Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger UNIVERSITÄT AUGSBURG Sommersemester 2007 Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Soziologie und empirische Protokoll der Sitzung vom 22/05/07 Sozialforschung (Michael Ernst, Eva Jerger) HS: Kritische Theorie (Prof. Dr. Helmut Giegler) I. Begriff der Dialektik allgemein, bei HEGEL und bei MARX A/ Dialektik allgemein Dialektik ist die „Wissenschaft vom produktiven Widerspruch“ Æ produktiv, weil Widerspruch nicht bestehen bleibt Der dialektische Dreischritt: These – Antithese – Synthese: These = Behauptung über die Wirklichkeit Antithese = Negation der These Synthese = Resultante aus These und Antithese, die im dialektischen Sinne aufgehoben sind „aufheben“ meint: a) etwas gilt nicht mehr b) etwas in Sicherheit bringen (nicht vernichten) c) etwas auf eine höhere Ebene bringen; hinauf heben Bezogen auf die Gesellschaftsentwicklung (soziologisch relevant): In einer ‚höheren’ Stufe der Gesellschaftsentwicklung sind der historische Vorstufen dialektisch aufgehoben. (Bsp.: Feudalismus ist im Kapitalismus in vermittelter/aufgehobener Weise vorhanden). Æ dialektische Fortschrittslogik der Gesellschaftsentwicklung Bezogen auf das Individuum: Was für die Gesellschaft gilt, gilt auch für das Individuum. Die menschliche Entwicklung ist (wenn auch nicht bewusst) im Individuum – vermittelt über die jeweilige Kultur – aufgehoben Æ Wertvorstellungen, Sprache etc. 1 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger Ernst BLOCH (Ausgehend von Descartes: „cogito ergo sum“ - Ich denke, also bin ich Æ Dualismus von Geist und Sein) „Ich bin. Aber ich habe mich nicht.“ Zu Beginn steht das „Sein“, das sich selbst jedoch nicht bewusst ist. „Alles innen ist dunkel.“ Solange das Sein nur sich selbst hat, kann es sich nicht bewusst werden. Er kann sich nicht selbst betrachten. „Darum muss es sich herausmachen.“ Es muss sich selbst gegenübertreten, sich entäußern, sich mental erfassen. Das „an sich“ ist immer unbewusst, erst „für sich“ ist das Sein handlungsfähig. (Vergleiche hierzu: MARX, Klasse „an sich“/ Klasse „für sich“). Das Herausmachen geschieht durch Entäußerung. Bei Hegel und auch bei Marx verläuft Entäußerung über Arbeit: wobei sich nach Hegel Entäußerung nur in geistiger Arbeit vollzieht; Marx stellt Hegel vom Kopf auf die Füße indem er die materielle Seite der Entäußerung betont. Konkretisierung: Beispiel der Geburt eines Babys: Das anfängliche Chaos von Reizen nimmt Form an. Es gibt keine Trennung zwischen dem „ich“ und der anderen Person. „Darum werden wir erst.“ Es kommt zu einer Trennung zwischen „Ich“ und dem Andern. Aus dem Bewusstsein wird ein Selbstbewusstsein. Das Bewusstsein ist im Selbstbewusstsein dialektisch aufgehoben. Die dialektische Aufhebung im Selbstbewusstsein kann nur über andere Menschen („wir“) gelingen. Erst durch das Gegenüber eines gegenständlichen Menschen wird Selbsterfahrung möglich. (siehe auch M. BUBER „Erst durch das du werde ich zum ich.“/G. H. MEAD „I“ und „Me“). B/ Dialektik bei HEGEL Hegel unternimmt den Versuch die Geschichte dialektisch zu denken. Seine Annahme ist, dass die gesamte Menschheitsgeschichte kann durch Nachdenken dialektisch erklärt werden, was einem geistigen bzw. spirituellen Akt gleichkommt. Beispiel: 2 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger In der Familie ist der Einzelne im dialektischen Sinne aufgehoben, die Familie wiederum im Staat, das „Kleinere“ wird notwendigerweise immer im „Größeren“ aufgehoben. Das Ende dieser dialektischen Prozedur ist bei Hegel der absolute Geist. HEGEL bleibt in seiner Auffassung der Dialektik weitgehend in der Abstraktion, so wie auch sein Verständnis von Arbeit einem spirituell, abstrakten Arbeitsprozess entspricht. C/ Dialektik bei MARX Bei MARX ist der Mensch immer ein gegenständliches Wesen. Der Mensch existiert nicht nur geistig. Hier übt Marx Kritik an Hegels Verständnis von Dialektik: Hegel bleibt abstrakt, er wird nicht materiell. So ist es notwendig Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Mensch ist ein gegenständliches, sinnliches Wesen (Beispiel: die Aufnahme von Nahrung, heißt die Einverleibung eines Gegenstandes). Er entäußert sich nicht über den Geist, sondern materiell. Nach MARX ist alles vom Menschen gemacht, jedoch immer unter der Bedingung der Entfremdung. (Mensch meint immer den Menschen als Gattungswesen!) Beispiel der Religion: Die Religion ist nicht von Gott gestiftet, sie ist ein Produkt menschlicher Entäußerung. Der Mensch braucht die Religion, weil er sich selbst (als Gattungswesen) nicht traut. (Die Notwendigkeit der Religion besteht in ihrer Funktion als Werte- und Normengeber.) Die Entäußerung geschieht unbewusst. In diesem Unbewussten erklärt sich der Entfremdungscharakter der Religion. Die Religion tritt dem Menschen als etwas Fremdes gegenüber; als Natur; als von einem Gott gestiftet. Der Mensch erkennt in der Religion nicht die selbst vollbrachte Entäußerung. Er erkennt sich nicht selbst in der Religion. Daher ist die Religion dem Menschen entfremdet. Der Mensch wird sich aber erst dann bewusst, wenn er sich selbst in den Dingen erkennt und dadurch zu sich selbst findet. Weite Teile dessen, was der Mensch als Natur versteht, sind nach MARX vom Menschen gemacht, aber eben entfremdet (das Wirtschaftssystem begegnet dem Mensch entsprechend einer Naturgesetzmäßigkeit, er erkennt nicht, dass er selbst der Schöpfer ist). Der Mensch erkennt in diesen ‚Dingen’ die Natur, aber nicht sich selbst („er weiß es nicht, dass er es gemacht hat“). Der Mensch wird aber erst dann zu einem ‚sich selbst bewussten Wesen’, wenn er sich selbst in diesen Dingen erkennt. 3 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger Unter der Entfremdung gestaltet sich das ‚bei sich sein’ verkehrt: ‚Im Anderssein bin ich bei mir’ (bzw. im anderen Sein bin ich bei mir; im Entfremdeten bin ich bei mir Æ Wenn ich selbst bin im Fremden, dann bin ich mir selbst fremd.). Ein sich selbst bewusstes Menschsein verlangt aber, dass ‚Ich bei mir bin im Anderssein’ (bzw. bei sich ist im anderen Sein; sich selbst bewusst wird durch den mir selbst entäußerten Gegenstand). So ist der Mensch in der Religion bei sich, aber entfremdet. Erst in der aufgehobenen Religion ist der Mensch bei sich und für sich im Anderssein (Beispielsweise kann der Mensch im bewussten Wertekonsens bei sich sein im Anderssein). [Siehe MARX, Ökonomisch-philosophische Manuskripte §29: Religion = entäußertes menschliches Selbstbewusstsein, dann aber nicht mein Selbstbewusstsein, sondern die Bestätigung meines entäußerten Selbstbewusstseins. In der Religion sind die Menschen bei sich, aber entfremdet. Die Kunst ist es nun, sich nicht selbst abhanden zu kommen. Die Entäußerung ist gattungsmäßig notwendig.] Im System des Kapitalismus, wie in der Arbeit, sind die Menschen nicht bei sich, sondern entfremdet. Die Aufhebung dieser Entfremdung ist notwendig, um sich als menschliches Gattungswesen wieder erkennen zu können. D/ Vergleich HEGEL und MARX Sowohl MARX als auch HEGEL sehen ein Ende des dialektischen Prozesses. HEGEL hat sich sein Ende der Dialektik im ‚absoluten Geist’ ausgedacht. Nach Marx bleibt HEGEL „im Denken stecken“ und beschränkt sich in seiner Erklärung auf die Abstraktion. MARX selbst sieht ein Ende der Dialektik im materiellen Faktum der ‚klassenlosen Gesellschaft’. Das Denken ist bei MARX wichtig, allerdings ist es nur einen Teil des Ganzen: der Arbeit. HEGEL hingegen erkennt nur geistige Arbeit als Arbeit an. Diese Form der Arbeit ist in der Lage zum absoluten Wissen zu werden: den absoluten Geist. Ein Wissen, das von sich weiß. Bei MARX ist jedoch auch Denken lediglich eine Form der Arbeit. Es ist nichts Eigenständiges. Der Menschen als sinnlich, gegenständliches Naturwesen vollzieht seine Entäußerung primär über die Arbeit (materiell). Æ Arbeit entspricht der Entäußerung als Prozess; Arbeit ist der Prozess der Entäußerung. [Hinweis: Es gibt verschiedene Lesarten der Hegel’schen Dialektik z.B. Rechtshegelianismus/ Linkshegelianismus] 4 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger II. Kritische und traditionelle Theorie nach HORKHEIMER [Text: HORKHEIMER, Max (1968): Kritische und traditionelle Theorie, in: ders., Kritische Theorie, Bd.1] A/ Traditionelle Theorie nach HORKHEIMER Grundattitüde traditioneller Theorie Die Gestaltung der traditionellen Theorie verläuft nach naturwissenschaftlichen Prinzipien (siehe K. POPPER, Kritischer Rationalismus als moderne Form der traditionellen Theorie: Ablehnung der Induktion & der Allgemeingültigkeit von Aussagen). Alles was ist unterliegt zeitlich und räumlich unbegrenzten Gesetzmäßigkeiten. Wie alles Andere, unterliegt auch der Mensch den Gesetzmäßigkeiten der Natur, denen er sich fügen muss. Alle menschlichen Wissenschaftsbereiche (Naturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften, etc.) sind durch die gleiche Logik (formale Logik) gekennzeichnet unabhängig vom Menschen, der ihr ausgeliefert ist. (siehe POPPER: sie unterliegen dem Ideal der Einheitswissenschaft). Die reinste Form dieses Wissenschaftsideal ist die formale Mathematik. Verfahrensweise: Die traditionelle Theorie basiert in ihrem Kern auf der Festlegung von zentralen Axiomen bzw. Prinzipien [Langenscheid Fremdwörterbucht: Axi'om, das; -s,-e 1.(willkürlich) festgelegter Grundsatz einer Theorie 2. als gültig anerkannter Grundsatz, der nicht bewiesen werden muss]. Alle Annahmen bzw. Theorien, die über die Wirklichkeit aufgestellte werden, müssen sich widerspruchsfrei aus diesen Grundprinzipien ableiten (Deduktion; Descartianismus; Annahme vollkommener Immanenz). Drei Verfahren zum Aufstellen von Axiomen/ Prinzipien: 1. Induktion: Schluss vom Speziellen auf das Allgemeine. Hier gemeint ist die zu Ende geführte Induktion über Empirie (Æ Regelmäßigkeiten) 2. Evidenz: unmittelbare Einsicht über den phänomenologischen Weg (Æ Phänomenologie, Heurekaerlebnisse) 3. (willkürliche) Setzung Subjekt und Objekt sind in der traditionellen Theorie strikt voneinander getrennt. Die Menschen (Subjekte) sind in ihrer Wahrnehmung (der Objekte) beschränkt. Als Konzession an diese Feststellung, müssen die Annahmen/Theorien, die über den Objektbereich aufgestellt werden, in Form von Hypothesen formuliert werden. In der traditionellen 5 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger Theorie gibt es letztlich keine absolute Beweisbarkeit: Annahmen können nur als relativ gesichert gelten, insofern sie sich bisher nicht als falsch erwiesen haben (falsifiziert wurden; Falsifikationsprinzip). Die traditionelle Theorie aus der Sicht der kritischen Theoretiker: - Mit der Axiomsetzung widerspricht die traditionelle Theorie ihrem strengen Anspruch: Sie betreibt von Anfang an Metaphysik. - Die Annahme der vollkommenen Immanenz (dass sich alles logisch und widerspruchsfrei aus Grundaxiomatiken ableiten lässt) wird verneint. (Schon allein aus der Vorannahme in Frage zu stellen) - Die strikte Trennung von Subjekt und Objekt kann nicht aufrecht gehalten werden. Weite Teile des Objektbereichs sind nicht ohne die Entäußerung der Subjekte zu denken, daher den Subjekten immanent. (Verschleierung) - Die traditionelle Theorie nimmt im gesamtgesellschaftlichen Prozess eine bestimmte Position in der Arbeitsteilung ein (die des Gelehrten) und trägt dazu bei den Verschleierungszusammenhang aufrecht zu halten; den Status quo zu erhalten und die Wirklichkeit dieser Welt zu verdoppeln. - Die Position, dass es keine Wahrheit geben kann ist zu verneinen: Die kritische Theorie geht davon aus, dass es eine Wahrheit und zwar nur eine Wahrheit geben kann: den vernünftigen Zustand. Die Neutralität der positiven, traditionellen Theorie verhindert das Erreichen eines vernünftigen, wahren Zustands. - Nichtsdestotrotz ist traditionelle Theorie berechtigt und auch weiterhin notwendig. Durch sie ist Erkenntnis möglich, wenn man sie auf die Natur anwendet. Jedoch ist eben nicht alles, was sie als Natur erkennt, Natur. Von ihr aus kann, da sie in der Logik des Bestehenden tickt, nicht ein Wandel zu einem vernünftigen Zustand erfolgen. Die Transformation muss über einen radikalen Bruch erfolgen, den die traditionale Theorie nicht vollziehen kann. B/ Die Kant’sche Basis der kritischen Theorie KANT: Transzendentales Subjekt als Prinzip; a priori’sche Vernunftsbegabung Erkenntnis ist nur möglich, weil im Menschen ein a priori angelegter Verstand besteht. Reiner Empirismus ist nicht möglich, weil die Phänomene nicht von sich aus ihre Wahrheit preisgeben. Nach Kant ist es ein Irrglaube, dass durch die reine Beobachtung Erkenntnis möglich ist. Im Menschen muss etwas angelegt sein, dass Erkenntnis möglich macht. 6 Protokoll Kritische Theorie 22/05/07 Michael Ernst, Eva Jerger Die Objektbereich (Empirie) ist äußerlich, der Verstand ist im innern a priori angelegt: Erst Im Zusammenspiel ist Erkenntnis möglich. (à priori deshalb, weil für alle Menschen gültig; von Gott gegeben). Der Verstand setzt die Menschen in die Lage die Dinge (Empirie) zu ordnen und zu strukturieren (Empirie passiv: äußerlich, sinnlich-wahrnehmbar; Verstand aktiv: innerlich; Kognition). Voraussetzung des Denkens: Empirie (Gesetzmäßigkeit) Æ Erkennen durch Verstand C/ Die Kritische Theorie HORKHEIMER: POPPER liegt mit Annahme der Gesetzmäßigkeiten richtig, allerdings sind diese nicht naturgegeben, sondern menschengemacht. Die Gesetzmäßigkeiten, die die Welt durchdringen sind zu weiten Teilen keine Naturgesetzmäßigkeiten, sondern vom Menschen gemacht. So wie der Mensch die Religion geschaffen hat, hat er auch das Wirtschaftssystem, das Recht etc. geschaffen. Da der Mensch sich selbst in diesen Gesetzmäßigkeiten nicht erkennt, sind die Gesetzmäßigkeiten ihm entfremdet. Den Gesetzmäßigkeiten mangelt es an Vernunft, wenn sie aber als Naturgesetzmäßigkeiten erkannt werden, kann an ihnen (im traditionellen Theorieverständnis) nicht gerüttelt werden. Soziale Tatsachen müssen deshalb nicht als zwangsläufig angenommen und akzeptiert werden. Die kritische Theorie geht von der Veränderbarkeit der Wirklichkeit, unter der Bedingung einer anderen Gesellschaftsordnung, aus. Eine Hypothese könnte somit beispielsweise sein, dass wir nicht machtlos dem Neoliberalismus ausgeliefert sind, da dieser ebenfalls menschengemacht ist. In den Wirtschaftswissenschaften wird hingegen naturwissenschaftlich argumentiert. Aufgrund der Existenz einer „invisible hand“ (Adam SMITH, 1776) und des Annahme des ausschließlich egoistischen Handelns der Menschen, kommt es quasi zu automatischen Anpassung der Variablen und damit zwangsläufig zum Gleichgewicht. HORKHEIMER spricht hier von Ideologie. Der Grundwiderspruch, den die kritische Theorie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkennt, ist der Widerspruch zwischen den vernunftbegabten Individuen und einem unvernünftigen Arbeitsprozess. Dieser Grundwiderspruch soll zu Gunsten eines vernünftigen Zustands des Verhältnisses Individuum/ Gesellschaft durchbrochen werden. Quellen: HORKHEIMER, Max (1968): Kritische und traditionelle Theorie, in: ders., Kritische Theorie, Bd.1. Marx, Karl (1982): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEGA Bd. 2, Werke Artikel Entwürfe. Sitzungsprotokolle vom 22.Mai 2007: Eva Jerger, Michael Ernst 7