk leben. "
Es ist für Franz immer noch w ichtig, es denen "draußen " zu zeigen, daß er
sein eigenes Leben leben kann, ohne anzuecken. Eine Partnerbeziehung, bei
der er das konventionelle Heteromodell übernimmt, schützt ihn dabei. Noch
vie l w ichtiger ist sie aber für die Stabilisierung seines inneren Gleichgewichts.
Franz genießt es, in Lokalen oder in der schwulen Sauna Begehren zu erregen:
"Okay, ich reize, ich genieße es, daß ich gut ausschau, daß die Leut' mich anschauen. Und was mir dann total Spaß macht, is', wenn ich dann zeigen kann,
ich hab einen Freund ... bin liiert, kann mich dann erst recht frei bewegen. "
Wenn er keine Beziehung hat, fehlt ihm diese Freiheit: "Ich hab's daheim nur
bedingt ausgehalten, ich wollt immer raus, wollt unter Leute, hab 'ne Beziehung gesucht, Zuneigung gesucht, Anerkennung und alles, was dazugehört. "
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" ... Ich red zum Beispiel unheimlich oft von Kindern. Also für mich gäb's nichts
Schöneres als ein eigenes Kind, und das ist eigentlich der einzige ... Nachteil.
Aber sonst .. . ich bin ehrlich gesagt gern schwul. Das ist ja auch so grad dadurch,
daß ich von Anfang an dazu gestanden bin. " Martin bezeichnet sich selbst als
schwul: " .. . ja schwul, weil homosexuell, das hört sich so komisch an, ärztlich
oder medizinisch." Er will zunächst keinen Decknamen für das Interview aussuchen, denn in seiner Stadt und auch sonst mache er kein Geheimnis aus seinem
Schwulsein.
Sein Anderssein hatte Martin früh wahrgenommen . "Seit der Pubertät ... hab
ich schon gemerkt, daß was nicht stimmt. Ich hab mich da auch mehr als
Mädchen gefühlt ... daß mich Jungs interessieren, vom Ausschauen, Körperbau
und so weiter, wobei ich aber mit Jungs nie viel (hab) anfangen können ... war
auch ein ziemlicher Einzelgänger bei uns draußen auf dem Land. "
Seinen ersten sexuellen Kontakt hatte er mit 17. "Das war ein damaliger Berufskollege, ein Frisew. Also der war älter, der hat mich mal eingeladen, da ist
es halt passiert. Das heißt, gereizt hat es mich eigentlich. Ich hab es ja gewußt
von ihm und hab es, ehrlich gesagt, drauf ankommen lassen. Ich wollt es einmal
wissen ... und mir hat es, muß ich sagen, unheimlich Spaß gemacht." Martin
stieg selbstbestimmt in die schwule Sexualität ein, beließ es dann auch bei diesem einen Kontakt, " .. . weil (er), ehrlich gesagt, gar nicht mein Typ war. Wollt
es einfach probieren. Mit 18 hab ich dann einen kennengelernt ... der war 20
Jahre älter. Wobei ich sagen muß, daß mir das Alter noch nie was ausgemacht
hat. Und ich hab mich mit dem von Anfang an gut verstanden und mit dem war
ich dann gut drei Jahre zusammen. "
Martin beendete die Beziehung, weil er nicht auf Dauer der Zweitmann des
seit 23 Jahren schwul liierten Geschäftsmannes sein wollte. Von ihm hatte er
nicht nur gelernt, daß man als Schwuler auch auf dem Land leben kann, sondern er lernte auch ein funktionierendes Modell einer langfristigen schwulen
Lebensgemeinschaft kennen. "Normal heißt ja die Meinung, daß Schwule einfach dazu verdammt sind im Alter, daß sie allein sind und so. Und ich wollt eigentlich immer schon als Schwuler leben, bloß halt dann auch die Angst davor.
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Treu e und Sex mit anderen Männern unter einen Hut bringen la ssen . "Wir verstehen uns hervorragend, und das hat sich irgendwie so ergeben, daß wir zwar
eine ziemlich freie Verbindung haben, aber es eigentlich keiner ausnutzt. "
Das sexuelle Arrangement hat allerdings einen Haken. Während A lex bereits
einmal fremdgegangen ist und Martin auch heute nicht ganz sicher weiß, ob er
sich auf dessen sexuelle Treue ver la ssen kann, ist Martin selbst sexuell eher auf
Alex fixiert. Er kann zwar auch mit einem anderen Mann ins Bett gehen, aber
" ... nur dann, wenn er dabei sein darf ... weil ehrlich gesagt ... mit ihm macht es
mir eigentlich am meisten Spaß. Und wir sorgen schon für Abwechslung ... zu
dritt oder so, das ist drin. "
Martin erzäh lt, daß beide gerne in Lederhosen auftreten und daß es ihnen
gefällt, wenn sie für ein Liebes- oder Brüderpaar gehalten werden. Neben der
Demonstration von Zusammengehörigkeit verweist das Leder noch auf eine andere Entwicklung. In der jetzigen Beziehung hat Martin seine masochistischen
Bedürfnisse entdeckt, die er mit dem Freund auch auslebt. Gerne würde er auch
einmal we iter gehen, mit einem anderen Mann: "Wenn ich heut wen kennenlernen würde, dem ich vertrauen kann, und der sagt, du paß auf, wir gehen so
weit, wie es dir wirklich keinen Spaß mehr macht, dann hören wir auf, dann
würd ich es mal ausprobieren. Bloß halt wie gesagt, das ist ein Bammel davor.
weil der Reiz, also die Angst ist größer wie der Reiz, muß ich sagen. "Diese Angst
und die Vorstellung, daß man solche Männer sicher nur in München kennenlernen könnte - woh in er aber nicht gehen will-, schützt Martin einstwei len davor,
das symbiotische Gleichgewicht in der Partnerschaft in Gefahr zu bringen.
Willi (29): "Rede ich mit 'ner jungen Person, dann sag ich, ich bi n schwul, aber
ich kann nicht 'ner 70jährigen sagen, ich bin schwul..."
" ... weil die kapiert das erst mal nicht. Wenn ich zu ihr sag ,homosexuell', das ist
vielleicht ein Wort, das sie öfters mal gehört hat. Schwul find ich immer so einen abwertenden Begriff. Und das tut man vielen Leuten einfach so hinschmeißen, die können damit gar nix ... als Schimpfwort, ge nau, die können da-
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en Fam ilie des Vaters wurde er nur als Randfigur geduldet, die Pflichten, aber
keine Rechte hatte. Sein politisches Engagement brachte ihn minderjährig ins
Gefängnis. "Und dann bin ich halt entlassen nach Deutschland ... wo ich zu meiner Oma kam. Die wußte nicht, daß ich schwul bin. Und bin dann raus, ja, bin
dann abends schon mal weggegangen, hab das aber immer für mich behalten.
In dem Punkt gab's keine Unterstützung für mich, eigentlich im Gegenteil. Dadurch, daß ich nichts hatte erst mal, wir haben ja kein Geld ... also ich hatte immer nur die billigste Kleidung erst mal, und war dann das erste Mal in 'ner Diskothek in München und da mußte ich mir dann ... diese verpönten Blicke anschauen, wie läuft der denn rum'. Das war wieder das typische Schwulenimage,
weil sie dann immer schauen, wie der andere rum läuft ... und das hat mich
dann schon a bißI deprimiert. Ich hatte ja auch keinen Freundeskreis, weil ich
mich dann a bißI zurückgezogen hab ... völlig auf mich allein. In der Zeit hab ich
eigentlich niemanden gehabt, wo ich jetzt ... über meine Probleme reden könnte, und das Schwulsein war für mich kein Problem . "
Das Com ing-out fiel m it der Übersiede lung zusammen. Vor sich und anderen
zu seiner Veranlagung zu stehen, war nicht Wi ll is Hauptproblem, sondern daß er
sich in der schwulen Szene von Anfang an als Mitglied zwe iter Klasse empfand.
Es konnte nicht gutgehen, wei l er als arm stigmatisiert war. Dieses Stigma
" Man hat sich halt - auf deutsch gesagt - ausgelebt, man hat da mal jemanden
kennengelernt, man hat versucht, da 'ne Beziehung aufzubauen, und es ist eben
meistenteils daran gescheitert, es waren schon Urlaubspläne geplant, aber es
war halt immer so, jeder zah lt seins, und das ging halt bei mir nicht. "
hatte aber auch eine innerpsychische Funktion:" Wir konnten uns da auch nie irgendwo .. . auf 'ne gemeinsame Ebene einigen. Und dann war's einfach auch
noch das Gefühl, daß ich mich nicht einengen lassen wollte, also ich wollte immer noch einen gewissen Freiraum haben." Warum Willi diesen Freiraum
braucht, erk lärt er biograph isch: "Es ging immer durchgehend um das Kämpfen,
um das Min imum kämpfen, das ist das Schlimme da dran. Wenn ich mir Lebensraum noch erkämpfen muß ... daß ich irgendwo gewissen Freiraum gewinne. "
Erst mit Markus, dem jetz igen Freund, den er vor einem Jahr in einer Kneipe
kennenge lernt hatte und dem er dann an seine n Wohnort f o lgte, glückt eine
S1
das ist jet zt meine Fam ilie, und das ist einfach tolL"
Andreas bezeichnet sich als schwu l, das sei der allgemeine Sprachgebrauch und
deshalb auch am besten. Andreas hat ein sehr langwieriges und 'mit großen W i-
derständen verbundenes Com in g-out hinter sich. "Von der Erziehung her ist
man ja so erzogen ... daß man eben die Frauen zu interessieren hat. Auf dem
Land ist es natürlich noch schlimmer, man hat natürlich überhaupt keine Bez ugspunkte mehr. Man kennt ja am Anfang überhaupt keinen, der in der Szene
drin ist und so, und selber gesteht man sich das ein fach nie ein, daß man so ist.
Und das hat lang gedauert bei mir." Seit seiner Pubertät hatte Andreas von se inen homosexuellen Wünschen gewußt. Aber erst d ie Einberufung zur Bundesw ehr verschaffte ihm den inneren Fre iraum, d iesen Wünschen nachzugehen
und etwa alle zwei Monate als scheuer Beobachter den Park am Dienstort aufzusuchen . Zum ersten sexue llen Kontakt kam es dann ein Jahr später am Münehen er Hauptbahnhof. M it mittl erwei le zwanz ig Jahren intensivierte Andreas
sein Sexual leben im Park der nächstgrößeren Stadt, trennte dies aber strikt vom
Al ltagsleben mit Eltern und Cli que.
Dieses Doppelleben hatte seinen Preis: " .. . und das hat mich dann auch so belastet, daß ich gesagt hab, also auf Freundschaft verzicht ich jetzt lieber, jetzt
such ich lieber bloß den schnellen sexuellen Kontakttrost. Gut dann bin ich
wieder ... ist das wieder abgeschlossen und so ungefähr, dann bin ich wieder
befriedigt und ich brauch zu Hause nicht Rechenschaft ablegen. "
Irgendwann lernte er dort aber doch se inen ersten Freund kennen: " ... der
stammt auch aus dem Land, eigentlich auch genauso wie ich - ich stamm ja aus
einem Bauernhof ... war mir sympathisch und so. Das war dann eigentlich mein
erster fester Freund. Da bin ich dann a bißI aus meiner Clique rausgewachsen.
Ja, und der hat dann wieder einen gekannt einen älteren Herrn, bei dem haben wir übernachten können. Ja und zu dem Mann, das war auch gut da hat
man wieder reden können und so, und den hab ich ... ab und zu besucht .. . und
der hat mir dann wieder... von der dortigen Clique erzählt. " Stück für Stück und
immer mit der Beg leitung eines vertrauten Menschen wuchs Andreas aus dem
he.ter05exuellen Freundes kreis herau s und in di e schwul e. Subku ltur hinein, die
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plaudern. Mitunter sehnt er sich auch nach dem Knistern von früher: " ... kommt
dann irgendwie der Traumtyp so ungefähr ... und das ist jetzt natürlich weg.
Der Freund ist da, und ich hab den Frank gern und das will ich auch nicht, daß
ich da irgendwie in Park geh oder was ... bloß daß ich meine knisternde Stimmung wieder herbring. "
Josef (55): "lch hab mit meiner Frau ein super Verhältnis. Sie hat gewußt, du
kommst heute ... und drum extra den Kuchen gebacken .. . daß ich mit dir ins
Bett gehen kann. So hat die das wahrscheinlich aufgefaßt, na ja, daß du auch
stockschwul bist ... daß ich stockschwul bin, hab ich ja eh zehnmal gesagt!"
Josef versteht das Interview so, wie er jede Situation mit schwulen Männern
versteht: in sexuellem Sinne. Im Laufe des Interviews ste llt sich bald heraus, daß
er angenommen hatte, es könnte zu einem sexuellen Kontakt mit dem Interviewer kommen. Aus d iesem Grund hatte d ie Ehefrau mit der Tochter für den
Nachmittag die Wohnung verlassen. Das ganze Interview ist von diesem sexuellen Wunsch Josefs überlagert. Josef läßt sich nicht nur mehrmals vom Interviewer bestätigen, daß dieser schwul ist, sondern preist sich immer w ieder als besonders guten "Bläser" an, läßt also erkennen, daß er sein Gegenüber gerne
ora l befriedigen möchte. Der Interviewer bemüht sich um so mehr um Sachlichkeit, was ihn aber nicht davor schützt, daß Josef am Ende des Interviews einen
letzten verzweifelten handgreiflichen Versuch unternimmt, doch noch auf seine Kosten zu kommen . Das Label "stockschwul", das sich Josef in dieser Situation gibt, ist wen iger Ausdruck von schwu ler Identität, sondern vor allem ein Signal immerwährender Geilheit und Potenz. Josefs Verständnis von se in er Homosexualität entspricht damit dem trad itionellen Klischee von Homosexualität:
der Homosexuelle als Triebtäter, der nichts als Sex im Kopf hat.
Wenn es um se in e Jugend geht, erinnert sich Josef an sexuelle Begebenhei-
ten: "Mein Vater war Straßenwärter. Wir sind arm aufgewachsen, na ja gut, das
hat sich ergeben und na ja, mal hat mich der vernascht, der vernascht, vernaschen mit den Freunden, wie es üblich ... und dann bin ich halt älter ge worden.
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poldstraße, ich weiß nicht mehr, wie die Kneipe geheißen hat, mit Negern, da
war ich gern. Ein richtiges Schwulenlokal war das. Da war ich am Wochenend
von Freitag bis Sonntag, von hinten, von vorn, von oben bis unten, das hab ich
alles mitgemacht. Na ja, und dann hat es sich ergeben, dann bin ich wieder
zurück nach X, wo ich her bin. "
Josef kann nicht sagen, warum er München wieder ver lassen hat. Seine Stimme hebt sich, als er von der Rückkehr in die Heimat spricht. Er berichtet lapidar,
er habe einfach das Angebot angenommen, dort in einem Wirtshaus als Kellner
zu arbeiten. Zu vermuten ist, daß ihm seine sexuellen Kontakte in München
nicht ausreichten, um dort ein tragfähiges soziales Netz aufzubauen. Zum zweiten Mal scheiterte damit se in Versuch, ein eigenes freies Leben zu leben. Er fügte sich in sein Stigma, und mit der Ze it konnte er an ihm sogar gute Seiten entdecken: "Und trotzdem bin ich zurück, und na gut, bin immer angeeckt worden, das ist eh klar. Auch im positiven Sinn, wenn wieder welche gekommen
sind, ja Joset, gehst mit mir ins Bett und so weiter und so fort. "
Josef heiratete sogar, wider seinen Willen. "Die war verrückt nach mir ... und
dann ist das Kind auf die Welt gekommen ... und 1975 haben wir geheiratet.
Sag ich ... du weißt ja, ich bin stockschwul, hast es gewußt, bevor du mich überhaupt kennen gelernt hast. Sag ich, was möchtest denn mit mir? Aber sie ... na
ja gut ... wir führen einigermaßen eine glückliche Ehe. Beim Bett spielt sich fast
nix ab. Ich hab's hundert Mal g'sagt, schau dir um einen, der dich gescheit nagelt ... und ich hab da so Bekanntschaften hin und wieder, die nicht direkt
stockschwu l sind, bi und so weiter ... hab ich oft g'sagt, wann einer kommt, und
wenn das Kind nicht da ist ... okay, spielt sich im Wohnzimmer was ab. Mei! sag
ich, Frau! Der hat 'n Riesenschwanz, laß ihn halt mal gescheit! - Aber na, das
mag's nicht. "
Zwar fand Josef immer wieder Männer für sexuel le Kontakte, auf Klappen,
oder an se inen wechse lnd en Arbeitsp lätzen . Meist jedoch bezah lte er für seine
Befriedigung. "Was ich an Gelder bezahlt hab, Strich, ich übertreib nicht, ich
habe ja gut verdient, ich glaube, ich hab sechzig, siebzigtausend Mark für Stricher ausgegeben ... und dann, der andere hat mich bestohlen, der andere hat
mir 550 Mark genommen in der Nacht." Er ließ sich ausnehmen, die Familie
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den nächsten erotischen Annäherungsversuch an den Interviewer.
Bernhard (70): "Ich habe Oberschule hinter mir, ich hab's Abitur hinter mir,
aber ich konnte mich dann nicht so entwickeln in meiner Richtung, sexuell, wie
ich wollte, und habe dann einen Beruf ergriffen, bei dem mir sexuell sämtliche
Türen offenstanden: ich wurde Fernfahrer."
Bernhard bezeichnet sich se lbst als b isexuell. "Im Anfang waren's nur Frauen,
aus mangelndem Wissen, dann war's eben gemischt, und das hat sich mehr und
mehr zur Männerseite entwickelt." Wenn es um seinen heutigen Standpunkt
geht, würde er sich eher als homosexue ll definieren: "Schwul ist - bitte, das ist
persönlich mein ... und auch sehr vieler Kollegen, die ich kenne - schwul ist
mehr dieser Eindruck, wenn einer mit Strapsgürteln rum läuft und Büstenha lter
trägt, und mit Damenhandtäschchen, also mit sehr femin inem starkem Äußeren. Und das ist genau das, was ich nicht liebe. Bei m ir darf, darf oder muß einer
tota l maskulin sein. "
Bernhard wuchs in einer Zeit auf, in der Homosexua lität m it KZ und Tod bestraft wurde. Für seine Generation gab es kein Schwu lse in, es gab d ie Restr iktion auf ill ega le sexuel le Akte. In diesem Rahmen war ein Coming-out nach unseren heutigen Vorste llungen nicht möglich, konnte Bernhard sich keine innere
Klarheit über seine Homosexua li tät ve rschaffen. Er be nötigte hierfür ei ne extreme Ausnahmes ituat ion, d ie Kriegsgefangenschaft. In einem Lazarett wu rde
Bern hard vergewa lt igt: "Es sind sehr viele m ißbraucht worden, denen es zuwider war, und ich wurde gebraucht und mir gefiel's. Ich wurde gebraucht, ich
möchte das Wort Mißbrauch vermeiden. Im engeren Sinne ist es ein Mißbrauch,
weil es kamen alle dran in dem Alter - und mir hat's gefa llen. "
Es war besser, homosexuell vergewa lt igt zu werden, als gar keinen Sex m it
Männern zu haben . Bernhard entschied sich dafür, dem Aus leben seiner Sexualität (und hier ist nie von Frauen die Rede) die Priorität in seinem Leben zu geben. In Skandinavien, Ho ll and oder Barce lona gab es im Gegensatz zum Adenauer-Deutschland vielfältige homosexuelle Möglichkeiten. Bernhard wurde
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g'sagt, sparen Sie sich Ihr Geld, weil das bringen Sie durch Behandlungen oder
das, was Sie meinen oder Sitzungen und so weiter nicht weg. Das ist Ihnen angeboren und damit müssen Sie sich abfinden. Und von da an hab ich mich abgefunden und wollt es nicht mehr loshaben. " Bernhards Identität war so abhängig von der Definition durch andere, daß er sich mit 36 Jahren, als er den einen entscheidenden Satz des Professors hörte, schlagartig damit abfand, homosexuell zu sein. Diesen Satz hat er dann über die ganzen Jahrzehnte in
se inem Gedächtnis bewahrt.
Kurz darauf begegnete er seinem einzigen festen Partner: " ... einen Kollegen, von '61 bis '69 ... das war die schönste Zeit meines Lebens, auf dem Lastzug
... das war insofern ideal, als wir nicht nur sexuell zusammengepaßt haben, sondern auch arbeitsmäßig. Beim Fernfahrer ist es wichtig, daß man schlafen kann,
wenn der andere fährt, und das war der Fall." Die Beziehung endete durch einen tödlichen Berufsunfall des Freundes, der eine 40 Meter hohe Böschung hinunterstürzte. Zwölf Jahre später mußte Bernhard wegen eines chronischen
Bandscheibenleidens in Frührente gehen. Insofern hat sich Bernhards Prophezei ung, daß ein Homosexueller um so tiefer fällt, je höher er steigt, für beide
auf grausame Weise erfüllt.
Trotz seiner Behinderung hat Bernhard heute ein reges Sexualleben: "A lso
ich hab im Augenblick 16 Bekannte. Ich hab sie alle durchgezählt die letzten Tage, und von diesen 16, die ich habe, ist einer ledig und einer geschieden, alle
anderen sind verheiratet. Ich würde diese Männer nach dem, wie sie bei der Sache sind, schon mehr als bisexuell bezeichnen. Ich habe vielleicht zwei oder drei
reine Heteromänner drunter. Die kennt man daran, daß sie sich einfach nur bedienen lassen und selber in keiner Richtung irgendwie aktiv werden." Bernhards Selbstbewußtsein bemißt sich nach der Zahl seiner Sexpartner und der
Qualität seiner "Serviceleistungen": "Ich geb Ihnen Brief und Siegel, wenn da
einer keinen Spaß dran hätte, der würde das nächste Mal nicht mehr kommen.
Also wenn die Leut dann von mir weggehen und sind zufrieden und sind erleichtert und der Druck is weg, und und ... sind nimmer so aggressiv - traurig
und frustriert bin ich nicht, weil ich bin ein Mensch, der Befriedigung hat, wenn
er sieht, daß andere mit ihm zufrieden sind." Obwohl in Bernhards Leben im-
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mer der Hintergrund, weil ich schwul bin, ja. Ist immer der Hintergrund, der ist
immer da, und alles wird durch mein Sein, wie ich bin, reflektiert und so. Und
ich denke, das Schwulsein ist also mit meinem Leben total verbunden. "
Identifikation mit dem Schwu lsein und die Distanzierung davon stehen bei
Robert nahe beieinander. Auf den ersten Blick zeigt Robert eine stabi le schwule Identität. Auf den zweiten Bli ck aber sehen wir, daß er sein eigenes Schwu lsein mit Worten wie "denken" und "reflektieren" in Zusammenhang bringt,
während die Abwehr zu starken Schwulseins aus einer t ieferen, unbewußteren
psychischen Schicht zu kommen scheint, worauf das Wort "Ventil" hindeutet.
Welche biographischen Bezüge lassen sich zu diesen Amb ivalenzen in seinem
Selbstb il d herstellen?
Aus seiner Kindheit schleppt Robert "sehr große Defizite" als "schwere Last",
einen "Sack meiner Vergangenheit" m it sich herum: "Also mein Selbstbewußtsein ... von meinem Vater ... der hat mein Selbstbewußtsein völlig demorali ... also überhaupt keins aufkommen lassen ... der hat also zu mir, auch zu meinem
Bruder - mag sein, daß mein Bruder deswegen auch Alkoholiker ist - der hat also immer gesagt, ja - er stammte aus einfachen Verhältnissen, meine Mutter
zwar auch ... meine Großeltern hatten da eine Landwirtschaft, die haben sie
dann aufgegeben ... mein Vater hat also nichts gelernt ... und mußte als Hilfsarbeiter praktisch seinen Weg machen - und hat uns also als Kinder immer eingetrichtert, ihr seid nix und ihr werdet nichts ... ihr taugt nix ... ihr seid nix wert,
das haben wir also immer zu spüren gekriegt .. . zu hören gekriegt, und das
kriegst dann so reingeimpft. Du fühlst dich immer minderwertig .. . und das war
also so ein Handicap, also ich hatte also solche Probleme mit mir selber, also
mit, nicht mit dem Schwulsein ... aber mit mir selber überhaupt, ein Wertgefühl
zu entwickeln. Ja, daß ich auch was wert bin, daß ich also auch ein Mensch bin,
der nicht, der nicht bloß Dreck ist. "
Robert war der hilflose Empfänger des all geme inen Se lbsthasses seines Vaters und wurde seinerseits mit diesem Se lbsthaß "geimpft", dessen quasi naturgegebene Zielscheibe sein Schwulsein war. Roberts bewußte Anstrengungen,
sein Schwulsein von Minderwertigkeitsgefühlen freizuhalten, finden auch heut e noch ihre Gre nze n an den Ventil en des Unbewußten. Robert ab er ist beharr-
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ist meiner, und weg, und und nicht!' und ganz strikt Trennung und dann, also
dann böses Blut draus wird aus jeder einzelnen Handlung, einfach 'ne schöne,
schöne Freundschaft. Die real existierende Welt ist natürlich nicht so geeignet
für so was, die setzt halt immer noch auf Zweierbeziehungen sehr stark, wobei
ich es nicht ablehne, 'ne Zweierbeziehung, im Gegenteil, ich find's ganz schön,
aber ... man wird auch immer so gedrängt ... ja gut, ja, ob ich unbedingt noch
eine hätt, gerne hätte, weiß ich nicht, ob ich es noch könnte, weiß ich nicht. "
Harmonie ist das Wichtigste in Roberts Leben, und dadurch, daß er mit seinen
vie lfältigen we iblichen Fähigkeiten Harmonie herzustellen vermag (wie w ir eingehend im Kapitel "Netzwerke" sehen werden) , kann er sein Selbstwertgefühl
stärken und sich sogar "die Mutter der Nation" nennen. Und eine Mutter
braucht nicht unbedingt einen Mann - jedenfalls keinen solchen, w ie ihn seine
eigene Mutter hatte.
(Iemens (28): "Und die anderen, ja! lernen die tollsten Menschen kennen, die
tollsten Typen, lernen die tollsten Männer kennen, und du sitzt da wie so ein
Mauerblümchen, und es spricht dich keiner an. Ich hab dann so einen Frust bekommen, daß ich einfach gesagt hab, ja dann bin ich gar nicht schwul. Ich kann
gar nicht schwul sein."
Clemens bezeichnet sich als schwu l, schränkt dies aber gleich ein : " ... obwohl,
das Schwulsein überhaupt zu leben, das ist halt 'ne andere Frage." Er wuchs in
kleinbürgerlichen dörflichen Verhältnissen auf und litt unter den Gewaltausbrüchen seines alkoholkranken Vaters: " ... der ist eigentlich in meinem Leben
immer ein Schattenbild, mein Schreckensbild, muß ich sagen. " Seine homosexuellen Wünsche entdeckte er erstmals in der Lehrze it, konnte sie aber nicht akzeptieren . Er wählte einen Umweg, indem er sich uneingestanden in einen Pa ter verliebte und in ein Kloster eintrat. Nach der bedrückenden Enge in se iner
Herkunftsfamilie suchte sich Clemens also für seinen ersten Schritt ins Erwachsenen leben eine "tota le Instituti on" aus - immerhin in der Großstadt Nürnberg. Er kam dort allerdings sehr bald auf seine Kosten: "Ich bin da reingeko m-
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sen. Aber mein Gott, man kann das nicht ändern, das hat halt nicht lang gehalten, und ich bin dann wieder allein rumgetigert in Nürnberg. " Er suchte in Lokalen, in Parks und Klappen nach dem Mann fürs Leben und dem Mann für die
Nacht, fand ersteren überhaupt nicht und letzteren viel zu selten.
Nach zwe i Jahren flüchtete er frustriert aus dem schwulen Single-Leben und
ging eine überstürzte Heirat ein. Mit der Ehefrau zog er in die obere Etage des
elterlichen Hauses. "Das hat mir eigentlich nix gebracht, das war eigentlich nur
für mich ein Labsal, daß ich sagen kann: Ja! Schaut her! Jetzt ist geheiratet!"
Und w ieder begann für (Iemens ein neues Doppelleben. Zu Hause die "totale
Institution" Familie, draußen der Park in der nahegelegenen Kreisstadt, den er
weid lich nutzte: "Für mich war das dann wieder so, wie zum Beispiel auch das
Klosterleben ... das war ein äußeres Bild, ein äußerer Schein. Ich war zufrieden,
ich war glücklich, aber innerlich war ich total frustriert ... hab keinen Menschen
gehabt, wo ich hab hingehen können . "
Dieses Doppelleben, der "schöne Schein", hinderte ihn dann auch daran, auf
das Beziehungsangebot eines Mannes einzugehen, den er im Park kennengelernt und in den er sich ver liebt hatte. Erst se it dem Ende se iner Ehe und dem
Auszug seiner Frau ist (Iemens frei genug, neben den rein sexuell en auch die
soz ialen Segmente der regionalen Schwulenszene zu nutzen. Frei genug für ein
offen schwules Leben ist er freilich nicht. Weil er seine Mutter nicht verlassen
möchte, lebt er weiterh in verdeckt schwu l im Elternhaus, in das er niemanden
über Nacht mitbringen kann und perpetuiert auf diese Weise das Dilemma der
Unvereinbarke it von Sex und Liebe. Einerseits pflegt er seinen Traum vom festen Freund: "Das Wichtigste im Leben und was ich eigentlich anstreben möchte,
ist einfach, einen festen Freund zu finden." Andererseits kriegt er auch "den
Hals nicht voll: ich lieb das einfach, mit einem Mann ins Bett zu gehen. Ich kann
mir nichts Besseres vorstellen. "
(Iemens gibt Kontaktanzeigen auf, in denen er zu erkennen gibt, daß er an
gelegentlichen Treffs, auch mit Bisexuellen, interessiert ist. Die Ausbeute sei dadurch wesent li ch größer, als we nn er offen seinen Beziehungswunsch inserieren würde, und es gebe auch Männer, die dann doch eine Beziehung suchten.
Daß sich eine so lch e Beziehung entwicke lt, dagegen ist er frei lich durch se in fa-
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" ... Also da hat eigentlich so viel gestimmt beim Peter, also seine ganze Lebensart. Er hat Unternehmungsgeist. Das hat mir also auch recht gefallen, daß nicht
immer alles von mir ausgehen muß ... ich hab's bis jetzt noch nicht bereut ... also wir haben sehr viele Gemeinsamkeiten ... und dann haben wir also da was
gefunden, das war eigentlich recht günstig, so ein kleines Häuseri ... und das
haben wir dann gekauft, und das hat mir eigentlich von Anfang an gut gefallen. "
Matthias bezeichnet sich selbst als schwul, " ... auf jeden Fall schwul und ich
leb das auch aus." Von Anfang an war für ihn Schwulsein gleichbedeutend mit
einer Liebesbeziehung: "Ich hab immer schon mehr verstanden, so ich wollt immer jemand suchen für längere Zeit. Das ist eigentlich für mich ganz wichtig ...
das, daß ich mal kurz jemanden kennenlern und mit dem vielleicht gleich ins
Bett geh, das wollt ich nicht ... also das hätt ich nur gemacht, wenn ich gewußt
hätt, das tät vielleicht längere Zeit ... so gehen. "
In jener Zeit, und das ist bereits mehr als acht Jahre her, als er noch auf der
Suche nach dem Mann fürs Leben war, nutzte er zie lstrebig den Kontaktanzei-
genmarkt. Als ihn sein erster Freund verließ, litt er schwer: "Das war echt für
mich so schlimm, ich hab oft geweint aus heiterem Himmel, ich hab nicht gewußt, ich hab eigentlich keinen richtigen Anlaß eigentlich dazu gehabt, das ist
so ein ganz komisches Gefühl eigentlich so, so Liebeskummer. "
Der Romantiker Matthias kennt aber sehr wohl auch Schwule, die promisk leben. Er spricht n icht abwertend über sie. Es scheint nur eine andere Welt zu
se in. Parks, Klappen, Sexkinos kennt er nicht, weiß aber wohl, daß es sie gibt.
Sein Lebenselement, das er frei gewäh lt hat, ist das Landleben mit Partner, Tieren und Hobbies. Es tauchen im Interview keine Unstimmigkeiten auf, keine
Hinweise auf Angst vor Nichtgelebtem. Auch seine Perspektiven scheinen nicht
eingeengt:" Gut! ob das jetzt natürlich das Letzte ist ... das kann man nie sagen,
ich weiß es nicht. Ich glaub, wir hätten immer auch die Kraft dazu, wenn wir sagen, das können wir jetzt nicht mehr machen, das macht uns keinen Spaß mehr,
dann machen wir was anderes .. . also ich könnt immer die Kraft aufbringen,
daß ich mein Leben ändern kann, wenn's mir nimmer paßt - also glaub ich zumindest."
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Zeit des politischen Aufbruchs, der Mitte der sechziger Jahre begann. Diese historischen Rahmenbedingungen für die Biographien schwuler Männer in
Deutschland dürften für alle sozia len Schichten gleichermaßen gelten. Ob
Karl und Bernhard jedoch auch dann eine Psychiatrisierung (die be ide übrigens Geld gekostet hat, das sie eigentlich nicht hatten) widerfahren wäre,
wenn sie einer privilegierteren Schicht angehört hätten, steht auf einem anderen Blatt.
Coming-out und Partnerschaft
In vielen Interviews w ird deutlich, we lch große Rolle das "Ausland" für den Prozeß der Identitätsbildung, das Coming-out spielt. Dabei kann es sich um "Ausland" im wörtlichen Sinne handeln, es kann aber auch eine geschlossene Institution - die Bundeswehr, ein Kloster oder ein Krankenhaus - sein oder, und das
ist es meistens, die Klappe oder der Park in der anderen Stadt.
Ein Com ing-out im "Ausland" verursacht mitunter hohe "Transportkosten",
wenn man es in die Heimat überführen, integrieren will. Robert hat diese Kosten auf sich genommen. Er konnte es, weil er Mimikry gelernt hat, wie w ir in
den folgenden Kapiteln sehen werden. Andreas, Karl, Dieter und Willi sind
gleich im Ausland, am anderen Wohnort geblieben, und Clemens hat sein Coming-out sogar wieder verkauft, als er zu den Eltern zurückzog . Bernhard reichte auch das Ausland zum Aufbau einer schwulen Identität nicht aus, er brauchte noch einen Stempel von außen, von einer Autorität, um seine Homosexualität zu akzeptieren.
Diejenigen, die ihr Coming-out zu Hause erleben, haben eher andere Konflikte. Josef liefert sich dem Stigma fast wehrlos aus. Martin und Matthias
wuchsen unter wesentlich günstigeren Bedingungen auf und sind auch diejenigen, die das heterosexuelle Ideal der Zweisamkeit und Reproduktion am stärksten übernommen haben. Beide nennen übrigens Tiere als wesentlichen Teil ihres Lebens. Andreas, der ebenso nach diesem Modell lebt, hat es von seinem
Partner Frank (24) übernommen . In seiner neuen Familie findet Andreas die
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Mädchen gefüh lt, und Robert bezeichnet sich als femin in en Typen . Wir haben
keine Anhaltspunkte dafür, daß so lche Selbstb il der m it bestimmten Präferenzen im Sexualverha lten, z.B. für rezeptiven Analverkehr oder den passiven Part
bei SM, in Zusammenhang stünden. Zwar berichtet Martin über masochistische
Phantasien, Robert hingegen nicht - woh l aber Dieter, be i dem wiederum
nichts auf eine we iblich getönte Se lbstidentifikation schl ießen läßt. Darüber
weiterge hende Aussagen zu machen, wäre speku lativ. Die Dimension Männlichkeit/Weiblichkeit spie lt we it mehr als beim Sex beim Umgang mit Stigma
und Klischees eine Ro ll e, wie wir im nächsten Kap itel sehen werden.
Eine Sonderstellung nimmt der oben erwähnte bisexue ll e Teilnehmer ein.
Sein sexue ll es Szenario hat sich im Laufe seines Lebens verengt auf die dominante Ro ll e in einer SM-Bez iehu ng zu einer transsexue ll en (vom Mann zur Frau)
Person, nur so kann er sich gehen lassen . Er hat den sexue ll en Kreis quadriert:
Ekstase und Kontro ll e, Mann und Frau - alles in einem Objekt.
Psychische Probleme
Aus ep idemiolog ischen Untersuchungen in der A ll gemeinbevö lkerung w issen
w ir, daß Depression und A lkoho lismus in soz ial benachte ili gten Schichten häufiger auftreten als in mittleren und oberen Sch ichten (vg l. Hirschfeld & Cross
1982, Hollingshead & Red li ch 1975). Obwohl wir nicht danach fragten, geben
mehrere Studientei lnehmer an, wegen depressiver Symptome in Behand lung
gewesen zu se in, mehrere berichten über Probleme mit A lkoho l, und mindestens zwe i hatten unter A lkoho li smus in der Herkunftsfamilie zu leiden. Vermutlich waren es j eweils mehr, weswegen w ir an d ieser Ste ll e darauf verzichten, we itere Za hl en zu nennen.
Wichtig sind d ie Bedingungen, unter denen eine depressive Struktur entsteht. Robert schildert sehr anscha uli ch, wie Minderwertigke itsgefü hl e von Generation zu Generation we itergegeben werden. Der Vater kompens iert d iese
m it Brutalität und Alkoho l und g ibt sie an den Sohn we iter. Dieser kompens iert
m it Harmonie und in gewissem Maße ebenfa lls mit Suchttendenzen, wie im Ka-
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Doch gehen wir einen Schritt zurück . Depression ist keine Besonderheit der
unteren Schichten. Mithin ist die Bewältigung biographischer Krisen mit bestimmten Mitteln nicht an Bildung, Einkommen oder Elternhaus gebunden. Es
bleibt aber ein Phänomen, daß Gefühle von Wertlosigkeit und Ohnmacht eher
in unteren Schichten weitergegeben werden. Die Mittelschichten hingegen verstehen sich eher auf die Weitergabe von Schuldgefühlen. Keiner der befragten
Männer erwähnt jemals ein schlechtes Gewissen wegen gelebter Sexualität eher Angst, wenn sie für ihn unkontrollierbar wird. Aber vielleicht ist gar nicht
so sehr die Angst, sondern die wortlose Fremdheit im eigenen Leben, wie sie
bei Karl vor seinem Coming-out mit 35 Jahren sichtbar wird, das prägnanteste
Zeichen der "abgrundtiefen Misere", von der Pollak schreibt.
Ausblick
In den neunziger Jahren werden Biographien nicht mehr mit einer solch wortlosen Fremdheit begonnen, dafür haben drei Jahrzehnte homosexueller Emanzipation gesorgt. Wortlosigkeit entsteht durch Unsichtbarkeit, wenn es in der
Lebenswelt - real und virtuell - keine Schwulen gibt, oder noch schlimmer,
wenn alle, die es gibt, von der Gemeinschaft ausgestoßen und kriminalisiert
werden, wie es z.B. Bernhard und Robert aus ihrer Jugend berichten. Die Jüngeren haben sich, wie etwa Martin und Andreas, konkrete Vorbilder in ihrer
Lebenswelt gesucht, Andreas und Clemens nutzten die Liebe als Einstieg in die
schwule Identität. Aus dieser Analyse schwuler Identitäten lassen sich Sichtbarkeit von Homosexualität, konkrete Vorbilder und Liebe als protektive Faktoren
desti liieren.
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Karl hat mit seiner Nachbarin ein imp li zites Stillha lteabkommen geschlossen :
" ... der kann bei mir in der Küche sein, der kann im Wohnzimmer sein, wir können was besprechen oder was bearbeiten oder was erklären - das muß nicht
grad im Bett was sein, und das geht eigentlich gar nichts an, und sie können
mich eigentlich gar nicht anreden: ,Was habt ihr gemacht?' Also was geht's
euch denn eigentlich an! Was kümmert ihr euch da, und so, man muß eigentlich entsprechende ... dann eine Antwort geben. "
" ... und wenn irgendso ein Thema ist, wo die Homosexuellen, oder z.B. ein Fall
vom Sedlmayr8 da, und die redet und so. Mei! sagt sie, und es ist fei nicht schön,
hat sie gesagt, daß sie den immer durch den Dreck ziehen bloß wegen seiner
Homosexuellen. Was der im Bett drin macht, das geht doch keinen was an, mich
interessiert das überhaupt nicht, hat sie gesagt. Na, sag ich .. . ihr seid ja auch
nicht verheiratet und so weiter, sag ich, und das geht mich auch nichts an. Sagt
sie, ja, das geht uns überhaupt nichts an, was du da drunten tust. " Der Nachbarin ist klar, daß Karl homosexuell ist. Schließ lich hat er in der Wohnung auch
sechs Jahre mit seinem Mann zusammengelebt. Ohne seine Homosexualität öffentlich zu machen, konnte er sich durch ein e Art Tauschhandel (jeder hat Geheimnisse) der Respektierung seiner sozia len Integrität vergewissern. Ebenso
sind sich beide implizit darüber ein ig, daß das Skanda löse, Verbergenswerte
der Homosexualität sich "im Bett drin" abspielt. Homosexualität ist gleich Sexua li tät, wie es im Wort ja auch entha lten ist. Dies wird an einer anderen Stelle
des Interviews deutlich, an welcher der Interviewer Karl ganz allgemein fragt,
ob er heterosexuel le Bekannte habe. Karl kennt das Wort nicht, fragt zweimal
nach, ob bisexue ll e Männer gemeint se ien, " .. . die was es mit Männer und Frauen machen ... also tu die bißI meiden. Die können sich rausreden, ja ich bin verheiratet. Am liebsten sind mir rein schwule Männer. Keine Heterosexuelle ... "
Das heißt in anderen Worten: Wenn jemand nach seiner Sexualität benannt ist,
dann muß es erstens um Sex gehen, und zweitens kann er nicht zur Normalbe-
8 Bel iebter Münchner Volksschausp ieler, der vor einigen Jahren ermordet wurde . In einem spektakulären Ermittlungsverfahren w urden einer bre iten Öffentl ichkeit seine Homosexual ität und
sein e Vo rli ebe für SM bekannt.
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nem Bruder und dessen Frau: mit sehr guten Erfahrungen . Am Arbeitsplatz
weiß niemand von seiner Homosexualität. Er empfindet die Atmosphäre dort in
keiner Weise homophob und genießt es, wenn er ab und zu mit schwu ler Kundschaft zu tun hat. Daß schwules Leben mehr und mehr sichtbar wird, daß er
beim Einkaufen im Supermarkt immer öfter auch Männerpaare sieht sowie seine eigene, in 15 Jahren gewonnene Lebenserfahrung als Homosexueller haben
ihm viel von der Angst genommen, selbst ein wehrloses Opfer von Diskriminie-
rung zu werden: ,,(Angst). .. daß einer das merkt ... und komische Anreden
macht, hab ich eigentlich nicht. Ich glaub, ich hab das überwunden. "
Dieter (44): " ... in dem Betrieb, wo ich jetzt bin, daß die dann gesagt haben: ,Ja,
daß du da mitredest?' Sag ich, ja warum soll ich deswegen nicht mitreden? Bin
ich von 'nem anderen Planeten oder was ... bloß weil ich jetzt schwul bin? .."
" ... Wenn sie dann mal einen Witz erzählt haben, also einen Schwulenwitz ... also immer, wenn ich grade dazukam, da hatte ich das Gefühl, ah, jetzt brechen
sie ab oder oder irgendwie so, nich! Und dann hab ich halt auch 'nen Schwulenwitz erzählt, nich! Und damit war irgendwie das Eis gebrochen."
Es hatte lange gedauert, bis Dieter zu seinem relativ offenen Informationsmanagement kam. Nach Jahren des Doppellebens bei der Bundeswehr hatte er
sich den Einzelhandel als Arbeitsfeld ausgesucht und dort die Erfahrung gemacht, daß es offen schwule Männer gibt und daß sie "ganz normal, wie jeder
andere auch, als Menschen akzeptiert" werden. Weil er wo llte, "daß das meine
Eltern und auch meine Geschwister von mir selber erfahren", offenbarte er sich
ziemlich bald seiner Fami lie und machte damit gute Erfahrungen. Seine Mutter
z.B. kennt einige seiner schwu len Bekannten.
Auch am Arbeitsplatz hat er fast nur gute Erfahrungen mit seiner Offenheit
gemacht. "Ich hab ein einziges Mal also ein, was heißt Chef gehabt, 'nen Abteilungsleiter, dem dann rausgerutscht ist: ,Ach Sie schwule Sau.' Nich! Und dann
hab ich bloß immer gesagt: ,Schwul stimmt, Sau stimmt nicht.' Hab mich selber
gewundert, das war vielleicht selber, daß ich so geschockt war, daß ich so
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Leben und ich finde auch, das hat nix mit Schwulsein zu tun. "
Was motiviert Dieter zu dieser Identifikation m it dem Aggressor, was muß er
vor der sozia len Um we lt verberge n, schützen? Den sexuellen Teil des Schwulse ins, die Verunsicherung hinsichtlich der Geschlechtsrolle? Man darf sich nicht
als sexue ll es W esen zeigen, nackt, we ibli ch, we ich; denn für zu offen gelebte
Sexua li tät w ird man mit dem sozia len Tod bestraft. Deswegen kann er das
Schimpfwort "Sa u" nur defensiv parieren, deswegen meidet er aus Angst vor
gewa lttät igen Übergriffen auch den Park . "Gewa lterfahrungen hab ich ... persönlich keine gemacht, vielleicht auch, weil ich mich nie in die Situation begeben habe - wenn ich speziell was hier in München, also im Englischen Garten ... "
Dieter hat sich nun noch ein zwe ites Stigma eingehandelt, das mit seiner Sexua lität im Zusammenhang steht: se ine HIV-Infektion . " Ich hab ein schwules
Coming-out gehabt, aber mein positives Coming-out steht mir noch bevor." Insgeheim wünscht sich Di eter, daß se ine Eltern vor ihm sterben. Er we iß noch
nicht, w ie er damit umgehen so ll, falls er einm al direkt danach gefragt w ird, ob
er positiv ist. Einstwe ilen bemüht er sich, die Gl eichsetzung vo n schwul und
AIDS, die er tei lwe ise in seiner soz ialen Um w elt vo rfindet, zu durchbrechen.
Franz (37): " ... meine Internatserfahrung: In dem Moment, wo du so nicht mit
den Wölfen heulst, sondern deinen eigenen Weg gehst ein bißI und ein bißI anders bist, dann bist halt ausgegrenzt ... "
Wölfen geheu lt haben, sondern vers ucht haben, irgendetwas anderes zu le-
" ... und das wäre für mich damals tödlich gewesen, das konnte ich nicht haben." (Interviewer: Also Schwule waren f ür dich damals Leute, die nicht mit den
ben.) "Ja genau, also die sich nicht versteckt haben. Und ich hab mich also zeitlebens versteckt. "
Bevor Fran z bewußt w urde, daß er schwu l ist, war er bereits mit dem Stigma
"asozial " behaftet. Im Internat hatte er ge lernt, sich anzupassen . Als er diese
Einrichtung verl ieß, holte er erst einmal all es nach, was er so schmerz li ch vermißt hatte. " Ich war schon leicht größenwahnsinnig. Also kam ins Lehrlings-
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Kopf. Also wo man mich in die Klapsmühle gebracht hat damals, da war ich die
erste Woche ziemlich froh." Dort löste sich auch noch ein weiteres Problem:
Franz wurde die Ehe los und empfand das als eine" totale Befreiung". So konnte er in se inem eigentlichen Zuhause, in der totalen Institution (er spricht öfter
von "draußen", wenn er sein Alltags leben meint), ganz von vorn anfangen, sich
in einen Mitpatienten ver lieben und mit erheblicher psychotherapeutischer Betreuung zu seinem Schwulsein stehen. Fran z bezeichnet dies als den Wendepunkt in seinem Leben. Er müsse sich nicht mehr verstecken, keinen Mangel an
Zune igung mehr kompensieren - wenn er einen Partner hat. Hat er diesen
nicht, w ird er zum "Szene-Schwu len ": rastlos, suchtartig auf der Suche nach
Kontakten. Zu seinem Glück finden ihn viele Männer attraktiv, und er war bisher noch nie lange allein. Er genießt die Erfahrung, in der schwu len Welt kein
Außense iter, sondern im Gegenteil umschwärmt zu sein.
Durch die Überwindung der Angst vor dem schwu len Stigma konnte Franz
also das ältere Stigma des Asozialen relativieren. Ganz losgeworden ist er die
alten Muster freilich nicht. Die Sicherheit im Umgang mit seiner Homosexualität kann er im Alltag oft nicht durchhalten. Immer wieder erwähnt er, daß er
sich von" Getuschel" belästigt fühlt . Manchmal w ird dabei auch die alte Kerbe
getroffen: " .. . daß hintenrum getratscht wurde, sind Gerüchte in die Welt gesetzt worden, ich hätt mit dem und dem was, gegen Bezahlung und so, und so
ein Gerücht geht dann also wie ein Lauffeuer, und man wird halt blöd angeschaut und geschnitten, obwohl's überhaupt nicht stimmt. " Denen "draußen"
zu zeigen, daß er in der Lage ist, ein "normales" schwules Leben zu leben, ist
ein integraler Teil nicht nur seiner schwu len, sondern seiner Identität überhaupt.
Martin (30): ,,(Daß ich schwul bin) wissen alle, muß eigentlich sagen, jeder, der
mich kennt sozusagen, mit dem ich Kontakt hab ..."
" ... also so von den Kunden natürlich weniger, aber so, also wer mich kennt, der
weiß es ... allein deswegen, weil ich mich zwar doch zurückhalt. Weißt, ich
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vorzugt, der war natürlich Fußballfan, wie er selber auch. Irgendwann einmal ...
hat sich irgendwie mit meinem Vater das Gespräch ergeben, und dann haben
wir uns so toll ausgesprochen, und seitdem also hält er voll zu mir. Er ist auch
voll damit einverstanden, daß ich schwul bin, also wenn mal irgendwie einer
was sagen sollte oder so, ist er immer an meiner Seite. "
Durch das Offenlegen se in es Schwulseins hat Martin die Beziehung zu seinem Vater verbessern können. Im Bedarfsfall kann er von ihm auch aktive Unterstützung erwarten. Die Akzeptanz durch die Mutter scheint ihm jedoch nur
in Schönwettersituationen sich er zu se in. Dies zeigte sich, als Martin vor sieben
Jahren - zum einzigen Mal in seinem bisherigen Leben - manifeste Diskriminierungserfahrungen machte. Er hatte neue Nachbarn, Zeugen Jehovas, bekommen . A ls diese erfahren hatten, daß er schwul ist, verbre iteten sie in der Nach-
barschaft das Gerücht, er veranstalte "Sex-Orgien" in der Wohnung. "Und das
war eigentlich dann das einzige Mal, wo ich auch Probleme mit meiner Mutter
gehabt hab. Dann hat sie gesehen, ja okay, aus dem Schwulsein entstehen auch
Probleme, und dann war es wirklich so weit, daß sie gesagt hat, es wär besser,
wenn ich mich ändern tät, daß ich quasi heiraten soll oder so. Dann hab ich gesagt, das kannst vergessen, und würd ich nie machen. Ich hab nichts gegen
Frauen ... aber bevor ich da heut heirat und Kinder hab und dann hintenrum
auf Tour gehen und so, das ist bei mir nicht drin. Und dann haben wir eigentlich
eine Zeitlang ziemliche Reibereien gehabt, hat sich aber dann wieder gegeben.
Aber sonst eigentlich, muß sagen, so im Ort (Martin wohnte damals noch auf
dem Dorf) an sich nirgends Probleme. "
Damit hatte Martin jeglicher Art von Doppelleben eine Absage erteilt. Bis
auf diese eine Ausnahme hat er mit diesem Verhalten weder am Arbeitsplatz
noch im sonstigen Leben sch lechte Erfahrungen gemacht. Am Ende des Interviews erzählt er von sich aus, daß es ihn ärgert, wen n die Medien immer nur das
Klischeebild vom Schwulen porträtieren : "Wenn schon mal groß was ist, dann
sind das Negativ-Schlagzeilen ci la Bild-Zeitung und so weiter .. . die Berichte, die
gemacht werden, sind nach meiner Ansicht oft auch ein bißI verkehrt. Zum Beispiel dann wieder irgendwelche Demos in Berlin oder Hamburg oder sonstwo,
da wird dann im Fernsehen ausgerechnet die größten Tunten und so weiter ge-
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hat). Ihn stören nicht die" Tunten ", die auf den Demos mitlaufen und das Bild
des anständigen Schwulen verderben könnten, sondern er kritisiert den äußeren Feind: die Medien als Vermittler und Manipulierer von Wirklichkeit. Hier
wünscht er sich mehr Solidarität von denjen igen Schwu len, die an diesem Geschäft beteiligt sind.
Willi (29): "Ich hab immer zu meinem Freund gesagt, wenn ich auf die Straße
(geh) und papp mir ein Schild aufs Hirn ,ich hab AIDS'. dann hab ich die ganze
Straße frei. .. "
" ... Dann muß ich in keinem Laden mehr warten, weil diese Leute sind hier noch
so, daß die wirklich denken, wenn jemand aus der gleichen Tasse wie ein AIDSKranker trinkt, daß die Ansteckung da wär... " W ill i leidet darunter, daß er nicht
mehr in München, sondern in einer mittleren Stadt lebt: "Ich kann doch nicht
bayrisch reden, wenn ich versuch, schon ein bißI hochdeutsch zu reden, also es
geht einfach nicht. Und die sind da sehr ignorant - was ich in München nicht
gehabt hab. Die waren halt nett, offen, man konnte da am Biertisch sitzen, hat
keiner irgendwas gesagt ,Ausländer', das ist, das ist hier ganz extrem gewesen. "
Überall wo er hinkommt, wartet schon ein Stigma auf Willi. In Rumänien
gehörte er einer ethnischen Minderheit an, wurde nach dem Verlust der Mutter
zum "Asozialen", dann zum "Staatsfeind". In München war er dann zunächst
mal der "arme Schlucker", der "Schwule". Und jetzt, wo er zum ersten Mal eine
glückliche Partnerbeziehung eingegangen und seinem Mann an dessen Wohnort gefolgt ist - damit dieser nicht auch noch so entwurzelt, wie er es schon ist-,
kommen wieder neue Stigmata auf ihn zu. Er ist der Aussiedler, der fremde
Großstädter, und sein neuestes Stigma, AIDS, steht ihm zum Glück nicht auf die
Stirn geschrieben. Fast all diesen Diskriminierungen sah sich Willi wehrlos ausgeliefert. Was ihm blieb, war, die Rolle des Ausgestoßenen in sein seelisches
Gleichgewicht einzubauen. Er gewöhnte sich an das Alleinsein, und sein inneres
Stigma als armer mittelloser Übersiedler bewahrte ihn davor, dieses Alleinsein
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mer drüben allein sitzen wollen und mal ein Buch lesen wollen oder irgendwas.
Da hat sie dann immer gesagt, das ist Stromverbrauch extra, und du setzt dich
mit rüber ins Wohnzimmer. Und ich meine, wenn ich mir dann ,Musikantenstadel' mit Stereoboxen anhören muß, dann wird's mir bißI arg viel und das ist mir
kraß. Das kam dann halt zu Streitigkeiten und dann hab ich gesagt, das bringt
ja anscheinend nichts. Und sie hat gesagt: ,Du verläßt meine Wohnung, und
außerdem bin ich der Meinung, daß Schwule in die Gaskammer gehören!'" Die
Beziehung war beendet, und die Großmutter weigerte sich auch, Willi ein Kontaktangebot zu machen, als ihr vor kurzem eine Freundin Willis - gegen seinen
Wi ll en - dessen AIDS-Erkrankung mitteilte.
Auch die Weise, in der Willi selbst von seiner Erkrankung erfuhr, zeigt das
Muster der Fremdbestimmtheit seines Schicksals: Nicht er ging zum Arzt und
zum Krankenhaus, sondern sein Freund mußte ihn gegen seinen Willen dorthin
bringen . Dort wurde er ohne seine Einwilligung einem HIV-Test unterzogen.
Dieser Test bestätigte ihm dann auch, was er insgeheim befürchtete: daß sein
Leben ins Unglück führt . Vor diesem Hintergrund sind sein bewußt se lektives
Informationsmanagement und die Tatsache, daß er Tunten nicht mag, weil er
das Gefühl hat, sie hielten sich für etwas Besseres, eher Randerscheinungen.
Willis Stigmamanagement spielt sich aber sehr viel mehr im Zentrum seiner Existenz ab.
Andreas (28): " Am Anfang wa r es doch irgendwie die Angst so, so ungefähr:
mein Gott, wenn das rauskommt ..."
" ... wenn das (den Weg) in dein Dorf drunten macht, du bist dann so und so.
Und dann hast doch irgendwie Angst. Und das war am Anfang auch so, mit Telefonnummer und so, und ich hab am Anfang, wie ich in die Szene reingekommen bin, auch meinen richtigen Namen nicht gesagt. Wenn jetzt einer sagt, wie
heißt du, dann hab ich irgendeinen Namen erfunden eigentlich, weil ich Angst
gehabt hab, er könnte dann das irgendwie rauskriegen, daß ich von da und von
da bin, und daß der dann eben im Zorn oder wie auch immer, daß er bei m einer
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dung für den sexuel len und gegen den sozia len Ante il des Schwulseins mußte
Andreas all erdings mit der manchmal fast übertriebenen Angst bezahlen, daß
die Sexualpartner versuchen könnten, in sein soz iales Leben einzugreifen, bis
hin zu anonymen Anrufen bei seiner Mutter. Dieses Arrangement hatte solange Bestand, wie er sich vor ein er Liebesbeziehung abschirmen konnte.
" ... und dann hat es dann gefunkt. Und dann war das eigentlich der Zeitpunkt,
wo der Frank eigentlich mich dazu gebracht hat, daß ich das zum Beispiel zu
Hause meiner Mutter erzählt hätt, habe, daß ich eigentlich irgendwie mit dem
besser fertig geworden bin. Daß ich eigentlich mir eingestehen können hab,
daß ich schwul bin und so. Und hat natürlich auch viel dazu beigetragen, daß
zum Beispiel der Frank und die Roswitha, seine Schwester, daß die das auch voll
akzeptiert und alles versteht ... ich hab mich da richtig wie zu Hause gefühlt
und so. Und dann ist das so schön langsam gekommen da, daß warum so ll ich es
nicht meiner Mutter sagen und warum soll ich mich so verstecken, warum soll
ich nicht ein Leben führen wie jeder andere auch, und warum soll ich mich in einem Doppelleben fühlen." Die Mutter - der Vater war bereits vor längerer Zeit
verstorben - nahm seine Mitteilung ungerührt zur Kenntnis, bemerkte ledig li ch, das hätte sie sich nicht gedacht.
Andreas versuchte daraufhin w iederholt, sie in sein Leben einzubeziehen,
bekam aber immer Desinteresse als Reaktion. Die Eröffnung, vor der er soviel
Angst gehabt hatte, zeigte ihm all enfa lls, daß er bereits vorher keine gute Beziehung zu seiner Mutter hatte und daß auch jetzt keine entstehen konnte. Mit
se inen Schwestern sprach Andreas nicht. Sein altes Leben in der Herkunftsfamili e war damit praktisch beendet, und er trat in se in e neue - elternlose - Familie
ein.
Sein rigides Informationsmanagement hat er beibehalten. Am neuen Arbeitsplatz achtet er streng darauf, daß niemand von seinem Schwulsein erfährt,
wei l er befürchtet, dadurch seine Beförderung zu gefährden. Die Stereotypen,
die se in Bild vom "Schwulen" prägten, haben allerdings an Bedeutung verloren. Früher mußte er "Tunten" abwerten, we il sie so offensichtlich schwu l sind .
Heute, da er über eigene schwule Erfahrungen verfügt, hat er wen iger
Berührungsängste: "Man macht halt da ein bißI Spaß drüber, so ungefähr ...
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möchte - der Teil, den Andreas zugunsten des homosozialen Teils domestiziert
hat.
Josef (55): "Es war hart, und es ist ein Spießruten lauf ... das ist losgegangen,
wie es aufgekommen ist, daß ich schwul bin. Aber wie gesagt, ich mach mir nix
mehr draus, weil das nutzt ja eh nix. Man muß damit leben."
Josef zieht eine resignierende Bilanz seines Lebens. Aufgewachsen als Angehöriger des Landproletariats, hatte er eine sehr ungünstige Startposition. So
konnte er sich gegen den sexuellen Mißbrauch, den er als Jugendlicher erlebte,
nicht zur Wehr setzen: " ... so mit dreizehn, in der Schulklass hat mich der
Hauptlehrer - heut heißt's Rektor - das erste Mal vernascht ... und das erste
Mal, na ja, dann immer wieder. Na ja, und dann hie und da auch ein Kaplan nicht Pfarrer, sondern Kaplan, Korporator hat das früher geheißen. Gut, und so
ist es. Gut, die haben sich nichts gedacht, das ist, mei gut, ein blöder Bauern-
bub, wie man sagt." An dieser Stelle hält Josef kurz in ne und wendet sich an
den Interviewer: ",Blöd' darfst nicht sagen, darfst nicht schreiben!" Wir haben
seinen Wunsch mißachtet - nicht um Josef bloßzustellen, sondern um ihn besser zu verstehen. Denn die Scham, die er an dieser Stelle zeigt, gewährt einen
Blick auf die Wurzel seines Lebenselends. Es ist das Stigma des Dorfdeppen, mit
dem alle machen können, was sie wollen, und er macht mit.
Schon am Beginn des Interviews, als er sich einen Decknamen aussuchen soll,
entscheidet er sich für den Namen Sepp bzw. Josef, denn "Hans und Sepp heißt
jeder Depp ", w ie ein bayrischer Kindervers lautet. Er lacht, als er das sagt. Die
Ohnmachtserfahrungen, die er im Zusammenhang mit seiner Homosexualität
immer wieder gemacht hat, dürften ihn letzten Endes dazu gebracht haben,
sich in dieses Stigma zu fügen . Am Anfang wurde er "vernascht", später" vernaschte" er dann minderjährige Jungen, was er mit Gefängnis zu büßen hatte.
"Aber das war ein Spießrutenlauf als Schwuler im Gefängnis, wie gesagt, da
bist als Mörder noch besser angesehen wie als Schwuler! Wenigstens war's damals so."
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ren, was sich z.B. daran ze igt, daß es ihm nicht ega l ist, was seine mittlerwei le
19jährige Tochter über ihn denkt. Hier erlebt er aber w ieder die alte Ohnmacht:
Er weiß n icht, wie er mit ihr über seine Homosexualität sprechen soll, n immt
insgehe im an, daß sie es sowieso längst weiß . Der einzige Trost in d ieser Situation ist der Sex. Wir haben bere its im letzten Kapite l gesehen, daß Josef das Klischee vom triebgesteuerten Sexualtäter als Teil se iner Identität ver innerli cht
hat und daß diese Obsess ion ihn davor schützt, den durch Spießrutenlauf und
Resignation verursachten Schmerz zu heftig zu spüren.
Bernhard (70): .. Aber als Fernfahrer hatte ich da vollkommene Freiheit und,
und hatte auch keinen Ruf zu verlieren, verstehen Sie? ....
..... Das ist meines Erachtens nach ein ziemlicher Gesichtspunkt, daß man je mal
auf die Nase fällt oder publik wird oder irgendwas, und man ist was - bittschön,
schauen S' in die Zeitung rein! - dann fa llen Sie vom fünfzehnten Stockwerk in
den Keller runter, dann ist man n ix. Und ist man n ix, w ird's kaum nicht erwähntf .. Bernhard hat sein Leben getreu nach dieser Devise ausgerichtet. Er
entschied sich trotz akadem ischer Karrieremöglichkeiten für einen Beruf, bei
dem er .. gesellschaftlich gesehen ein Dreck" ist - freedom 's just another word
for nothing left to lose. In se iner Jugend wurden homosexue ll e Männer getötet
- was war dagegen schon der freiw ill ige soz iale Tod, den er auf sich genommen
hat!
Wie Bernhard das Stigma als Te il seiner Identität ver innerlicht und sein Leben aussch ließlich an der Sexualität orientiert hat, wie er makabrerweise trotz
seines Verzichts auf den Aufst ieg eine - im wört lichen Sinne - Gehbehinderung
erwarb, haben wir bere its im letzten Kap itel gesehen . Themen wie Informationsma nagement sind in diesem Zusammenhang eher peripher. Es sche int für
ihn se lbstverständ lich zu sein, daß seine Nachbarn trotz seiner rege lmäß igen
Männerbesuche nichts von seiner .. Bisexua lität" wissen, ebenso, daß er m it se inen Angehörigen nicht über Persön liches spricht - immerh in war er ja acht Jahre in einer festen Beziehung . .. Ich hab schon Vetternverwandtschaft. also mit
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Robert (36): "Viele kennen mich und wissen, daß ich schwul bin, und die sehen,
wie ich leb, daß ich also auch leb, wie jeder andere Mensch hier auch lebt, nicht
viel anders, ja!. .. "
" ... daß ich Männerbekannte hab, ja gut, okay, sonst also auch, ich geh zum Skifahren, ich geh zum Tennisspielen und ich mach halt alles, was andere auch machen. Ja, und ich glaub, das trägt schon dazu bei, das Bild hier auch von den
Schwulen ins Normale zu geben, daß das einfach was ist, was einfach da ist und
was also normal existiert. Was nicht irgendwo als als als Transvestit oder als als,
was weiß ich, als totale Schwuchtel herumspringt. Sondern einfach wirklich als
als normaler Mann mit sexuell anderer Vergangenheit einfach. Aber dieses Sexuelle im Leben, das ist nicht ganz ein unwichtiger Teil, aber halt auch nicht der
wichtigste Teil und nicht der ausschließliche Teil. Und viele Heteros, die hier da
so rumspringen ... ich seh's auch in der Arbeit oder so im Tennisverein, auch
meinetwegen, die Leute, die machen immer Witze über die Schwulen, aber im
Endeffekt, sie akzeptieren sie eigentlich ... ja ja, vor allem die akzeptieren das
Schwul ... akzeptieren - ja, sie nehmen's halt hin, das Schwulsein, solang sie
nicht belästigt werden und solang die Kinder nicht betroffen sind." Hier ist
kaum noch ein Kommentar nötig. Deutlich w ird, daß Robert sehr viel über das
Stigma reflektiert hat - und darüber, wie er es in dieser Umwelt am besten bewältigen kann . Wir werden gleich noch sehen, welche konkreten Konsequenzen die Variante "Normalisierung", für die er sich entschieden hat, für seine Lebensgestaltung hat.
Aber lassen wir ihn vorher noch ein Beispiel von Diskriminierung schildern,
w ie er sie an seinem Wohnort erlebt hat: " ... also wenn Kinder im Spiel sind, 50
was weiß ich, Kinder bis 14, 15 Jahr. Also dann wird's ganz, dann wird's ganz
schlimm, dann reagieren sie sehr aggressiv. Wir hatten hier im Ort mal 50 einen
Fall. da war ein Badangestellter vom Hallenbad, der hatte da so mit Jungs da 50
bis 14, 15 hatte der 50 Techtelmechtel, und der wurde dann zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, was ich also äußerst schrecklich fand damals. Und ich
hab den also da verteidigt, auch unter meinen Kollegen damals, und die hatten
viel Verständnis. Und eigentlich komischerweise hatte ich damals schon die Er-
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gien" der Offenlegung seiner Homosexua lität. Daß sich seine Homosexualität
ohnehin herumsprechen würde, davon ist Robert überzeugt. Dadurch, daß er
die Wucht des Stigmas eher etwas überschätzt hat - bis auf kleine Ausnahmen,
z.B. bei der Wohnungssuche - ist er ganz gut zurechtgekommen: "Also ich hab
bis jetzt keine großen negativen Erfahrungen gemacht ... eigentlich viel weniger, wie ich mir eigentlich gedacht hab. Viel viel weniger. "
Richtig unangreifbar macht Robert indes erst das Bewußtsein, "ganz normal" zu sein. Dieses Bewußtsein funktioniert gut, es hat aber auch seine
Schwachstellen. Deswegen muß Robert die Symbole allzu exzentrischen oder
gar allzu sexue llen Schwulseins abwerten: "Ich möchte an dem Ort nicht mit so
einer schrillen Diva befreundet sein. Na gut, ich bin also ein femininer Typ eher,
das hab ich schon gesagt, aber nicht schrill in dem Maße, ja und auch nicht in
der Öffentlichkeit so, so ganz provozierend. Oder ... sado oder maso, Sachen .. .
so vom Sex her ... härtere Typen ... mit denen hab ich nichts am Hut. Und ich
sag, solang die mir also meine Ruhe lassen und ich da nicht mitmachen muß,
hab ich also nichts dagegen." Sein Standpunkt ist hier so "normal", daß er fast
die gleichen Worte wählt wie bei der allgemeinen Beschreibung des Stigmas
(siehe oben). Nur ist er hier nicht mehr souverän rational, sondern defensiv
emotional.
Die ein zige Person, der Robert nie erzäh len möchte, daß er schwul ist, ist sein
Vater. Er nimmt diesen Vater, unter dem er viele Jahre sehr gelitten hat, in
Schutz: wenn er es wüßte, würde er sich viell eicht vor lauter Scham nicht mehr
aus dem Haus trauen. Diese Projektion gibt den Blick auf sein verwundbares Inneres frei: dort lauert immer noch das Gefühl, minderwertig, wert los zu sein,
ein Gefühl, das ihm der Vater "eingeimpft" hat (vgl. Kapitel "Sexuelle Identitäten"). Seinem Vater zu gestehen, daß er schwul ist, könnte dieses Gefühl, das er
weitgehend verdrängt hat, noch einmal beleben. Das würde nicht nur weh tun,
sondern könnte auch sein ganzes Normalitätsbewußtsein, das ja das Fundament se ines erfolgreichen Stigmamanagements ist, untergraben . Li eber setzt
Robert hin und wieder die Tarnkappe auf und tankt Normalität. Zu diesem
Zweck geht er z.B. schon seit Jahren in seine heterosexuelle Tennis-Runde, in
der ni emand etwas w eiß. Di eses Verhalten erinn ert ein wenig an ein Chamäle -
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schoben: ,Na ja! Was möchtest denn du? Du bist ja so und so nur ein Hundertfünfundsechziger!'" (Interviewer: Hundertfünfundsiebzig?) "Hundertfünfundsiebzig, ja. Und ich hab dann gesagt: ,Wenn du meinst!' Und es ist halt einfach
so, daß ich, der kann das nicht verstehen, daß ich jetzt, ich bin jetzt 28 Jahre alt,
und er meint immer noch, er hat einen kleinen Jungen mit neun oder zehn Jah ren vor sich. Wenn ich heimkomm, dann heißt es schon, das hast du gemacht,
und das hast du gemacht, und das hast du verkehrt gemacht. Das wäre eigent-
lich ein Grund, warum ich nach München ziehe." Aber aus vie lfältigen Gründen, die wir zum Teil bereits kennen, zieht (Iemens nicht nach München und
verb leibt in seiner diffusen Situation. Nach außen ist er ein geschiedener Heteromann, der jetzt vorübergehend w ieder Junggeselle ist und bei seinen EItern wohnt - eine Lebensform, die auf dem Land gar nicht so unüblich ist.
Dem Vater und erst recht der Mutter scheint klar zu sein, daß er schwu l ist (die
Mutter bringt ihm z.B. regelmäßig die Wäsche in seine Wohnung, und er verg ißt
manchmal, die Porno hefte oder -videos wegzuräumen), aber niemand macht es
zum Thema. Stattdessen nimmt (Iemens die zieml ich eindeutigen Beschimpfungen seines Vaters widerspruchs los hin, versucht allenfalls, zweideutige Gleichgültigkeit zu demonstrieren. Er tut so, als interessiere er sich gar nicht für das
Stigma, hält sich quasi die Ohren zu. Der Vater kennt den § 175 sicherl ich genau;
es ist (Iemens, der durch die falsche Zahl unbewußt zu demonstrieren versucht,
daß ihn das alles gar nichts angehe. Dabei ist er im Alltagsleben massiven Einschränkungen unterworfen. Selbst für den Interviewer war es unangenehm mitzuerleben, wie (Iemens mit kryptischen Aussagen (..Da wird ein Interview gemacht. ") dem Vater gegenüber zu rechtfertigen versuchte, weshalb er da einen
Mann, vie lleicht sogar einen schwulen Mann, mit in die Wohnung nahm.
Diese Gummitaktik - tarnen und immer defensiv und zweideutig bleiben pflegt (Iemens auch an seinem Arbeitsplatz, einer katholischen (!) Behindertenwerkstatt. Die Nonnen sprechen ihn auf seinen Ohrring an, den er auf der
linken Seite trägt (wenn er zum Schwu lsein stehen würde, müßte er ihn rechts
tragen, sagt er) und kichern dabei . (Iemens kichert mit und die Nonnen kichern
we iter: "Wir wissen '5 schon, wissen's schon!" Ob hier alle Beteiligten das Gleiche wissen, kann er se lbst nicht sagen.
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ern sagt, nicht outen. Weshalb nicht, will der Interviewer wissen. "Das braucht's
nicht. Die kommen schon von selbst dahinter!", sagt er und lacht dabei. Das
wirkt fast so, als möchte er keine Verantwortung für sein Coming-out übernehmen . Nicht die Homosexualität ist also der Skandal, auch nicht der schwule Sex,
solange er nur heimlich ist (e ine gute katholische Tradition, die Clemens ja sogar
am eigenen Leib erfahren durfte), sondern das öffentliche Bekenntnis. Aus diesem Grund würde er sich auch nicht gerne mit "Tunten" in der Öffentlichkeit ze igen (und gibt zur Illustration einen lustvollen schrillen Laut von sich).
In einem solchen Doppelleben, das sich auf nächtliche "Quickies" im Park beschränkt, liegt die Gefahr, sich dort zur Witzfigur zu machen, wenn man zu oft
hinkommt und seine Bedürfnisse nicht cool genug verschleiern kann. "Eine
Schlampe, die keiner will": diese Form sexueller Stigmatisierung hat Clemens in
Ansätzen bereits erfahren. Sie scheint für ihn derzeit emotional bedrohlicher zu
sein als die Gefahr allgemeiner sozialer Ausgrenzung. Mit ihr setzt er sich auch
sehr viel aktiver auseinander, wie noch zu sehen sein wird.
Matthias (27): "Und die (Kollegin) ist die erste gewesen, zu der wo ich eigentlich was gesagt hab, aber das hat die gar nicht geschnallt ... "
" ... ,Ah, Herr X, was ich Ihnen schon lang mal fragen wollte' - mit der sind wir
auch noch alle per Sie - ,ich wüßte da eine Freundin für Sie. Da kenn ich eine, das
ist eine Stewardeß, die schaut ganz super aus, ich sag's Ihnen, aber die findet sich
einfach keinen. Und jetzt hab ich ihr schon so oft von Ihnen erzählt, und daß Sie
so gut kochen, und hätten's nicht einmal Lust?' Die wollte mich also mit der verkuppeln. ,Haben Sie eigentlich schon eine Freundin?' Hab ich gesagt, eine Freundin nicht, aber einen Freund, also ich leb mit einem Mann zusammen. Und dann
ist sie aber gleich wieder ins nächste Thema über, also entweder hat s' das nicht
kapiert, ja, oder sie wollt's nicht kapieren . Also sie hat das auch nie mehr ange-
sprochen, und ich hab auch nichts mehr gesagt." Matthias pflegt ein eher defensives Informationsmanagement. Er wartet, bis man ihn fragt, und wenn man ihn
fragt, outet er sich nicht als schwul, sondern als Teil eines Männerpaares.
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dessen wird schwule (oder heterosexuelle) Identität über eine Partnerbeziehung definiert. Aber diese Partnerschaft wird schließlich mit mehr oder weniger großen Widerständen im Familienkreis akzeptiert. Auch Matthias' Eltern
nahmen seinen Freund relativ schnell als Schwiegersohn auf. Matthias hat sich
auf diesen familiären Rahmen eingelassen und weiß, wie er in ihm zurechtkommt. Hier kann er sich auch unmißverständlich ausdrücken.
Wo es diesen familiären Rahmen nicht gibt, tut er sich dagegen eher schwer,
dort gerät er leicht in die Defensive, w ie etwa am Arbeitsplatz. Weitere soziale
Zusammenhänge der schwierigen Art scheint es aber nicht zu geben. Es ist für
Matthias z.B. ganz selbstverständlich, daß er mit einem männlichen Partner einen alten Bauernhof in einem kleinen Dorf bewohnt. Er äußert keine Bedenken, daß Nachbarn schlecht über ihn reden könnten, und hat auch noch nichts
Negatives erlebt. Dies ist ein Indiz dafür, daß er mit seiner Lebensform, der
treuen Paarbeziehung, im inneren Gleichgewicht ist.
Matthias ist auch einer der wenigen Studienteilnehmer, den Klischees über
Schwule nicht zu tangieren scheinen. Es gibt kein schwules Lebensphänomen,
von dem er sich distanzieren müßte - auch wenn ihm etliche dieser Phänomene, w ie z.B. Promiskuität, ziemlich fremd sind.
Das Stigma im historischen Wandel
An den Aussagen von Karl und Bernhard - neben Josef die ältesten der hier vorgestellten Männer - wird deutlich, weshalb sie sich nicht als schwul identifizieren. Für sie stimmt die Gleichung "Schwuler = Opfer" noch: Bernhard weiß dies
aus dem Faschismus, und Karl we iß dies, weil er an seinem Wohnort die Diskriminierung eines als schwul bekannten Mannes miterlebt hatte. Beide konnten
- im Gegensatz zu Josef - ihr Leben so einrichten, daß sie nicht zur Zielscheibe
negativer Reaktionen des sozialen Umfelds wurden.
Ein anderer 6Sjähriger Teilnehmer teilt diesen Erfahrungshintergrund. Homosexualität war für ihn ein Verbrechen, entsprechende Triebwünsche versagte er sich und hatte mit Suizidgedanken zu kämpfen . Er heiratete sch li eß li ch .
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Die ganz jungen Teilnehmer müssen sich nicht einmal mehr mit solchen Problemen und Ambivalenzen auseinandersetzen. Das Coming-out des Jüngsten in
diesem Sam pie - er ist 21 Jahre alt - ist fast ohne innere Spannungen und Bedrohungsgefühle verlaufen. Das zeugt von der Normalisierung schwuler Persönlichkeitsentwicklung vor dem Hintergrund immer geringer werdender Repression in den neunziger Jahren.
Informati onsmanagement
Die Interviewpartner haben sehr unterschiedlich auf ihre persönlichen Wahrnehmungen des Stigmas reagiert . Einige haben z.B. versucht, als Selbständige
ökonomisch erfolgreich und damit weniger angreifbar zu sein . Der zentrale
Aspekt der Stigmabewältigung ist, wie jemand sein Schwulsein offenbart, wem
gegenüber und wann er dies tut. Dieses Informationsmanagement kann offensiv oder defensiv, restriktiv oder durchlässig sein . Wichtig für den Erfolg ist es,
sich selbst für eine Strategie entscheiden zu können, die selektives Handeln in
spezifischen Situationen zuläßt.
Alle Studienteilnehmer bemühen sich um ein solch mehr oder weniger selektives Informationsmanagement. Clemens hat sich für das Doppelleben des verdeckt lebenden Schwulen entschieden und versucht, das Stigma in seinem Alltag zu ignorieren. Martin geht mit seinem Schwulsein sehr offen um, sein
Freund Alex hingegen sehr zurückhaltend und defensiv.
Die meisten Männer haben einen Mittelweg gewählt. Sie haben sich in bestimmten Lebensbereichen "geoutet", in anderen sind sie im "closet" (= "im
Schrank", im Verborgenen) geblieben . Manche von ihnen haben sehr individuelle Ausdrucks- und Umgangsformen entwickelt, die ihre Integrität schützen,
w ie w ir es bei Karl gesehen haben, der mit seiner Nachbarin über einen sch w ulen Schauspieler spricht und sich damit impli zit der Akzeptanz seines eigenen
Lebensstils und seiner Privatsphäre vergewissert.
Andrea s und sein Partner Frank pflegen in puncto "outing" einen rigiden
Stil. Sie haben sich mit ihrer " Familie" praktisch eine schwule Oase g eschaffen .
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Die Tunten
Die Abwehrhaltung gegen Tunten ist bei der Mehrzahl der Teilnehmer vorhanden. Viele äußern offen, daß sie sich nicht m it Tunten in der Öffentlichkeit zeigen möchten. Dann könnte ja jeder auf ihr eigenes Schwulsein schließen, wodurch sie ihr aktives Informationsmanagement aus der Hand geben würden .
Was ist das Anstößige an Tunten, was macht die Provokation zur Provokation?
Was ist so schlimm am "weibisch Affektierten"?
Die bewußten Erläuterungen der Interviewpartner zu diesem Thema sind
weitgehend tauto logisch. Wir müssen deshalb einen Umweg nehmen, wenn wir
ein wenig tiefer blicken wollen. Sehen wir uns einen Teilnehmer an, der nichts
gegen Tunten hat: Martin hat sich früher "mehr als Mädchen gefühlt" und berichtet heute von Wünschen, selbst ein Kind zu haben. Er hat also offensichtlich
we ib li che Anteile in das Konzept seiner Identität integriert. Er hat nichts gegen
Tunten, aber er verwahrt sich sehr woh l gegen die reißerische Darstellung von
Tunten in den Medien, wenn es um schwule Themen geht. Damit würden abwertende Stereotype über Schwule perpetuiert, was wiederum die Möglichkeiten schwuler Selbstakzeptanz wie auch der Akzeptanz durch die heterosexuelle
Mehrheit systematisch schmä lerte. Hier vermißt er die emanzipatorische Solidarität von Schwulen, die im Medienbereich verantwortliche Positionen innehaben
(Martin sagt das in sehr viel einfacheren Worten). Es sieh t fast so aus, als hätte
Martin damit als einziger den diskriminierenden Trick durchschaut, dem die anderen auf den Leim gegangen sind. Die innere Freiheit dazu dürfte er durch seine Offenheit für seine eigenen we iblichen Anteile erworben haben.
Für die anderen dagegen bleibt die Mann-Frau-Dichotomie, das heißt das eindeutige Mann-Sein, ein Stützpfei ler ihrer Identität, der auch vom Schwulsein
nicht in Frage gestellt werden darf. Ganz deutlich sehen wir das bei Bernhard,
der nicht schwu l sein will, weil schwu l "Damenhandtäschchen" und "Strapsgürtel" bedeute. A lex fü hlt sich besonders von "Ledertrinen" abgestoßen - Tunten,
die es wagen, das Leder, den Fetisch seiner Männlichkeit, zu "beschmutzen" und
ihn damit lächerlich zu machen. Weib li ch zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang, schwach, angreifbar zu sein. Und das kann sich kaum einer leisten.
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pellebens. Diejenigen, die sich mit dem sichtbaren, dem sozialen Teil ihres
Schwulseins identifizieren, müssen die schwule Fassade pflegen. Das heißt, sie
haben Konflikte zu ertragen und zu bewältigen, die ihre - von welchen Normen auch immer - abweichende Sexualität verursachen kann, wie wir z.B. bei
Robert und Dieter gesehen haben. Man(n) kann sich aber auch mit dem versteckten Teil, der Sexualität, identifizieren. Dann gilt es, die heterosexuelle Fassade in Ordnung zu halten. Dadurch, daß z.B . Clemens und Karl nicht offen homosexuell leben, ersparen sie sich die Mühe, als "anständige Schwule" vor ihrer
Umwelt bestehen zu müssen. Einige versuchen die Kluft zwischen Sexualität
und öffentlicher Person dadurch zu schließen, daß sie sich als Teil einer romantischen schwulen Paarbeziehung definieren und darstellen, wie es z.B. Matthias
tut. Josef ist dem Stigma zum Opfer gefallen, es blieb ihm keine soziale Rolle
außer der des schwulen Dorfdeppen übrig.
Stereotypen in der Community
Franz und Willi haben in der schwulen Gemeinde neue Stereotypen vorgefunden. Coolness und körperliche Attraktivität waren nun gefragt. Willi erlebt sich
hier zusätzlich belastet, während Franz seine erotische Ausstrahlung zu neuartiger Selbstbestätigung nutzen und damit sogar sein altes Stigma vom "Asozialen" in seiner Bedeutung schmälern kann . Auch Clemens ist von diesem erotischen Wettbewerb irritiert, er fühlt sich vom Stigma der unattraktiven "Schlampe" bedroht.
Ausblick
Zu den bedrohlichsten Symbolen der Stigmatisierung schwuler Männer und
schwuler Sexualität gehören HIV und AIDS. Wir werden im Safer-Sex-Kapitel sehen, wie die Interviewpartner diese Bedrohung bewältigen und welche Rolle
dabei z.B. Stereotypen darüber, "wer AIDS bekommt", spiel en. Al s protektive
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usw.), "social engagement" (Gesta ltung der Freizeit mit anderen Schwulen) und
"sexual engagement" (das Ausmaß, in welchem sexuelle Interaktion an bestimmten Orten gesucht w ird) genannt. Die Begriffe lassen sich ohne Bedeutungsverschiebung schwer ins Deutsche übertragen. W ir gebrauchen deshalb
ana log die Begriffe "kulturelle", "soz iale" und "sexue ll e Segmente" der schwulen Gemeinde, möchten aber betonen, daß die Übergänge f li eßend sind - zuma l sich die schwulen Gemeinden in den k leinen und großen Städten jewei ls
vone inander unterscheiden.
Karl (51): "Sexualität und Gemeinschaft..."
" ... und Gemeinschaft - daß man sagt, du kommst einmal zu mir, könntest mir
mal helfen, oder machen wir miteinander mal das oder das, kommst einmal in
den Garten, oder was machen, oder den Haushalt, könntest vielleicht gut kochen oder was, das ist nicht meine Stärke und so weiter. Daß man sich irgendwie zusammentut und da sich öfters trifft, das wär eigentlich ja, homosexuelles
Leben, zusammenleben und miteinander irgendwas machen, was aufbauen
und weiter leben ... daß nicht der, nicht nur Sex große Rolle ist, sondern auch
das bereits andere Leben auch." Karl überrascht an dieser Ste ll e den Interviewer, der den b isherigen Gesprächsverlauf mit der Feststellung zusammenzufassen versuchte, daß Homosexua lität für Karl hauptsächlich Sexua li tät bedeute.
Dieser Eindruck war entstanden, we il Kar l, wenn es um schwule Männer ging,
aussch li eß lich von Sexuellem gesprochen hatte und davon, daß er d ie sozia le
Ro ll e eines schwulen Mannes ab lehnt - in der Heterowelt. In der homosexuellen Binnenwelt hat er hingegen beharrlich se inen Status als Mitglied der schwulen Gemeinde gefestigt.
" In die Homosexualität reingekommen" war Kar l 35j ährig, als ihn der Kellner ein es dörfli ch en Hetero loka ls "verführte". Dieser hatte ihm dann ein en
schwu len Badestrand in der Nähe se ines damaligen Wohnorts genannt, der für
eini ge Jahre zu Kar ls Stützpunkt wurde. Er genoß d ie sexuel le Freizügigkeit,
knüpfte aber auch persön liche Kontakte und lernte durch d iese neuen Bekann-
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der Y (Lokal), war das ideal, der war oft abends richtig voll, da bist du rein, reingerannt und einer hat irgendwie das versucht, na ja, irgendwie hinzulangen
und schaut, ob daß was geht, wie er dann auch reagiert, wenn man hinlangt,
ob man will, und so war irgendwie Interesse da . "
Kar l genießt die erotische Doppe ldeutigkeit im vo ll en Loka l, aber er geht
nicht in erster Linie zum Grabschen dorthin. Vor allem geht es ihm um die Ge-
meinschaft: "Ja, man ist nicht allein, man ist halt jetzt drin da. Jeder hat eigentlich das Problem, daß es halt einmal so ist, man muß mit dem fertig werden,
muß mit leben, mit dem, und ich find, man sollte zusammenhelfen. Man soll
halt nicht sagen, man ist eigentlich fremd ." (Interviewer: Wie erleben Sie es?)
"Ja. Man hilft eher zusammen, ja ... also ich hab die Erfahrung gemacht, also
nur gute Erfahrung, sind immer positive. Wenn irgendwas war, daß man sich
schon zusammengeholfen hat. Nicht das ,Oh, das geht mich nichts an!' oder
was. Hast gesagt, ja, daß sich jeder bemüht, irgendwo zu helfen wo, einen Rat
oder Tat irgendwo gibt es dann schon, daß man da hilft. "
Acht schwu le Männer gehören zu Kar ls engerem Netzwerk, das se inen An sprüchen genügt. Einer der Männer ist se in Arzt und einer ein M itarbeiter des
"Sub", des Münchner schwulen Kommun ikationszentrums . Ihn lernte er ken nen, als er dort vor zwei Jahren das lokale schwu le Monatsmagazin abholte.
Der Mitarbeiter sprach ihn an, erzäh lte ihm von der Funktion des "Sub" und
gab ihm Informationsmaterial m it. Karl gefie l die Einrichtung, er freundete sich
mit dem M itarbeiter an und wurde M itg li ed. We il die Männer im "Sub" n icht so
ganz se ine "peer group" sind, geht er ansonsten nicht dorthin und besucht
auch keine M itgliederversammlung . Gle ichwohl liegt es ihm am Herzen, durch
seine Mitgliedschaft einen ideellen und finanzie ll en Be itrag zur schwu len So lidarität zu leisten. Und er kann das "Sub" als Informationsque ll e nutzen, indem
er z.B. dort anruft und nach einem schwu len Handwerker oder Arzt fragt .
Karl war m it se inem alten Hausarzt unzufrieden: " Ich bin mit dem vorigen
Hausarzt da nicht zurechtgekommen, und ich hab zu dem auch kein Vertrauen
gehabt über das, daß ich gesagt, ja, vom homosexuellen Leben und so, und wie
man da zurechtkommt, was ich halt zu beachten hätt. Und dann hab ich gemerkt, das ist bestimmt nicht mein Mann. Und dann bin ich halt mal zum Dr. X,
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Jahren, da war ich dann momentan an 'nem Punkt, wo ich gedacht hab, jetzt
werd ich alleine damit nicht mehr fertig. Und zwar ausgelöst durch meinen damaligen Freund, der also auch positiv war und dann erkrankte und dann ins
Krankenhaus kam und ich gemerkt habe, wie schwer ich mich eigentlich im Umgang mit AIDS tue, nich. Und da habe ich gedacht: Nee! Ich komme jetzt einfach
alleine nicht mehr weiter, ich brauch jetzt irgendwie Hilfe, nich. Ich, ich wußte
nicht, was ich sagen soll, wie ich ihm helfen kann, das war eigentlich das Fürchterlichste. Und da eben, also vor zweieinhalb Jahren, habe ich dann gedacht:
Nee! also jetzt mußte irgendwas, du mußt irgendwo hingehen, nich. Und zu
dem Psychologen wollte ich auch nicht und bin also da dann durch Vermittlung
von meinem Arzt also erst zur Plus-Minus-Gruppe gekommen, und dann eben
zum Cafe Regenbogen. Und das Cafe Regenbogen hat mir also dann insofern
sehr zugesagt, weil ich da merkte, ich kann da hinkommen und kann mich mit
meiner jeweiligen Stimmung so geben, also wie mir gerade ist, nich. Und mittlerweile ist das also wirklich da so, ja, fast ein zweites Wohnzimmer geworden. "
Für Dieter ist es wichtig , das Tempo und die Mittel seiner Lebensbewältigung
selbst bestimmen zu können. Hilfe nimmt er erst dann in Anspruch, wenn er alleine nicht mehr we iterkommt. Ihm kommt zugute, daß es in der Großstadt ein
relativ breitgefächertes schwules Hilfesystem gibt, das seinem Bedürfnis nach
Niedrigschwelligkeit entgegenkommt. Beim Psychologen wie auch in der
Selbsthilfegruppe war für Dieter das Setting zu problemzentriert, er wollte sich
nicht über seine Probleme definieren. So fand er zunächst im Cafe Regenbogen, einem niedrigschwelligen Ort der Begegnung für Menschen mit und ohne
HIV, den richtigen Ort für seine Bedürfnisse. In der Folgezeit wurden jedoch seine Probleme größer. Er entwickelte eine Depression und entsann sich des
schwu len Psychologen, bei dem er dann eine psychotherapeutische Behandlung begann, mit der er sehr zufrieden war. Vor ca. einem halben Jahr versch lechterte sich se in Immunstatus, was ihm sein alter Hausarzt zunäc hst verheimlichte. Dieter erfuhr davon bei einem Kuraufenthalt und entsch loß sich,
den Arzt zu wechse ln.
In der Selbsthilfegruppe, der er mittlerweile beigetreten war, wurde ihm ein
schwuler Arzt in einer HIV-schwerpunktpraxis empfohlen. Mit diesem Arzt ist
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fekt muß es jeder mit sich selber ausmachen. Man kann einem Hilfestellung geben, das habe ich also auch durch die Selbsthilfegruppen erlebt, auch durch
meinen Arzt erleb ich das immer wieder. Das sind Hilfestellungen. Aufarbeiten
und fertig werden muß, muß man selber damit. "
Diese professionellen und halbprofessionellen schwu len Hilfestrukturen
sind ein wicht iges Element in Dieters sozia lem Netz. Sie bilden den zweiten
Ring in seiner konzentrisch angelegten Netzwerkstruktur. Als äußeren Ring
nennt er allgemeine kulturelle Aktivitäten wie Reisen, Kneipen, Theater, Presse. Im Zentrum stehen Familie, Beruf, Ehrenamt bei der A IDS-Hilfe und drei
schwu le Männer. Einen davon, der in einer norddeutschen Großstadt lebt,
kennt er seit mehr als 30 Jahren . Dieser Mann hat ihm bisher in allen Lebenskrisen weitergeholfen. Wichtig für Dieters Selbstwertgefühl ist es, eine Aufgabe zu haben. Die Mitarbeit bei der AIDS-Hilfe hat er auch deshalb begonnen,
um nach der bevorstehenden Berentung an die Stelle, die seine Arbeit jetzt
einnimmt, eine andere Aufgabe setzen zu können. Somit ist es konsequent,
auch diesen Bereich ins Zentrum zu rücken. An zweiter Stelle kommen die
schwulen Hilfestrukturen, die er in Anspruch nimmt, und erst an dritter Stelle
steht das Vergnügen.
Das war nicht immer so. Am Anfang se iner schwulen Zeit nutzte Dieter Lokale, Saunen und Klappen fast exzessiv; mit dem kulturell-kommunikativen Teil
der Szene wo llte er nichts zu tun haben. Daß sich dies umkehrte, hat offensichtlich seine HIV-Infektion bewirkt. Er besucht nur noch se lten Lokale, Klappen neuerdings gar nicht mehr und fühlt sich insgesamt in der Szene gar nicht
mehr so woh l: "Ich empfind das als 'nen Zweckverband. Ich find eben, daß in
der Szene überhaupt wenig Zusammenhalt ist. Ich habe nach wie vor den Eindruck, was die früheren Jahre war, wo ich mich also gar nicht einmal ausschließen will, daß in der Szene nur imm er das Suchen nach neuen Kontakten,
nach neuen sexue llen Erlebnissen und so ... " Dieser Gay Community stellt er sein
neues Netzwerk, die "positive Community" gegenüber. In dieser fühlt er sich
gut aufgehoben: "Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl: Hoppla! Da ist
jetzt, oder die gehen auf Distanz zu mir. Nee, muß ich, muß ich sagen. Also das
war eigentlich ein tolles Erlebnis. "
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"zur ganzheitl ichen Unterstützung von A lkoholikern ". Als Vorsitzender dieses
Vereins hat er bereits einige Aktivitäten entfaltet. Er stellte eigene Drucke und
Collagen aus, traf mit dem "Sekretär vom Kardinal" zusammen usw.
Das andere Feld, in dem sich Franz Selbstbestätigung holt, ist die schwule
Welt. Wir haben schon gesehen, daß er es li ebt, in Kneipen oder Saunen aufzureizen und abblitzen zu lassen . Es scheint, als gen ieße er es, in der schwu len
Welt nicht "mit den Wölfen heulen" zu müssen, sondern selbst ein Wolf sein zu
können. Situationen, die er durch seine erotische oder charismat ische Ausstrahlung steuern kann, sind für ihn daher am bekömmlichsten. Daß eine Gemeinde
auch so li darisch sein kann, kann sich Franz mit seinem Lebenshintergrund nicht
vorste ll en . Das hindert ihn allerdings nicht daran, die Angebote der schwu len
Gemeinde in Anspruch zu nehmen . Noch während se in er Alkoholtherapie besuchte er regelmäß ig das "Sub" und lieh sich dort Bücher aus. A ls sein positiver
Partner ins Krankenhaus mußte und er mit der Situation nicht mehr zurechtkam, nahm er an Selbsterfahrungswochenenden der AIDS-Hilfe teil. Franz hat
somit in der Community Erfahrungen gemacht, die es ihm ermög lichten, das
Maß von Geben und Nehmen end li ch einma l se lbst zu bestimmen.
Martin (30): "Mir geht es nicht drum, irgendwie da, was weiß ich, vielleicht in
einem schwulen Lokal was zum Aufreißen oder sonst irgendwie ... "
" ... Ich geh, deswegen geh ich in ein Schwulenlokal, weil ich mich da doch ein
bißI freier benehmen kann, da kann ich mal dem A lex den Arm rum legen oder
kann ihm mal kurz ein Bussei (Kuß) geben oder so, wo es in der Öffentlichkeit
nie ging, weil ich mein, provozieren mag ich nicht. "
Martin fühlt sich in der Szene, die er an seinem Wohnort vorfindet, nicht
wohl . Die beiden Lokale sind ihm zu erotisch und zu exzentrisch: " ... weil dann
so komische Typen drin sind ... (die gehen) einma l in der Woche in ein Schwulen loka l und lassen da natürlich die Sau raus. So was nervt mich . Der Nachteil
hier ist, jeder kennt fast j eden, aus dem schwulen Bereich, also zumindest die
Stamm-Schwulen, sagen wir mal so, und dann geht natürlich der Klatsch los,
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ohne das erotische Doppelspiel im Hintergrund. Vor einigen Jahren versuchte
er, in der örtli chen AIDS-H ilfe Fuß zu fassen, was ihm nicht glückte. Dann ver-
suchte er es mit der Schwulengruppe: " Da war ich öfter drin, soweit es halt beruflich gegangen ist, die haben ja ihre Abende unter der Woche, und ich muß
sagen, also die haben dann auch, auf Dauer gesehen, die Leute irgendwie genervt, die drin waren ... ja, von wegen älter bist und Schwule müssen besser dastehen, und was weiß ich alles. Und wenn du sie nachts dann, dann hast du sie
im Park unten getroffen und haben rumgegrölt und alles, 50 quasi das Gegenteil gemacht, und dann ist auch an den ganzen Abenden nie was rausgekommen. Und seitdem bin ich eigentlich nimmer hingegangen. Mei, das einzige,
was damals auch noch drin waren, das waren halt narrisch viel Studenten, und
direkt 50 von hier eigentlich weniger... "
Martin war von dieser Gruppe zweifach befremdet. Zum einen konnte er mit
den eher akademischen Gesprächen, die dort geführt wurden, nichts anfangen.
Zum anderen verstörte ihn die Diskrepanz zwischen dem "abgehobenen Getue" am schwul-ku lturellen Ort und dem enthemmten Verhalten am schwul-sexue llen Ort, dem Park. Martin sche int der nahtlose Rollenwechsel, den die verschiedenen Bereiche der Szene erfordern, schwerzufa llen - auch in die andere
Richtung: "Ja, ich hab schon auch welche kennengelernt im Park, die wo ich
heut, also wenn wir uns heute auf der Straße sehen, grüßen wir uns, unterhal-
ten uns und 50 - wobei ich sagen muß, zu 80 Prozent von denen da drunten, also tagsüber kennen sie dich nicht." Martin fehlen die sozia len "skills" (eng!., =
Fähigkeiten, Fertigkeiten) zum Maskenwechsel, und das dürfte eher ein
schichtspezifisches Problem sein statt das Produkt einer inneren Homophobie.
Denn es gibt auch einen schwu len Ort, an den er gerne geht und an dem er sich
nicht als Außenseiter fühlt: ein einfaches, nicht exzentrisches schwu les Lo ka l
im zwe i Stunden entfernten Nürnberg . Dort spielt offene Erotik eine untergeordnete Rolle, und es herrscht ein gewisser Familiensinn. Martin kann sich dort
" ... to ll unterhalten - das ist eigentlich das einzige Schwulenlokal, das wir regelmäßig besuchen. "
In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Gebrauch des "Wir" auf.
Sein Freund Al ex steht nicht nur im Mittelpunkt seiner Freizeitgestaltung, son-
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.. ,Ha, und mal mit dem und' - interessiert mich nicht, mit wem der oder was
im Bett war. Das ist völlig uninteressant. Und wir gehen auch hier .. . auch nicht
in dieses - am Montag ist immer so'n Schwulenabend - gehen wir auch nicht
hin, wollen wir auch nicht hin. Ich bin auch noch nicht in dieses Informationszentrum, dieses Schwulending da runtergegangen, die Leute bringen mir
nichts, also ich hab da so so, weiß nicht, wenn man die so sprechen hört.. . " Willi zeigt uns hier einen neuen Aspekt seines Verhältnisses zur schwulen Gemeinde. Daß er sich als "armer Übersiedler" auch in der Münchner Szene vielfach benachteiligt und ausgeschlossen empfand, erörterten w ir bereits im Kapitel
"Stigmamanagement" . Dieses Mal ist es Willi, der sich von der Community, die
er am neuen Wohnort vorf indet, abgrenzt. Sie scheint ihm in keinem ihrer Segmente gut genug zu sein - auch über die örtliche Klappe äußert er sich negativ.
Aus der Entfernung ist die Münchner Community zu dem Ort geworden, an
dem er sich wohlfühlt. Er nennt zwei relativ schicke Lokale, die er dort öfters
besucht. In München läßt er sich auch in einer HIV-Schwerpunktpraxis behandeln. Seit er von seiner HIV-Infektion weiß, hat Willi einige Male sexuelle Kontaktstätten aufgesucht, war dann aber innerlich nicht bereit für Sex.
Das Netzwerkbild, das Willi zusammengestellt hat, hat eine auffällige Form.
Die Personen und Einrichtungen sind in Kreuzform gruppiert, so daß sich dem
Beobachter unmittelbar die Phantasie einer Kreuzigung mitteilt. An die Spitze
stellt er Markus, ans untere Ende die drei größten Belastungen: Vater,
Großmutter und Sozialamt. Auf dem Längsbalken ordnet er professionelle Helfer an, mit denen er gute Erfahrungen gemacht hat, am Querbalken links zwei
befreundete Frauen, rechts zwei befreundete schwule Männer. Der Partner ist
der einzige Mensch, von dem Willi Hilfe entgegennehmen kann. Markus hat
Kontakte angebahnt: zu einer Nachbarin, bei der sich Willi im Notfall melden
kann, und zur AIDS-Hilfe, die Willi sozialarbeiterisch betreut. Psychologische
Hilfe oder das Angebot einer Selbsthilfegruppe möchte Willi nicht in Anspruch
nehmen. "Ja klar, es gibt aber Menschen, die öffnen sich einfach, und es gibt
Menschen, die öffnen sich nicht so leicht. Und ich gehör halt dazu. Und ich
hab's halt in den ganzen, wenn ich so zurückdenke, in meiner Vergangenheit,
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seine Probleme, und ich muß ja nicht dazu wirklich mit meinen noch belasten. "
Willis Grunderfahrung war es, unerwünscht, nur geduldet zu sein. Die Furcht,
ausgestoßen zu werden, wenn er Probleme hat, macht es ihm immer noch
schwer, sich mitzuteilen. Was für den Einzelkämpfer vorteilhaft war, erweist
sich in der Liebe als Hypothek. Daß man Leiden durch Teilen halbieren kann,
klingt für Willi wie eine Botschaft aus einer anderen Welt.
Andreas (28): "Ich bin eigentlich recht zufrieden, so wie ich es mir vorgestellt
hab und so. Und wir unternehmen also in unserem Bekanntenkreis immer
was ... "
" ... unter der Woche gehen wir, unter der Woche einmal weg, auf ein Bier, oder
wir gehen ins Z (ein Lokal) runter oder gehen wir ins Kino oder zum Baden aber eigentlich lauter, fast lauter schwule Männer." Die schwule Clique ist neben der neuen Familie - Andreas lebt mit seinem Partner und dessen Schwester
zusammen - der Mittelpunkt seines sozialen Lebens. Damit begab sich Andreas
in Strukturen, die er bereits kannte. Diese neuen Strukturen sind jedoch nicht
rein heterosexuell, sondern (fast) rein schwul. Die Möglichkeit, in ein vertrautes
System mit neuen - attraktiveren - Inhalten umzusteigen, hat ihm den Einstieg
ins schwule Leben wesent lich erleichtert. Das soziale Leben in dieser schwulen
Gemeinschaft ist ausschließlich freizeitorientiert. Sexuelle Kontaktstätten sucht
Andreas nicht mehr auf, seitdem er mit seinem Partner Frank liiert ist. Die beiden gehen höchstens zum Plaudern in den Park, neutralisieren damit diesen
eventuell gefährlichen Ort und setzen sich der sozialen Kontrolle der anderen
Parkbesucher aus, indem sie ihren Paarstatus demonstrieren. Andreas könnte
sich dort vermutlich gar nicht mehr zeigen, ohne nach Frank gefragt zu werden. Auch durch die Clique werden die Paarbeziehungen stabilisiert: "Ich find
das auch ganz toll in dem Bekanntenkreis, daß man da eigentlich viele gemeinsame Interessen haben, ohne daß da irgendwie Zwiespältigkeit reinkommt,
zum Beispiel, daß einer auf den anderen, von Freunden zum Beispiel. Für mich
gehören die immer zusammen ... die Pärchen, die da bei unserem Bekannten-
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ich so bin und hab dann irgendwie meinen Weg gesucht und hab dann meinen
ersten Freund gefunden. Und dann hab ich dann den kennengelernt und den
kennengelernt, und da hat's das Ganze so ergeben, daß ich mal mit dem über
meine Probleme geredet hab ... also in Gruppen zu gehen, in einer Gruppe öffentlich oder offen über das Thema zu sprechen, vielleicht war es das ein bißI,
ein bißI eine Angst darüber. Da sind zehn fremde Leute drinnen, die sind zwar
alle schwul, und da wird dann ein Gespräch, ein offenes Gespräch über das Thema geführt dann. Da glaub, doch irgendwie eine Scheu da drüber .. . "
Es ist nicht nur das Problem, sich vor einer Gruppe zu bekennen, sondern vor
allem auch die Unsicherheit im Hinblick auf die eher akademischen Gesprächsrituale. Diese Art "gebildeter Konversation" hat Andreas zu Hause nicht gelernt.
Andreas konnte nur über den privaten Weg Zugang zum kommunikativen Teil
der Szene erhalten, und zum Glück kann der Park - dort hat er ja auch Frank
kennengelernt - nicht nur ein sexueller, sondern eben auch ein sozialer Ort
sein. Er fühlt sich in seinen jetzigen Lebensstrukturen aufgehoben, ist auch
froh, daß er nicht nach München gegangen ist, um dort in der Anonym ität ganz
neu anzufangen, wie er es einmal erwogen hatte. Wie tragfähig freilich sein
jetziges Netz im Falle ernster Krisen ist - gerade auch im Fall einer Trennung
von Frank -, muß sich erst noch ze igen. Wa s diese Beziehung angeht, gibt es für
Andreas derzeit keine lebbaren Alternativen.
Josef (55): "Bei uns ist's zur Zeit so, in Y (nächstgrößere Stadt) gibt's 'n Treff, da
war ich vor zwei Wochen. Jeden Freitag ist da Teestube, und da war ich zweimal drinnen ... "
" ... Das hab ich nicht gewußt, aber das haben sie im Fernsehen gezeigt. Ja, und
dann bin ich reingefahren, XY-Straße 19. Und aber da, glaub ich, muß man fast
jede Woche hinfahren, daß man da überhaupt Anschluß und Kontakt findet... "
Josef hatte über die heterosexuelle Berichterstattung erfahren, daß es in seiner
näheren Umgebung einen Ort gibt, an dem sich Schwule treffen . Kurzentsch lossen suchte er ihn auf, fühlte sich dort aber isoliert: "Die anderen haben
90
gen" abgelehnt wird, kränkt ihn. Da er nicht erkennt, daß dies auch an seinem
unangemessenen Verhalten liegt, muß er sich als häßlicher, dummer Außenseiter fühlen - der er obendrein in den Augen der anderen auch noch ist.
U
Der Vorsitzende da, mit dem hab ich geredet, der ist ja so arrogant. Mei, ich
hab geschaut, daß ich Anschluß find, daß ich mit einem ins Bett gehen kann
U
oder sonst was. Wie in einem Lokal und dann, weißt schon was ... Josef mächte nur Anschluß, nichts we iter - und definiert gleich, daß er darunter Sex versteht. In ein Schwulenlokal zu gehen, kommt nicht in Frage (er w ill nicht genau
sagen, weshalb). also probiert er einmal eine Schwulengruppe aus, aber das
funktioniert auch nicht. Also bleibt sein Gesichtskreis auf die Klappen der nähe-
U
ren Umgebung beschränkt. u ... bei uns in X, die schönsten Bekanntschaften sind
Zufallsbekanntschaften. Da hab ich vor zwei Jahren einen kennengelernt,
Durchschnitt 17 Jahr, 0 wau! Na ja, und da ist er raus auf die Toilette, reger Verkehr, na ja, und dann bin ich natürlich nach und da einen Stich gemacht. Und
hat seinen Schwanz raus, na ja, und einmal hingelangt, hat er einen Ständer gekriegt, super. Na ja, und dann kurz bin ich rein, gewichst, hast du jetzt Zeit, geh.
Und dann sind wir runter (in die Wohnung) und dann, der hat's wissen mögen.
Aha, und dann, fünf, sechs Mal ist er da gewesen, und der ist aus Z, nicht weit
weg, sechs Kilometer. Und da hat ein Gast Urlaub gemacht drin, aus Wiesbaden, auch stockschwul, ein reicher Mann, und der hat ihn mitgezerrt. Der hat
ihn ein paarmal vernascht drin. Der lebt heute in Wiesbaden, wie die Made im
Speck.
Diese Sequenz macht deutlich, welche Funktion die sexuellen Impulse haben,
die immer wieder im Interview aufflackern. Josef erzählt von einer Kränkung,
die damit zu tun hat, daß er verbal nicht adäquat mit den anderen Schwulen
kommunizieren konnte. Also versuchte er es mit Sex. Das ist er gewohnt und
das beherrscht er auch besser als Reden. In der geschilderten Situation wurde er
aber auch sexuell abgelehnt. Diese doppelte Kränkung muß er kompensieren,
indem er an ein besonders lustvolles Ereignis denkt, sich quasi mit einer pornographischen Erinnerung Befriedigung verschafft. Mit anderen Worten : Josef
wird in Situationen, in denen er mit schwulen Männern kommuniziert, stets
deshalb von sexuellen Impulsen überschwemmt, we il Sex das einzige ist, was er
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Bernhard hat sich das schwule Leben in seine Wohnung geholt. Praktisch je-
eine Anzeige in diesem Wochenblatt, da habe ich welche kennengelernt, ich
habe Leute kennengelernt im Wirtshaus, durch Gespräche, wo ich mir eben,
wenn sie mir irgendwie ihre Sorgen ausdrücken wollten. Da hat mir dann einer
erzählt, daß er verheiratet ist und drei Kinder hat und - das ist bloß ein Beispiel,
es ist aber ein wahres. Und daß seine Frau beim dritten Kind operiert worden
ist, und daß sie da unten nimmer recht viel vertragt, weil der war außerdem
noch ziemlich gut bestückt, der Mann ... "
den Tag bekommt er sexuell motivierten Männerbesuch : "Es ist dann auf der
anderen Seite doch schon so bei allen von hier, die genießen das Abreagieren.
Also entschuldigen S' den rohen Ausdruck, nicht nicht so, wie jetzt wenn i sag, i
geh jetzt zum Scheißen. Also so ist's auch wieder nicht. Die genießen die Sache
dann schon. Und manche sind dabei, die gehen unter dreimal nicht von der Tür
raus und haben dann ihren Vorrat - weil's die Alte nicht macht. Und heterosexuelle Abreagierer, genau wie hier, die gibt's nach meinem Dafürhalten überall. Die haben eben bloß mangelnde Gelegenheit und noch niemand entdeckt,
der ihnen das macht. Ich hab's schon ganz am Anfang von der Unterhaltung
schon gesagt, also hier komme ich mir vor wie im Paradies diesbezüglich . Hier
ist oft mehr, als ich verkraften kann, gell, ich bin jetzt langsam 70 Jahre alt. .. "
Beim letzten Satz fängt Bernhard an zu lachen. Er ist stolz auf sein soziales
Netz, das aus 16 Männern besteht, die entweder homo-, hetero- oder bisexuell
und fast alle verheiratet sind .
Da Bernhard seine Identität und sein Selbstbewußtsein ausschließlich aus der
Sexualität bezieht, ist dieses Netzwerk aber eigentlich kein soziales, sondern
ein sexuelles. Die Männer, die ihn aufsuchen, sind nicht mit ihm befreundet. Sie
begehren ihn, weil er ihnen sexuelle Dienstleistungen anbietet, die sie von
ihren Ehefrauen oder anderweitig nicht bekommen . Zwar unterscheidet Bernhard "Sexkontakte mit Erwiderung und Sexkontakte ohne Erwiderung" . Der
Unterschied scheint aber weniger darin zu liegen, daß die Intimität entweder
gegenseitig oder einseitig ist, sondern vielmehr darin, daß es Männer gibt, denen der schwule Sex an sich Spaß macht, und Männer, die sich bei ihm nur das
Geld für eine (w eibliche) Prostituierte sparen . Die Sozialbezi ehung en m it den
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Robert (36): "Nee, also als rein schwuler Mensch unter schwulen Menschen
spür ich keine Gemeinschaft. Im Gegenteil, die kratzen sich eher die Augen gegenseitig aus ... "
" ... Das find ich alles ganz blöd. Gut, aber es ist natürlich so, ich seh das ganz real eigentlich ... ich glaub, daß also Schwule eher zynisch sind - ich bin's auch,
geb ich zu - und eher bösartiger sind. Warum, das mag vielleicht mit ihren speziellen Problemen zusammenhängen. Aber als eine Gemeinschaft, würd ich eigentlich nicht sagen, na, also ich spür keine Gemeinschaft. Also eher würde
man sich gegenseitig was antun - gut, unter meinen Freunden ist es was anderes. Also wenn ich heut ins Z (ein Lokal) gehe, dann kenne ich x Leute da, ich begrüß die, ich red mit denen, ich lach mit denen, ich tanz auch mit ihnen. Aber
daß ich, daß ich für den nächsten die Hand ins Feuer legen würde, keinesfalls. "
Robert vollzieht hier eine scharfe Trennung zwischen seinen Freunden und
"den Schwulen". Dieses Einteilen in gute, sozial angepaßte Schwule (er und seine Freunde) und schlechte Schwule (die "Allzuschwulen") kennen wir bereits
aus anderen Kapiteln. Was beunruhigt Robert am "Allzuschwulen"? Sehen w ir
uns einmal an, welche Segmente der Szene er in welcher Weise nutzt.
Die einzige Diskothek in der Region besucht er häufig - auch ihren Dark-
room. "Man ist ja nicht aus Pappe", rechtfertigt er dies ungefragt. Die Schwulengruppe in der nächsten größeren Stadt meidet er: " ... war da wohl auch ein
paar Mal da, und aber das wär für mich nichts. Ich könnt das nicht, das wär irgendwie, na ja, das, der Horizont wär mir einfach zu beschränkt auf das Nur-
Schwulsein, ja." An diesen Schwulen irritiert Robert, daß sie nur schwu l sind
und auch noch sto lz darauf - wo er doch soviel Energie dafür einsetzen muß,
um auch im heterosexuellen Umfeld zu überleben. Die immer wiederkehrenden Gespräche über Liebesangelegenheiten, die er ihnen vorwirft, hört er sich
bei se in en heterosexuellen Tennis-Kollegen um so lieber an, wei l es so "erfri schend" und "normal" ist.
Aber da ist noch etwas anderes, was ihn am "Allzuschwulen" irritiert. Es wird
daran sichtbar, wie er von einem sexuellen Segment der Szene spricht: dem
Park . Den besucht er phasen w eise, und zwa r öft er, als ihm lieb ist : " Es gibt bei
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wünsche ist. Deshalb ist er auch ganz froh, daß er nicht in das noch viel maßlo-
sere München gezogen ist: " Ich glaub, wenn ich halt mit 20 oder 22 in die Stadt
gegangen wäre, also ich hätte ein sehr promiskes Leben, glaub ich, gehabt.
Doch ja, ich glaube ja. Weil, ich hab schon gesagt vorher, mit dem Park auch
und so, ich hab dann schon irgendwie diese Angst, daß ich, daß es zuviel wird,
ja, daß man einfach bloß noch wahllos rum treibt, da fickt und dort fickt, und da
hätt ich wahrscheinlich auch ein anderes Leben geführt, ja. Hier mußte ich mich
etwas zurückhalten wegen dieses Umfelds, hat mir vielleicht auch ganz gut getan. "
Robert steckt in dem Dilemma, daß die Maßlosigkeit dieser Triebwünsche
das Bild vom "guten Schwulen", das er so gerne seiner Umwe lt präsentiert, unterminiert. Je w ichtiger dieses Bild w ird, desto unheimlicher werden die Wünsche. Robert hat sich entschieden, welcher Seite er den Vorzug geben wil l: der
"guten". Deshalb ist er der Fixpunkt eines großen schwulen Bekanntenkreises:
"Das hört sich vielleicht blöd an, aber ich bin immer so die Mutter der Nation,
so irgendwie. So bei mir hängt sich immer alles an, die, das Probleme hat und
dann, die labern mich alle voll und ich, manchmal steht es mir dann bis oben,
ich kann's dann nicht mehr hören."
Auch wenn Robert über diese Funktion stöhnt, bezieht er aus ihr eine enorme Bestätigung. Was ihm dabei zugute kommt, sind se ine" femininen" Qualitäten, z.B. Einfühlsamkeit, seine Intelligenz und sein Harmoniebedürfnis:
"Dieser eine Freund hat oft zu mir gesagt: ,Du machst dich zum Deppen für andere', ja. Der hat auch zum Teil recht gehabt. Ich bin einfach ein Mensch, der
dann, ja, ungern Streit hat oder so was hat. Ich seh das auch manchmal, wenn
dann so eine schlechte Stimmung oder so ist, oder irgendwo, so im Kreis mit
manchen zusammen bin, so Parties oder so, dann dann bin ich schon eigentlich
ein Mensch, der dann irgendwie die Stimmung versucht anzuheizen oder der
sich verantwortlich fühlt, daß das so und so sein sollte. Und dann spiel ich halt
manchmal Dinge, die die ich vielleicht selber gar nicht will, sondern weil ich einfach das Gefühl habe, ich müßte das machen. "
Hier ist sie wieder, die Mimikry. Mit der äußeren Harmonie kann Robert mitunter sogar die inneren Stürme besänftigen. Was aber geschehen würde, wenn
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Sondern das war , Hast Lust?', fertig, aus, amen. Und dann ist man da nach hinten gegangen, hat sich miteinander selbstbefriedigt und, und was da alles
mögliche gemacht und ist dann wieder gefahren. Da ist man da halt einfach da
so hin, fertig, ab! Bis ich dann eben den festen Freund da gefunden, also meinen besten Freund jetzt gefunden hab. Den hab ich auch in diesem Park kennengelernt, und der hat mich eigentlich, muß ich sagen, dann eigentlich so
richtig in die Szene, in die (regionale) Schwulenszene eingeführt. Man fährt
nach X (die nächstgrößere Stadt), da ist eine Diskothek, oder man fährt am
Samstag ins Z (eine Diskothek) . Das ist die eine Version - das ist halt die Version, wenn ich halt was brauch, nicht! Wenn ich mal was anderes möcht, wie der
Fachausdruck heißt, Frischfleischschau, da fahr ich entweder nach X oder ins Z.
Es gibt auch noch die andere Szene, wo mich mein bester Freund eingeführt
hat, und das ist die AIDS-Hilfe in X. Wo ich die AIDS-Hilfe, und dann gibt's ja
jetzt seit neuestem das Schwulenzentrum in X. Und dort eigentlich hat mich
auch mein bester Freund eingeführt. Ich hab dort in dem Schwulenzentrum
Leut kennengelernt, und somit hat sich auch mein Horizont, muß ich sagen,
nicht nur auf Klappen und Ähnliches abgespielt, sondern auch jetzt in dieser
Hinsicht ausgebreitet. "
Der Mann, der sein Partner hätte werden können, wäre Clemens nicht verheiratet gewesen, ist heute nicht nur das verläßliche Zentrum seines sozialen
Netzes, ihm verdankt er auch die Erweiterung seines schwulen Spektrums . Clemens hat jetzt Zugang zu allen Ebenen des regionalen schwulen Lebens und
hat damit das Integrationsniveau seiner späten Nürnberger Zeit wieder erreicht.
Sein in der Zwischenzeit erfolgter Eheversuch hatte nicht die gewünschte
Wirkung: Clemens wurde sein Schwulsein nicht los. Er mußte es aber auf den
unverfänglicheren sexuellen Aspekt beschränken . Das große Bedürfnis nach
Kommunikation, das Clemens von jeher gehabt hatte, fiel diesem Doppelleben
zum Opfer. Die Sexualpartner wollten gar nicht soviel mit ihm sprechen wie er
mit ihnen, und sein Kommunikationsbedürfnis wuchs in dem Maße, wie er sich
unglücklicher und isolierter fühlte . Jetzt möchte er gerne anderen beistehen,
die sich in ähnlich en Situation en befind en. Das Forum dafür bietet di e AIDS-Hil -
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Am Schluß des Interviews erzäh lt Clemens, was ihn derzeit am meisten
bekümmert: der "Machtkampf" unter den Mitgliedern der schwu len Gemein-
de. "Es gibt ja, find ich, soviel Ratschereien. Es gibt nix Schlimmeres als wie einen Schwulen, der wo ratscht, der wo Ratschereien macht, der, wenn man in
den Park geht, (sagt): ,Ja! der hat das von dir erzählt, und der hat das von dir
erzählt!' Ja, das ist halt nimmer schön. Man sollt halt einfach da sagen, das ist
halt einfach der Mensch, der wo da ist, und der ist schwul, und wir Schwulen
müssen zusammenrücken ... und einfach, wenn man mit einem mitgeht, der wo
vielleicht nicht so gut aussieht, dann ist es schon wieder so, da schauen sie erst
einmal, ja, und dann ja nicht sagen, daß ich mit ihm was gehabt hab! Weil man
einfach sagt, ja glaub, in der Ehre gekränkt: ,Was, du warst mit dem im Bett?'
,Ja, mit dem war ich im Bett.', Um Gottes Willen! Wie kann man nur mit dem ins
Bett gehen?' Und das hab ich schon, leider Gottes, schon erfahren. Daß einfach
welche, mit denen ich im Bett war, mich am nächsten Tag nicht mehr kennen.
Weil sie einfach die Angst haben, das könnte rausgehen (sich herumsprechen)."
Clemens erfährt hier eine unangenehme Seite der sozialen Kontrolle im
Kleinstadtpark: Er hat unter dem Image der "unattraktiven Schlampe" zu leiden. Er bekämpft dies, und zwar durch Sport. Mit diesem Mittel versucht er,
dem Schönheitsideal näherzukommen wie auch seine "Minderwertigkeitskomplexe" zu verlieren. Das Vergnügen an seinen Parkbesuchen möchte er sich jedenfalls nicht nehmen lassen.
Matthias (27): "Also in der Beziehung haben wir eigentlich schon unseren eigenen Weg gewählt ... "
" .. . Also da haben wir uns eigentlich nicht irgendwie danach gerichtet, ob wir
jetzt, ob jetzt unsere Bekannten da uns vielleicht noch besuchen, da haben wir
uns eigentlich keine Gedanken gemacht. Also, aber ich möcht auf keinen Fall,
daß wir jetzt zu zweit da nur auf uns gestellt sind, und also ich, nur Zweisamkeit, das wäre also nichts für mich und nicht für den Peter, bestimmt auch nicht,
also wir wollen auf jeden Fall Kontakt zu anderen Leuten noch haben. "
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immer so proppenvoll drin, hast überhaupt keinen erkennen können, wei/'s immer so finster war und das, das ist mir nicht angenehm gewesen, daß ich also jemand such in so 'ner Disco. Es gibt auch noch andere Lokale, ja gut. Bloß hab ich
da vielleicht nicht so den Mumm dazu gehabt, daß ich da allein reingegangen
wär. Und wenn man da zu zweit reingeht - das hab ich auch länger oder öfters
mit meinem Schulfreund gemacht, mit dem Hermann. Er hat immer gesagt, du
hast sowieso keine Chancen, wenn du zu zweit reingehst. Ich hab mich einfach
allein nicht getraut, ich weiß auch nicht. Ich hab da einfach so bißI so Schwellenangst .. . bis ich da drinnen war, bin ich mit dem Auto reingefahren, hab mir
einen Parkplatz gesucht, und also da ist's mir so richtig, so richtig flau im Magen gewesen. Na ja, auf jeden Fall hab ich dann wieder Kontaktanzeigen gelesen. "
Matthias, dem es bei seiner Lieblingstante auf dem Bauernhof viel besser gefallen hat als in der Großstadt und dem die Volksmusik viel näher steht als die
Discomusik, konnte oder wo llte seine Fremdheit gegenüber der städtischen
schwulen Gemeinde und ihren sozialen Einrichtungen nicht überwinden.
Schwulengruppen als rein kommunikative oder Klappen und Saunas als rein sexuelle Orte haben noch nie zu se inem Lebensh orizont gehört. Bei der Partnersuche fand er im Kontaktanzeigenmarkt eine Alternative, die se ine Bedürfnisse
vo ll befriedigen konnte. Jetzt, wo er homosoziale Bedürfnisse hat, greift er
wieder darauf zurück. Ansonsten ist die Grundstruktur seines sozialen Netzes
familienbetont. Der Partner, die Eltern, die Lieblingstante, die Tiere, die Hobbies und die Arbeit stehen im Mittelpunkt. Auch die Freizeitaktivitäten, die
über diesen Rahmen hinausgehen, entsprechen dem Bild vom idyllischen Leben
einer Landfamili e: ab und zu ins Theater, ab und zu Kaffeeklatsch mit schw ulen
Freunden - in der Regel ebenfalls Paare.
Netzwerk und Identität
Bei allen Interviewpartnern wird sichtbar, daß die Art, w ie jemand sein Schwulsein definiert und lebt, einen prägenden Einfluß auf d ie Gestaltung seines so-
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de, wie wir auch bei Clemens gesehen haben. Auch Robert und Karl waren ursprünglich auf diesem Weg ,)n die Homosexualität reingekommen". Bei Willi
und Franz bestimmen wiederum die alten Stigmatisierungserfahrungen den
Umgang mit den Einrichtungen schwu len Leben s.
Auch bei den hier nicht vorgeste llten Teilnehmern stimmen die Selbstdefinition und die Beziehung zur schwulen Gemeinde in ähnl icher Weise überein.
Biographische Besonderheiten drücken diesen Prozessen dann ihren eig enen
Stempel auf. Ein 36jähriger Teilnehmer hat es bis zum Vorstand einer mitteIstädtischen AIDS- Hilfe gebracht. In dem Maß, in dem seine politische und kulturelle Id entifikation mit der Homosexualität wuchs, nahmen seine Möglichkeiten, einfach so wie früher incognito auf Klappen zu gehen, ab. Er hofft darauf,
daß auch all e anderen Schwu len im Laufe ihrer Emanzipation so etwas
"Schmudde liges" nicht mehr bräuchten. Ein 28jähriger Interviewpartner, der
sich aus einfachen Verhältnissen zu beachtlichem Wohlstand emporgearbeitet
hat, verachtet die Gay Community. Sie sei nur ein Auffangbecken für schwache
Charaktere, die sich mit "Bussifreundschaften" vor der Weiterentwicklung ihrer
Persönlichkeit drücken wo llten . Als "pure" schwu le Orte akzeptiert er lediglich
einige "Prolkneipen" und das Pornokino.
Ein 53jähriger Teilnehmer lebt seine Hom osexua lität nur in Phantasien. Ab
und zu setzt er als Irr licht eine Kontaktanzeige in eine Zeitung, ohne jemals Zuschriften zu beantworten. Er hoffte, über den Umweg des Interviews zu einer
psychotherapeutischen Begleitung zu gelangen, auf daß ihm vielle icht doch
noch der Einstieg in das schwule Leben glücke . Der Teilnehmer ist wegen einer
chronischen körperlichen Erkrankung und der deshalb erfolgten Stigmatisierung derart beschädigt und in se in em Lebenshorizont so sehr restr ingiert, daß
der Interviewer starke Bedenken hatte, ob er ihm helfen so llte, den Zugang zu
dieser Szene zu ebnen. Es sch ien, als sei er in sei ner Phantasiewelt (einmal mit
dem angebeteten Arbeitsko ll egen schlafen und dann sterben) besser aufgehoben als in der realen schwulen Welt.
Ein 65jäh riger Interviewpartner, der nach Bernhard älteste im Sampie, war
unter der Bedrohung des § 175 aufgewachsen . Fast 40jährig, geriet er bei seinem ersten Ausf lug in s schwule Leben g leich in ein Stricherlokal- und ist in die-
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ben keine Konsequenzen hat, doch das wäre eine eigene Studie wert. Bleiben
w ir bei den elf uns nun schon bekannten Männern. Eine solche unbewußte
oder auch bewußte Verknüpfung von Community und AIDS äußerte zunächst
keiner von ihnen. Das nächste Kapitel wi rd zeigen, was sie zum Thema AIDS zu
sagen haben.
Die Netzwerke von Paaren
Im Sampie befinden sich drei Paare. Bei jedem Paar decken sich die sozia len
Netze der Partner oder sind sogar identisch. Andreas und Martin bewegen sich
mit ihren Partnern Frank und Alex vorwiegend in privaten schwulen Zusammenhängen, pflegen so etwas wie eine "freizeitorientierte, paarzentrierte
schwule Großfamilie". Eine fast schockierende Parallele mit seinem Partner Willi ze igt Markus (28). Obwohl die Interviews mit ihm und Willi zeitgleich in versch iedenen Räumen stattfanden, stellte auch Markus sein Netzwerk in Kreuzform dar. A lle anderen Teilnehmer hingegen wäh lten Kreise oder Linien oder
entwarfen amorphe Haufen . Es scheint fast, als seien beide eine unbewußte
Partnerschaft bis hin zum Tod durch Kreuzigung eingega ng en. Für Willi wäre
der körperliche Tod die letzte Konsequenz der vielen sozialen und see lischen
Tode, die er - lange vor AIDS - bereits erlitten hat. Was aber hat seinen Freund
Markus - einen bis dato beruflich integrierten, gesunden Mann mit offensichtlich stabiler schwuler Identität und vielen schwu len Freunden - dazu gebracht,
sich in einen "Ausgestoßenen" zu ver lieben, ihn zu sich nach Hause zu holen
und nach und nach alle Sicherheit unter den Füßen zu ver lieren? Markus wurde
ebenfalls positiv getestet, gab seinen Arbeitsplatz auf und sucht nun, von Depressionen geplagt, nach einem neuen Leben ssinn. Die schwulen Freunde sind
aus seinem Netzwerk herausgefallen: er paßte nicht mehr in die vergnügte
Großfamilie. Am Querbalken von Markus' Kreuz hängt rechts Willi, links seine
Mutter. Sie war es, die ihm prophezeit hatte, er werde sich "schon noch AIDS
holen", als Markus ihr von se inem Schwulsein erzählte.
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in seiner Liebesbeziehung der Gebende: Er hat seinem Mann ein neues Zuhause gegeben, er darf ihn see lisch unterstützen und ist ihm sexue ll treu ergeben .
Es gibt auch etwas, was Martin von seinem Freund Alex nehmen würde, wenn
es schon kein Kind sein kann: AIDS. Im nächsten Kapite l w ird dieser Aspekt
näher betrachtet.
Josef, Franz und Willi haben von Kindesbeinen an gelernt, daß sie hergeben
müssen, ohne gefragt zu werden. Franz ist der einzige von diesen dreien, dem
es gelungen ist, sich mit seinem Eintritt in die Community auch das zu holen,
was er will.
Wettbewerb statt Solidarität
In der Community herrschen andere Gesetze und Prioritäten als "draußen".
Franz hat gemerkt, daß er als schön gilt, und er nutzt es aus. Clemens mußte
spüren, daß er für häßl ich gehalten wird, und er hat damit erheb li ch zu kämpfen. Er beklagt den Konkurrenzkampf, den sexue llen Wettbewerb - und steht
selbst mittendrin. Auch Robert bek lagt ihn, wenn auch wen iger direkt. Aber
wesha lb sollte man einander die Augen auskratzen, wenn nicht aus Leidenschaft? An dieser Stelle werden d ie Proje kt ionsprozesse, die der Klage um die
mangelnde Solidarität in der Community zugrundeliegen können, ziem li ch
deutli ch. Franz, der bek lagt, daß man in Gruppen immer ausgenutzt werde,
nutzt selektiv die Angebote des "Sub", der A IDS-Hilfe usw., zieht aber sein eigenes Engagement rasch zurück, wenn er merkt, daß es nicht nach se inen Vorstellungen funktioniert. Clemens, der darunter leidet, daß sich se ine Sexpartner
nicht zu ihm bekennen, ist w iederum unsolidarisch der Community gegenüber,
we il er sich nicht zu ihr bekennt. Und Robert ist unso lidarisch gegenüber seinen
eigenen Triebante il en, d ie er immer wieder zu verstecken oder zu unterdrücken versucht. Dieter schließ lich ist die Sexzentriertheit der Szene erst in
dem Moment aufgefallen, als er selbst Safer Sex praktiz ieren mußte und nicht
mehr ungehemmt all es mitmachen konnte. Er hat eine neue Heimat gefunden:
die positive Community.
100
einen Richtung stattfindet.
Die kulturelle Szene
Zwei Institutionen der großstädtischen ku lturellen Schwulenszene tauchen in
den Interviews immer wieder auf: das schwule Informationszentrum "Sub" in
München und der schwule Arzt. Das "Sub" scheint für die hier interviewten
Männer den Vorteil zu haben, daß man hier nicht an fremdartig anmutenden
akademischen Gesprächen teilnehmen muß wie vielleicht in einer Schwulengruppe. Man weiß, es gibt dort Infoblätter über kulturelle und kommerzielle
Veranstaltungen, und man kann auch mal nachfragen, ob es einen schwulen
Handwerker gibt. Wie wir bei Karl sehen können, ist es besonders wichtig, daß
überall bekannt ist, daß es in einem Zentrum wie dem "Sub" nicht nur Informationen über d ie politischen und kulturellen, sondern vor allem auch die kommerziellen, freizeitbezogenen und sexuellen Aktivitäten schwuler Männer in
der Stadt gibt (Franz hat z.B. so von einem schwulen Tanzverein erfahren, in
dem er se ither eifrig mittanzt).
Emanzipationsideologie allein bringt sicher niemanden über die Schwelle.
Das "Sub" gilt auch desha lb als eine wichtige Einrichtung, weil dort eine kompetente Gesundhe itsversorgung, insbesondere in Sachen HIV und AIDS vermittelt wird. Karl, Dieter und Wi lli betonen, daß sie ihre neuen schwulen Ärzte als
vertrauenswürdiger und kompetenter erleben als ihre früheren heterosexuellen Ärzte . Dies ist gerade im Hinblick auf Präventionsmöglichkeiten ein nicht zu
unterschätzendes Kapita l und bestätigt die Untersuchung von Herbert
Gschwind (1991), wonach die Mehrheit der schwulen Männer, die bei heterosexuellen Ärzten in Behandlung sind, mit diesen nicht über AIDS sprechen können. Mit schwulen Ärzten hingegen sprechen schwule Patienten in der Regel
sehr wohl über AIDS. Ein solchermaßen kompetenter Arzt ist sogar, wie bei Willi zu sehen ist, eine weite Anreise wert.
Auf dem Land sind die ku ltu rellen Elemente der Gay Community dagegen
sehr spärlich. Das Angebot beschränkt sich in der Regel auf Gesprächskreise in
101
Wir w issen auch nicht, wie gut sich Clemens in seiner Gruppe wird halten kön nen. Wenn es darum geht, se lbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, gre ifen all e unsere län d lichen Studienteilnehmer auf private Kontakte zurück. Die Idee, bei einem "Rosa Telefon" anzurufen, hat, w ie w ir be i Andreas sehen, etwas Beängstigendes: Da muß man sich geb ildet ausdrücken und viell eicht gar noch vor einer Gruppe sprechen .
Schwule Freizeit
Das schwule Freize itangebot unterscheidet sich dagegen in Stadt und Land
eher quantitativ, sowoh l von der Zahl der Ei nrichtungen als auch von der Zahl
der Gäste her. Auf dem Land ist es kaum zu verme id en, in Loka len Bekannte zu
treffen. Dies wird zum Tei l als angenehm empfund en w ie z.B . von A nd reas,
zum Teil als unangenehm w ie von Martin. Di e meisten sind ambiva lent, wie etwa Clem ens und Robert. Außerde m scheinen sich die Zugangsmöglichkeiten zu
unterscheiden . Während Willi und Dieter als Großstädter von sich aus schwule
Lokale aufsuchten, brauchten all e Landbewohner einen "gatekeeper", einen
Türöffner.
Sexuelle Orte
Einen Tü röffner lernt m an auf der sexuell en Ebene kennen . Kar l und Robert
begegneten ihm zufälli g in ihrer "normalen" sozia len Lebenswe lt; Andreas,
Ma rtin, Clemens trafen ihn, ebenfal ls zufällig, im Park. Di es unterstreicht die
Doppelfunktion des Parks in länd lichen Regionen gerade für Männer aus der
Untersch icht. Der Park ist nicht nur ein sexueller, sond ern auch ein soz ialkom munikativer Ort. And reas und Frank demonstrieren das, in dem sie o hn e direkte sexuell e Amb iti onen öfter mal zu m Plaudern hingehen. Die Mitte lschi chtsschwulen, d ie dort vie ll eicht überhaupt nicht reden wo ll en, haben als "StammSchwule", w ie Martin sie bezeichnet (wir würden sie eher d ie "Kern -Schwu-
102
4.6 Safer Sex
Wie nehmen unsere Gesprächspartner die Bedrohung durch HIV und A IDS
wahr, wie gehen sie mit ihr um? Wie ist ihr Wissen und ihr Verhalten bezüglich
Safer Sex? Wie hoch ist der Grad der Betroffenheit im eigenen Leben, im Freundes- und Bekanntenkreis?
Karl (51): "Und dann ist das mit dem AIDS dann daher(gekommen), größeren
Dingsbums, dann ist man vorsichtiger geworden, gab es Sex auch nicht mehr
so ... "
Karl bringt das Thema AIDS ungefragt bereits im zwe iten Satz des Interviews
" ... Denn sonst hat man, na ja gut, wenn man einen geblasen hat, hat man geschluckt und alles. Oder wenn man gefickt hat, hat man reingespritzt, hat man
nicht lang ... Jetzt ist es natürlich so: muß ich aufpassen. Ficken ist auch schon
nimmer so - man hätte es gern, aber außerdem mit Kondom, und da bin ich
nicht so. Ja, man tut halt blasen oder man tut sich da wichsen, daß man sich gegenseitig mal anspritzt und so, das was auch geil macht und so. Ja, und küßt
sich und so. Ja, das machen wir jetzt eigentlich noch, und den eigentlichen Sex,
wo man halt gern hätt - das mit dem Bumsen, das ist ins Hintertreffen gekommen. Außerdem wenn ich weiß, einen, der wo wirklich, erstens wenn er ganz
gesund ist und laufend sich besuchen läßt und kaum Partner wechselt ... ich
möcht allerdings schon einen Partner wieder, einen festen. Sagen wir sexuell.
wo man sagt, dem fehlt nichts, und ich hoff es auch nicht. Ich möcht es allerdings noch über mich ergehen lassen, den Test. "
zur Sprache. Zunächst hatte er geschildert, wie er "in die Homosexua lität reingekommen" war: "Das war damals halt noch frei, man hat (machen können),
was man wollen hat, es hat keine Krankheit nicht gegeben. " Diese fast unaus-
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überlegen und einen machen lassen. Es ist eigentlich, man tut dem anderen
weil man ja nicht so intensiv auf den Partner zugeht." Kondome sind für Karl
also nicht nur mit einem Verlust von sexueller Freiheit, sondern auch einem Verlust von sexue ller Potenz verbunden.
Die Präventionsbotschaften der Community ("alles was geil ist, Küssen nach
Herzenslust"), deren Echo Karl leicht verfremdet wiedergibt, scheinen ihn zwar
erreicht zu haben; denn er kennt die Infektionsrisiken genau und beachtet sie
auch - an den Orten der Community. Für das private Schlafzimmer hingegen
scheinen die Safer-Sex-Regeln zumindest eine sehr diffuse Relevanz zu haben.
Es wird im Interview nicht klar, ob Karl auch mit den Sexualpartnern Safer Sex
praktiziert, die er als unbedenklich einstuft und mit nach Hause nimmt. Bewußt ist ihm nur, daß er vor zwö lf bis 15 Jahren ein Infektionsris iko hatte, also
noch vor der öffentlichen Diskussion um A IDS und vor seiner Partnerschaft. Damals hatte er mit Männern, die inzwischen an AIDS verstorben sind, ungeschützten Sex gehabt. Es sind also Zweife l angebracht, ob Karl die Präventionsbotschaften w irklich in dem Sinne verinner lich en konnte, daß es jemandem
auch dann möglich ist, seine sexue lle Souveränität zu bewahren und lustvo lle
Sexualität zu leben, wenn er se lbst positiv ist oder Sex mit einem positiven Partner hat.
Für Karl ist Sexualität im Zeichen von AIDS keine Angelegenheit, die er souverän bewältigen könnte. In seiner Vorstellung schließen sich Positivsein und
Sex gegenseitig aus. Deshalb hätte er, würde er positiv getestet, auch sehr viel
zu verlieren: " ... muß ich mich entweder ändern oder das ganze Leben jetzt umstellen, und den Sex da, na ja, mußt halt fast auch ganz einstellen. " Diese Situation blockiert Karl. Einerseits kann ihn das Testergebnis seine Sexualität als vitalsten Tei l seiner Homosexualität kosten, andererseits ist der Test auch der einzig vorstellbare Weg zu neuer sexueller Erfüllung. Karl hat sich schließlich entsch lossen, den Antikörpertest "über sich ergehen (zu) lassen", so wie ein
Gerichtsurteil oder auch die Verkupplungsbemühungen in seiner Jugend . Der
schwule Arzt, den er vor einigen Monaten gefunden hat, war es, der Karl aus
se iner Lähmung heraushelfen konnte und eine verkraftbare Auseinandersetzung mit dem Thema initiierte: "Mir hat das der Dr. X so empfohlen, man sollte
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Dank, ja, zu so 'ner Selbstverständlichkeit geworden, das heißt, da denk ich gar
nicht drüber nach, sondern das geht ganz automatisch. Also ich könnte überhaupt keine sexuellen, keinen sexuellen Kontakt ohne ohne Kondom oder so
machen." Dieter verneint ganz entschieden die beiden Fragen des Interviewers,
ob er in den letzten Jahren jemals den Wunsch verspürt habe, auf Safer Sex zu
verzichten, und ob er einen riskanten Sexualkontakt gehabt habe .
Seine Ansteckung mit HIV fällt in die Zeit, als Safer Sex noch unbekannt war.
Er erfuhr 1985 von seiner HIV-Infektion, nachdem seine damalige Hautärztin
ohne sein Wissen den Antikörpertest durchgeführt hatte. Vor AIDS hatte Dieter
ausgiebig die sexuellen Potentiale Münchens genutzt, vor allem in Lokalen und
Saunen, und war bestens mit den dort üblichen erotischen Ritualen vertraut.
Seit HIV und AIDS ist ihm Safer Sex "in Fleisch und Blut übergegangen". Er
konnte das Kondom von Anfang an ohne größere Probleme in seine Sexualität
integrieren und an entsprechender Stelle mit einigen lapidaren Worten
("Komm, wir nehmen noch was dazu") für geschützten Sex sorgen .
Diese technische Sicherheit reicht Dieter jedoch nicht aus: "Wenn ich mit jemandem Fremdem also Sex habe, doch! hab ich immer, hab ich immer gesagt ...
ich praktiziere keinen Sex, wo also jetzt irgendwie was passieren könnte, egal
in welche Richtung. Und das sage ich aber auch dann, nich. Ich sag dann also
auch fast wortwörtlich: ,Du brauchst keine Angst zu haben. Du kannst dich
nicht, nicht infizieren.' Also ich versuche da vorher drüber zu sprechen. Und ich
muß auch, ich muß auch sagen, ich selber habe die letzten Jahre eigentlich
nicht erlebt, daß irgendwie einer gesagt hat, ne, also mit Kondom will er nicht
oder so." Dieter hat noch in keinem Fall erlebt, daß jemand keinen Sex mehr
mit ihm wollte, nachdem er ihm seine HIV-Infektion mitgeteilt hatte. Einen
Mann mußte er sogar davon abhalten, sein Sperma zu schlucken. Als sich Dieter
vor einigen Monaten in einen Mann verliebte, der mit ihm zwar sporadisch sexuell verkehrte, eine Beziehung aber ausschloß, nahm Dieter zuerst an, seine
Infektion stünde der Liebe im Wege. Als sich der "Traummann" dann aber in einen anderen positiven Mann verliebte, erkannte Dieter, daß es tatsächlich
"nur" an seiner Person gelegen hatte.
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gestoppt. da hab ich dann gefragt: ,Hej, bist du positiv, oder was ist los? Ich
möcht. daß das vorher geklärt ist!'"
Franz' Sicherheitsbedürfnis beim Sex ist relativ groß. Er habe immer .. viel zu
viel Angst" gehabt, sich zu infizieren: .. (Das) bedeutet, daß ich mich rechtzeitig informiert hab, wie ich mich infizieren kann, und eben dann, wie so schon
schu lfachmännisch, gewisse Sachen halt einfach gelassen hab. Von Anfang
an." Die Fachinformation besorgte sich Franz im "Sub", dem schwu len Kommunikationszentrum in München, das er vom Therapieort aus besuchen konnte. Aber er sichert sich auch noch in anderer Hinsicht ab. Im Krankenhaus war
er mehr oder wen iger zwangswe ise alle Vierteljahre (negativ) getestet worden. Er setzt diesen Testrhythmus auch "draußen" fort, ..... weil ich's zu meiner
Beruhigung oder Beunruhigung irgendwie brauch. Ich hab eine ganz komische Lebenseinstellung wahrscheinlich. Also das Leben ist nicht mein Letztes nicht daß ich wiedergeboren werde ... " Das Auswe ichen in eher diffuse esoterische Theorien kann seine Motivation für diese regelmäßigen Ant ikörpertests
nicht hinreichend erklären. Zurück bleibt das Gefühl des Interviewers, daß irgendetwas im Zusammenhang mit Franz' Sexualität nicht zur Sprache kommen so llte.
Martin (30): "Kannst mich für blöd halten, ist mir egal, ich mein, ich mein jetzt,
wenn er (der Partner) es hätt, dann wär es mir ehrlich gesagt wurscht, wenn
ich es auch hätt ... "
.... . Weil ich kann mir ehrlich gesagt - das hört sich jetzt blöd und kindlich,
kitschig an oder was weiß ich -, aber ohne ihn irgendwie so weiterzuleben,
glaub ich, (kann ich mir nicht vorste llen). Weil er hat mir schon auch recht verdammt viel geholfen damals, und wir halten zusammen, und es wird eigentlich
von Tag zu Ta g oder von Jahr zu Jahr sch limm er..... Martin offenbart uns an dieser Stelle, w ie weit seine romantischen Gefühle für seinen Freund Alex gehen:
er möchte ohne ihn gar nicht leben. Die Vorstellung eines geme insamen Todes
an A IDS wird so zur Metapher einer symbiotischen Beziehungsstruktur.
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trollieren wir nicht und gar nichts. Ich weiß nicht, was der Alex macht, eben
wenn er allein ist - grad durch das, daß er eben beruflich soviel unterwegs ist,
also in der Hinsicht muß ich ihm voll vertrauen. Und ehrlich gesagt, wenn ich
ihm nicht trauen kann, dann muß ich es bleiben lassen. Aber ich find, man muß
mit AIDS immer noch ... leben damit. Zum einen ist Angst da, zum anderen, ich
könnt. .. " Der Satz bricht an dieser Stelle ab, Martin kann seine diffuse Angst
nicht so recht in Worte fassen. Diese Angst befällt ihn häufiger: "Wenn du wieder so Berichte liest oder Film mal wieder im Fernsehen oder so, Reportagen
und so, da kommt es mir schon wieder, Mensch, sollst eigentlich mal einen Test
machen. Wobei aber ehrlich gesagt, na ja, ich seh direkt einen Grund, seh ich
nicht, aber eine innerliche Angst oder so ist ja immer da. "
Martin möchte Alex vertra uen können, aber so ganz genau weiß er dann
doch nicht, was Alex macht, wenn er nicht da ist. Einmal ist Alex ja schon fremdgegangen. Das ungute Gefühl, das den Kontollverlust begleitet, kann Martin
aber nicht in die Beziehung einbringen, weil es mit dem symbiotischen Gebot
des absoluten Vertrauens kollidiert. Die Angst, Alex durch das Äußern von
Mißtrauen - also durch das Ziehen einer Grenze - zu verlieren, ist für ihn offenbar schwerer zu ertragen als die diffusen Ängste, die ihn in seiner jetzigen Situation hin und wieder heimsuchen.
Willi (29): "Ja, ich mach mir schon Gedanken drüber, und ich glaub auch, man
weiß ja - das ist ganz klar, daß man, daß durch die Erkrankung, daß das die Sexualität, das Verhalten ganz anders geändert hat, das ist ja ganz klar ... "
" ... Ich meine, das, was ich vorher getan hab, das tu ich jetzt nicht mehr, ja. Ich
meine, so jetzt mit diesem Analverkehr oder was, aber das würd ich halt nie mit
mir machen lassen ... " Seitdem Willi weiß , daß er mit HIV infiziert und an AIDS
erkrankt ist, hat er keinen Analverkehr mehr gehabt, weder geschützt noch ungeschützt, weder mit seinem Partner noch mit jemand anderem. Die Art, wie
Willi von "diesem Analverkehr" spricht, den er nicht mehr mit sich "machen
läßt", läßt darauf schließen, daß er im Zusammenhang mit passivem Analver-
107
oder Samen, also das ist ja auch, wenn der andere Wunde hat und man kommt
da rein, das reicht ja dann schon aus. "
Diese sehr vorsichtige Strategie, jeglichen Austausch von Körperflüssigkeiten
zu vermeiden, will Willi immer konsequent verfolgt haben. Dementsprechend
ist seine Infektion für ihn ein unerklärliches Unheil : "Hab ich mir auch schon Gedanken drüber gemacht, weil das ist alles ein bißI kurios. Also es ist, und zwar
muß ich da zurückgehen. Mein Stationsarzt hier in X hat gesagt, es könnte acht
bis zehn Jahre zurückliegen. Das ist einfach das Problem. Ich sag mir, '85, gut,
war ich hier. Ich weiß nicht, was die mir gespritzt hatten im Strafvollzug, ich
war auch schon meine Vermutung, daß ich gesagt hab, das gibt's doch gar
nicht, du hast doch '85 überhaupt keine sexuellen Kontakte gehabt, als du im
März gekommen bist. Du hast ja noch nicht mal richtig alles gekannt, du hast ja
nicht mal dieses Dingsda mitgemacht. "
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. AIDS wird von Willi als ein weiteres
ungerechtes Leid gedeutet, das ihm sein Schicksal angetan hat. Stellen wir uns
Willi einmal vor, wie er kaum 19jährig, aufgewachsen im muffigen Sozialismus,
dort bereits ein Ausgestoßener, ohne sexuelle Erfahrungen, direkt aus dem Gefängnis in das große und prächtige München kam, bei einer Großmutter lebte,
die ihn leidlich duldete, ohne Freunde. Das einzige, womit er bei den Reichen
und Schicken mithalten konnte, war sein Körper. Es fällt schwer zu glauben,
daß Willi seine körperliche Integrität von Anfang an so teuer verkaufen konnte,
wie es nötig gewesen wäre. Wie wollte er einem Mann von Welt widersprechen, der ihn fürs Bett auserkoren hatte und feierlich schwor, "ganz gesund"
zu sein 7 Doch halten wir unsere Phantasie ein wenig zurück - vielleicht war alles auch ganz anders.
Einen kleinen Beleg, daß der Sex nicht immer ganz einfach zu kontrollieren
ist, gibt uns Willi selbst: "Dann kommt man in die Situation, wo man einen toll
findet, wahnsinnig toll, weil der Mensch einem sympathisch ist, und man ist
durch den Alkohol irgendwo, hat man was getrunken, ja, kann sich dann nicht
mehr kontrollieren, geht man mit zu ihm und zieht sich aus und der sieht das ... "
Zwar spricht er hier davon, was wäre, wenn er z.B. ein Kaposi-Sarkom entw ickel n w ürde, aber offe nbar hat er im Zusa m menh ang mit A lkohol scho n
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nicht in den Sinn, daß er sich selbst in irgendeiner Situation schützen könnte
oder müßte, es geht ihm primär darum, die anderen zu schützen. Sich selbst
schützt er so allenfalls vor Ablehnung und vor Schuldgefühlen.
Andreas (28): "Bin eigentlich von dem daher eigentlich schon vorsichtig gewesen. Sagen wir mal so: Weil ich mir damals schon Gedanken drüber gemacht,
oder ich hab mich damals auch schon damit befaßt, also wie wird das übertragen und so ... "
" ... Zumindest die die, die Ergebnisse, was man damals gehabt hat und so, das
darfst du machen und das nicht und so, und das hab ich dann schon gelesen.
Und dann, ja eben, immer hältst du es nicht natürlich, ist ganz klar. Und am Anfang denkst du dir, ja der wird es bestimmt nicht haben, so ungefähr. Aber ich
bin jetzt meinem Freund schon ewig treu, eigentlich schon an die - ja, wie lan-
ge kennen wir uns schon - dreieinviertel Jahre, und es war auch dazwischen
nichts, wo ich sagen kann, oder davon kannst du AIDS kriegen und so. " Andreas
nimmt an, HIV-negativ zu sein . Zum einen, weil er vor vier bis fünf Jahren Blut
spendete, ohne eine entsprechende Rückmeldung zu erhalten, zum anderen,
weil er seit über drei Jahren in einer monogamen Partnerschaft lebt. Sein Partner Frank hatte sich vor Beginn der Beziehung testen lassen, das Ergebnis war
negativ; seither hatte er einmal geschützten Sex außerhalb der Beziehung.
Ein weiterer Grund für Andreas' Annahme ist, daß er sich gesund fühlt: "Also ich nehm zumindest an, wenn wenn ich mich irgendwo angesteckt hätte vor
vier oder fünf Jahren oder was, dann hätt ich irgendwelche Anzeichen schon,
nehm ich mal an . Es war zwar, am Anfang hat es geheißen, wenn du nach einem Jahr noch nichts kennst oder was, dann hast du nichts oder so ungefähr.
Und dann haben 's gesagt, na ja, das kann praktisch zwei Jahre dauern, bis praktisch der Virus in Aktion tritt, und dann kann es drei Jahre dauern so ungefähr,
aber ich fühl mich schon ziemlich sicher, daß ich es nicht hab." Konsequenterwe ise haben Andreas und Frank ungeschützten Sex miteinander, sie sprechen
aber nicht über das Thema .
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Die Beziehung mit Frank bietet Andreas einen Rahmen, in dem er sich über
A IDS keine Sorgen mehr zu machen braucht. Beziehung ersche int, ohne daß
man darüber reden muß, als d ie sichere Form der Homosexualität. Diese Ein-
schätzung tei lt auch der schwu le Freundeskre is: " In unserem Freundeskreis
oder was ist eigentlich über AIDS bis jetzt wenig gesprochen worden, sagen
wir mal so. Ist auch, wahrschein lich liegt das daran, daß eigentlich ja
hauptsächlich Pärchen sind, also die sich schon über längeren Zeitraum kennen
eigentlich. Und ich find dann, das ist eigentlich das, wenn man jemanden ken nenlernt und ist man paar Wochen und ein paar Monate beieinander und 50
ungefähr, dann ist das Thema AIDS eigentlich nicht mehr aktuell oder was.
Man vertraut dem, daß er kein AIDS hat und man füh lt sich dann irgendwie sicher auch."
Je länger man also m it dem Partner zusammen ist, desto wen iger kann oder
wi ll man in ihm ein Risiko sehen; denn diese Form der Beziehung ver langt Vertrauen. Dieses Vertrauen ist allerd ings mit einem Schweigegebot verbunden
(so lange w ir nicht über die Gefahr sprechen, können w ir sie drauße n ha lten) .
Vor solchen Tabus sind auch die größeren sozia len Netzwerke nicht gefe it . Von
Robert wissen wir, daß Joach im, ein anderes Mitglied dieses Freundeskreises,
positiv ist. Er hat sich entsch ieden, d ies seinen Freunden nicht mitzutei len - aus
Angst vor ihren Reaktionen.
Josef (55): "Na ja, sakrament! Das könnte dir auch passieren! Kannst auch Pech
haben, nicht. Na ja freilich, wenn fünf kämen, tät ich jeden blasen und
schlucken, dann dann wär's wieder vergessen."
Josefs Haltung zum Thema AIDS ist eindeutig: Er kann darauf keine Rücks icht
nehmen - wei l er sowieso keinen Einfluß hat . Entweder er hat Glück oder Pech :
" ... dann tät ich Feierabend machen." An einem Se lbstmord im Fal le einer Erkrankung läßt er ke inen Zweifel. Vor fünf Jahren hatte er einen Ant ikörpertest
mit negativem Ergebnis hinter sich gebracht, er möchte sich aber n icht noch
einma l testen lassen. Warum, kann Josef nicht sag en.
110
te Teil seiner Sexualpartner aus Familienvätern bestehen, die ansonsten, was
ihre Sexua lität angeht, zurückgezogen leben . AIDS sche int in diesem Kreis
überhaupt kein Thema zu sein. Jedenfalls hat sich keiner dieser Männer - etwa
mit der Begründung, er wol le sich vor A IDS schützen - von sexuellen Kontakten
mit Josef zurückgezogen: "Nein, die wo ich kenn, mit denen ich so zusammen
bin, (die kommen alle immer noch) und heidewitschka, wenn's gut geht, ist's
recht, geht's schief, na ja. "
Bernh ard (70): "Ich bin hier, seit ich hier wohne, möchte ich sagen - kitschiges
Wort - restlos happy. Also, so dick eingegangen wie hier ist's mir praktisch
noch nie ... "
" ... Sicher, ich mein, und vor allen Dingen: Ich bin mir sicher, daß - weil Sie untersuchen das ja auch im Blick von AIDS - na, daß diese Burschen, die verheirateten, da bin ich mir meiner Sache sicher, daß die da nicht irgendwie was AIDS-
iges heimbringen." Bernhard hat in se inen Augen eine optimale Lebensform
gefunden. Durch seine Kontakte mit sexuell bedürftigen szenefernen Männern
kommt er sexuel l auf se ine Kosten, ohne sich vor HIV und A IDS fürchten zu
müssen. Er ist sich sicher, daß zumindest die Ehemänner unter seinen Sexpartnern keine anderweitigen sexuellen Kontakte haben. Bei den zwei oder drei
se iner 16 Männer, die er für eindeutig schwu l hält (weil sie nicht verheiratet
sind), besteht er bei passivem Analverkehr auf Benutzung eines Kondoms.
Bedingung für eine sexuelle Beziehung mit Bernhard ist Szeneferne. Wenn
er erfährt, daß ein Mann auch in Schwu lenl okalen verkehrt, verz ichtet er auf
den Kontakt. AIDS ist damit in Bernhards Vorste llung mit "schwul" und mit
"Szene" verbunden - und von beidem hält er sich fern. Deswegen dürfte seine
Behinderung nicht der ein zige Grund dafür sein, daß er nicht mehr in Schwulenlokalen verkehrt: er meidet sie auch als AIDS-besetzte Räume. Dennoch
kann dieses verme intlich hermetische Sicherhe itssystem Bernhard nicht restlos
beruhigen. Er war bereits 1991 an läßl ich einer Operation HIV-negativ getestet
worden. Zweieinhalb Jahre später li eß er den Test (mit negativem Befund) wie-
111
chen, ja in vielen Fällen ist es tatsächlich so, daß immer irgendwo die Angst mitschwingt. Man, wenn man, wenn man, wie du schon sagst, so kurze Partner,
bloß so, wenn man die nicht kennt, dann redet man ja auch nicht unbedingt
gleich mal über AIDS und was weiß ich, erst mal eine Riesendiskussion, ja. Dann
läuft also das meistens ziemlich schnell eigentlich, das Ganze. Und dann, dann,
von daher gesehen kommt das Thema gar nicht zur Sprache, und da aber sitzt
es halt dann da drin dafür. " Das Erleben der Sexualität ist eingeschränkt - die
Sexualität selber nicht. Aber das Erleben der Sexualität ist für mich eingeschränkt. Durch diese Gedanken, die im Kopf sitzen, die einfach immer da sind,
die also mit Alkohol ein bißehen abgeschwächt werden zwar, aber trotzdem im
entscheidenden Moment da sind. Das ist abgeschwächt, aber die Sexualität seiber nicht, und auch nicht die Promisk ... , das promiske Verhalten der Leute ist al-
so nicht abgeschwächt, könnt ich nicht sagen." Scheinbar unmotiviert wechselt
Robert an dieser Stelle das Thema. Von den sehr persönlichen Erfahrungen mit
Safer Sex kommt er plötzlich auf die Promiskuität anderer Leute zu sprechen:
Das Thema A lkohol in Verbindung mit anonymem Sex scheint zu bedrohlich zu
sein, wie wir später noch sehen werden.
Robert ist gut über AIDS und die Möglichkeiten der HIV-Prävention infor-
miert: "Also ich informier mich über das Thema durch Bücher, dann durch Sendungen, die so in den Medien laufen. Jetzt bin ich also aktuell informiert über
über diesen Krankheitsverlauf durch meinen Freund, durch durch seine Ärzte in
dem Sinne ... " Ein Mitglied von Roberts schwulem Freundeskreis ist HIV-infiziert,
und Robert ist in seiner Eigenschaft als "Mutter der Nation" der einzige in der
Clique, der es weiß. Robert schildert sehr emotionsgeladen die Befürchtungen
dieses Freundes, von einzelnen Cliquen mitgliedern fallengelassen zu werden ,
wenn diese von seiner Infektion erfahren würden. Robert teilt diese Befürchtungen, es seien einige dabei, denen AIDS einfach zuviel Angst mache. Diese
starke Identifikation mit dem positiven Freund wirkt fast so, als erlebe Robert
stellvertretend die Konflikte, die er austragen müßte, wenn er selbst infiziert
wäre .
Robert kennt seinen aktuellen Immunstatus nicht. Er war einmal vor etwa
fünf Jahren beim Antikörpertest: " Diese Woche, bis das Ergebnis kam, das ist ei-
112
eine Gefahr ausgehen, oder oder also auch von anderen auf mich 'ne Gefahr
ausgeht. "
Diese klare Safer-Sex-Strategie hat jedoch ihre Grenzen: "Es gab Situationen
natürlich, das ist also, das ist also auch ein großes Problem, weil man sich halt
nicht immer so in der Gewalt hat oder nicht immer in dem Moment halt so
agiert wie man sollte. Man weiß es dann zwar und dann ... aber das passiert also äußerst selten, wahrscheinlich nur hauptsächlich, ich würd das auch
hauptsächlich unter Alkoholeinfluß, wenn der Alkohol einen bestimmten Spiegel überschritten hat. Diese Situationen gab's in diesen fünf Jahren, wo ich also
ungetestet bin sozusagen, gab es ... es ist also Analverkehr hauptsächlich, das
ist, das ist für mich also der einzige, die einzige Praktik, die also für, die also ich
jetzt seh, wo also da Schwierigkeit mit AIDS. Aber wie gesagt, das kam selten,
das kam kaum vor eigentlich. "
Wir hatten bereits im Anfangszitat erfahren, daß bei Robert der sexuelle Genuß durch den Gedanken an AIDS praktisch immer beeinträchtigt ist, und daß
Alkohol das einzige Mittel gegen diesen Störfaktor ist. Welche Qualitäten des
Genusses sind es, die Robert vor AIDS gekannt hatte und die er jetzt vermißt? Er
spricht von "empfangen" und "geben", Qualitäten, die den Sex "vollwertig"
machen, gebraucht also Metaphern größter Intimität und Hingabe. Diese Wünsche könnte Robert beim Sex, vor allem beim Analverkehr, befriedigen - wenn
es AIDS nicht gäbe. Und an dieser Stelle vollz ieht Roberts Bewußtsein eine Spaltung. Es trennt "wertvolle", also gute, von "nicht wertvo llen", also schlechten
Sexual kontakten.
Der "schlechtere" Sex ist z.B. mit dem Symbol "Park" assoziiert: " ... diese Sache mit dem Park jetzt zum Beispiel. Das ist jetzt zwar für mich jetzt nicht unbedingt - Park ist nicht gleich AIDS, sicher nicht. Aber das ist vielleicht so ein
Ausfluß aus diesen ganzen gedanklichen Verarbeitungen damals, daß ich jetzt
vielleicht mich überhaupt ein bißchen sexueller mehr zurückhalte, ja, nicht
mehr so sehr, ja, überhaupt mich etwas beschränke, selbst beschränken will, ja,
nicht mehr so promisk zu sein." Die Promiskuität soll möglichst in die Schranken
verw iesen werden . Ganz gelingt das freilich nicht: " Ich denke halt, ein Sexualleben für einen Menschen völlig auszuschließen, gelingt selbst den Mönchen
113
(Iemens (28): "Es gibt ja viele, die wo sagen: Was, ja was machen wir jetzt? Ja,
hab ich gesagt, wir können alles machen, was Spaß macht ... "
" ... Es muß mir Spaß machen, hab ich gesagt. Ich mach Mundverkehr, ich mach
Analverkehr, hab ich gesagt. Aber der Analverkehr nur mit Kondom, der Mundverkehr, da möcht ich, daß du mir das sagst, wenn du kommst. Und wenn ich
merk, der sagt ,jaja' und meint ,nein', dann sag ich, dann gibt's keinen Mund-
verkehr, dann gibt's ein Kondom." (Iemens kann bei seinen sexuellen Kontakten im Park und anderswo klipp und klar seine Schutzbedürfnisse artikulieren
und durchsetzen. Sex ohne Schutz kann er sich gar nicht vorstellen.
Er hat erst eine Situation erlebt, in der ihm das nicht ganz gelang: "Das war
ein älterer Herr, der halt auch - weil ich gesagt hatte, ja, ich mach halt schon
Mundverkehr, aber ich möchte halt, daß du dir, wenn du kommst, mir das sagst,
daß ich. .. ,Jaja!' er macht das, er macht das, hundertprozentig, und ,ich bin
doch nicht blöd und hol ich mir selber was' und so. Nur der hat das dann nicht
gemacht. Sondern der hat dann einfach weitergem ... der hat halt einfach weiter... Ich hatt dann irgendwie das dumme Gefühl gehabt, irgendwann kommt's
dem jetzt. Das muß, weil das, das ist irgendwie, hab ich gemerkt, die Anspannung und alles, was er gemacht hat. Und dann bin ich weg. Und dann hat er gesagt: ,Mei! Bist du blöd!', hat er gesagt, ,jetzt wollt ich dir richtig ins Maul reinspritzen!' ,Ja, das hab ich mir gedacht', hab ich gesagt, , und das mach ich nicht.
Und du hast's mir vorher versprochen, und nächstes mal weißt du, wo der Martel den Bost, der Bartel den Most holt!' Ich hab mit dem auch keinen Kontakt
mehr, also ich - der ist zwar oft im Park, aber wenn er kommt, er macht mich jedesmal an, aber ich sag: ,Danke! Du hast mich einmal angeschmiert - nie wieder!'"
Sein Wissen über Safer Sex hat (Iemens bei der AIDS-Hilfe in der nächsten
größeren Stadt auf den aktuellen Stand gebracht. Den ersten sexuellen Kontakt mit einem Mann, von dem er w ußte, daß er HIV-positiv war, hatte (Iemens
noch in Nürnberg. Im Park an seinem jetzigen Wohnort hat (Iemens nun bereits zwe i positive Männer kennengelernt. Se it er wieder in se inem Heimatdorf
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wissen! Also ich find halt, wenn man auf dem Standpunkt ist, man sieht das an,
wenn einer AIDS hat, das stimmt nicht. Kann keiner ins Gesicht sagen, doch, du
hast's. Das gibt's ja nicht. "
Matthias (27): "Also für uns ist das eigentlich nicht so problematisch. Also vorher, bevor ich den Peter kennengelernt hab, da war das eigentlich noch nicht
so sehr im Gespräch mit dem AIDS ... "
" ... Da hat man mal eine Broschüre vielleicht gekriegt, aber da hat man noch
nicht daran gedacht. Das hat man echt nicht gemacht, ich auch nicht, nein. Und
also ich bin dem Peter bis jetzt treu gewesen, und ich hoff, der Peter auch mir.
Also ich glaub's auf jeden Fall, weil, das glaub ich, was ist, das tät er mir sagen,
wenn's also so wäre, daß er jemand anders kennenlernt. Und so ist das für uns
kein Problem." AIDS war für Matthias lange Zeit etwas, das er nur aus Aufklärungsbroschüren kannte. Er und sein Partner sind konsequent monogam,
beide hatten vor der Beziehung kaum andere Partner, so daß seine Einschätzung, daß beide HIV-negativ sind und sie keinen Grund haben, sich testen zu
lassen oder Safer Sex zu praktizieren, zutreffen dürfte. Wenn er einmal mit je-
Kondome haben für ihn fast etwas Exotisches, w ie etwas aus einer anderen
mand anderem Sex haben sollte, würde er auf jeden Fall Safer Sex machen: "Also wenn ich heute mit einem anderen Mann ins Bett gehen täte, da tät ich auf
keinen Fall ohne Kondom das machen." Dieser Fall kommt Matthias in seiner
jetzigen Lebenssituation jedoch ziemlich hypothetisch vor: "Das ist für mich
kein Thema. Sicher ist das so, daß mir oft einmal ein Mann ganz gut gefällt und
der vielleicht auch noch reagiert drauf, aber ich glaub, ich tät das nicht machen.
Also das ist, ich hab, ich kann mich eigentlich schon so zusammenreißen, daß
ich sag, ich brauch das nicht. Für mich sind andere Dinge wichtiger. Also für
mich ist das wichtiger, also für mich ist Treue wichtiger. "
Welt: "Zum Beispiel der Hermann, also mein Schulfreund, der hat - also das fällt
mir halt immer auf, wenn ich bei dem daheim bin -, da liegen immer, liegen immer Kondome rum . Ich hab ihn zwar noch nie darauf angesprochen. Entweder
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von dem wird's halt wahrscheinlich kommen. Also ich glaub, daß das schon sehr
schwer ist für den, daß der, wenn er früher so, wie er sagt, wie der Hermann
sagt also, sehr aktiv war, also mit ziemlich viel Männer beieinander war, das
glaub ich schon, daß das schwierig ist jetzt. "
Nach dieser subjektiven Theorie bekommt man AIDS dann, wenn man "nichts
anbrennen läßt", also promisk lebt, und nicht, wenn man es unterläßt, sich dabei zu schützen . Matthias, der ganz anders lebt, wertet den promisken Mann
nicht ab, ist im Gegenteil empathisch: ein Hinweis darauf, daß er mit seiner eigenen Lebensform im Einklang ist, sie nicht aus Angst oder Not, sondern aus
Neigung und freien Stücken gewählt hat. Solange er so lebt und kein Interesse
an anderen sexuellen Kontakten entwickelt, schützt ihn die Treue vor einer HIVInfektion, auch w enn seine Theorie zur HIV-Übertragung nicht zutreffend ist.
Schwul e Identität und Saf er Sex
Ähnlich wie bei den Dimensionen "Stigmamanagement" und "soziale Netzw erke" lassen sich auch bei der Analyse der persönlichen Safer-Sex-Strategien
unserer elf Interview partner Zusammenhänge herstellen zwischen der Art, wie
sie ihr Sch w ulsein definieren und leben, und der Art, w ie sie die Bedrohung
durch HIV und AIDS wahrnehmen und mit ihr umgehen.
Matthias und Andreas, die ihr Schwulsein sehr stark über ihre Paarbeziehung
definieren, verlassen sich auf die sexuelle Treue in der Partnerschaft; Safer Sex
spielt in beider Leben keine Rolle. Martin ist ebenfalls paarorientiert, in seiner
Partnerschaft gibt es jedoch kein Treuegebot. Dementsprechend praktiziert er
außerhalb der Zw eierbeziehung Safer Sex. Die Bedrohung, die er eher unterschw ellig wahrnimmt, geht daher nicht von seinen eigenen sexuellen Kontakten aus, sondern vo n der Ungewißheit, ob er sich auf den Partner verlassen
kann. Insofern ist auch seine Bewältigungsstrategie partnerorientiert.
(Iemens und Bernhard haben sich entschieden, nur die sexuelle Seite ihres
Sch w ulseins zu leben. (Iemens, der sich innerlich als sch w ul akzeptiert, lebt seine Sexua lität gemäß den Rege ln vo n Saf er Sex. Bernh ard hin gegen, der sich
116
m iskuität. Beim Sex ist er dann auch entsprechenden Ambivalenzen ausgesetzt.
Eigentlich möchte er gerne konsequent situativ verhüten. Probleme treten aber
dann auf, wenn der Sex eine soziale Seite bekommt, Robert Nähe spürt und
noch mehr Nähe herstellen möchte . Hier ist für ihn das Kondom ein großes Hindernis.
Josef und Willi, bei denen das Erleben von Ohnmacht und Kontrollverlust
schon zu ihrer vor-schwulen psychischen Grundausstattung gehörte, sehen sich
auch der AIDS-Gefahr mehr oder weniger wehr los gegenüber. Franz schließlich
nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er sich nicht so genau in die Karten
schauen läßt.
Bei den hier nicht vorgestellten Studienteilnehmern können wir ähnliche Zusammenhänge beobachten. Alex und Frank, die Partner von Martin und Andreas, identifizieren sich ebenfalls stark über die Paarbeziehung . Sie verlassen
sich auf die Absprachen, die sie im Hinblick auf Verhütung im Falle anderweiti ger sexueller Kontakte getroffen haben. Ein 36jähriger Teilnehmer, der im Vorstand einer örtlichen AIDS-Hilfe ist, rät den Anrufern am Beratungstelefon zu
Safer Sex, glaubt jedoch se lbst nicht richtig daran und lebt nach der Devise
"Treue ist der beste Schutz". In der Beratung darf er das natürlich nicht sagen,
weil es der Szene-Norm w iderspräche .
Ein 21jähriger Interviewpartner ist allgemein unsicher. Da er sich von den
Einrichtungen der Community distanziert, haben deren Präventionsbotschaften
für ihn nur geringe Bedeutung. Informiert ist er über die allgemeine heterosexue lle Medienlandschaft, wesha lb er sich im Safer-Sex-Verhalten vermutlich
wenig von seinen heterosexuellen Freunden und Freundinnen unterscheiden
dürfte.
Ein 47jähriger Teilnehmer, der zu seiner sexuellen Identität durch SM-Beziehungen zu einer Transsexuellen (vom Mann zur Frau) gefunden hat, sichert sich
damit auch gegen AIDS ab. In der Sado-Rolle und mit einer Partnerin, die ihm
treu ergeben ist, fühlt er sich auch vor AIDS sicher. Einfachen Sex mit einem anderen Mann kann er sich auch aus diesem Grund gar nicht mehr vorstellen.
Ein 65jähriger Teilnehmer, für den Homosexualität bis zum 40. Lebensjahr illegal und nicht lebbar war, unterscheidet beim Sex zwischen Li ebe und Hurerei.
117
sammen zu sterben.
Die beiden anderen Paare, Andreas und Frank sowie Martin und Alex, gehen
mit einer gewissen Berechtigung davon aus, daß jeder Partner negativ ist und
praktizieren in der Partnerschaft ungeschützten Sex. Bei jedem Paar gibt es einen, der dennoch diffuse Ängste vor AIDS hat und diese mit dem Argument zu
beschwichtigen versucht, daß sich, wenn einer von bei den HIV-positiv wäre,
der andere bestimmt auch schon infiziert hätte. Und eigentlich könne er sich
gar nicht vorstellen, ohne den Partner zu leben . Frank und Martin hängen an
ihren Partnern, haben aus unterschiedlichen Gründen Angst, diese zu verlieren .
Deswegen lassen sie sich auf Arrangements ein, die ihnen eigent lich unheimlich sind. Bei Martin ist die potentielle Untreue von Alex ein Grund zur Beunruhigung, bei Frank ist es die Ungew ißheit über Andreas' Vorleben. In beiden Beziehungen herrscht jedoch eine Art "Vertrauensgebot", d.h. diese Irritationen
dürfen nicht geäußert werden, we il sich jeder Partner wünscht, daß es auf diese Weise gelingt, die Gefahren "d rauß en zu halten" .
In diesem Zusammenhang wäre die Frage von Interesse, w ie bei homosexuellen Paaren die Aufgaben für Verhütung verteilt sind oder, bezogen auf diese
bei den Fälle, wer am Beginn der Beziehung für Safer Sex und die kommunikative Klärung zuständig war. Wir haben danach nicht gefragt, können aber darauf schließen, daß Martin und Frank diese Funktion übernommen haben, zumal sich beide ein en Mann aussuchten, der bis dahin verdeckt schwul gelebt
hatte. Innerhalb einer symbiotischen Beziehung könnte diese Funktion ein gew isses Gefühl der Kontrolle verschaffen. Die Kehrseite davon wäre jedoch, daß
diese Kontrolle außerhalb der Beziehung ver lorengeht: Martin und Frank w issen nicht, ob ihre Partner "draußen" auch ohne ihre "Unterstützung" "sauber"
bleiben.
Soll man sich vor dem Virus oder vor den Infizierten schützen?
Wir können insgesamt drei Infektionsvermeidungsmuster bzw. -sti le unterscheiden: einen situationsbezogenen, einen personenbezogenen und einen fa -
118
w er HIV-positiv ist (im Sprachgebrauch wird allerdings meist nicht zw ischen HIV
und AIDS unterschieden; es heißt dann einfach "der hat AIDS") . Auf Sex mit
HIV-positiven Männern wird dann verz ichtet, und man sucht sich einen oder
mehrere HIV-negative Partner, um nur mit ihnen Sex zu haben . An d ie Wirk samkeit von Verhaltensänderungen oder die Sicherheit von Kondomen wird
nicht wirklich geglaubt 1o . Kein Mitglied des Sam pies verfo lgt eine solche Stra tegie in Reinform. Matthias, Andreas und Martin jedoch, die sich über ihre
Partnerschaft identifizieren, leben zumindest im Grundsatz nach dieser Devise .
Die fatalistische Strategie (man kann sich sowieso n icht schützen, also
braucht man auch sein Verhalten nicht zu ändern) verfo lgt nur Josef in Reinform.
Welche inn eren Motive liegen der Entscheidung für einen dieser St il e zugrunde? Der Fatalismus entspricht der gelernten Hilflosigkeit, d ie z.B. durch
ein Stigma entstehen kann . Die beiden anderen Stil e bez iehen sich auf den
technischen und den persona len Aspekt der Se xualität. Untersuchen wir einmal die Hypothese, daß jeder den Sti l praktiziert, der se iner schwu len Identität entspricht. Demnach müßten Männer, die sich überwiegend mit ihrer Homosexualität - dem sexuellen Anteil ihres Schwulseins - identifizieren, sich
eher situationsbezogen verhalten . Der person enbezogene Präventionsstil wiederum müßte von den Männern bevorzugt w erden, d ie sich mehr mit ihrer
Homosozialität - dem so zialen Teil ihres Sch w ulseins - identifizieren . Für
Bernhard und Robert trifft diese Hypothese jedenfalls nicht zu. Es ist offenkundig, daß zur Konzeption einer Safer-Sex-Identität noch entsche idende Faktoren fehlen .
9 Ausdrück lich möchten w ir an d ieser Stelle darauf hinwe isen, daß es sich bei d en drei genannten Stilen ni cht um eine Typologie handelt, sond ern um m ehr oder w eniger ze itstabi le Verh altensmu st er. Di ese Muster haben für uns zunäch st einmal heuristischen W ert.
10 W ir erke nnen h ier die beiden globa len Präventionsstil e wie d er, die in d en acht zi g er Jahren so
heiß disku t iert w urd en: di e Lernstr at eg ie (die sich schl ieß lich durchgeset zt hat) un d d ie
Suchstrat egi e (vgl. Ros enbrock 1990).
119
reas war nach einem ähnl ichen Motto verfahren. Auch Karl könnte sich täuschen, wenn er sich auf das angeblich risikofreie Vor leben eines Sexpartners
ver läßt. Karl ist der einzige, der jemanden gefunden hat, der ihm aus seinen
Unsicherheiten heraushelfen konnte: einen schwulen Arzt. Wir wissen nicht,
welche Theorien Clemens hatte, bevor ihn sein "gatekeeper" zu einer Inform ationsveranstaltung der A IDS-Hilfe mitnahm.
Wem der Serostatus seiner Sexpartner ega l ist und wer auf die Sicherheit von
Safer Sex vertraut, ist einem anderen Risiko ausgesetzt: dem Kontrollverlust.
Bei Robert sind es der A lkoho l und die Liebe, die ihn in bestimmten Situationen
auf Schutz verzichten lassen, bei Willi ist es ebenfalls der A lkohol. Kar l ver li ert
durch das Kondom seine Potenz, was Grund genug für ihn ist, auf eine andere
Strategie auszuweichen.
Hinsichtlich beider Risiken - Rea litätsver lust und Kontro ll ver lust - bietet das
Präventionskonzept der Deutschen AIDS-Hi lfe auf informeller wie auf personalkommunikativer Ebene w irksame Interventionsmög lichke iten an. Wie wir gesehen haben, werden durchaus nicht all e unserer Interviewpartner von entsprechenden Angeboten der Community erreicht.
Ausblick
Wenn es so etwas w ie eine Safer-Sex-Identität gibt, dan n ist sie nicht direkt aus
der schwulen Identität ableitbar. Vie lmeh r scheint hier eine Wechselwirkung
vorzu li egen zwischen schwuler Identität, der Identifikation mit der Community
und indi viduellen biographischen Faktoren, wie z.B. einer Partnerschaft, dem
Bedürfnis nach Symb iose, dem Wert, der dem Analverkehr beigemessen wird,
oder der inneren Haltung und dem tatsächlichen Verha lten im Hinblick auf promiske Sexualität.
Für Männer, die sich mit der Community id entifizieren, ist es leichter, deren
Botschaften anzunehmen. Man muß dafür auch gar nicht offen schwu l leben,
wie wir bei Clemens sehen. Aber selbst wenn man sich nicht mit der Community identifiziert und nicht Safer Sex praktiziert, kann man sich konsequent vor
120
Als Resümee der bisherigen Ergebnisse wollen wir im ersten Teil des Kapitel s
4.7 noch einmal darstellen, an welchen spezifischen Punkten jeder unserer Interviewpartner besonders verletzlich ist, was ihn sozusagen seine Homosexualität "kostet" . Dazu gehört auch die Frage, inwiefern seine Zugehörigkeit zur
Unterschicht, also eine Benachteiligung hinsichtlich ökonomischer und/oder
kultureller Ressourcen, zu dieser Verletzlichkeit beigetragen hat. In gewisser
Weise handelt es sich hier um die Neufassungen der bürgerlichen Kurzbiographien des Kapitels 4.2, die jetzt durch die jeweils persönliche soziosexuelle Dynamik ergänzt werden. Zu dieser persönlichen Dynamik gehört auch die Frage
nach den persönlichen Ressourcen, d.h. nach den individuellen Lösungen, die
jeder der von uns interviewten elf Männer in seinem Leben gefunden hat. Erst
an dem Punkt, an dem diese individuellen Lösungen nicht mehr für zureichendes Wohlbefinden oder den adäquaten Schutz vor HIV und AIDS sorgen können, setzt die abschließende Frage ein: Welcher konkrete Unterstützungsbedarf liegt im Einzelfall vor, an welcher Stelle kann eine solche Unterstützung
ansetzen, wo kann also an bereits bestehende Ressourcen angeknüpft werden?
Diesen persönlichen Ressourcen wenden wir uns im zweiten Teil des Kapitels
unter der Überschrift "Paarungen" zu. "Paarungen" heißt dieser Abschnitt deshalb, weil wir hier jeweils zwei oder drei Männer nebeneinander gestellt haben, die mit vergleichbaren soziokulturellen Ausgangsbedingungen ins Leben,
genauer: ins schwule Leben "gestartet" sind . Dabei soll deutlich werden, daß
schwules Leben trotz aller Determinationen und Traumata (den "Säcken der
Vergangenheit", von denen Robert spricht) individuell gestaltbar ist. Das heißt
nichts anderes, als daß jedes Leben prinzipiell zu jeder Zeit veränderbar ist, daß
z.B. lebensverändernde Begegnungen jederzeit möglich sind. Bemühungen um
Prävention können daher nie von vornherein sinnlos sein .
Karl: In die Homosexualität reingekommen
Karl wuchs in einfachen ländlichen Verhältnissen auf; Vorbilder für eine schwule Lebensform gab es nicht. Überhaupt schi en es Ho mosexualität nicht zu ge-
121
über sich ergehen, heute den HIV-Antikörpertest.
Dieter: Der Traum vom anderen Planeten
Eigentlich können wir Dieter nicht richtig zur Unterschicht rechnen. Zwar hat er
sein Abitur nicht in eine entsprechende Laufbahn umgesetzt und stand im Laufe seines Berufslebens immer in minderqualifizierten Beschäftigungsverhältnissen im Handel und Dienstleistungsgewerbe. Das heißt aber keineswegs, daß er
in finanziell unsicheren Verhältnissen lebt. Von Reichtum spricht Dieter ohnehin nie; er hat für sein Leb en andere Prioritäten gesetzt. Er spricht vielmehr
von Sinnfindung, und die ist ihm in der Community besser gelungen, als wenn
er reich geworden wäre, aber dabei vielleicht nicht schwul sein könnte. Ökonomische Ressourcen sind ihm nicht so w ichtig, und an kulturellen leidet er in keiner Hinsicht einen Mangel. Verzichten mußte Dieter bisher auf etwas anderes:
auf die Erfüllung seiner SM-Phantasien. Es war so schwer für ihn gewesen, zum
Schwulsein zu finden; das Coming-out lief immer unter der Prämisse, daß er ein
ganz normaler Mensch bleibt und nicht zu einer Randgruppe gehört. "Ich bin
nicht vom anderen Planeten!" ist einer seiner Schlüsselsätze im Interview. SM
scheint es aber bisher nur auf diesem anderen, verborgenen Planeten gegeben
zu haben.
Franz: Schwul und befreit
Franz ist es gelungen, durch das Annehmen seiner Homosexualität gleichsam
den gordischen Knoten seiner Existenz durchzuschlagen. In geschlossenen Einrichtungen aufgewachsen und von Kindesbeinen an als asozial stigmatisiert,
mußte er bis zu seinem Coming-out immer wieder Umwege über Alkohol und
Kriminalität machen, um schwule Liebe zu bekommen. Dadurch bestätigte sich
das Stigma immer wieder se lbst . Erst als er erkannte, daß er sich diese Liebe
und Leid enschaft auch direkt nehmen kann, durchbrach er den Teufelskreis.
Die Gay Community bietet ihm sogar einen Lebensraum, in dem er mit se iner
körperlichen Attraktivität endlich einmal nicht zu den Sch w achen, sondern zu
122
de, we il er mit den akademischen Gesprächsritualen nicht mithalten kann und
wei l ihn das Doppelspiel zwischen harmloser Pl audere i und erotischer Anmache
befremdet. Er sucht in der Community einen sozia len Ort; diese we ist ihm allenfalls einen sexuellen zu, we il er in seiner soz ialen Rolle als einfacher Friseur
nicht attraktiv genug ist. Um so mehr stützt sich Martin auf seine Partnerbeziehung. Er bedauert, diese Partnerschaft nicht mit eigenen Kindern bereichern zu
können.
Willi: Immer kämpfen müssen
Als Willi schwul wurde, hatte er bereits eine Reihe beschädigender Erfahrungen gemacht. Insgeheim mußte er davon überzeugt sein, dem Leben und den
anderen wehrlos ausge liefert zu sein - und immer w ieder kämpfte er dagegen
an. Der Versuch, schwu l und selbstbewußt zu leben, war durch seine materielle
Armut auf der einen und seine "Eigenbrötelei" auf der anderen Seite beeinträchtigt. Willi fühlte sich der Community nie richtig zugehörig. Er wiederholte
in ihr seine Erniedrigungserfahrungen, hatte das Gefühl, die Szene blicke auf
ihn als "armen Auss iedler" herab. Willi kämpfte auch jahrelang gegen HIV und
AIDS. Dabei war er längst infiziert, wo llte es aber nicht w issen . Weil er immer
kämpfte, sich aber nicht effektiv zu schützen vermochte, hat er durch den
schwu len Sex letztend lich seine körperliche Gesundheit verloren. Gewonnen
hat er nach Jahren der Ein samke it den ersten Menschen, der zu ihm hält. Insofern ist sein Schwulsein einerseits die endgültige Bestätigung der Überzeugung, zu den Verlierern zu gehören. Andererseits kann er durch die Liebe mit
Markus seine alte Überzeugung relativieren, daß ihm das Leben sowieso nichts
zu bieten hat.
Andreas: Zweite Heimat
Von se iner bäuerlichen Herkunftsfamilie hat Andreas nur spärlich e finanzie lle
und kulture lle Ressourcen mit auf den Lebensweg bekommen. Ein Leben als
Bauer schien vorgezeichnet. Bestätigung und Lebensfreude erfuhr Andreas in
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Josef: Leben als Spießruten lauf
Josef hatte es von Anfang an schwer. Nicht nur, daß es ihm als Angehörigem
des Landproletariats an materiellen und kulturellen Ressourcen mangelte; er
galt bereits in Kindheit und Jugend als vogel- bzw. vöge lfrei. Lehrer und Kaplan
scherten sich nicht um das Wohl des "b löden Bauernjungen". Sein erster Emanzipationsversuch als Kneipeninhaber in der nahen Kreisstadt mißlang. Josef
hatte auch einige Jungen "zu gern gemocht" - er wurde dafür unerbittlich mit
Gefängnis bestraft. Danach konnte er nicht zurück und wagte einen zweiten
Emanzipationsversuch in der fernen Großstadt. Das einzige, was er gelernt hatte und was er mit den Stadtschwulen teilen konnte, war der Sex. Der Sex war jedoch nicht genug, um sich in der Großstadt halten zu können. Resigniert kehrte er in seine Kleinstadt zurück und akzeptierte das Stigma als schwuler Dorfdepp, das ihm dort entgegenschlug. Das einzige, was ihn am Leben erhielt, war
der Sex, und der war in seiner neuen Rolle durchaus enthalten. Manchmal fiel
sogar vom Tisch der betrunkenen Bürger ein "blow job" (Oralverkehr) für ihn
ab. Derart auf seine Rolle als triebgesteuerter Sexualtäter fixiert, kann Josef gar
nicht verstehen, daß zwischen Schwulen auch noch etwas anderes stattfinden
kann als Sex. Und Sex hat er nie genug. Weil die "Zufallsbekanntschaften" bei
weitem nicht ausreichen, hat Josef ein kleines Vermögen, das er eigentlich gar
nicht hat, für den Strich ausgeben müssen. Daß er bei alledem "bloß" wegen
AIDS auch noch seinen Sex verändern solle, das kann Josef nicht einsehen, zumal er doch schon früh gelernt hat, daß man entweder Glück hat und nicht erwischt w ird - oder man hat eben Pech.
Bernhard: Verzicht auf den Aufstieg
Weil Homosexualität in seiner Jug endze it kriminalisiert war, verzichtete Bernhard auf die berufliche Selbstverwirklichung. Als Fernfahrer im In- und vor allem im Ausland konnte er seine sexue ll en Bedürfnisse ausleben. Dabei hätten
ihm - mit Ab itur und gutsituiertem fam ili ären Hintergrund - im Nachkriegs-
124
glaubt er wegen der Szeneferne se iner Partner sicher zu sein.
Robert: Harmoni e als höchster Wert
Robert wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf auf. Sein Vater, ein beruflich gescheiterter Alkoholiker, vererbte ihm seinen Selbsthaß. Robert leidet
noch heute an diesem "Sack der Vergangenheit", an seinem Mangel an Selbstwertgefühl. Er entdeckte, daß er diese Lücke durch seine sozia len Kompetenzen auffüllen konnte. Als "Mutter der Nation" hat er sich eine Meisterschaft
darin erworben, allenthalben für harmonische Stimmung zu sorgen. Seine vielen schwulen Freunde können bei ihm Trost erfahren, wenn ihr Schwulsein sie
allzusehr bedrückt. Nach einem mühevollen Coming-out entschloß sich Robert,
in seinem Heimatort offen schwu l zu leben . Der Preis, den er dafür bezahlte,
die soziale Anstrengung, ein "guter Schwuler" zu se in, kam ihm gar nicht unge legen. Erstens beherrschte er es, sich sozial anzupassen und zweitens brauchte er keine Angst zu haben, in der Großstadt mit ihren vielfältigen sexuellen
Angeboten rettungslos zu versumpfen. Die Erwartung, seine Sexualität mit dieser Lebensform domestizieren zu können, hat sich jedoch nicht ganz erfüllt. Ab
und zu versagt die Selbstkontrolle, und er unternimmt suchtartige Ausflüge in
den Park, die ihm deshalb um so unheimlicher sind. AIDS hat Robert an einer
empfindlichen Stelle getroffen, reaktiviert alte Schuldgefühle wegen seiner
Promiskuität. Er möchte sich einerseits gerne noch mehr kontrollieren, ganz auf
anonyme Kontakte verzichten - der Alkohol hilft ihm mitunter über diese Abstinenz hinweg. Andererseits konnte er sich früher mit hemmungsloser Sexualität für all diese Anstrengungen entschädigen. Das funktioniert heute nicht
mehr. Die "vier Buchstaben" bedrängen ihn in jeder noch so intimen Situation
- auch dagegen ist bisher nur der Alkohol angekommen.
Clemens: Li ebe auf Umwegen
Clemens wuchs in einfachen Verhältnissen auf dem Land auf und litt unter einem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater. Er akzeptierte zunächst das Le-
125
Matthias: Zufrieden ohne die städtische Community
Obwoh l er in München aufgewachsen ist, identifiziert sich Matthias mit dem
Landleben, mit se inen Hobbies und seinen Tieren. Mit der schri ll en und hektischen Münchner Community konnte er noch nie vie l anfangen. Entsprechend
hat er sich auch sein Leben eingerichtet. Er nutzte den Kontaktanzeigenmarkt,
um den "Mann fürs Leben" zu finden, mit dem er jetzt ein kleines Häuschen
auf dem Land bewohnt. Er verm ißt die ku lture ll en und sexue ll en Angebote der
Community n icht, all enfalls ein paar schwu le Freunde für d ie sonntäg liche Kaffeetafe l - aber auch hierfür steht ihm der Kontaktanzeigenmarkt offen.
Paarungen
Karl und Josef
Kar l und Josef stammen beide aus einem sehr ähnlichen Milieu, aus eher ärm li chen Landwirtsfamilien. Beide sind etwa g leich alt und in einer extrem homophoben Umwelt aufgewachsen. Und dennoch sind ihre Biographien vollkommen verschieden ver laufen. Josef entdeckte schon in der frühen Pubertät freiwillig-unfreiwillig - den schwu len Sex. Sein ganzes Leben mit all seinen
Demütigungen hat er im Zeichen von Sex ge lebt. Auch für Kar l ist heute der
schwu le Sex wicht ig . Er entdeckte ihn aber erst mit 35 Jahren, nachdem er
hartnäck ig allem Verheiratungsdruck widerstanden hatte: Während Josef als
Opfer homosexuellen Mißbrauchs in der Jugendzeit nicht die Chance hatte, ein
distanziertes Verhä ltni s zum Stigma "schwul" aufzubauen, registrierte Kar l
sehr genau die Diskriminierung und Gewalt, der homosexuelle Männer ausgesetzt waren. So ein verachteter Schwuler wo llte er auf keinen Fall werden.
Welche protektiven Faktoren außer den persönl ichen Charaktereigenschaften
kamen Karl zugute? Es waren entscheidende Begegnungen mit "gatekeepern" , mit Türöffnern in die Schwulengemeinde. Der erste Sexpartner sagte
126
ort einen mehr oder we niger offen lebenden Schwulen, dem er eines Tages auf
der Klappe begegnet, und der nicht nur den Sex, sondern auch das Gespräch
mit ihm sucht.
Dieter und Bernhard
Beide kommen aus "gutem Hause", beide haben, um homosexuell leben zu
können, auf eine berufliche Karriere verz ichtet, arbeiteten bzw. arbeiten in
niederen Dienstleistungsberufen. Obwohl beide sagen, heute sehr zufrieden
mit ihrem Leben zu sein, und obwohl Dieter von HIV betroffen ist, würden vermutlich die meisten Leser, wenn sie sich entscheiden könnten, Dieters Leben
wählen und Bernhards Lebensentw urf als zu entfremdet und we niger lebbar
einstufen. Der große Unterschied zwischen beiden ist das Alter. Obwohl nur
knapp 26 Jahre zwischen beiden liegen, also gerade eine Generation, entdeckte Bernhard seine Homosexualität am Ende des Krieges und Dieter am Anfang
der siebziger Jahre . Für Bernhard gab es die Todesstrafe, für Dieter die wachsende großstädtische Gay Community. Dieter konnte sich in dieser Gemeinde
für die entgangene Karriere entschädigen, Bernhard blieb nur der Sex im Ausland als Kompensation übrig. Wer weiß, wie Bernhard sich 25 Jahre später entschieden hätte . Dieter nimmt heute die Hilfsangebote der Community genau in
dem Maß in Anspruch, in dem er ihrer bedarf. Zugute kommt ihm dabei das
weitgefächerte Spektrum der Großstadt. Über sein eigenes ehrenamtliches Engagement in der Betreuungsarbeit kann er diese Solidarität nicht nur erwidern, er kann sich dadurch gleichzeitig und unspektakulär auf die Situation
vorbereiten, in der er selbst einmal Betreuung braucht. Wie ist Bernhard für die
Prävention zu erreichen? Von allen Teilen der Community hat er sich dezidiert
zurückgezogen. Eine schwule Identität will und wird er nicht mehr erwerben.
Niemand in seiner Wohnumwelt we iß von seiner Homosexualität. Es ist fraglich, was ihn dazu veranlassen könnte, konsequenter mit dem Kondom umzugehen. Was ihm an potentieller Unterstützung bleibt, kann nur aus dem Kreis
seiner derzeit 16 Sexpartner kommen.
127
geraten wäre oder an einen Gefährten, der sich als Türöffner und Begleiter in
die Community angeboten hätte. Dennoch hat Willi letztendlich für sich gesorgt. Heute, da er unmittelbare Hilfe braucht, hat er sie. Sehr bewußt läßt er
sich in einer der renommiertesten HIV-Schwerpunktpraxen behandeln. Das soziale Netz, das sein Partner für ihn geknüpft hat, trägt ihn .
Robert und Clemens
Robert wie auch Clemens kommen aus einem ländlichen Arbeiterhaushalt; beide hatten in ihrer Kindheit und Jugend unter einem gewalttätigen Alkoholiker als Vater zu leiden und beklagen als Folge bis heute Minderwertigkeitskomplexe. Robert entschied sich, sein Schwulsein offen an seinem ursprünglichen Wohnort zu leben; Clemens hat nach einem Umweg über Kloster und Ehe
wieder in die Sohnesrolle zurückgefunden und lebt verdeckt schwul. Robert
hat sein Gleichgewicht gefunden, indem er sich mit der sozialen Rolle eines
schwulen Mannes identifiziert hat. Geholfen hat ihm dabei die soziale Unterstützung seines heterosexuellen Umfelds und das Bewußtsein, daß er durch
sein Beispiel und durch praktischen Rat und Tat auch andere Schwule dazu ermutigen kann, offen schwul auf dem Land zu leben . An sich selbst denkt
Robert meist zuletzt, daher ist es gar nicht so einfach zu beurteilen, w ie tragfähig sein sozi ales Netz für ihn selbst ist. Trotz seiner inneren Distanz zur Community haben ihn deren Präventionsbotschaften erreicht. Clemens hat sein
Gleichgewicht gefunden, indem er sich vorübergehend ausschließlich mit der
sexuellen Rolle eines schwulen Mannes identifiziert hat. Über den Se x kann er
sich Selbstbestätigung holen . Sein Glück war, daß er im Park einen "gatekeeper" kennengelernt hat, der ihn aus seiner Isolation befreien konnte . Clemens
fand durch ihn Zugang zu privaten schwulen Netzwerken und zu den sozialkommunikativen Segmenten der Gay Community. Dort konnte er sich auch
über die Möglichkeiten der HIV-Prävention informieren. Mit Safer Sex hat Clemens keine Probleme . Jetzt braucht er noch einmal Glück, um im Park oder
durch eine Anzeige ein en Mann kennenzulernen, mit dem er eine Beziehung
eingehen kann . Dies scheint der naheliegendste Weg zu sein , wie er sich von
128
tersche idet sie von vielen "Kernschwu len", d ie sich m itte ls akadem ischer Bil dung in die Großstadt abgesetzt haben . Um se lbstbestimmt und schwul auf
dem Land leben zu können, haben sie sich Ressourcen im W indschatten der
Commun ity erschlossen: Matthias nutzt den Kontaktanzeigenmarkt; Martin
hatte bere its in seiner Jugend ermutigende schwu le Vorb il der kennenge lernt;
und be i Andreas war es d ie Liebe, d ie ihm aus einem anstrengenden Doppe ll eben herausha lf. So fremd wie d ie Community ble iben diesen Dre ien im Grunde
auch deren Präventionsbotschaften, die alle den tech nisch-prom isken Aspekt
der schwu len Sexua li tät betonen. Für Martin, And reas und Matth ias hat
"Schwu lsein und Sex" in der Hauptsache eine personale Komponente im Ra hmen einer exklusiven Paarb indung. Wer sie für die HIV-Prävention erreichen
wi ll , muß diese Komponente ansprechen.
129
Sexuelle Identität
Ob ein Mann, der andere Männer begehrt und Sex mit ihnen hat, sich als
schwul oder homosexuell bezeichnet, ob er ein anderes Wort wählt oder eine
Etikettierung ganz ablehnt, ist weniger eine Frage der sozialen Schicht als der
Generation, der er angehört. Die Männer unseres Sampies bestätigen die Beobachtungen Michael Pollaks aus den achtziger Jahren. Diejenigen, die heute
über fünfzig sind, bezeichnen sich als homosexue ll, als bisexuell oder lehnen eine Etikettierung ab. Schwul möchten sie nicht sein, we il in der Zeit, in der sie
aufgewachsen sind, ein "Schwuler" ein Ausgestoßener war, ein "Perverser", ein
prädestiniertes Opfer von Gewalt. Erst die sexuellen, kulturellen und politischen Umwälzungen am Ende der sechziger Jahre machten den "gay pride"
möglich. Alle Gesprächspartner, die sich ihrer Homosexualität nach 1968 bewußt wurden, bezeichnen sich ganz selbstverständlich als schwul. Die Selbstetikettierung als "gay", von der Pollak als einem Phänomen der französischen
20jährigen schreibt, taucht bei keinem unserer Gesprächspartner auf. Wohl gibt
es dieses Phänomen auch in Deutschland; allerdings dürfte es der jungen, konsumorientierten Mittelschicht vorbehalten sein. Die Beobachtungen aus Australien, nach denen mit sinkendem Sozialstatus die Bereitschaft sinkt, sich selbst
als schwul oder homosexuell zu definieren, können wir mit dem hier untersuchten empirischen Material also nicht bestätigen.
Die meisten der befragten Männer erlebten ihr Coming-out nicht am Wohnort. Das Ausland, der Park oder die Klappe in einer anderen Stadt spielen hier
eine große Rolle. Diejenigen, die ihr Schwulsein ohne Bruch in ihr vorheriges
Leben integrieren, neigen eher dazu, das konventionelle monogame Liebesmo dell zu übernehmen. Diejenigen, die ihre Lebenssituation auf Grund ihres
Schwulseins verändert haben, relativieren in der Regel auch das romantische
Ideal und versuchen, Paarbeziehung und Promiskuität zu vereinbaren. Über eines sind sich aber alle einig: zum schwulen Leben gehört ein Liebespartner - zumindest in bestimmten Lebensphasen. Und ein schwules Paar zu sein bedeutet
nicht, daß einer "der Mann" und einer "die Frau" sein muß. Die Dichotomisie-
131
teraktionen häufig durch A lkohol und andere Drogen. Ein Mitteischichtsschwuler, der unter Umständen auch Alkoholprobleme hat, hätte in diesem Zusammenhang wohl eher mit Schuldgefühlen zu kämpfen.
Stigmamanagement
Alle bis auf einen Gesprächspartner praktizieren selektives Informationsmanagement, d.h. sie bestimmen, wem, wann und w ie sie ihr Schwulsein mitteilen.
Lediglich einer der Teilnehmer ist an seinem Wohnort offen stigmatisiert. Da
sowieso alle von seiner Homosexualität w issen, braucht er auch kein Stigmamanagement mehr. Er hat sich gegen den Sturz ins sozia le Nichts durch eine Ehe sichern können. Die Veröffentlichungsstile der anderen variieren von sehr rigide
bis sehr offen. Bei den meisten hat die Offenheit mit den Jahren schwuler Lebenspraxis und den Erfahrungen des Akzeptiertwerdens zugenommen.
Diejenigen, die sich ausschließlich mit dem sexuellen Aspekt ihres Schwulseins
identifizieren, praktizieren eher rigides Informationsmanagement, während
diejenigen, die sich vor allem über ihre Homosozia lität definieren, damit eher
offen umgehen. Wer nach einem romantischen Lebensentwurf lebt, outet sich
eher als Teil eines Paares. Es gibt aber auch den erklärten Schwulen, der verdeckt
lebt. Es fällt schwer, alle Männer einem der Hutter-und-Koch'schen Typen zuzuordnen. Die Mehrzahl der Teilnehmer müßten entsprechend der empirischen Indikatoren als Mischtypen eingestuft werden . Dies könnte daran liegen, daß die
Hutter-und-Koch'sche Dimension "Akzeptanz der eigenen Homosexualität
(ja/nein)" zur Beschreibung der hier untersuchten Phänomene zu grob ist. Unserer Auffassung nach ist es hier sinnvo ller, nicht nach einer Ja/nein-Alternative zu
klassifizieren, sondern nach mindestens zwei inhaltlich gefü llten Kategorien (also: Identifikation mit der eigenen Homosexualität eher auf der sexuellen versus
eher auf der sozialen Ebene). Wie sich gezeigt hat, lassen sich damit die untersuchten Phänomene durchaus d ifferentiell analysieren.
Das Kernelement effektiven Stigmamanagements ist d ie Überzeugung,
selbst okay zu sein. Für einig e unserer Gesprächspartner bedeutet dies, daß si e
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nicht oder nur am Rande, z.B. um ab und zu zusammen tanzen zu gehen. Für
den Einstieg nutzen sie den Kontaktanzeigenmarkt oder sie lernen an einem
sexuellen Ort der Community, z.B. im Park, eine Schlüsselperson, e inen "gatekeeper" kennen, der sie dann in we itere schwu le Kre ise einfü hrt . Diejenigen,
die sich über ihre Sexualität definieren, haben sexue lle Netzwerke.
Genutzt w ird d ie Gay Community vorwiegend von den Schwulen, die sich
selbst über ihre Homosozialität definieren, über "Sexualität und Gemeinschaft"
mit anderen Schwulen. Der Einstieg funktioniert in der Großstadt eher direkt,
während auf dem Land auch hierfür "gatekeeper" in Anspruch genommen
werden. Zu d iesem Ergebnis waren sowohl Michael Pollak in seinem semantischen Differential als auch die Autoren der mit unserer Untersuchung verg leichbaren austra lischen CHAP-Studie gekommen. Diese sehen darin, daß das
Wirken solcher Türöffner oder "barefoot educators" informelles Lernen ermöglicht, den zentra len Ansatzpu nkt der Prävention in der Unterschicht überhaupt.
Wenn wir die Inanspruchnahme der ein zelnen Segmente der Community differenzieren, ergibt sich ein klares Übergewicht für die sexuel len Kontaktstätten . Auch damit werden die Befunde der australischen SAPA- und CHAP-Untersuchungen in vo ll em Umfang bestätigt. Für die meisten der befragten Männer
standen Parks und Klappen am Anfang des Schwulseins, bei den anderen hatten sich zufäl li ge oder durch Kontaktanzeigen angebahnte private Kontakte
ergeben . Niemand hat z.B. eine Coming-out-Gruppe besucht oder sich an ein
"Rosa Telefon" gewandt. Ein Teilnehmer erk lärt, er habe Angst, daß er sich
dort "gebildet" ausdrücken müsse. Die meisten Männer nutzen mehr oder weniger konstant die sexuellen Möglichkeiten, die sie an ihrem Wohnort vorfinden. Zum Teil wird dieses Engagement durch Ze iten monogamer Partnerschaft
unterbrochen. Einige Interviewpartner nutzen den Park als kommunikativen
Ort; ein monogam lebendes Paar macht Spaziergänge dorthin, um mit anderen
Schwulen zu plaudern. Es scheint, daß zumindest ein Teil der Angehör igen der
Unterschicht seine kommunikativen Bedürfnisse dort still t - und nicht in Kneipen, wie es d ie Mittelschicht tut.
Von den Kneipen und Diskotheken distanzieren sich mehrere Gesprächspartner. Einerseits sind ihnen d ie Moden dort zu exzentrisch oder zu kostspielig.
133
dortige Kommunikationszentrum, das "Sub" - allerdings nicht zur Kommunikation, sondern um sich zu informieren: sei es, daß sie die Bibliothek nutzen, sei
es, daß sie sich nach schwulen Handwerkern und Dienstleistern erkundigen, sei
es, daß sie nach einem schwulen Arzt fragen. Alle diejenigen, die auf diese Weise neue Ärzte gefunden haben, äußern sich zufrieden darüber, daß sie endlich
offen über Sexualität, Safer Sex, den HIV-Antikörpertest usw. sprechen können.
In diesen Fragen und bezüglich der Interventions- und Behandlungsmöglichkeiten bei Seropositivität oder AIDS-Erkrankung erleben sie ihre schwulen Ärzte
kompetent und vertrauenswürd ig.
Safer Sex
Drei Stile der Vermeidung einer HIV-Infektion lassen sich unterscheiden: ein situationsbezogener (der dem Safer-Sex-Konzept der DAH entspricht), ein personenbezogener (nur mit vermeintlich nicht-infizierten Männern sexuell zu verkehren) sowie ein fatalistischer. Den fatalistischen Stil in Reinform praktiziert
lediglich der offen st igmatisierte Interviewpartner. Für ihn ist Sex das einzige,
was ihm Bestätigung gibt, darüber hinaus hat er ganz andere Probleme als eine
eventuelle AIDS-Erkrankung. Die überwiegende Mehrzahl des Sampies praktiziert Mischformen aus situations- und personenbezogenen Strategien. Keiner
der Männer praktiziert immer und ausschließlich Safer Sex. Risikofaktoren sind
vor allem Liebe und Alkohol.
Alle interviewten Männer, die zur Zeit in einer Paarbindung leben, verkehren ungeschützt mit ihrem Partner, z.T. ohne über den beiderseitigen Serostatus Bescheid zu w issen. Nur zum Teil existieren Absprachen über Safer Sex
außerhalb der Beziehung. Eine Art Vertrauensgebot (ich darf dem Partner keine Untreue unterstellen) behindert die Kommunikation über AIDS und Safer
Sex ebenso wie unbewußte Abwehrprozesse (dadurch, daß wir nicht über AIDS
sprechen, können wir es aus der Beziehung heraushalten) und symbiotische
Phantasien (wenn er es hat, habe ich es bestimmt auch). Diesen potentiell "unsafen" Sex aus Liebe erleben die betreffenden Männer eher se lbstbestimmt -
134
ell und nicht von HIV betroffen hält. Ein anderer macht an den Orten der Szene,
z.B. in der Sauna, Safer Sex. Mit Sexualpartnern, die er an neutraleren Orten
kennenlernt, spricht er über deren Vorleben und verkehrt dann unter Umständen zu Hause ungeschützt mit ihnen.
Ein Zusammenhang zwischen Stigma- und Safer-Sex-Management (etwa hinsichtlich ihrer Rigidität oder Offenheit bzw. Selbst- oder Fremdbestimmtheit)
konnte nicht festgestellt werden. Hingegen scheint das Maß der Übernahme
der Safer-Sex-Regeln in einem gewissen Zusammenhang mit dem Maß der
Identifikation mit der Community zu stehen . Die Männer, die sich mit der Community identifizieren, wenden die Safer-Sex-Regeln am konsequentesten an .
Dazu müssen sie nicht offen schwul leben, und dazu ist auch keine bestimmte
Art von Stigma management erforderlich. Die Männer, die der Szene innerlich
fern stehen, entscheiden sich entweder für exklusive Paarbindungen oder entwickeln, wie im oben angesprochenen Fall (verheiratete und unverheiratete
Männer), idiosynkratische Strategien. In den meisten Fällen sind solche Strategien mit der subjektiven Annahme verbunden, daß mit einem HIV-positiven
Mann kein sicherer Sex möglich sei, und daß man ganz auf Sex verzichten müsse, wenn man selbst infiziert ist.
135
schicht.
Personalkommunikative Prävention
•
•
•
•
Der Einstieg ins schwule Leben bzw. in die Community erfolgt in der Regel
über persönliche Begegnungen. Wichtig dafür sind "gatekeeper", erfahrene
Schwule, die z.B. in den Park nicht nur zum Aufreißen und Abreagieren gehen, sondern sexuell und sozial interess iert sind. Prävention auf der personalen Ebene findet hier einen Ansatzpunkt.
Ebenso w ie schwule Kommunikationszentren sind AIDS-Hilfen Orte, an denen
kompetente Information über HIV und AIDS erwartet und nachgefragt w ird.
Ein w ichtiges Element dieser Beratungsfunktion ist die Vermittlung schwuler
Ärzte.
Schwule Ärzte sind die primären Ansprechpartner für persönliche Fragen im
Zusammenhang mit HIV und AIDS. Sie genießen ein Vertrauen, das sich Personen in reiner Beratungsfunktion (Sozialarbeiter, Psyc hologen usw .) erst erwerben müssen . Dies ist ein Ansatzpunkt für Prävention auf der personalen
Eb ene .
Auch die psychosoziale Versorgung leistet einen indirekten Beitrag zur
Prä vent ion. Mitglieder der Unterschicht sind überdurchschnittlich häufig von
Depress ionen und Alkoholabhängigkeit betroffen. Alle in diesem Bereich erfolgreichen Prä ventionsmaßna hmen und psychotherapeutischen Behandlungen verbessern nicht nur die Lebensqualität, sondern trag en auch zu einem
größeren Maß an se lbstbestimmter Sexualität bei.
Medienvermittelte Prävention
• Die nicht-personale HIV-Prävention in Print- und so nstigen Medien muß auf
die Leben sverhältnisse und -entw ürfe schwuler Männer aus der Untersc hicht
eingehen . Das heißt im Einzelnen:
137
bedarf es positiver Rollenvorbilder. Schwule sollen nicht nur in der Szene
sichtbar sein, sondern auch im Alltag, in der Stadt wie auf dem Land. Die Massenmedien sollen über das Leben prominenter und nicht-prominenter Schwuler berichten.
• Homosexualität darf nicht öffentlich diskriminiert werden. Die Berichterstattung in den Massenmedien so ll nicht reißerisch, sondern sachlich sein. Der Gesetzgeber muß klar machen, daß die Bürgerrechte ungeteilt auch für Schwule
gelten.
• Die Gesellschaft und die Community haben die Aufgabe, Gewalt in Klappen
und Parks zu verhindern. Für viele Schwule ohne höhere Schulbildung sind
das die einzigen Orte der Community, die sie annehmen. Sie befriedigen dort
nicht nur ihre sexuellen, sondern auch ihre Kommunikationsbedürfnisse.
• Es bleibt Aufgabe der AIDS-Hilfen, dafür zu sorgen, daß die unbewußte
Gleichsetzung von "HIV-positiv" und "Verzicht auf Sex", die auch in den Köpfen vieler schwuler Männer existiert, weiter abgebaut werden kann .
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C/O Institut für Psychologie - Sozialpsychologie der
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Leopoldstraße 13
D-80802 München
Telefon: (089) 2180 62 66,
Telefax : (089) 550 35 97
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