Infantile Zerebralparese ± Pathogenese und Behandlung der

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Infantile Zerebralparese
Infantile Zerebralparese ±
Pathogenese und Behandlung der
gestörten Hüftentwicklung
Neuroorthopädie I
B. Doll
Klinik für Kinderorthopädie, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin
Der kindlichen Hüftentwicklung wird aus orthopädi−
schem Blickwinkel eine zentrale Bedeutung für die zu
erwartende Steh− und Gehfähigkeit beigemessen. Am
Beispiel der neuromuskulären Störungsbilder der in−
fantilen Zerebralparese sollen exemplarisch die Krite−
rien der normalen denen der pathologischen Hüftent−
wicklung gegenübergestellt werden. Das sich aus dem
Verlauf ergebende aktuelle Therapiekonzept und Ma−
nagement sowohl für die konservative als auch für die
operative Behandlung werden dargestellt und Indika−
tionsgrenzen aufgezeigt. Fallbeispiele verdeutlichen
die Vorgehensweise. Zielvorstellung ist, dem Anwen−
der eine breiter fundierte Basis zur Einleitung spezifi−
scher therapeutischer Maßnahmen und eine möglichst
realitätsnahe prognostische Beurteilung zu vermitteln.
Damit wird die Wahl der therapeutischen Mittel besser
definierbar. Kurz−, mittel− und langfristige Therapie−
ziele lassen sich eindeutiger formulieren.
Infantile Zerebralparese
Epidemiologie
Definitionen
Die infantile Zerebralparese (nach dem britischen
Orthopäden William John Little auch ¹Little Disease“
genannt) ist eine nichtfortschreitende funktionelle
Hirnschädigung mit Auswirkung auf Nerven− und
Muskelsystem. Die Störungen von Koordination und
Bewegungsabläufen manifestieren sich am häufigsten
durch spastische Mischformen und eine Erhöhung
der Muskelspannung (Muskelhypertonie).
Die von der Cerebral Palsy Society formulierte aktu−
elle Definition der infantilen Zerebralparese lautet:
¹Es handelt sich um eine persistierende, aber nicht
unveränderliche Störung von Haltung und Bewegung
durch Abweichen der Zerebralfunktion prä−, peri− oder
postnatal vor dem Abschluss von Entwicklung und
Wachstum des Gehirns.“
Das bedeutet, dass diese Art der infantilen neuro−
muskulären Störung modifizierbar, aber nicht heilbar
ist. Diese Auffassung bestimmt in hohem Maße unseren
therapeutischen Blickwinkel.
Von 1000 Neugeborenen sind 2 ± 4, also 0,2 ± 0,4 % von
einer frühkindlichen Hirnschädigung unterschiedlichs−
ter Ursache betroffen. Die Geschlechtsverteilung ist an−
nähernd gleich.
Ätiologie und Pathogenese
Die Ausprägung dieses Störungsbildes ist individuell
sehr unterschiedlich. Bei den leichter betroffenen Kin−
dern finden wir lediglich Störungen der Tonusregulie−
rung im Bereich der peripheren Skelettmuskulatur. Bei
den stark betroffenen Kindern kommen allgemeine
Entwicklungsstörungen bis zum Kontrollverlust von
Haltung und Willkürmotorik hinzu. Zusätzlich bestehen
bei diesen Fällen erhebliche Störungen der Wahrneh−
mung und der Wahrnehmungsverarbeitung. Die Über−
gänge zwischen leichter und schwerer Verlaufsform
sind fließend.
Grundsätzlich ist der Verlauf der Erkrankung vom
Zeitpunkt der Schädigung abhängig. Je früher die Schä−
digung im Schwangerschaftsverlauf auftritt, umso
schwerwiegender sind die Folgen. Prinzipiell kann die
zugrunde liegende Hirnschädigung im Zeitraum zwi−
schen Schwangerschaftsbeginn und Ende der Markrei−
fung im 4. Lebensjahr liegen.
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142 ê DOI 10.1055/s−2006−925006
125
Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
Hintergrund
Ursachen für frühkindliche Hirnschädigung
Pränatal (ca. 20 % der Fälle):
Hypoxie
n Intoxikationen durch Medikamente, Alkohol, Kohlen−
monoxid
n Stoffwechselstörungen
n Infektionskrankheiten der Mutter (Röteln, Toxoplasmose)
n Plazentainsuffizienz
n genetische Störungen
n
Perinatal (ca. 60 % der Fälle):
Risikogeburten (Frühgeborene) mit Sauerstoffmangel
n geburtstraumatische Schäden (Hirnblutungen)
n Nabelschnurverlegung
n Plazentaablösung
n
Postnatal (ca. 20 % der Fälle):
Hirngefäßverschlüsse (Thrombose, Embolien) als Folge
von Infektionen
n Blutgruppenunverträglichkeit
n Infektionskrankheiten (z. B. Meningitis)
n Schädel−Hirn−Trauma
n
n
Pathogenese struktureller Kontrakturen und
ossärer Deformitäten
Bei Patienten mit frühkindlicher Hirnschädigung liegen
Störungen des neuromuskulären Systems, der statomo−
torischen Entwicklung und der Allgemeinentwicklung
vor. Auch alleinige mentale Retardierungen können,
wenn sie, was nicht selten zutrifft, mit abnormen Be−
wegungsmustern assoziiert sind, zu fehlerhaften Hüft−
entwicklungen führen. Häufig und irrtümlich werden
diese Patienten infolge ihrer ausgeprägten kognitiven
und psychischen Störungen zu einem späteren Zeit−
Störung des Muskeltonus
Muskelungleichgewicht
punkt ihrer Entwicklung in die Gruppe der Zereb−
ralparetiker eingeordnet.
Als Folge einer gestörten neuromuskulären Balance
finden wir bei den klinischen Untersuchungen häufig
muskuläre Asymmetrien, Dysbalancen, Kontrakturen
und Instabilitäten. Eine dauerhafte Erhöhung des mus−
kulären Tonus führt nicht nur zur Verkürzung in den
betroffenen Muskeln. Die spastische Muskulatur ge−
winnt im Wechselspiel zwischen Agonist (spastischer
Muskel) und Antagonist (nichtspastischer Muskel) aus−
geprägte Dominanz. Dieses funktionelle Ungleichge−
wicht ist in vielen Fällen so stark ausgeprägt, dass es zu
einem sog. Neglect−Phänomen des Antagonisten führt,
sodass dieser funktionell nicht mehr nutzbar wird. Als
Beispiel seien hier der funktionelle Ausfall des M. tibia−
lis anterior bei Dominanz des M. gastrocnemius oder
der Handgelenkstrecker bei Dominanz der Handge−
lenkbeuger genannt.
Ist der muskuläre Hypertonus nicht zu senken, gehen
die primär dynamischen in sekundär strukturelle Kon−
trakturen über.
Bestehen diese Defizite über einen längeren Zeit−
raum, kommt es zu Veränderungen auf Gelenkebene. Es
bilden sich Fehlhaltungen aus. Diese gehen im sponta−
nen Verlauf in Fehlstellungen über, die nicht nur die
primär betroffenen Gelenke betreffen, sondern auch die
Anschlussgelenke (Abb. 1 ).
In diesem Zusammenhang ist ein bei der Beschrei−
bung der Zerebralparese wichtiges Phänomen erwäh−
nenswert: Die Gelenkkapseln sind und bleiben dauer−
haft frei beweglich. Diese Eigenschaft führt dazu, dass
auch über viele Jahre bestehende muskuläre Kontrak−
turen häufig nicht in kapsuläre Kontrakturen über−
gehen. Die Lösung der muskulären Kontrakturen führt
dann zu freier Beweglichkeit auf Gelenkebene. Dieses
Phänomen macht den operativen Ansatz attraktiv und
das primäre Ergebnis spektakulär. Die Langzeitprognose
bleibt jedoch häufig schwierig.
Aufbauend auf der dauerhaften Dominanz spasti−
scher Muskulatur bildet sich die typische in Abb. 1 dar−
gestellte Kaskade aus.
" Je später interveniert wird, desto höher wird der
dynamische Muskelkontraktur
Aufwand für eine Korrektur.
Fehlhaltungen
Symptome und Diagnostik
sekundäre strukturelle Muskelkontrakturen
sekundäre ossäre Deformitäten (z.B. Hyftdysplasie, Fußdeformitäten)
Abb. 1
126
n
Entwicklung von Deformitäten.
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142
Während die schweren Verlaufsformen infolge ihrer
ausgeprägten pathologischen Motorik früh zu erkennen
sind, bereiten die leichteren Verlaufsformen auch heute
noch Schwierigkeiten in der Frühdiagnostik.
Infantile Zerebralparese
Hintergrund
Tabelle 1
Symptome der infantilen Zerebralparese
Die statomotorische Qualität in Relation zum Ausmaß der Spastik
Spastische Symptome (75 % der Fälle)
Hemiplegie
n Diplegie
n Tetraplegie
n Paraplegie
n Bilaterale Hemiplegie
n Monoplegie
n Triplegie
n
Ataktische Symptome (15 % der Fälle)
n Koordinations− und Gleichgewichtsstörungen
n Sprachstörungen, Tremor, Dys− und Asynergien
n hypotone Muskelspannungen
Dyskinetische Symptome (10 % der Fälle)
wurmartige, unkontrollierte und unwillkürliche Bewegun−
gen und Tremor
n mangelnde Kontrolle der Mimik, häufiges Grimassieren
n Überdehnung der Gelenkkapseln
n
n
Vorgehen zur Diagnosesicherung
Hinweisgebend sind anamnestische Angaben bezüglich
stattgefundener Komplikationen während der Schwan−
gerschaft und der peripartalen Phase sowie alle Früh−
geburten. Sind die Neugeborenen im motorischen Be−
reich auffällig (Tonus, Schreckhaftigkeit mit Auslösen
von Primärreaktionen) ist die Diagnose einer zerebralen
Bewegungsstörung als sicher anzunehmen. Bei den
leichten Verlaufsformen ist dies erst dann eindeutig,
wenn differenzierte Bewegungsabläufe, Stützreaktio−
nen und zu erwartende Vertikalisierungsschritte
(gezieltes Greifen, Sitzen, Robben, Krabbeln, Aufrichten
zum Stand) verspätet oder überhaupt nicht zu be−
obachten sind. Hilfreich für die Diagnosesicherung sind:
n
Kenntnisse im Bereich der normalen frühkindlichen
Entwicklung
n
Kenntnisse verschiedener Verlaufsformen der infan−
tilen Zerebralparese im Säuglingsalter
n
Eingehende Beobachtung von Motorik, Wahrneh−
mung und Emotionalität
n
Ausmaß des
spastischen Musters
Statomotorische Qualität
Prognose bzgl.
Hüftdysplasie
Monoparese
freies Laufen, keine Orthesen
sehr gut
Hemiparese
freies Laufen, evtl. Orthesen
sehr gut/gut
Diparese (leichte Form)
erschwertes Laufen,
evtl. Orthesen
gut
Diparese (schwere Form)
erschwertes Laufen mit Orthesen
mäßig/schlecht
Tetraparese
(leichte Form)
deutlich erschwertes Laufen
mit Orthesen
schlecht
Tetraparese
(schwere Form)
¹Laufen“ nur im Reflexschreit−
muster mit Orthesen
sehr schlecht
Tetraparese
(schwerste Form)
kein Laufen, kein Sitzen,
keine zielgerichtete Motorik
sehr schlecht
Checkliste
Diagnostische Kriterien zur Früherkennung
der infantilen Zerebralparese
Verzögerte statomotorische Entwicklung
Persistenz und Dominanz der tonischen
Reaktionen und Primitivreaktionen
Tonusanomalien
Asymmetrien, die das physiologische Maß überschreiten
Mangelhafte oder fehlende Gleichgewichtsreaktionen
Störung der Wahrnehmung (taktil, kinästhetisch, visuell,
auditiv)
Hintergrund
Differenzialdiagnose der spastischen Form der
infantilen Zerebralparese
Vorgehen zur prognostischen Einschätzung
n
Zur groben Einordnung der motorischen Störung und
der zu erwartenden Verlaufsform hat sich die folgende
Einteilung bewährt:
n
A: rein spastische Form
n
B: primär hypotone Form mit zunehmendem Über−
gang in eine spastische Verlaufsform
n
C: dystone Formen
n
n
n
Spinal bedingte spastische Monoparesen
Spinal bedingte spastische Paraparesen
Neurodegenerative hereditäre spastische Spinalparesen
Progrediente genetische oder tumorbedingte Erkrankungen
Zur prognostischen Einschätzung der motorischen Ent−
wicklung und der Ausbildung einer Hüftdysplasie hat
sich das folgende in Tab. 1 dargestellte Schema bewährt,
das die allgemeine Mobilität in Relation zur Ausprägung
des pathologischen Musters darstellt.
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142
127
Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
Hüftdysplasie und −luxation
Normale Hüftentwicklung
Normal entwickelte Kinder erlernen um das 1. Lebens−
jahr herum die Aufrichtung und das freie Gehen. Dies ist
eine der wichtigsten Voraussetzungen für die zukünfti−
ge, ungestörte Hüftentwicklung. Daraus geht hervor,
dass nicht allein nur biomechanische, neurogene und
muskuläre Qualitäten für das Endprodukt eines optimal
zentrierten Hüftgelenks verantwortlich sind, sondern
auch der zeit− und entwicklungsgerechte, ungestört ab−
laufende Vorgang der Aufrichtung.
Ein Hüftgelenk bleibt nur dann dauerhaft zentriert,
wenn all diese Steuerungsprinzipien langfristig und
ungestört erhalten bleiben. Eine zentrale Rolle nehmen
dabei das Stehen und Laufen ein.
Hüftentwicklung bei infantiler
Zerebralparese
Die Inzidenz postpartaler Hüftdysplasien und Luxation
zeigt bei behinderten und nichtbehinderten Kindern
annähernd das gleiche Verteilungsmuster. Ausnahmen
bilden dabei lediglich die extrem entwicklungsgestör−
ten, stark spastischen Kinder. In diesen Fällen kann
postpartal bereits eine Sub− oder vollständige Luxation
vorhanden sein. Sie sind aber keinesfalls obligatorisch.
Die Kinder kommen also in der Regel mit zentrierten
Hüftgelenken zur Welt. In Abhängigkeit vom Ausmaß
der Spastik, der Ausprägung der Entwicklungsretardie−
rung und weiteren Begleitstörungen entwickelt sich im
weiteren Verlauf eine Hüftdysplasie.
Aus biomechanischem Blickwinkel betrachtet, muss
jede zerebralparetische Hüfte, die muskulär nicht aus−
balanciert ist und nicht entwicklungsgerecht belastet
wird, als dysplasiegefährdet eingeschätzt werden. Aus−
nahmen bilden lediglich die mono− und leicht hemipa−
retischen Verlaufsformen. Bei allen anderen Formen
bildet sich durch die spastische Dominanz der Adduk−
Checkliste
Checkliste
Einflussfaktoren auf eine ungestörte
Hüftentwicklung
Knöcherne Anatomie
Neurogene Funktionen
Muskuläre Funktionen
Statomotorische Entwicklung
Allgemeine Entwicklung
toren eine Coxa valga aus. Dieser in der Fachliteratur
ausreichend bekannte Effekt wird durch die häufig ver−
spätete Aufrichtung noch verstärkt. Zusätzlich kommt
es zu Synergieeffekten mit den ebenfalls adduktorisch
wirkenden medialen Kniebeugern (M. semitendinosus,
M. semimembranosus) und dem M. gracilis. Bei Spasti−
zität des M. psoas wird die Kranialisierung des Femurs
noch weiter verstärkt und der M. psoas wirkt als me−
chanisches Repositionshindernis. Es entwickelt sich
eine typische spastische Hüftsubluxation, die, falls un−
behandelt, in eine vollständige Luxation mit allen Fol−
gen für Beckenstatik und Skolioseentwicklung übergeht
(s. Fallbeispiele 2 ± 4).
Bei schweren tetraspastischen Formen ist in über
80 % der Fälle mit einer sog. sekundären spastisch−para−
lytischen Hüftgelenksluxation zu rechnen.
Die Gründe für die Verschlechterung sind vielfältig.
Neben den biomechanischen Faktoren wie dem Ausmaß
der Tonuserhöhung, der Anzahl der betroffenen Mus−
keln und den sich daraus ergebenen Koordinationspro−
blemen spielt der allgemeine neurophysiologische Ent−
wicklungsprozess bzw. dessen Störung eine wesent−
liche Rolle. Diese globale Reifungsstörung ist dafür ver−
antwortlich, dass der größte Teil der schwer betroffenen
Kinder nicht die Kompetenz erwerben kann, sich aus−
reichend gegen die Schwerkraft zu stabilisieren. Somit
ist für diese Gruppe eine aktive Belastung, die für die
formative Reizgebung zur Entwicklung normaler Hüft−
gelenke notwendig ist, nicht möglich. Bei dieser Gruppe
ist mit den ausgeprägtesten Hüftdysplasien und Defor−
mitäten zu rechnen, die sich bei diesen Kindern beson−
ders rasch entwickeln.
Hüftentwicklung bei infantiler Zerebralparese
Die Hüftentwicklung ist abhängig von
Ausmaß der Spastik (z. B. Ashworth Scale)
Dauer der Spastik
Ausmaß der neurophysiologischen Retardierung
Ausmaß der mentalen Retardierung
Ausmaß von Begleitstörungen
(z. B. Wahrnehmungsstörungen auditiv, optisch, taktil)
Ausmaß neurologischer Störungen (z. B. Anfallsleiden)
128
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142
Symptome und Diagnostik
Leichtere Verlaufsformen der infantilen Zerebralparese
mit begleitenden Hüftreifungsstörungen werden häufig
erst dann evident, wenn sich die Kinder nach dem Er−
lernen des freien Gehens vermehrten und schwierigen
koordinativen Aufgaben, z. B. Balancieren, Hüpfen auf
einem Bein usw. gegenübergestellt sehen.
Im weiteren Verlauf führt die Grundstörung je nach
Ausprägungsart zu den typischen Haltungs− und Form−
Infantile Zerebralparese
veränderungen im Extremitätenbereich bis hin zur
sekundären spastischen Hüftgelenksluxation.
Checkliste
Diagnostik der Hüftreifungsstörungen
n
Vorgehen zur Diagnose der Hüftreifungs−
störungen
Zur klinischen Untersuchung gehört in besonderem
Maße die Prüfung der hüftübergreifenden Muskulatur.
Spastische Aktivitäten, dauerhafte Fehlhaltungen und
primäre Reflexmuster, die persistieren, gefährden die
Hüftentwicklung/−reifung. Hierzu sind die Adduktoren
einschließlich M. gracilis mit dem maximalen Abduk−
tionsausmaß zu beachten (kritisch bei ABmax < 408!). Die
Dehnfähigkeit der Kniebeuger sollte bei Prüfung nach
Las›gue 458 nicht unterschreiten. Hierbei sind sowohl
dynamische als auch strukturelle Kontrakturen bedeu−
tungsvoll. Die angegebenen Winkelmaße sind nur als
grobe Anhaltspunkte im Sinne von Warnhinweisen zu
verstehen. Sie können im Einzelfall unter− und über−
schritten werden.
Sind die kindlichen Hüften für sonografische Ver−
laufskontrollen zu ausgereift, sind radiologische Ver−
fahren erforderlich. Dabei sind die zeitaufwendigeren
Untersuchungen (MRT, CT) in fast allen Fällen nur in
Narkose durchführbar.
In den Vorstufen bilden sich eine Coxa valga, ein
dysplastischer Pfannenerker sowie osteochondrale
druckathrophische Veränderungen an der medialen
Hüftkopfkalotte aus. Diese radiologisch nachweisbaren
Veränderungen finden sich regelmäßig in allen Lang−
zeitverläufen mit Ausbildung einer Hüftdysplasie.
Therapie
" Konzepte zur Behandlung von Hüftdysplasien bei
neuromuskulären Störungen erfordern eine möglichst
präzise und einheitliche Sichtweise der zugrunde lie−
genden Pathomechanismen.
n
Therapieziele
Wenn wir gemäß der Definition der Cerebral Palsy
Society (s. S. 1) die Zerebralparese als eine primäre
nichtauslöschbare, aber modifizierbare Störung be−
Hintergrund
Anamnese
Neuroorthopädische Untersuchung
Bildgebende Diagnostik
n Nativröntgen
n Beckenübersichtsaufnahme: Migrationsindex nach
Reimers (s. Hintergrund−Box)
n Rippstein−Aufnahme: reeller Femurantetorsionswinkel,
CCD−Winkel, Pfannenerkerdefekt, Luxationsrinne
n 3−D−CT−Rekonstruktion: räumliche Beziehung zwischen
Femurkopf, Becken und Luxationskanal
n Bewegungsanalyse: zweidimensionale Videoaufzeichnung,
dreidimensionale computergesteuerte Ganganalyse−
systeme
trachten, ergibt sich daraus, dass diese Störung die
kindliche Entwicklung dauerhaft beeinflusst. Die Kinder
lernen mit dieser Veränderung umzugehen; d. h. auf der
Basis ihrer persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten,
ihrer motorischen, kognitiven, perzeptiven und neuro−
physiologischen Qualitäten entwickeln sie ein völlig
unterschiedliches persönliches Kompensationspoten−
zial. Dies erklärt die individuellen Verlaufsformen und
den sich daraus konsequenterweise ergebenden indivi−
duellen Therapieansatz.
Der Hüfte des zerebralparetischen Kindes ist beson−
dere Aufmerksamkeit zu widmen, da mit ihrer Ver−
schlechterung häufig ein erheblicher Funktionsverlust
und damit verminderte Lebensqualität einhergeht. Be−
rücksichtigt man die zu erwartende Verschlechterung
der muskulären Situation im Verlauf des Wachstums,
ist die dysplasiebezogene Schmerzprognose ungewiss
bis schlecht. Die Hüfte wird schmerzbedingt nicht mehr
belastet und Steh− bzw. Gehverlust drohen. Bei liegen−
den oder rollstuhlpflichtigen Kindern verstärkt sich die
Sitzproblematik (Schulbesuch!) und die Skolioseent−
wicklung nimmt zu. Wird nicht rechtzeitig interveniert,
z. B. im Rahmen eines komplexen Weichteileingriffes,
bereitet eine Spätversorgung erheblich mehr operativen
Aufwand und Belastung für den Patienten. Zudem zei−
gen die Spätversorgungen eindeutig schlechtere Ergeb−
nisse.
Migrationsindex nach Reimers
" Bei den zerebralparetischen Kindern ± hierbei sind
Der Migrationsindex klassifiziert den Grad der Dezentrierung.
Er gibt das Ausmaß des ossifizierten Femurkopfes an, welches
vom ossifizierten Azetabulum überdacht wird. Gemessen wird
der Prozentsatz des Femurkopfes, der lateral der vertikalen
Perkin−Linie im a.±p.−Strahlengang zur Darstellung kommt.
in der weiteren Betrachtung im Wesentlichen diejeni−
gen mit rein spastischen Formen gemeint ± wird man
der Grundstörung jedoch nicht ausreichend gerecht,
wenn man diese als ein alleiniges Problem der gestör−
ten Muskelfunktion und daraus resultierender patho−
logischer Motorik einordnet.
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142
129
Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
Betrachtete man die gestörte Muskelfunktion als aus−
schließliches Problem, würde man sich mit dem kurz−
fristigen Therapieziel einer Zentrierung der Hüfte zu−
frieden geben können. Da unser übergeordnetes Ziel
jedoch die verbesserte Funktion, d. h. die Nutzung der
Hüfte im Alltag ist, wird klar, dass die Hüftbehandlung
von Kindern ein wesentlich komplexeres Geschehen
darstellt. Wie wäre es sonst zu erklären, dass ein Teil der
tetraspastischen Kinder nach einem detonisierenden
3−Etagen−Weichteilprogramm (s. S. 7) dauerhaft von
diesem Eingriff profitiert und ein anderer Teil sich nach
dem gleichen operativen Vorgehen verschlechtert?
Das bedeutet, das zur Einschätzung des Behand−
lungserfolges, d. h. der weiteren Prognose die Gesamt−
situation des Kindes, seine perzeptiven, kognitiven,
neuromuskulären Potenzen, seine neurophysiologische
Reife sowie seine Intention und Motivation geprüft und
berücksichtigt werden müssen. Vernachlässigt man
diese Gesamtsicht, so klaffen die Erwartungen des Ope−
rateurs ± d. h. eine bessere Zentrierung und muskuläre
Steuerung der Hüfte ± mit denen des Patienten, der eine
bessere Funktion erwartet, weit auseinander.
Konservative Therapieformen
n
n
Ergotherapie
n
Orthopädietechnik (Funktionsschienen, Nacht−
schienen, Orthesen)
n
Tabelle 2
Indikationen, Anwendungsbereich und Durchführung
der Injektionen von Botulinumtoxin
Indikationen
n
n
n
" Erklärtes Idealziel ist bei beiden Perspektiven eine
n
optimal zentrierte Hüfte, die im Alltag vom Kind ohne
Einschränkung dauerhaft genutzt wird.
n
Adduktorenspasmus
Hüftdysplasie
Spitzfuß
Flexionskontrakturen (Ellenbogen, Hand)
Durchführung
< 6 Injektionen unter Lokalanästhesie/Analgosedierung
n > 6 Injektionen unter Allgemeinanästhesie
n Anlage von Gipsverbänden für 14 Tage
n Physiotherapie
n
Konservative Therapie
Wann und auf welche Weise sollte also einer Dyspla−
sieentwicklung entgegengewirkt werden? Die Opera−
tion ist nicht das therapeutische Mittel der ersten Wahl.
Sie steht meist am Ende nach Ausschöpfung aller kon−
servativen Mittel. Deshalb werden an sie auch extrem
hohe Erwartungen geknüpft. Stellt die Physiotherapie
eine Maßnahme neben anderen dar, die die Zerebral−
paretiker häufig durch ihr ganzes Leben begleitet, ist sie
doch im Kleinkindalter (ca. 0. ± 2. Lebensjahr) die
dominierende Therapieform. Sie wird im Kindesalter
(3. ± 12. Lebensjahr) fortgesetzt und durch medikamen−
töse (Baclofen) sowie orthopädietechnische Maßnah−
men unterstützt. Im pharmakologischen Bereich ist hier
in zunehmendem Maße Botulinumtoxin vertreten.
Durch gezielte Injektion in sog. ¹Schlüsselmuskeln“
(spastische Dominanz einzelner funktioneller Gruppen,
z. B. Adduktoren, Kniebeuger, Hüftbeuger, Fußsenker)
lassen sich funktionelle muskuläre Imbalancen zumin−
dest für einen begrenzten Zeitraum vermindern und
damit Hüftdysplasien minimieren oder gar verhindern.
Der therapeutische Effekt lässt sich durch Anwendung
von Orthesen oder Gipsverbänden zusätzlich verstärken.
Nach der Injektion ist der betreffende Muskel besser
physiotherapeutisch zu behandeln und die Akzeptanz
von Hilfsmitteln, wie Nachtlagerungsschienen, Abduk−
tionsschienen usw. verbessert sich.
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
Dynamische Kontrakturen
Spasmusinduzierte Schmerzzustände
Perioperativ als additive Maßnahme
Anwendungsbereich
n
130
Medikamentöse Therapie (Botulinumtoxin, Baclofen
usw.)
n
n
Physiotherapie auf neurophysiologischer Basis
(Bobath, Vojta usw.)
ê 2006 ê 125 ± 142
Für die Gruppe der schwer betroffenen tetraspastischen
Kinder, die ein sog. globales spastisches Muster aufwei−
sen, ist eine Botulinumtoxin−Behandlung in Folge der
Vielzahl der betroffenen Muskeln häufig ungeeignet, da
im Rahmen der Gesamtdosis für den einzelnen Muskel
keine effiziente Dosierung mehr möglich ist. Auch auf
weichteilchirurgische Maßnahmen reagieren sie häufig
paradox. Für diese Ausgangslage bewährt sich in zu−
nehmendem Maße die Implantation einer intrathekalen
Baclofen−Pumpe.
n
Operative Therapie
Sollten all diese Angebote aus dem Bereich der konser−
vativen Therapie keine ausreichende Kontrolle des
spastischen Musters und seiner Folgen bewirken, ist der
Wechsel auf orthopädisch−chirurgische Maßnahmen
gegeben. Ist es zu einem Übergang von primär dynami−
schen zu strukturellen Kontrakturen (Muskel−/Sehnen−
verkürzungen) gekommen, wird mit konservativen
Mitteln keine Verbesserung zu erzielen sein. Der pri−
märe orthopädisch−chirurgische Ansatz richtet sich auf
Infantile Zerebralparese
a
b
Abb. 2 n
Weichteilmaß−
nahmen.
a Proximale
Adduktorenab−
lösung.
b Intramuskuläre
Verlängerung
des M. psoas.
c Z−förmige Ver−
längerung der
Mm. semitendi−
nosus und graci−
lis sowie intra−
muskuläre Ver−
längerung des
M. semimembra−
nosus.
c
M. gracilis
M. semimembranosus
M. iliacus
M. semitendinosus
M. psoas
M. adductor
longus
M. gracilis
Ziel der Operation
Herstellung einer physiologischen muskulären
Balance zwischen Agonisten und Antagonisten, um
eine Zentrierung des Hüftkopfes in der Pfanne zu
ermöglichen.
die muskuläre Situation aus. Das bedeutet, dass ein
Wechsel von konservativer zu operativer Maßnahme
nicht primär an das Alter, sondern an die Entwicklung
des spastischen Musters gekoppelt ist.
Den Hauptteil der orthopädisch−chirurgischen Inter−
ventionen stellen mit ca. 85 % die Weichteilmaßnahmen
dar (Abb. 2 ). Sie dienen ebenso wie die konservativen
Maßnahmen zur Reduktion des Muskeltonus, zum Aus−
OP−Schritte und Tricks
Infantile Zerebralparese (spastische Form)
¹Weichteilprogramm“ für Patienten mit Di− und
Tetraparesen und Kompetenz zur Vertikalisierung
Verlängerung von
n
M. psoas, Kniebeugern, Achillessehne
n
Zehenflexoren, Teiltransfer M. tibialis posterior
n
distale Transposition von M. rectus femoris
n
proximale Ablösung der Adduktoren
gleich von Imbalancen und langfristig zur Vermeidung
sekundärer ossärer Deformierungen. Daraus ergibt sich
auch die Konsequenz, dass es obsolet ist, knöcherne
Veränderungen durch einen knöchernen Eingriff allein
zu korrigieren und die deformierenden Muskelkräfte
außer Acht zu lassen. Dies würde zu einer unausweich−
lichen Rezidiventwicklung führen und auf Hüftniveau
eine erneute Dysplasieentwicklung einleiten. Liegen
bereits deutliche ossäre Deformierungen vor, bieten
sich kombinierte Verfahren (knöcherner plus Weichteil−
eingriff) an.
" Für den Erfolg der Weichteilmaßnahmen sind wir−
kungsvolle Schmerztherapie und frühzeitige Mobili−
sierung entscheidend!
Dieses operative Konzept eignet sich für nahezu alle
spastischen Verlaufsformen der Zerebralparese. Eine
Ausnahme bilden lediglich die extrem stark entwick−
lungsgestörten aposturalen, tetraspastischen Kinder
mit globalem Muster. Bei ihnen führt eine Weichteil−
maßnahme zu einer postoperativ raschen Zunahme des
spastisch−rigiden Musters und insgesamt zu einer Ver−
schlechterung im Vergleich zur präoperativen Situation.
Gründe hierfür liegen in einem zunehmend fibrotischen
Umbau der Muskulatur und in der Dominanz der allge−
meinen Entwicklungsretardierung, die es dem Kind
nicht möglich macht, eine Änderung seines Systems zu
tolerieren. In diesen Fällen ist ein alleiniger knöcherner
Eingriff oft die einzige Möglichkeit. Er sollte immer mit
einer über das Varisierungsausmaß hinausgehenden
Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
ê 2006 ê 125 ± 142
131
Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
b
Abb. 3 n a, b Knöcherne Hüftrekonstruk−
tion. a Derotationsvarisierungsosteotomie
in Verbindung mit Azetabuloplastik nach
Pemberton. b Coxa valga, Pfannendysplasie,
Lateralisation. Beachte: Varisierungskeil
Verkürzung kombiniert werden (Abb. 3 ). Das operative
Vorgehen wird bei Bedarf um eine offene Hüfteinstel−
lung und pfannendachplastische Maßnahmen erwei−
tert. Hierzu gehören u. a. Verfahren modifiziert nach
Pemberton (s. Abb. 5 d) und bei älteren Kindern die
Dreifachbeckenosteotomie, die dem Verfahren nach
Chiari eindeutig überlegen ist, da sie artikulierende
chondrale Gelenkanteile gegenüberstellt (s. Abb. 7 b ).
Generell ist für Hüftrekonstruktionen zu sagen, dass
sie dann erfolgen sollten, wenn zu erkennen ist, dass es
trotz Ausschöpfung aller konservativen und evtl.
Weichteilmaßnahmen zu einer radiologischen Ver−
schlechterung kommt, die in drohender Luxation enden
wird. Diese knöchernen Korrekturen sollen dann so früh
wie möglich erfolgen, um die Periode des formativen
Reizes während des Wachstums maximal ausschöpfen
Checkliste
Operative Therapieoptionen
Weichteilmaßnahmen
n intramuskuläre Verlängerung des M. iliopsoas
n proximale Adduktorenablösung
n Sehnenverlängerungen−Transposition
Knöcherne Maßnahmen
n Derotationsvarisierungsosteotomie mit Azetabuloplastik
n Dreifachbeckenosteotomie
n valgisierende Osteotomien am koxalen Femurende
n endoprothetische Versorgung
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(Vollkeil) mit kleiner lateraler Basis und Zu−
stand nach Azetabuloplastik modifiziert
nach Dega unter Interposition des Varisie−
rungskeiles bei gleichzeitiger DVO (Derota−
tions−Varisierungsosteotomie).
OP−Tipp
Großer Varisierungskeil (Vollkeil) ergibt optimale über−
greifende Abstützung der Pfannendachplastik. Vorteil−
haft bei dysplastischen weichen Beckenknochen. Ver−
kürzungseffekt des Femurs ergibt zusätzliche musku−
läre Entspannung.
zu können. Zu späte operative Interventionen führen
insbesondere dann, wenn es zu ausgedehnten chondro−
dystrophischen Defekten des Hüftkopfes gekommen ist,
zu deutlich schlechteren Ergebnissen bzw. lassen kei−
nen Spielraum mehr für rekonstruktive Verfahren.
Hier bieten sich valgisierende Osteotomien am koxalen
Femurende z. B. nach Schanz, Kopf−Hals−Resektionen
oder eine frühe endoprothetische Versorgung an. Doch
auch diese Maßnahmen führen nur dann für den Pa−
tienten zu einem befriedigenden Ergebnis, wenn paral−
lel dazu das spastische Muster durch begleitende
Weichteilentspannung kontrolliert werden kann. Be−
gleitet werden all diese Maßnahmen durch Lagerungs−
hilfen, Physiotherapie und bei Bedarf Botulinumtoxin.
Bei sich abzeichnender Dysplasieentwicklung sind
1 ± 2−mal jährliche klinische und radiologische Kontrol−
len zu empfehlen. Bei Tendenz zur Verschlechterung
muss das Intervall für die Kontrolluntersuchungen ein−
schließlich Röntgendokumentation auf 3 ± 4 Monate
verkürzt werden, wenn eine Entscheidung für operative
Maßnahmen vonseiten der Entwicklungssituation des
Kindes oder bei fehlendem Einverständnis der Eltern
noch nicht getroffen werden kann.
Infantile Zerebralparese
Fallbeispiele
Abb. 4 n Junge
mit Diaparese.
a 11 Jahre. Guter
Läufer. Röntgen:
beginnende
Lateralisation
rechts.
In den folgenden Fallbeispielen werden die teilweise
massiv und foudroyant ablaufenden knöchernen Ver−
änderungen in Relation zur Allgemeinentwicklung und
damit zum Grad der Vertikalisierung dargestellt. Die
Kinder mit dem höchsten Maß an antigravitärer Kom−
petenz, d. h. freie Läufer, bei denen sich unter Schwer−
krafteinfluss keine wesentliche Zunahme des spasti−
schen Musters einstellt, haben die günstigste Hüft−
entwicklung zu erwarten (s. Fallbeispiel 1, Abb. 4).
Gleiches gilt für Kinder, deren Mobilitätsgrad durch
konservative und/oder operative Maßnahmen verbes−
sert wurde, d. h., die zur verbesserten Aufrichtung und
zum Gehen gekommen sind (vgl. Fallbeispiel 2, Abb. 5 ).
Bei den Kindern, die keine im Alltag nutzbare Geh−
fähigkeit entwickeln, sog. therapeutische Steher oder
Geher, bleibt die Hüftentwicklung ungewiss. Sie ver−
schlechtert sich sogar, wenn es zu keiner dauerhaften
Reduktion des Musters kommt und die vorhandenen
Muster unter Schwerkrafteinfluss noch verstärkt wer−
den (s. Fallbeispiel 3, Abb. 6 ).
Bei größeren Kindern und nach Verknöcherung der
Y−Fuge ist die Pfannenschwenkung über eine unoloku−
läre Osteotomie häufig ungenügend.
Neben dem erforderlichen Weichteilprogramm
(Verlängerung M. psoas, M. gracilis, M. semimembra−
nosus und M. tendinosus und Ablösung M. adductor
longus) ist das Azetabulum nur durch eine Dreifachos−
teotomie ausreichend über den Hüftkopf einstellbar
(s. Fallbeispiel 4, Abb. 7 ).
Komplikationen
b 13 Jahre. 1 Jahr postoperativ nach 3−Etagen−Weichteilprogramm
(Verlängerung von M. psoas, M. adductor longus, medialen Kniebeu−
gern, Achillessehnen bds.). Röntgen: vollständige Zentrierung.
Frühkomplikationen
Neben den üblichen postoperativen Problemen wie
n
Infekt,
n
Nachblutung
spielen insbesondere eine Reihe durch die Grundstö−
rung bedingte spezielle Komplikationen in der frühen
postoperativen Phase eine wichtige Rolle.
Um die verbleibenden spastischen Aktionen und
Primärreaktionen kontrollieren zu können, sind nach
Hüftrekonstruktionen umfangreiche redressierende
Gipsverbände (Becken−Bein−Fuß−Gips) erforderlich.
Dazu gehören bei den häufig kachektischen Kindern:
n
Druckstellen (Ferse, Patella, Trochanter major, Spina
iliaca, Sakrum),
n
Nervendehnungsschäden (bei Korrektur von Beuge−
kontrakturen > 30 8 insbesondere am Kniegelenk).
Zur Vermeidung dieser Komplikationen ist neben täg−
licher Gipskontrolle die Gabe von zentral wirkenden
Muskelrelaxanzien (z. B. Baclofen) sinnvoll. Alternativ
wäre Botulinumtoxin intra− oder postoperativ möglich.
Bei Korrektur von Beugefehlstellungen von über 30 8 ist
bei neurologischen Komplikationen das Redressions−
ausmaß im Gips zu verringern oder primär kein maxi−
maler Ausgleich während der Operation und im 1. post−
operativem Gips zu erzwingen. Es empfiehlt sich, dann
bei unauffälligem neurologischem Verlauf eine Nach−
redression in Narkose und eine neue Gipsanlage am
5. ± 6. postoperativem Tag.
Spätkomplikationen
Neben verzögerter knöcherner Durchbauung können
auch in seltenen Fällen Pseudarthrosen auftreten. Ein
weiteres spezifisches Problem, das man auch in die Rei−
he der Spätkomplikationen einordnen kann, da es teil−
weise zu erheblichem Korrekturverlust führt, tritt zum
Zeitpunkt der Abnahme des postoperativen Gipses (ca.
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Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
Abb. 5 n
Mädchen mit
Tetraparese.
a 3,5 Jahre.
Regelmäßiges
Stehtraining,
Laufangebot in
der Therapie.
Röntgen: fast
vollständige
Luxation bds.
d 7 Jahre. Erneute DVO und Pfannendachplastik links.
e 7,5 Jahre. Ein halbes Jahr postoperativ. Läuferin mit Rollator und
Gehstützen. Röntgen: gute Zentrierung jetzt auch links.
4 ± 6 Wochen postoperativ) auf. Zu diesem Zeitpunkt
muss die Interimsphase bis zur Auslieferung der adä−
quaten Orthese (Lagerungsschale, Steh−, Gehorthese)
mit einer den postoperativen Korrektureffekt garantie−
renden Gipsschalenversorgung überbrückt werden.
Nachbehandlung
Weichteileingriff
b 4,5 Jahre. Zustand nach DVO und Pfannendachplastik modifiziert
nach Pemberton plus 3−Etagen−Weichteilprogramm bds. Röntgen:
gute Überdachung rechts, links ungenügend.
c 6,5 Jahre. 2 Jahre postoperativ. Verstärkte Steh− und Gehbereit−
schaft ab 1 Jahr postoperativ. Röntgen: gute Überdachung rechts,
Verschlechterung links.
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Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 1
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Alle muskelentspannenden Maßnahmen werden früh−
funktionell behandelt. Je nach Schmerzsituation wer−
den Stehtraining am 1. und Gehtraining am 2. postope−
rativen Tag angeboten. Die physiotherapeutischen
Maßnahmen konzentrieren sich auf Förderung der
Wahrnehmung der neuen Körperposition im Gips sowie
Auf− und Ausbau der Steh− und Laufqualitäten im Gips.
Infantile Zerebralparese
Abb. 5 n
Junge mit
rechtsbetonter
Tetraparese.
Abb. 6 n Junge mit linksbetonter Tetraparese.
a 4,5 Jahre. Wenig antigravitäre Kompetenz. Stehtraining 20 min/d.
Röntgen: Coxa valga bds. mit beginnender Lateralisierung rechts und
Subluxation. Pfannendysplasie links.
b 8 Jahre. Keine Schmerzen, keine Verbesserung der antigravitären
Kompetenz, Stehangebot unverändert. Röntgen: massive Zunahme
der Hüftdysplasie mit Deformierung von Primärpfanne und Hüftkopf
links sowie beginnende Beckenkippung und daraus resultierende,
scheinbar bessere Zentrierung der rechten Hüfte.
Erst nach Beendigung der Gipsphase sind erweiterte
ambulante oder stationäre Rehabilitationsmaßnahmen
sinnvoll.
Knöcherne und kombinierte Eingriffe
Nach einer komplexen Hüftrekonstruktion wird im
beckenübergreifenden Gips 3 Wochen entlastet. Da−
nach wird Stehtraining im Gips angeboten. In dieser
Phase werden die oberen Extremitäten und soweit wie
möglich der Rumpfbereich physio− und ergotherapeu−
tisch behandelt. Nach einer Gesamtgipsperiode von
6 Wochen schließen sich die bereits erwähnten Reha−
maßnahmen und Hilfsmittelversorgungen an.
a 13 Jahre. Rollstuhlpflichtig, Stehen bei Transfers. Röntgen: massive
Coxa valga, ausgewalzte Primärpfanne rechts.
b 7 Wochen nach Dreifachosteotomie und DVO plus Weichteilpro−
gramm rechts.
c 15 Jahre. 1,5 Jahre postoperativ. Röntgen: gute Überdachung.
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Pädiatrische Orthopädie und Unfallchirurgie
Trends und Entwicklungen
Im operativen Bereich rücken neben umfassend kom−
plexen knöchernen und Weichteilmaßnahmen, die alle
gleichzeitig durchgeführt werden, zunehmend beidsei−
tige große knöcherne Verfahren (z. B. DVO und Pfan−
nendachplastik) in den Vordergrund. Im postoperativen
Bereich werden Ruhigstellungszeiten im Gips sowie
Entlastungsphasen weiter verkürzt, um mehr Raum für
frühfunktionelle Maßnahmen zu schaffen. Weitere
Möglichkeiten eröffnen sich durch neue Behandlungs−
kombinationen; z. B. knöcherne Hüftkorrektur oder
Weichteiloperationen unter gleichzeitig intraoperativer
Botulinumtoxin−Applikation von noch nichtoperations−
pflichtigen dynamischen Kontrakturen, Einsatz von Bo−
tulinumtoxin im Becken− und Rumpfbereich zur Ver−
besserung von Sitzposition und Skoliose. Unter
Botulinumtoxin verbessern sich Gangdynamik und Or−
thesenakzeptanz. Dies eröffnet dem Techniker den
Übergang auf zunehmend dynamischere Systeme, z. B.
Karbonfederschienen für dynamische Unterschenkel−
und Oberschenkelorthesen. Durch die zum Teil über
mehrere Jahre durchgeführte Botulinumtoxin−Behand−
lung verschiebt sich der Zeitpunkt der 1. operativen
Maßnahme insbesondere bei den Kindern, die dauer−
haft lang anhaltende Botulinumtoxin−Wirkung zeigen,
ins spätere Kindesalter, sodass häufig nur eine umfas−
sende chirurgische Maßnahme für die gesamte Wachs−
tumsperiode ausreicht. Für die Gruppe der schwerst
behinderten, aposturalen Tetraspastiker zeichnet sich in
zunehmendem Maße der Einsatz von intrathekalen
Baclofen−Pumpen ab.
Definition
Verlaufsform A
n
hohes allgemeines Entwicklungsniveau
n
wenig/keine Begleitstörungen
n
hoher Grad an Mobilität
n
kontrolliertes/reduziertes spastisches Muster
Ergebnis
n
gute Langzeitprognose
n
wenig Rezidivgefahr
Definition
Verlaufsform B
n
niedriges allgemeines Entwicklungsniveau
n
ausgeprägte Begleitstörungen
n
niedriger Grad an Mobilität
n
unkontrollierbares, schweres spastische Muster
Ergebnis
n
schlechte Langzeitprognose
n
hohe Rezidivgefahr
Die u. a. angestrebten therapeutischen Ziele bestehen
nach wie vor in:
n
Reduktion des spastischen Musters,
n
Schmerzreduktion,
n
Verminderung oder Vermeidung von weiteren
sekundären Deformierungen.
Schlussbemerkung
Die infantile Zerebralparese ist ein vielschichtiges Stö−
rungsbild. Durch die alleinige Beschreibung ihrer auf−
fälligen motorischen Phänomene wird man ihr nicht
gerecht. Man gelangt auf diesem Wege nur zu einer De−
fektbeschreibung und einer Analyse des Bewegungsap−
parates. Nur unter Berücksichtigung der Gesamtproble−
matik und der Gewichtung der Störfelder insbesondere
des allgemeinen Entwicklungszustandes gelangen wir
zu einer Entwicklungsprognose. Diese gibt Hinweise auf
die nach den therapeutischen Maßnahmen ± seien es
operative oder konservative ± zu erwartende Nutzung
durch das Kind. Hierbei stellt der Bewegungsapparat
nur einen Teil des Individuums dar. Folgen wir dieser
Gesamtsicht nicht, so können wir Kind und Eltern keine
prospektive Einschätzung in Bezug auf die Nutzung ei−
ner operierten Hüfte vermitteln, deren möglichst zen−
trale Einstellung während des Gehens für einen günsti−
gen Langzeitverlauf unverzichtbar ist.
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Bei primär postoperativ optimal eingestellter Hüfte sind
prinzipiell 2 Verlaufsformen denkbar.
Nicht immer sind die Voraussetzungen für das Errei−
chen des höchsten Entwicklungsniveaus, dem des freien
Stehens und Gehens, gegeben oder auf therapeutischem
Weg erreichbar. In diesen Fällen mit schlechter Aus−
gangslage (Verlaufsform B) können Schmerzreduktion,
Verminderung von Skolioseentwicklung und Unterbre−
chung des Circulus vitiosus Spastik ± Schmerz ± ver−
mehrte Spastik ebenfalls hohe Therapieziele darstellen.
Infantile Zerebralparese
Weiterführende Literatur
Korrespondenzadresse
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14165 Berlin
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Telefon: 030/8102±1222
Telefax: 030/8102±1450
E−mail: bdoll@berlin−behring.helios−kliniken.de
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