Einführung in die Psychopathologie - ReadingSample - Beck-Shop

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UTB M (Medium-Format) 3229
Einführung in die Psychopathologie
Bearbeitet von
Christian Klicpera
1. Auflage 2009. Taschenbuch. 229 S. Paperback
ISBN 978 3 8252 3229 0
Format (B x L): 15 x 21,5 cm
Weitere Fachgebiete > Medizin > Sonstige Medizinische Fachgebiete > Psychiatrie,
Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Zu Inhaltsverzeichnis
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Christian Klicpera
Einführung in die
Psychopathologie
Christian Klicpera,
Ao. Prof. Dr. med. Dr. phil., Psychiater und Klinischer Psychologe,
spezialisiert auf Entwicklungsneuropsychologie. Als habilitierter
Psychologe lehrte er an den Universitäten Wien und Graz und war auch in
der Lehrerfortbildung sowie Ausbildung im Propädeutikum tätig.
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung
ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlags ist ausgeschlossen.
1. Auflage 2009
Copyright © 2009 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas.wuv, Berggasse 5, A-1090 Wien
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung
sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Umschlagfoto: Science Photo Library/picturedesk.com
Satz: Ing. Günter Mannsberger, Wien
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Printed in Germany
ISBN 978-3-8252-3229-0
Vorwort
Die Klinische Psychologie hat es mit vielen Störungen zu tun, bei denen psychosoziale und biologische Faktoren zusammenwirken und bei denen im Extremfall bei der Diagnose auch zu bedenken ist, wieweit diese nicht der Ausdruck einer körperlichen Krankheit sein können.
Aus diesem Grund hat sich die Klinische Psychologie auch erst relativ spät
von der Psychiatrie als einem medizinischen Spezialgebiet abgekoppelt, steht
aber immer noch in einer engen Kooperation mit der Medizin, dabei mit der
Psychiatrie ebenso wie mit der Neurologie und der inneren Medizin.
Dieses Lehrbuch will eine Einführung in die klassische Psychopathologie
als Krankheitslehre und als Auseinandersetzung mit den Erscheinungsweisen
des gestörten Seelenlebens liefern, aber auch einen Einblick in neue Aspekte
der biologischen Grundlagen psychischer Störungen geben. Zudem soll dieses
Lehrbuch Basiswissen zu den psychoorganischen Syndromen vermitteln, die
es differentialdiagnostisch mitzuberücksichtigen gilt. Schließlich soll ein Überblick über die hauptsächlichen somatischen Behandlungsverfahren psychischer Störungen geliefert werden, die gegenwärtig angeboten werden.
Wien, Jänner 2009
Christian Klicpera
5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................5
1 Psychologie emotionaler Störungen .................................................. 11
1.1 Der Beitrag der Emotionspsychologie .......................................................... 11
1.2 Kognitive Emotionskomponenten ................................................................ 11
1.2.1 Perzeptions- und Urteilsprozesse ...................................................... 11
1.2.2 Emotionale Gedächtnisschemata ...................................................... 13
1.2.3 Attributionsprozesse ........................................................................... 14
1.2.4 Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung ......................................... 16
1.2.5 Zielvorstellungen, Einstellungen und Erwartungen ....................... 17
1.2.6 Semantische Schemata ........................................................................ 18
1.2.7 Auswirkungen von Angst auf kognitive Leistungen ....................... 19
1.3 Subjektive Emotions- und Angstkomponenten ........................................... 20
1.3.1 Sprachliche und soziokulturelle Einflüsse ........................................ 22
1.4 Körperliche Emotions- und Angstkomponenten ........................................ 22
1.4.1 Die Rolle der körperlichen Wahrnehmungen bei Emotionen ...... 23
1.4.2 Kritik an der Emotionstheorie von James ....................................... 24
1.4.3 Schachters Emotionspsychologie ...................................................... 24
1.4.4 Emotionen und physiologische Aktivierung .................................... 26
1.4.5 Einfluss der Rückmeldung der autonomen Erregungslage ........... 27
1.5 Ausdrucksverhalten bei Emotionen .............................................................. 29
1.6 Verhalten und Emotionen ............................................................................... 30
1.7 Der Zusammenhang zwischen den Komponenten emotionaler
Reaktionen ......................................................................................................... 31
1.8 Emotionale Entwicklung ................................................................................. 31
1.8.1 Bedeutung der Fähigkeit zum Erkennen und Äußern
emotionaler Reaktionen ...................................................................... 33
1.8.2 Entwicklung der Fähigkeit zur Kontrolle und Regulation von
Emotionen ............................................................................................ 34
1.8.3 Der Einfluss der Selbstkontrolle bzw. Regulationsfähigkeit auf
die soziale Entwicklung ....................................................................... 37
2 Psychologie von Angst und Furcht ................................................... 41
2.1 Angsttheorien .................................................................................................... 42
2.1.1 Psychoanalytische Theorien ............................................................... 42
2.1.2 Lerntheoretische Erklärungen ........................................................... 44
2.1.3 Kognitive Theorien ............................................................................. 49
2.1.4 Konflikttheorien .................................................................................. 52
2.1.5 Theorie der Angstkomponenten ....................................................... 53
2.1.6 Ethologisch orientierte Theorien ...................................................... 54
2.2 Angstbewältigung ............................................................................................. 56
7
Inhaltsverzeichnis
2.3 Vulnerabilität für Angststörungen .................................................................. 59
2.3.1 Genetische Faktoren ........................................................................... 59
2.3.2 Vulnerabilitätsmarker .......................................................................... 60
2.3.3 Umgebungseinflüsse ............................................................................ 64
3 Affektive Störungen .........................................................................75
3.1 Symptome der Depression .............................................................................. 75
3.1.1 Depressive Verstimmung ................................................................... 75
3.1.2 Andere Affektveränderungen ............................................................ 75
3.1.3 Beeinträchtigungen im Selbstwertgefühl .......................................... 76
3.1.4 Beeinträchtigung der Motivation und des Verhaltens .................... 76
3.1.5 Beeinträchtigung des Denkens .......................................................... 76
3.1.6 Körperliche Beeinträchtigungen ........................................................ 77
3.2 Bipolare Störungen ........................................................................................... 78
3.2.1 Symptomatik von unipolarer vs. bipolarer Depression .................. 79
3.2.2 Biologische Faktoren in der Melancholie ......................................... 81
3.3 Symptome der Manie ....................................................................................... 82
3.4 Hormonelle und geschlechtsrollenspezifische Einflüsse auf die
Stimmungsregulierung ..................................................................................... 84
3.4.1 Einflüsse auf das Auftreten von Depressionen ............................... 84
3.4.2 Einflüsse auf das Auftreten des prämenstruellen Syndroms ......... 85
3.4.3 Einflüsse auf das Auftreten von Postpartum- Depressionen ........ 85
3.5 Genetisch bedingte Vulnerabilität .................................................................. 86
3.5.1 Kinder depressiver Eltern .................................................................. 89
4 Gliederung affektiver Beeinträchtigung – Angst und Depression ........93
5 Schizophrenie – Denkstörungen als Achsensyndrom .........................97
5.1 Geschichtlicher Überblick über die Entstehung der Diagnose
„Schizophrenie“ ................................................................................................ 97
5.2 Diagnostische Kriterien ................................................................................. 100
5.3 Einige wichtige Differentialdiagnosen – Andere psychotische
Störungen.......................................................................................................... 102
5.3.1 Schizoaffektive Störung .................................................................... 102
5.3.2 Überlappung zwischen bipolaren Störungen und der
Schizophrenie ..................................................................................... 109
5.3.3 Depressive Syndrome in der Schizophrenie .................................. 110
5.3.4 Wahnstörungen .................................................................................. 110
5.4 Symptome: Bereiche, in denen bei schizophrenen Patienten
Beeinträchtigungen vorliegen ........................................................................ 112
5.4.1 Aufmerksamkeit ................................................................................. 112
5.4.2 Bewusstsein ........................................................................................ 113
5.4.3 Selbstbewusstsein ............................................................................... 114
5.4.4 Denken ................................................................................................ 115
8
Inhaltsverzeichnis
5.5
5.6
5.7
5.8
5.9
5.4.5 Wahn ................................................................................................... 116
5.4.6 Affekt- bzw. Persönlichkeitsstörungen ........................................... 120
5.4.7 Wahrnehmungsdefizite ..................................................................... 121
5.4.8 Störung der Rationalität und des Denkens .................................... 122
5.4.9 Formale Denkstörungen ................................................................... 125
5.4.10 Sprache ................................................................................................ 127
5.4.11 Störung des Gedächtnisses ............................................................... 128
5.4.12 Wahrnehmung – Halluzinationen ................................................... 129
5.4.13 Emotionen .......................................................................................... 131
5.4.14 Bewegungsstörungen ......................................................................... 134
5.4.15 Unterscheidung von positiven und negativen Symptomen ......... 135
Klassifikation, Untergruppen, Häufigkeit ................................................... 135
Verlauf der Schizophrenie ............................................................................. 136
5.6.1 Early-Onset-Schizophrenie .............................................................. 136
5.6.2 Einfluss von hormonellen und anderen geschlechtsgebundenen Faktoren auf Auftreten und Verlauf der Schizophrenie ... 138
5.6.3 Verlauf der kognitiven Beeinträchtigung ........................................ 140
5.6.4 Neurokognitive Beeinträchtigungen und soziale Anpassung
bzw. längerfristige Prognose schizophrener Patienten ................. 142
5.6.5 Gestaltpsychologische Interpretation der Symptome und des
Verlaufs der Schizophrenie – die Stadieneinteilung von
Conrad.................................................................................................. 143
Organische Ursachen der Schizophrenie .................................................... 148
5.7.1 Radiologische Hinweise .................................................................... 149
5.7.2 Neurologische Evidenz ..................................................................... 150
5.7.3 Neuropsychologische Theorien ....................................................... 151
5.7.4 Körperliche Krankheiten .................................................................. 151
5.7.5 Probleme schizophrener Patienten als Problem in der Steuerung des Denkens ................................................................................ 152
5.7.6 Störungen des Transmitterhaushalts als Ursache der
Schizophrenie ..................................................................................... 157
Genetische Ursachen der Schizophrenie .................................................... 159
5.8.1 Genetik der Schizophrenie – Gesamtbeurteilung der Bedeutung genetischer Einflussfaktoren durch Rutter (2006) ............... 159
5.8.2 Zwillingsstudien ................................................................................. 160
5.8.3 Adoptionsstudien ............................................................................... 161
5.8.4 Epidemiologie der Schizophrenie-Spektrum-Störung .................. 161
5.8.5 Schizotaxie .......................................................................................... 162
5.8.6 Vererbungsmodus .............................................................................. 162
Pränatale Umwelteinflüsse ............................................................................ 167
6 Organisch bedingte psychische Störungen ...................................... 177
6.1 Symptome, die auf eine organische Genese hindeuten ............................. 177
6.2 Psychoorganische Syndrome ........................................................................ 181
9
Inhaltsverzeichnis
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.2.4
6.2.5
6.2.6
6.2.7
6.2.8
Demenz ............................................................................................... 182
Delir ..................................................................................................... 184
Amnestisches (Korsakow-)Syndrom ............................................... 185
Organische Halluzinose .................................................................... 187
Organisches Wahnsyndrom ............................................................. 188
Organisches affektives Syndrom ..................................................... 188
Organische Persönlichkeitsänderung .............................................. 188
Dämmerzustände ............................................................................... 189
7 Somatische Therapieverfahren ....................................................... 193
7.1 Somatische Therapieverfahren bei Angststörungen .................................. 193
7.1.1 Generalisierte Angststörung ............................................................. 193
7.1.2 Panikstörung mit bzw. ohne Agoraphobie .................................... 195
7.1.3 Sozialphobie ....................................................................................... 197
7.1.4 Spezifische Phobien ........................................................................... 198
7.1.5 Posttraumatisches Stresssyndrom ................................................... 198
7.1.6 Zwangsstörung ................................................................................... 198
7.2 Somatische Therapieverfahren bei affektiven Störungen ......................... 199
7.2.1 Trizyklische Antidepressiva .............................................................. 199
7.2.2 Monoaminoxidase-Hemmer (MAOI) ............................................. 201
7.2.3 Antidepressiva der zweiten Generation .......................................... 202
7.2.4 Selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) ......................... 202
7.2.5 Offene Fragen in der medikamentösen antidepressiven
Behandlung ......................................................................................... 203
7.2.6 Neuere in Erprobung befindliche medikamentöse Behandlungen für Depressionen .......................................................................... 205
7.2.7 Schlafentzugsbehandlung bzw. Wachtherapie ............................... 206
7.2.8 Lichttherapie ....................................................................................... 207
7.2.9 Elektro-(Heil-)Krampfbehandlung ................................................. 207
7.3 Somatische Behandlungsmethoden der Schizophrenie ............................ 212
7.3.1 Neuroleptika ....................................................................................... 212
7.3.2 Atypische antipsychotische Medikamente ...................................... 216
7.3.3 Auswirkungen der medikamentösen Behandlung auf die
neurokognitiven Defizite .................................................................. 219
7.3.4 Experimentelle medikamentöse Behandlungen und
Behandlungsstrategien ...................................................................... 220
Stichwortverzeichnis ......................................................................... 223
10
1
Psychologie emotionaler Störungen
1.1
Der Beitrag der Emotionspsychologie
Das psychologische Verständnis von Emotionen basiert vorwiegend auf den
Alltagserfahrungen emotionaler Reaktionen (Natsoulas, 1973). Was Emotionen
sind, lässt sich an Beispielen verständlich machen; dagegen ist es schwierig, die
bestimmenden Merkmale emotionaler Reaktionen zu benennen. Am sinnvollsten erscheint es daher, Emotionen als komplexe, aus mehreren Komponenten
bestehende psychobiologische Phänomene zu betrachten. Emotionen sind Teil
der subjektiven, unmittelbaren Erfahrung. Sie drücken sich in Gefühlen, Gedanken und Handlungstendenzen aus und sind mit wahrnehmbaren und
messbaren körperlichen Reaktionen verbunden, die das emotionale Erleben
ebenso konstituieren wie die zugeordneten Bewusstseinsinhalte. Unter Verzicht auf eine generelle Definition von Angst und Emotion soll deshalb unter
Bezugnahme auf emotionspsychologische Theorien die Bedeutung der einzelnen Komponenten – nämlich kognitiver, subjektiver, körperlicher und motorischer Prozesse – bei emotionalen Reaktionen dargestellt werden.
1.2
Kognitive Emotionskomponenten
1.2.1 Perzeptions- und Urteilsprozesse
Als wesentliches Merkmal von Emotionen wird von vielen Emotionspsychologen eine besondere Form der Wahrnehmung, der Verarbeitung und des
Urteils zugeordneter Informationen angesehen. Eine solche Auffassung legte
beispielsweise auch Wundt seiner Theorie der basalen Gefühlsregungen
zugrunde. Danach lösen alle auf den Organismus einströmenden Informationen gefühlsmäßige Reaktionen aus, die zu einer Beurteilung dieser Informationen nach den grundlegenden Komponenten der Gefühlsqualität (Lust – Unlust, Erregung – Beruhigung, Spannung – Lösung) führen.
Auch in Arnolds kognitiv-motivationaler Emotionstheorie (Arnold, 1960)
wird die besondere Qualität des Urteilsprozesses bei Emotionen betont: Ihm
zufolge liegt Emotionen ein direktes und unmittelbares Urteil über einen
Sachverhalt zugrunde, das diesen als gut oder schlecht, angenehm oder bedrohlich kennzeichnet. Der evaluative Vorgang bei Emotionen ist also eine
unmittelbare Reaktion auf eine Situation – unmittelbar in dem Sinn, dass sie
notwendigerweise aus einer vorausgehenden Haltung entspringt und relativ
11
Psychologie emotionaler Störungen
rasch erfolgt. Die Eigenart des emotionalen Urteils ist auch dadurch gegeben,
dass nicht nur ein Objekt oder eine Situation, sondern zugleich auch die daraus resultierenden Konsequenzen bewertet werden. Als Kennzeichen der
Emotionen sieht Arnold die mit dem anfänglichen Urteil verbundene Anziehung oder Abstoßung. Im emotionalen Urteil wird somit direkt ein Bindeglied
zwischen einer Situation und dem Verhalten hergestellt. Jede affektive Reaktion impliziert damit auch gewisse Handlungstendenzen.
Am klarsten wurde die Auffassung, dass Emotionen im Grunde eine besondere Art des Urteilens über Umweltbedingungen seien, von Zajonc (1980)
dargestellt. Dieser hat sich ausdrücklich gegen die Auffassung gewandt, dass
Gefühle und Affekte erst aufgrund inhaltlicher Unterscheidungen, Merkmalsidentifikationen und einer Bedeutungsanalyse von Objekten oder Situationen
zustande kommen würden. In vielen Situationen würden affektive Reaktionen
schon ausgelöst, noch ehe ein genaues Kennenlernen von einzelnen Gegenständen überhaupt möglich sei. Objekte können also – um emotionale Reaktionen zu verursachen – relativ unbekannt sein. Bei affektiv bestimmten Entscheidungen würden deshalb häufig vorausgehende rationale Überlegungen
fehlen – oder nur sekundär und im Nachhinein zur Rechtfertigung affektiv
feststehender Urteile vorgenommen.
Im Allgemeinen ist es schwer feststellbar, was der Auslöser für eine emotionale Reaktion war, da der kognitive Gehalt von Emotionen kaum verbalisierbar ist. Vor allem in der zwischenmenschlichen Kommunikation sind jene
Aspekte, die nicht verbal übermittelt werden, für die affektiven Reaktionen
entscheidender als die verbal mitgeteilten. Die Haltung anderen gegenüber
wird in besonderer Weise durch Mimik und Gestik, aber auch durch Intonation und Tonfall beim Sprechen beeinflusst. Obwohl diese Informationen nur
schwer beschreibbar sind, lassen sie sich doch eindeutig beurteilen. Das Erkennen der affektiven Bedeutung von Informationen geschieht relativ rasch,
schneller jedenfalls, als andere (semantische) Urteile getroffen werden können.
Trotzdem werden affektiv relevante Informationen besser behalten. Dieses
Behalten affektiv bedeutsamer Informationen weist auch einige Merkmale auf,
die auf eine besondere Verarbeitungsform hindeuten. So werden bei affektiv
relevanten Informationen die zuerst aufgenommenen Eindrücke am besten
behalten, während bei affektiv neutralen Lernvorgängen die zuletzt aufgenommenen Informationen am besten gemerkt und wiedergegeben werden
können. Der affektive Informationsgehalt dürfte nur teilweise verbal kodiert
und behalten werden. Überdies dürfte auch den zugeordneten körperlichen
Reaktionen eine besondere Bedeutung für die Kodierung der Affekte zukommen.
Affekte stehen bildhaften Vorstellungen näher als einer verbal-semantischen Informationsverarbeitung (Paivio, 1971). In diesen bildhaften Vorstel12
Psychologie emotionaler Störungen
lungen sind sowohl Aspekte der auslösenden Reizsituation als auch Reaktionskomponenten enthalten (Lang, 1979a, 1979b). Diese Vorstellungen sind
nicht statisch, sondern stellen aufeinander folgende, dynamische Sequenzen
dar, in die perzeptuelle und motorische Elemente integriert sind. Lang bezeichnete diese Sequenzen in Anlehnung an Konzepte der Kognitiven Psychologie (Schank & Abelson, 1977) als „Skripte“. In diesen Skripten sind
somit die reaktionsbestimmenden Situationsmerkmale wie auch der Handlungsvorgang eingeschlossen. Die Integration von äußerer Situation und eigenen Reaktionen ist aber bereits im Wesen der affektiven Urteile impliziert, die
sich ebenso auf die äußeren Bedingungen wie auf die eigene Person beziehen.
Affektive Urteile schließen demnach auch die eigene Person in das Urteil mit
ein. Wohl deshalb werden diese Urteile als besonders valide empfunden und
haben die Tendenz zur Unwiderrufbarkeit (Zajonc, 1980). Zajonc streicht
weiters hervor, dass affektive Urteile nicht der bewussten Kontrolle unterliegen, vielmehr erfolgen sie unmittelbar und automatisch ohne bewusste Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte der Situation und ohne
gezielte Auseinandersetzung. Affektive Urteile sind insofern auch unvermeidbar.
1.2.2 Emotionale Gedächtnisschemata
Wundt (1911), der sich bemüht hatte, die besonderen Merkmale von Gefühlsqualitäten durch Introspektion zu erfassen, betonte den rasch wechselnden,
fließenden Charakter von Gefühlszuständen und die Eigentümlichkeit, dass
Affekte ihre Stabilität nur durch die Verbindung von Gefühlen und Vorstellungen erhalten.
Ähnliche Überlegungen hat Leventhal (1979, 1980) in seiner Emotionstheorie vorgebracht: Nur mithilfe besonderer affektiver Gedächtnisschemata sei
die Integration einzelner emotionaler Reaktionskomponenten möglich und
die Kontinuität der eigenen Erfahrung gewährleistet. Diese affektiven Gedächtnisschemata sollen – wie auch Lang (1979a, 1979b) annimmt – die Form
von bildähnlichen Vorstellungen haben und nicht nur emotionalen Ausdruck,
autonome Reaktionen und instrumentelle Verhaltensweisen zu einem subjektiven Gefühlszustand integrieren, sondern auch das an einer Situation Wahrgenommene mit dem eigenen Erleben verbinden. Es handelt sich somit um
perzeptuelle Schemata, in denen die Einzelwahrnehmungen in strukturierter
Form repräsentiert sind. Manche dieser affektiven Schemata knüpfen an konkreten Erfahrungen an, sind also episodisch; andere Schemata sind durch die
Integration verschiedener Erlebnisse entstanden und daher eher prototypisch
und generell. In diesen Schemata kann es auch zur Zusammenfügung ver-
13
Psychologie emotionaler Störungen
schiedener basaler emotionaler Reaktionen kommen, sodass eine fast unbegrenzte Differenzierung affektiver Reaktionsweisen möglich ist.
Die Organisation des affektiven Gedächtnisses erlaubt eine unmittelbare
Reaktion auf relevante, einem affektiven Schema entsprechende Situationsmerkmale. Die Schemata steuern jedoch auch die Selektion von Informationen, die Fokussierung der Aufmerksamkeit und die Heraushebung von Situationsinformationen entsprechend den Strukturen der Schemata.
Nach Leventhal (1979, 1980) gehen emotionale Erfahrungen jedoch außer
in affektive Schemata auch in das semantische System ein. Das darin gespeicherte Wissen stellt eine Abstraktion verschiedener Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit Gefühlen dar. Die Abstraktionen knüpfen an einzelnen
Merkmalen dieser Erfahrungen an, die nicht notwendigerweise von besonderer Bedeutung sein müssen. Deshalb kann das semantische System zwar emotionale Reaktionen beeinflussen, es unterliegt jedoch bei der Steuerung emotionaler Reaktionen leicht Täuschungen und Verfälschungen. Da sich das
semantische System sprachlicher Kodierung bedient, ist andererseits auf dieser Ebene die Vermittlung persönlicher Erfahrungen mit dem soziokulturellen Umfeld und ein gewisser Ausgleich persönlicher Täuschungen möglich.
Durch das bewusste Hinlenken der Aufmerksamkeit auf einzelne Komponenten können affektive Reaktionen bis zu einem gewissen Grad gesteuert
werden. Dadurch wird die Qualität des emotionalen Erlebens aber verändert
und der spontane emotionale Ausdruck gehemmt. Nach Leventhal kommt
diese Wirkung dadurch zustande, dass die Beachtung einer Affektkomponente die Integration aller Komponenten und die Einheit der perzeptuellen und
expressiven Vorgänge stört. Das Gleiche gilt auch für die Beachtung des emotionalen Ausdrucks. Andererseits ist ohne spontanen Ausdruck das emotionale Erleben selbst beeinträchtigt. Das Ausdrucksverhalten unterliegt zwar weitgehend der willkürlichen Kontrolle, spontane und willkürliche Bewegungen
sind aber unterschiedlich organisiert und der Anteil an spontaner und willkürlicher Innervation am jeweiligen motorischen Verhalten wird automatisch
geprüft. Das Ergebnis dieses Vergleichs bestimmt die subjektive Erfahrung
und das Erleben des eigenen Verhaltens.
1.2.3 Attributionsprozesse
Emotionale Reaktionen auf äußere Ereignisse sind v. a. durch das Urteil
über deren verursachende Faktoren bestimmt. Dieser Gesichtspunkt wird
besonders in der sozialpsychologischen Attributionstheorie hervorgehoben,
der es um das Verständnis jener Prozesse geht, die bei der Einschätzung der
Ursachen von Ereignissen und Handlungen und ihrer Konsequenzen wirksam sind.
14
Psychologie emotionaler Störungen
Die Attributionstheorie hatte ursprünglich den Prozess der Urteilsbildung über die Ursachen von Verhaltensweisen als objektiven, nur in
Ausnahmen verfälschten Informationsverarbeitungsprozess betrachtet.
Neuere attributionstheoretische Ansätze betonen dagegen die Abhängigkeit
dieses Prozesses von vorausgehenden Strategien und Annahmen, durch
welche die Wahrnehmung der Ursache-Wirkungs-Beziehung systematisch
verfälscht wird (Kelley & Michela, 1980). Als Ursachenerklärungen wurden
z. B. individuelle Fähigkeiten, die Schwierigkeit einer Aufgabe oder begünstigende Umstände hervorgehoben (Heider, 1958), jedoch gibt es keine generellen Ursachenkategorien, und die für ursächlich betrachteten Faktoren
variieren von Situation zu Situation und von Kultur zu Kultur.
Inhaltlich lassen sich die Ursachen verschiedenen Dimensionen zuordnen. Das wichtigste Unterscheidungskriterium liegt darin, dass die Ursachen
und die Verantwortung für ein Ereignis als in der eigenen Person oder bei
anderen Personen gelegen betrachtet werden können. Ferner ist von Bedeutung, ob die Ursache als stabil, d. h. also auch in künftigen, ähnlichen Situationen wirksam, oder als instabil und zufällig variierend betrachtet wird
(Weiner et al., 1978). Nach der Attributionstheorie hängt eine direkte affektive Konsequenz von Ereignissen davon ab, ob diesen ein positiver oder
negativer Wert zugemessen wird. Die affektiven Konsequenzen werden
jedoch durch die Ursachenerklärungen (Attributionen) entscheidend modifiziert (Weiner, 1980, 1982). So ist für die affektiven Auswirkungen auf das
Selbstwertgefühl entscheidend, ob sie als Folge des Beitrags gewertet werden, den man selbst eingebracht hat, oder aber als Folge äußerer Umstände
und der Aktivität anderer. Weiß man sich selbst für ein Ereignis verantwortlich, so verstärkt dies im Allgemeinen die affektive Reaktion, unabhängig
davon, ob das Ereignis als positiv oder als negativ bewertet wird. Ob der
Einfluss der als verantwortlich bewerteten Faktoren anhaltend oder nur
vorübergehend wirksam ist, gibt den Ausschlag dafür, ob Erwartungsänderungen auch für spätere derartige Ereignisse eintreten. Wird ein Ereignis als
Misserfolg gewertet oder stellt es sich als die Folge eigenen Versagens dar,
so wird nicht nur gegenüber künftigen derartigen Ereignissen eine gewisse
Ängstlichkeit entwickelt, sondern häufig auch Apathie oder anhaltend depressive Verstimmung. Letztere ist dann Folge einer Verschiebung der Erwartungen über das Ausmaß an Befriedigung, das künftig angenommen
wird. Schließlich ist für die affektive Reaktion entscheidend, ob die Auswirkungen auf ein Ereignis beabsichtigt sind und in der Kontrolle des Handelnden liegen. Wenn ein anderer mitgeholfen hat, ein günstiges Ereignis
herbeizuführen, so wird sich das Gefühl ihm gegenüber an den ihm ursprünglich zur Verfügung gestandenen Handlungsalternativen ausrichten.
15
Psychologie emotionaler Störungen
Wenn jemand für ein Ereignis verantwortlich war, ist also ausschlaggebend,
ob diese Verantwortlichkeit durch eigene Entscheidung bestimmt war.
Affekte werden in den meisten attributionstheoretischen Ansätzen als
wesentlich für die Auslösung und Steuerung von Handlungen betrachtet.
Sie vermitteln zwischen den kognitiven Prozessen der Attributionszuweisung und den zugeordneten künftigen Handlungskonsequenzen. Weiner
(1980) hat jedoch auch die attributionalen Konsequenzen von Affekten
betont. Danach steuern Affekte auch die Zuschreibung von Ursachen für
Handlungen. Affekte bedeuten in dieser Interpretation interne Informationen über die eigene Reaktion – und mithilfe des Ausdrucksverhaltens externe Information an andere, welche die semantisch kodierte, verbal übermittelte Information ergänzt.
1.2.4 Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung
Emotionale Reaktionen beziehen sich nur insoweit auf die objektiven
Merkmale einer Situation, eines Objekts oder einer Person, als sie sich in
der subjektiven Wahrnehmung und Interpretation wiederfinden. Die Art
und Intensität der emotionalen Reaktionen werden auch von den Ansichten, Überzeugungen und Wertvorstellungen des Einzelnen geprägt, solange
diese der Aufmerksamkeit und dem Bewusstsein zugänglich sind. Dieses
Bewusstsein über die eigenen Ansichten und Ziele ist nicht immer gleich
ausgeprägt. Es wird durch äußere Umstände beeinflusst und ist dann erhöht, wenn die Umstände die Aufmerksamkeit verstärkt auf die eigene
Person lenken (z. B. durch die Gelegenheit, sich selbst zu beobachten).
Die Möglichkeit, durch Manipulation von Situationsmerkmalen die Intensität der Selbsterfahrung beeinflussen zu können, hat wesentlich zur
Entwicklung der Selbsterfahrungstheorie beigetragen (Duval & Wicklund,
1972; Wicklund, 1975). Durch solche Manipulationen (etwa durch das Aufstellen eines großen, gut sichtbaren Spiegels) konnte nachgewiesen werden,
dass ein erhöhtes Bewusstsein der eigenen Person dazu führt, dass selbst
gesetzte Richtlinien für das eigene Verhalten sowie typische eigene Verhaltensweisen stärker vergegenwärtigt werden und vermehrt das tatsächliche
Verhalten bestimmen. Dadurch kommt es zu einer größeren Konsistenz im
Verhalten (Carver & Scheier, 1981). Diskrepanzen zwischen dem momentanen Verhalten und den persönlich anerkannten Richtlinien und Idealen
werden deutlicher realisiert (Duval & Wicklund, 1972). Bei erhöhter Selbsterfahrung wird dann die Umgebung verstärkt unter dem Aspekt ihrer Bedeutsamkeit für die eigenen Vorstellungen betrachtet, zudem werden die im
Umgang mit einer Situation gemachten Erfahrungen stärker strukturiert
(Hull & Levy, 1979).
16
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