dokumentationsbrief ostasien 01-2008

Werbung
I S SN 1 8 63- 3 06 4
EMS-DOKUMENTATIONSBRIEF 1/2008 INDONESIEN
DAS ANDERE MUSLIMISCHE LAND
ZUM VERHÄLTNIS DER RELIGIONEN IN INDONESIEN
Indonesientagung des EMS
23.-25. November 2007 in Stuttgart
INHALT
4
Vorwort
Hauptvorträge:
5
Indonesisches Christentum – indonesischer Islam
Prof. Dr. Dieter Becker
14
Spannung im interreligiösen Dialog
Dr. Luthfi Assyaukanie
18
Bündnisse gegen Radikalismus
Dr. Zakaria Ngelow
Gruppenreferate:
25
Christen und Muslime in Konfliktgebieten: Molukken
Sonia Parera-Hummel
28
Christen und Muslime in Konfliktgebieten: West-Papua
Dr. Uwe Hummel
33
Christen und Muslime in Konfliktgebieten: Aceh
Samia Dinkelaker
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
3
VORWORT
Liebe Leserinnen und Leser,
Indonesien ist das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Die indonesischen
Muslime sind jedoch für ihre Liberalität bekannt, die
Akzeptanz der christlichen Minderheit ist groß. Fundamentalisten haben es deshalb schwer auf Java,
Sumatra und Papua – und trotzdem gewinnen sie im
Gefolge der Spannungen zwischen arabischer und
westlicher Welt an Boden. Unsere letztjährige Indonesientagung mit dem Titel „Das andere muslimische
Land“ widmete sich der Frage: Wie entwickelt sich
der christlich-muslimische Verhältnis in Indonesien?
Was lässt sich davon lernen?
Prof. Dr. Dietrich Becker von der AugustanaHochschule Neuendettelsau vollzog zu Beginn die
Geschichte beider Religionen in Indonesien nach
und spannte zugleich den Bogen zu aktuellen Fragen, die im Spannungsfeld von Religion und Politik
die Gemüter in Indonesien bewegen: die Einführung
von Shari´a-Gesetzen in einigen Regionen des Landes, christliche Gegenreaktionen, das Erstarken des
politischen Islam auf der einen Seite und die – positive - Rolle der muslimischen Organisationen Indonesiens im Demokratisierungsprozess auf der anderen
Seite. Die heikle Beziehung zwischen den christlichen Kirchen und der Politik kam aber auch zur
Sprache: Dr. Zakaria Ngelow von der Theologischen
Hochschule in Toraja, ein weiterer Referent, beklagte
das unkritische Verhältnis vieler indonesischer Kirchen gegenüber den staatlichen Autoritäten während
der Kolonialzeit und unter Diktator Suharto. Dieses
Erbe belaste die indonesischen Kirchen bis heute.
Was die weitere Demokratisierung des Landes und
die Beibehaltung der Trennung von Staat und Religion betrifft, setzt er große Hoffnungen in die religiöse
wie säkulare Zivilgesellschaft: „I believe in NGOs”.
Kontroverse Diskussionen löste die „Fundamentalismusfrage“, also das Problem der erstarkenden charismatischen Kirchen und des anwachsenden muslimischen Radikalismus aus. Welche Verständigungsstrategien finden Angehörige beider Religionen angesichts dieser Fundamentalisierungstendenzen
noch? Wie kann Dialog über Konferenzräume hinaus
4
wirksam werden? Der Begriff Dialog sei nicht beliebt
unter Muslimen, so Dr. Luthfi Assyaukanie, Mitbegründer des indonesischen „Netzwerk Liberaler Islam“, in seinem Vortrag. Viele indonesische Muslime
argwöhnten, dass hinter dem westlichen Begriff Dialog in Wirklichkeit christliche Missionierungsabsicht
stehe. Er plädierte für ein Konzept der Religionsfreiheit und der gegenseitigen Akzeptanz auch der Unterschiede. Zakaria Ngelow gestaltet seit den 80er
Jahren Projekte zum interreligiösen Dialog in Makassar mit. Er vertrat die Meinung, Dialog müsse auch
das Gespräch mit radikalen Gruppen beinhalten, er
habe viele Kontakte zu Muslimen aus dem radikalen
Spektrum. Die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit
und breiten Bildungschancen seien außerdem notwendige Schritte, um dem Radikalismus entgegenzuwirken.
Die Frage nach der Rolle der Religionen in regionalen Konflikten wurde an konkreten Beispielen in
Gruppen bearbeitet. Sonia Parera-Hummel von der
Vereinten Evangelischen Mission referierte über die
Situation auf den Molukken, Dr. Uwe Hummel vom
West-Papua-Netzwerk über West-Papua und Samia
Dinkelaker von Watch Indonesia! über die Situation
in Aceh nach der Einführung der Shari´a.
Schließlich beschränkte sich die Diskussion nicht
allein auf die interreligiösen Beziehungen in Indonesien. Die Teilnehmenden bezogen die Frage der
Verständigung zwischen Christen und Muslimen
auch auf den hiesigen Kontext. Das Fazit: Hierzulande fehle oft bereits das Wissen über den Islam und
muslimischen Alltag. Vielleicht könnten wir von Zakaria Ngelows Erfahrungen mit Dialoggruppen lernen?
Wir dokumentieren in diesem Heft die Vorträge und
Referate der Tagung. Auf unserer Website
www.ems-online.org steht Ihnen die Dokumentation
auch digital zur Verfügung.
Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.
David Tulaar und Christine Grötzinger
INDONESISCHES CHRISTENTUM – INDONESISCHER ISLAM
WE LCH E V IELF A LT KENN Z EICHN ET D IE RE L IG ION EN? WIE VERH Ä LT S ICH D IE POL IT IK IHN EN G EGENÜB ER?
Prof. Dr. Dieter Becker
Prof. Dr. Dieter Becker ist seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Interkulturelle Theologie, Missions- und Religionswissenschaft an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Davor lehrte er an der Theologischen Fakultät der Toba-Batakkirche in Indonesien und an der South-East Asian Graduate School of Theology in Singapur.
Sein Fachgebiet umfasst unter anderem Theologie der Religionen sowie Interreligiöse Begegnung und Dialog.
Seit 2004 ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft.
Vorbemerkung 1: Bei der Lektüre der hier vorgetragenen Überlegungen mag es manchem Leser oder
mancher Leserin so ergehen wie ausländischen Besuchern, wenn sie in Indonesien zum ersten Mal zum
Durian-Essen eingeladen werden. Durian, stets nach
dem Urteil der Nase ausgesucht, ist die Königin der
Früchte, wie asiatische Kenner und Feinschmecker
behaupten. Das Öffnen des stacheligen, starren,
grau-grünen Äußeren der Frucht erfordert schon
einige Anstrengung. Aus den offenen Fruchtschalen
steigt dann ein fremder und ein wenig irritierender
Geruch. Wer sich dennoch nicht abhalten lässt und
die mattweißen Fruchtstücke kostet, der kann – vielleicht überrascht – feststellen, dass das Fruchtfleisch
herrlich wohlschmeckend ist.
Vorbemerkung 2: Die indonesische Zivilisation ist
zunächst keine islamische und keine christliche,
sondern eine indische. Der Islam, der erst nach dem
14. Jahrhundert mit wirklicher Entschiedenheit in
diesen Bereich der Welt vordrang, traf hier auf eine
der bedeutendsten politischen, ästhetischen und
sozialen Hervorbringungen Asiens: auf den hindubuddhistischen Staat, der die Gesellschaft so tiefgreifend prägte, dass bestimmte Merkmale nicht nur
die Islamisierung, sondern auch den späteren holländischen Imperialismus überdauerten. Frühe Staatenbildungen des Archipels haben wichtige Formelemente aus älteren lokalen Traditionen aufgenommen. Ihre gemeinsame Richtschnur waren jedoch
hinduistische Vorstellungen über kosmische Wahrheit und metaphysische Tugend. Für Indonesien gilt
deshalb, dass Islam und Christentum keine Zivilisation aufbauten, sondern sich eine Zivilisation aneigneten. Als beide in diese Inselwelt eindrangen, gab es
bereits eine staatsähnliche Organisation des Gemeinwesens, ein Fernhandelssystem und eine hochentwickelte Kunst. Dass beide hier auf eine komplexe und fest etablierte Kultur trafen, erklärt die besondere Ausprägung, die die Lehren Mohammeds und
Jesu in diesem Land annahmen.
I. Zu Formen des Islam in Indonesien
Der Islam in Indonesien präsentiert sich nicht als
monolithisches Gebilde. Er weist theologisch und
kulturell unterschiedliche Facetten auf. Theologisch
sind fast alle indonesischen Muslime Sunniten der
syafiitischen Rechtsschule. Gewöhnlich werden zwei
Begriffspaare benutzt, um Unterschiede in der Zuordnung zur Tradition und in den Formen der religiösen Praxis zu beschreiben: Santri und Abangan sowie Modernisten und Traditionalisten. Die Unterscheidung zwischen Santri und Abangan wurde von
dem amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz 1
in die Diskussion eingeführt. In seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Religion of Java“ analysierte
er das religiöse Leben in einer javanischen Kleinstadt. Um die unterschiedlichen Formen religiöser
Praxis und theologischer Orientierung zu benennen,
griff er auf die genannte Unterscheidung zurück, die
von Javanern selbst benutzt wurde.
Als Santri bezeichnet Clifford Geertz die frommen,
orthopraxen Muslime, die sich in ihrem religiösen
und alltäglichen Handeln an Sunna und Hadith ausrichten. 2 Gemeinsam ist allen Santri-Strömungen,
dass sie sich an der Shari´a orientieren. 3 Diese
Gruppe befindet sich statistisch gesehen in der Minderheit. Ihr Anteil an der islamischen Bevölkerung
liegt bei 20 bis 30 Prozent. 4 Der Begriff Santri steht
1
Clifford Geertz: The Religion of Java. Chicago 1976. Geertz war Professor am Institute for Advanced Study an der Princeton Univer‐
sity und hat hinsichtlich des indonesischen Islam eine Anzahl ver‐
gleichender religionsanthropologischer und religionssoziologischer Studien vorgelegt. 2
Sunna sind die rechtsverbindlichen Berichte von Zeitgenossen Mu‐
hammads über das Wirken, Sprechen und den exemplarischen Le‐
benswandel des Propheten; Hadith sind die als verbindlich angese‐
henen späteren Interpretationen von Koran und Sunna. 3
Vgl. Andrew Beatty (Hg.), Varieties of Javanese Religion. An Anthro‐
pological Account, Cambridge 1999. 4
Es gibt keine verlässlichen Statistiken über diese religionspolitisch in Relation zu dem indonesischen Wort für Koranschule pesantren und bedeutet „Schüler“. 5 Unter
Santri versteht Geertz die Strömungen, Organisationen und Angehörigen des
Islam, deren
Glaubensvorstellun-gen sich an einem „ursprünglich“
verstandenen, strengen und kulturellen Einflüssen
gegenüber wenig toleranten Islam orientieren, wobei
der nahöstliche Islam eine Vorbildfunktion hat. Die
Santri betrachten sich als die „wahren“ Muslime. In
jüngster Zeit gewinnt diese Glaubensrichtung gegenüber den synkretistischen Lehren der Abangan zunehmend an Einfluss. 6
Als Abangan bezeichnet Geertz diejenigen Javaner,
die noch stark in der hindu-javanischen Tradition
verhaftet sind und deshalb den religiösen Anforderungen des Islam nicht in demselben Maße nachkommen. 7 Obwohl sich die typische Grundhaltung
der Abangan nur durch Bezugnahme auf das altjavanische und shivaitische Erbe verstehen lässt, bekennen sie sich dennoch voll und ganz zum Islam. 8 Und
obwohl die Santri sich in ihrer religiösen Praxis vornehmlich an Sunna und Hadith ausrichten, verstehen
sie sich dennoch zugleich als Javaner.
Das zweite von Geertz gewählte Begriffspaar, die
Unterscheidung von Modernisten und Traditionalisten, bezieht sich ähnlich auf einen inner-islamischen
Diskurs. Es geht dabei um die Unterscheidung von
Strömungen innerhalb der Santri. Unter traditionalistischem Islam versteht Geertz jene Gruppen, die die
Erneuerungen und Reflexionen in der jüngeren Vergangenheit des Islam kaum oder gar nicht rezipiert
haben. Ihren stärksten Rückhalt besitzen sie in den
schon genannten Pesantren, den ländlichen islamischen Internaten. Sie werden geleitet von Kyai, religiös und juristisch gebildeten Personen, die in der
sensible Frage. Beobachter gehen aber von einem langsamen Wachstum dieser Gruppe besonders in den großen Städten aus. 5
Im indo‐arabischen Bereich würde man hier von taliban sprechen. 6 Auf das Konto dieser Gruppen gehen wohl die Übergriffe gegen Angehörige anderer Religionen, insbesondere die schweren Men‐
schenrechtsverletzungen der letzten Jahre gegenüber Christen in Westjava und auf der Insel Sulawesi. Die „Hochburgen“ dieser Rich‐
tung liegen in den sundanesischsprachigen Regionen Westjavas, auf der Insel Madura, im Süden Sulawesis und in Aceh. bäuerlichen Gesellschaft Führungsrollen übernommen haben. Aufgrund ihrer religiösen Bildung und
teilweise starken charismatischen Ausstrahlung genießen sie große Anerkennung und üben oft einen
starken Einfluss auf die regionale Bevölkerung aus.
Dieser traditionalistische Islam zeichnet sich einmal
durch das Festhalten an syafiitischen Interpretationen aus, zum anderen wird im religiös-rituellen Bereich eine gewisse Flexibilität und Anpassung an die
javanische Umwelt deutlich. Organisatorisch hat sich
diese Strömung in der Nahdlatul Ulama („Renaissance der Rechtsgelehrten“) gesammelt. 9 Die Traditionalisten werden oft als kaum tua („alte Gruppe“)
bezeichnet, ihnen stehen jene Muslime gegenüber,
die sich kaum muda („junge Gruppe“) nennen und
als Modernisten gelten.
Die Modernisten haben sich organisatorisch in einer
Vereinigung zusammengeschlossen, die 1912 ins
Leben gerufen wurde und den Namen Muhammadiyah trägt. Die Muhammadiyah engagierte sich in direkter Frontstellung zur Kolonialverwaltung und zur
christlichen Mission auf den Gebieten der Erziehung
und Bildung, aber auch im Wohlfahrtsbereich. Diese
Gruppe war anfangs stark bezogen auf Gedankengut, das mit dem Namen Muhammad ’Abduh und
Rashid Rida verbunden ist. Die Muhammadiyah ist
eine wichtige Kraft in der Diskussion um die Neugestaltung der indonesischen Gesellschaft in der PostSuharto-Ära. 10
Geographisch verteilen sich die beiden Gruppen auf
unterschiedliche Gebiete. Die Modernisten bilden die
urbane Mittelklasse, die ihre Wurzeln in der islamischen Kaufmannschaft hat. Hochburgen der Muhammadiyah sind Westsumatra, Westjava und Südsulawesi. Die Traditionalisten sind hauptsächlich in
Mittel- und Ostjava beheimatet, aber auch auf der
Insel Madura und in gewissem Ausmaß auch in Südkalimantan; sie sind besonders im bäuerlichen und
kleinstädtischen Milieu verankert.
Auf den so genannten Außeninseln, besonders in
den Küstenregionen von Sumatra, Kalimantan und
Sulawesi, koexistiert der Islam mit vorgefundenen
Traditionen und Rechtsnormen. Dort kommt es zu
einer fortwährenden Konkurrenzsituation zwischen
7
Sie werden als „Rot‐“ oder „Braunköpfe“ (und eher „nominelle“ Muslime) von den Santri als Putihan bzw. „Weißköpfen“ unterschie‐
den. Oftmals sind sie zugleich Anhänger der mystisch geprägten ja‐
vanischen Kebatinan‐Bewegung. 8
Geertz’ Kategorisierung hat die Indonesienforschung stark geprägt und zu einer Unterbewertung des islamischen Elements besonders in der javanischen Kultur und Gesellschaft geführt. Werden aber die Abangan tendenziell nicht als Teil der islamischen Gemeinschaft angesehen, wird das Ausmaß islamischer Durchdringung der indone‐
sischen Gesellschaft unterschätzt. 6
9
Diese Organisation wurde 1926 vom Großvater des langjährigen Vorsitzenden und zeitweisen Staatspräsidenten Abdurrahman Wa‐
hid gegründet. Sie zählt nach eigenen Angaben etwa 40 Millionen Mitglieder. Ihr parlamentarischer Arm ist die Partai Kebangkitan Bangsa (PKB). Diese „Partei des nationalen Aufbruchs“ wurde bei den Wahlen 1999 stärkste islamische Partei. 10
Zu ihren Führungsgestalten gehört Amien Rais, der Vorsitzender der Partai Amanat Nasional („Partei des nationalen Mandats“) wurde. Die Muhammadiya gibt ihre Größe mit 30 Millionen Mitgliedern an. dem islamischen Pflichtgesetz (shari’a) und dem
angestammten Brauch (adat). In der Praxis siegt
zumeist die Adat, ohne dass die als theoretisch-ideal
interpretierte Shari´a die allgemein anerkannte Vorrangstellung verliert. 11 Wir stoßen hier auf ein in der
Religionswissenschaft immer wieder beobachtetes
Phänomen, dass sich Menschen trotz dominanter
Zuordnung zu lokal-religiösen Traditionen zugleich
als vollwertige Mitglieder einer so genannten Weltreligion verstehen. 12
Geertz kam zuerst in den 50er Jahren zu Forschungsaufenthalten nach Java und Bali. Als er dreißig Jahre nach seinen frühen Feldstudien auf der
Suche nach Veränderungen des indonesischen Islam
erneut das Land besuchte, fiel ihm vor allem eine
„Politisierung des Islam“ auf. Sie hing nach seiner
Beobachtung mit der spezifischen indonesischen
Situation zusammen und hatte keinerlei Bezüge zum
Khomeinismus der 80er Jahre. Im Indonesien der
Neuen Ordnung Suhartos war der Islam eine enge
Verbindung mit der vorherrschenden Ideologie und
Politik eingegangen. 13
II. Aktuelle Entwicklungen
im indonesischen Islam
Im Indonesien der „Neuen Ordnung“ nach 1965 wurden unter einem Präsidenten Suharto selbst moderate islamische Traditionalisten und Modernisten von
der Macht ausgeschlossen. 14 Muslimische Parteien
wurden verboten und 1973 zwangsweise durch die
„Vereinigte Entwicklungspartei“ (Partai Persatuan
Pembangunan, PPP) ersetzt. Eine sich seit den frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vollziehende
gesellschaftliche Islamisierung wurde vom SuhartoRegime anfangs zur Kenntnis genommen, nicht aber
unterstützt. Das Führungspersonal seiner Regierung
11
In manchen Fällen findet diese Koexistenz sogar im offenen Wider‐
spruch statt, wie das Beispiel der Gesellschaft der Minangkabau in Westsumatra zeigt. Unbeeindruckt vom Islam gilt hier bis heute ein Erb‐ und Heiratsrecht, das matrilinear ist. 12
Von Kritikern ist Geertz vorgehalten worden, dass er bestimmte religiöse Phänomene einer hindu‐javanischen Tradition zu sehr als nicht‐islamisch qualifiziert. Im innerislamischen Vergleich seien sol‐
che jedoch durchaus als genuine Elemente des Islam zu identifizie‐
ren. Dies gelte insbesondere für die unter Javanern weit verbreitete mystische Praxis, die Parallelen in den mystischen Traditionen der Sufis besitze. 13
Geertz sprach in diesem Zusammenhang auch von einer Kombinati‐
on von „hypercommercialized economy and a resolutely manipula‐
ted polity”, zitiert nach Bassam Tibi, Religio‐kulturelle Entwicklung und sozialer Wandel. Gespräche mit Clifford Geertz in Princeton. 14
Zur Neuen Ordnung und zu den verschiedenen Phasen der Demokra‐
tisierung vgl. Andreas Ufen, Herrschaftsfiguration und Demokratisie‐
rung in Indonesien (1965–2000), Hamburg 2002. bestand überwiegend aus Nicht-Muslimen bzw. aus
Personen,
die
von
altjavanischen,
hindubuddhistischen und sufistischen Einflüssen geprägt
waren (Abangan also, im Gegensatz zu den orthodoxen Santri). Seit Mitte bzw. Ende der 80er Jahre
machte sich dann ein Kurswechsel der Regierung
bemerkbar. In der Auseinandersetzung mit bestimmten Strömungen im Militär wandte sich Suharto der
Santri-Variante des Islams zu. In diesem Zusammenhang wurden die Ausgaben für den Bau von
islamischen Universitäten und Moscheen erhöht. Ein
neues Bildungsgesetz legte islamischen Religionsunterricht in staatlichen und privaten Bildungseinrichtungen als obligatorisch fest, islamische Gerichte
wurden bei Fragen von Heirat, Scheidung und Erbschaft gestärkt. Frauen durften seit 1990 in Schulen
den jilbab – ein das Gesicht frei lassendes, bis auf
die Schultern reichendes Kopftuch – tragen. Diese
Stärkung der Orthodoxen setzte Suharto geschickt
zur Sicherung seines Herrschaftsapparates ein. Die
in die Parlamente, das Kabinett, den Vorstand der
Regierungspartei und die Militärführung aufsteigenden Santri waren ihm nützlich, um ein Gegengewicht
zur sich immer wieder regenden pro-demokratischen
Opposition zu schaffen. In diesem Zusammenhang
steht auch seine Unterstützung der 1990 gegründeten „Indonesischen Vereinigung islamischer Intellektueller“ (Ikatan Cendekiawan Muslim Se-Indonesia,
ICMI).
Islamismus war unter Suharto und ist in der gegenwärtigen indonesischen Parteienlandschaft eine
Randerscheinung. Allerdings traten nach 1998 außerparlamentarisch gewaltbereite Gruppierungen in
den Vordergrund. Dazu gehören Milizen wie Laskar
Jihad („Djihad-Kämpfer“) und die Front Pembela
Islam („Front der Verteidiger des Islam“), die sich
u.a. am Bürgerkrieg in den Molukken beteiligten. Sie
haben zudem wiederholt durch sogenannte „Aktionen
gegen die Sünde“, d.h. Angriffe auf Kneipen, Diskotheken und Bordelle, auf sich aufmerksam gemacht.
Außerdem scheinen die in ganz Südostasien agierenden Terroristen der Jemaah Islamiyah („Islamische Gemeinschaft“), denen zahlreiche Anschläge
zur Last gelegt werden, vornehmlich aus Indonesien
zu stammen. 15 Leider ermöglicht die Demokratisierung des politischen Systems seit dem Abgang Su-
15
Vgl. Zachary Abuza, Militant Islam in Southeast Asia. Crucible of Terror, Boulder, Col. 2003; ferner International Crisis Group, Indo‐
nesia: Violence and Radical Muslims, October 2001, unter: www.crisisweb.org/projects/showreport.cfm?reportid=455 (2.1.2002); International Crisis Group, Indonesia Backgrounder: How the Jemaah Islamiyah (JI) Terrorist Network Operates, 11. Dezember 2002, unter: www.crisisweb.org (20.12.2002); International Crisis Group, Jemaah Islamiyah in Southeast Asia: Damaged But Still Dan‐
gerous, unter: ebd. (16.9.2003). DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
7
hartos den Islamisten, sich freier zu bewegen als in
den Jahrzehnten zuvor.
Auf den Terroranschlag vom 11. September 2001
reagierte die neue Regierung Indonesiens unter Megawati Sukarnoputri mit Distanzierung von den Attentätern und vom Terrorismus. Aber erst nach dem
Anschlag von Bali ein Jahr später setzte sich die
Erkenntnis durch, dass man es auch im eigenen
Land mit Terroristen zu tun habe. Das führte dazu,
dass man sich daran machte, in einer groß angelegten Ermittlungs- und Strafverfolgungsaktion das
Netzwerk der Jemaah Islamiyah zu zerschlagen. Zu
unterstreichen ist in diesem Zusammenhang aber,
dass die weit überwiegende Mehrheit der Muslime in
Indonesien sich immer deutlich vom Terrorismus
abgegrenzt hat.
Der Islam in Indonesien ist im internationalen Vergleich relativ liberal. Für reformislamische Diskurse
bestehen durchaus Freiräume. Intellektuelle wie Abdurrahman Wahid, der vorletzte Staatspräsident,
oder Nurcholish Majid, der eine Zeit lang als Präsidentschaftskandidat im Gespräch war, stehen repräsentativ für einen toleranten und aufgeklärten Islam. 16 Es mehren sich jedoch die Anzeichen einer
Stärkung orthodoxer, wertkonservativer Haltungen
eines Teils der muslimischen Eliten. So wird ein Gesetzentwurf des Religionsministeriums, der angeblich
zur Verbesserung des Zusammenlebens der religiösen Gruppen beitragen soll, vor allem von Mitgliedern religiöser Minderheiten kritisiert. Der Entwurf
verbietet die Verbreitung religiöser Lehren (Artikel 8);
es werden religiöse Aktivitäten untersagt, die von
den Lehren der anerkannten Religionen abweichen
(Artikel 17); es werden Eheschließungen zwischen
Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften verboten (Artikel 15); die Teilnahme an
Zeremonien anderer Religionsgruppen wird untersagt. Ein neues Bildungsgesetz verpflichtet staatliche
und private Schulen – also auch die katholischen und
protestantischen – für alle Schüler Unterricht in ihrer
jeweiligen Religion anzubieten. Das wird von Christen als benachteiligend empfunden. 17
Die politisch-religiösen Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen sich nicht auf einen einfachen
Nenner bringen. Auf der einen Seite ist seit Anfang
der 70er Jahre eine starke neo-modernistische, liberale Strömung entstanden, die insbesondere in der
16
Zu Diskussionen innerhalb des „Netzwerkes liberaler Islam“ (Jarin‐
gan Islam Liberal, JIL) vgl. Luthfi Assyaukanie (Hg.), Wajah Liberal Islam Indonesia, Jakarta 2002. 17
Gesetz 20/2003 – vgl. Tempo vom 25.11./1.12.2003; Far Eastern Economic Review vom 11.12.2003. 8
urbanen Mittelklasse Rückhalt findet. Auf der anderen Seite lässt sich eine Stärkung der konservativen
orthodoxen Kräfte, seit 1998 auch der radikalen,
gewaltbereiten Islamisten beobachten. Allerdings ist
nur eine Minderheit im Parlament für die Einführung
der Shari´a, und Islamstaatsmodelle werden nicht
ernsthaft diskutiert.
Für Gewalt und Terror gibt es in der Bevölkerung so
gut wie keinerlei Sympathien. Auch unter den Repräsentanten islamischer Organisationen besteht Konsens, dass Gewalt und Terror nicht nur schrecklich,
sondern dass sie im Sinne des Islam verwerflich
sind. Als Drahtzieher der Terrorakte der jüngsten Zeit
(Bali, Jakarta) gilt die Jemaah Islamiyah, eine Terrororganisation mit mutmaßlichen Verbindungen zur
Al Kaida. Die Jemaah Islamiyah wurde Mitte der 90er
Jahre gegründet. Ihr Ziel ist ein pan-islamischer
Staat von Malaysia bis zu den Philippinen. Viele sehen in dem Prediger Abu Bakar Bashir einen der
geistigen Urheber des Terrorismus im Land. Der
ungebeugte alte Mann macht in Interviews kein Hehl
daraus, dass er nicht nur Südostasien, sondern weite
Teile des Globus unter dem Islam vereinigt sehen
möchte.
In den äußeren Provinzen Indonesiens schüren ungelöste Konflikte mit Angehörigen anderer Religionen
die Furcht vor einer Radikalisierung des Islam. Auf
der Inselgruppe der Molukken kam es in den letzten
Jahren mehrfach zu bewaffneten, blutigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen (siehe unten). Gewaltsame Zusammenstöße gab es auch auf der Insel
Sulawesi und in der heutigen Provinz West-Papua.
An all diesen Orten vermischen sich religiöse Spannungen mit lokalen sozialen, ethnischen und ökonomischen Auseinandersetzungen.
Ich sehe für das Gewaltpotential unter Muslimen
gegenwärtig vor allem zwei Gründe:
a) Hinter den gegenwärtigen Unruhen zeigen sich
wieder auflebende Kräfte aus dem Bereich der separatistischen Darul Islam-Bewegung, die in den 50er
und 60er Jahren einzelne Inseln oder Teile davon
aus dem indonesischen Staatsverband herauslösen
wollte. Sie sind Nährboden für die Verbreitung einer
radikal-islamischen Ideologie und für die Entstehung
neuer terroristischer Netzwerke. Die International
Crisis Group (ICG) in Brüssel verweist auf Grund
ihrer Untersuchungen darauf, dass auch nach über
50 Jahren aus dieser Bewegung immer noch Splittergruppen und Ableger entstehen, deren Bandbreite
von Jemaah Islamiyah bis zu gewaltlosen religiösen
Gruppen reicht. Wann immer eine ältere Generation
bedeutungslos wurde, sei eine neue, von der Darul
Islam-Bewegung inspirierte Generation entstanden,
die die Idee eines Islamstaates faszinierte.
b) Dass Menschen Terrorismus heute als islamisch
legitimiert betrachten, hat mit einem Phänomen zu
tun, das Bassam Tibi als Djihadismus 18 bezeichnet.
Er geht damit über den Begriff der „Politisierung des
Islam“ (Clifford Geertz) hinaus, auch über die Termini
politikwissenschaftlicher Analyse, wo man heute
gewöhnlich von „islamischem Fundamentalismus“
bzw. „Islamismus“ spricht. Mit dem Begriff Djihadismus bezeichne auch ich hier die dem islamisch verbrämten Terrorismus zugrunde liegende Neudefinition des djihad.
(Seit dem Frühislam kommen dem Djihad zwei unterschiedliche Bedeutungen zu. Djihad ist im Koran zunächst eine „Anstrengung“ auf dem von Allah vorgeschriebenen Weg. Dieser umfasst ausschließlich gewaltfreie Möglichkeiten, also die verbale oder schriftliche Propagierung des Glaubens im Sinne friedlicher
Mission. Eine zweite Bedeutung nahm der Begriff im
Rahmen der islamischen Expansion an. Es ging nun
um den möglicherweise auch mit Kampfhandlungen
verbundenen Einsatz zur Verbreitung des Glaubens.
Für diesen Gewaltanwendung einschließenden Djihad
sind allerdings klare Regeln tradiert, darunter solche
zum Schutz von Frauen und Kindern und das Verbot,
aus dem Hinterhalt anzugreifen.
In jüngerer Zeit wurde im Kreis fundamentalistischer
Denker eine Neuinterpretation des Begriffs vorgenommen. Der „Neo-Djihad“ geht zurück auf Hasan al-Banna
(1906–1949), der 1928 in Kairo die einen politischen
Islam vertretende Muslimbruderschaft gründete. 19 AlBanna deutete – unter Aufhebung der durch den Koran
vorgeschriebenen Regeln – den Djihad zu einer „Weltanschauung des irregulären Krieges“ um. 20 In der Gegenwart fühlen sich islamistische Terroristen aber –
anders
als
sozio-revolutionäre
oder
ethnonationalistische Gruppen – nicht mehr von solchen
„Legitimitätsfragen“ abhängig. Sie üben „Gewalt für
Allah“, nicht für muslimische Mitgläubige. Ihre terroristische Tat wird in einem transzendentalen Sinnzusammenhang gesehen, nämlich als Kampf des Guten gegen das Böse. Dadurch, dass sie sich als „die Guten“
betrachten, werden ihre Opfer aus dieser Kategorie
ausgeschlossen. In ihrer Sichtweise gibt es keine „unschuldigen“ Opfer. Die Kategorie „Feind“ wird unbegrenzt weit gefasst.
Die Djihadisierung wird dadurch begünstigt, dass der
Islam eine „Religion der Macht“ ist in dem Sinn, dass er
Allah Allmacht zuschreibt. Der Gläubige, der den Willen
Allahs tut, handelt in dessen Auftrag. Er darf fest an
Gottes Unterstützung glauben. Von hierher ist es nicht
weit zu der Überzeugung, Gott und „seine Macht“ zur
Durchsetzung dessen, was man als „gut“ erachtet, auf
der eigenen Seite zu haben.)
Die Aktivitäten djihadistischer Aktionisten der jüngeren Vergangenheit unterscheiden sich von den politischen Bestrebungen islamistischer Akteure in den
50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hatten
die Bestrebungen jener Zeit das Ziel, einzelne Landesteile aus der Republik Indonesien herauszubrechen, um dort ungehindert die Herrschaft der Shari´a
aufrichten zu können, so agieren die Bombenleger
der Gegenwart ohne politische Ambitionen für eine
bestimmte Region und ohne Einbeziehung der Bevölkerung dieses Gebietes. Ging es den frühen Separatisten darum, eine möglichst starke Verhandlungsposition für spätere Friedensverhandlungen zu
erkämpfen, so setzen Djihadisten darauf, durch Erzeugung und Ausbeutung von Angst dem Feind ihren
Willen aufzuzwingen. Für sie gibt es kein „heimisches“ Territorium, auf dem sie gegen die Streitkräfte
des Feindes kämpfen. Vielmehr tragen sie die Gewalt in das „Land des Feindes“ hinein, ohne Rücksicht auf Zivilisten.
Dennoch ist festzuhalten, dass sich in Indonesien,
anders als in der arabischen Welt, so etwas wie eine
islamische Zivilgesellschaft herausgebildet hat. Nahlatul Ulama und Muhammadiya sind zivilgesellschaftliche Organisationen, die bereits auf eine lange Tradition sozialer, karitativer und erzieherischer Tätigkeit verweisen können. Dieser Islam hat kein ideales
„Goldenes Zeitalter“ zum Maßstab, sondern arbeitet
sich ab an der komplexen sozialen Wirklichkeit des
Landes. 21 Es ist meines Erachtens deshalb wichtig,
den dynamischen Geist zu erfassen, in dem Kernideen und -praktiken des islamischen Glaubens in
Indonesien von Muslimen in konkreten historischen
Umständen ausgehandelt werden. Der indonesische
Islam kann uns die Augen dafür öffnen, dass diese
Religion unablässig neue, alternative gesellschaftliche und kulturelle Entwürfe für das menschliche Leben hervorbringt. Der Islam ist gleichsam ein
Schmelztiegel, eine sich entwickelnde zivilisatorische
Tradition. Zu Recht hat vom Islam sogar als einem
„fortschreitenden zivilisatorischen Projekt“ 22 gespro-
18
Vgl. Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus. „Heiliger Krieg“ und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004, 24. 19
Vgl. Mitchell Richard, The Society of the Muslim brothers, London: Oxford University Press, 1969. 20
Vgl. Hasan al‐Banna, Risalat al‐Djihad, in: Gesammelte Essays, Alex‐
andria 1990. 21
Wirklich deutlich haben muslimische Parteien und Intellektuelle ihre Rolle und den Beitrag des Islam im Demokratisierungsprozess des Landes, insbesondere bei der Errichtung einer modernen Zivilgesell‐
schaft, aber noch nicht definieren können. 22
Ahmet Karamustafa, Islam. A Civilizational Project in Progress, 2003, DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
9
chen, um deutlich zu machen, dass diese Religion
ein dynamisches, sich entwickelndes Phänomen ist,
das in keiner Weise verdinglicht oder festgelegt werden kann.
III. Zu Christentum und Kirchen in Indonesien
Wie in anderen asiatischen Ländern haben die Christen in Indonesien nur einen begrenzten Anteil an der
Bevölkerung. Die christliche Mission hat im 19. Jahrhundert vor allem jene Ethnien erreicht, die von den
vorherrschenden Religionen noch nicht durchdrungen waren. So gingen besonders die Stammesvölker
der Außeninseln zum Christentum über. Diese standen vielfach auf einer älteren Kulturstufe und lebten
weithin isoliert. Aber im Unterschied zu anderen
asiatischen Ländern spielten die Christen in Indonesien trotz dieser ungünstigen Ausgangssituation in
der Anfangszeit der Republik eine beachtliche Rolle.
Auch wenn sie zahlenmäßig nur eine Minderheit
waren, fühlten sie sich selbst nicht so und wiesen mit
Entschiedenheit zurück, als Minderheit bezeichnet zu
werden.
Zu diesem Selbstbewusstsein der Christen hat beigetragen, dass sie, von Java abgesehen, nicht verstreut in einer Diaspora-Situation lebten, sondern in
bestimmten Gebieten des Landes die Mehrheit der
Bevölkerung stellten. So war die Bevölkerung der
Minahasa fast vollständig christlich, und eine ähnliche Situation herrschte auf den Molukken, auf Flores
und Timor und in Nord-Sumatra. 23 Den christlichen
Bevölkerungsgruppen kam in der Vergangenheit
zugute, dass die Muslime selbst in sich gespalten
und keine gemeinsame Front zu bilden imstande
waren. Die damalige Trennung in „Orthodoxe“ und
„Modernisten“ hatte zur Folge, dass sich beide Gruppen zum Teil bekämpften und so indirekt den Christen zu größerem Einfluss verhalfen.
Für die Christen war ferner nicht unwichtig, dass ein
Teil der chinesischen Minderheit zum Christentum
übertrat, wobei der größere Teil sich der Katholischen Kirche zuwandte. Die Übertritte der Chinesen
verschärften die Frontstellung „Christen contra Muslime“, da besonders muslimische Kaufleute chinesische Händler hassten, weil diese sich oftmals wirt98–110; 109. 23
Die indonesische Christenheit wird dadurch bestimmt, dass mehr als die Hälfte zu ethnisch geprägten Kirchen gehört. Diese Kirchen verwenden bei vielen Veranstaltungen noch die Stammessprache. Viele dieser Kirchen haben gegenwärtig allerdings auch in anderen Landesteilen Gemeinden gebildet. Vgl. Dieter Becker, Herausgefor‐
dert durch das Evangelium, in: ders. (Hg.), Mit Worten kocht man keinen Reis. Beiträge aus den Batak‐Kirchen auf Nordsumatra, Wuppertal / Erlangen 1987, 11–36. 10
schaftliche Schlüsselpositionen verschaffen konnten.
Andererseits brachte der Zuwachs der chinesischen
Minderheit den Christen ein neues Wirtschafts- und
Bildungspotential.
Die Kirchen in Indonesien waren aber kaum ein entscheidender Faktor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Sie haben in einer Situation der Konkurrenz mit
anderen Weltanschauungen und Religionen jedoch
um einen Platz im soziokulturellen Gefüge der Gesellschaft gekämpft, von dem aus sie agieren und
ihren eigenen Anspruch und Auftrag verfolgen konnten. Konnte die indonesische Christenheit nicht
Staatskirche sein, so wollte sie doch auch nicht Sekte werden.
Als Alternative zu einem islamisch geprägten Staat
haben die protestantischen Kirchen die alternative
Philosophie eines Pancasila-Staates begrüßt und
unterstützt. 24 Als zahlenmäßig kleiner Gruppe lag
ihnen in einem Land mit überwiegend muslimischer
Bevölkerung daran, dass religiöse Pluriformität garantiert blieb und dass auch sie als treue Staatsbürger angesehen werden konnten. 25 In der 1965 beginnenden Ära Suharto wurde die indonesische Staatsphilosophie Pancasila immer mehr zu einer Chiffre,
die die Grundsatzentscheidungen der Neuen Ordnung legitimieren sollte. 26 Sie entwickelte sich zu
einer positiven, inhaltlich gefüllten, andere Ideologien
ausschließenden Philosophie des staatlichen und
gesellschaftlichen Lebens.
In den 1980er Jahren trat aber immer deutlicher zutage, dass die Verwirklichung des Nationalen Aufbaus auf wirtschaftlichem Gebiet, aber etwa auch im
Rechtsbereich, weit hinter früheren enthusiastischen
Erwartungen zurückblieb. Konkret zeigte sich, dass
etwa die fehlende Verwirklichung der 2. und 5. Säule
der Pancasila auch die Verwirklichung der anderen
Säulen negativ beeinflusste. Die Pancasila geriet
damit in eine Krise, für die der verbreitete Nepotis24
Vgl. Dieter Becker, Die Kirchen und der Pancasila‐Staat. Indonesi‐
sche Christen zwischen Konsens und Konflikt, Erlangen 1996. 25
Römisch‐katholische Theologen waren etwas zurückhaltender im Verständnis der Pancasila als Hauptbezugspunkt für die sozialen Implikationen des christlichen Glaubens. Auch sie betrachten die Pancasila jedoch als eine Staatslehre, die ein Katholik mit seinem Glauben vereinbaren könne. 26
Die seinerzeit noch ohne ideologischen Überbau von Sukarno for‐
mulierten fünf Säulen benennen Einstellungen und Verhaltenswei‐
sen, die als typisch indonesisch empfunden werden, und wollen ih‐
nen Beachtung im politischen Bereich sichern. Sie wurden als Grundprinzipien in die Präambel zur Verfassung von 1945 aufge‐
nommen und im Staatswappen abgebildet. Sie beinhalten die Beg‐
riffe 1) des Glaubens an den All‐einen Gott; 2) der gerechten und entwickelten Humanität; 3) der Nationalen Einheit; 4) der aus der Beratung von Volksvertretern hervorgehenden Demokratie und 5) der Sozialen Gerechtigkeit für das indonesische Volk. mus, die Korrumpierung von Moral und Ethik und die
Monopolisierung der Macht verantwortlich waren.
Im Jahr 1978 legte die Regierung dem damals neu
gewählten Volkskongress einen „Leitfaden zur Belebung und Ausführung der Pancasila“ (Pedoman
Penghayatan dan Pengamalan Pancasila, abgekürzt
P4) zur Beschlussfassung vor. Zu den Bemühungen
der Regierung, die Pancasila stärker im öffentlichen
Bewusstsein zu verankern, gehörten auch zwei 1985
veröffentlichte Gesetze, nach denen sich alle politischen und gesellschaftlichen Organisationen in ihren
Statuten durch einen besonderen Passus auf die
Pancasila als „einzige Grundlage“ (satu-satunya
asas) verpflichten sollten. Unter dem Druck der Verhältnisse sahen sich die Kirchen gezwungen, auf die
Forderung einzugehen und die Pancasila als satusatunya asas für ihr gesellschaftliches Wirken in ihre
Verfassungen aufzunehmen. Katholiken wie Protestanten empfanden die formale Verpflichtung auf die
Pancasila aber als unberechtigten Versuch, den
Glauben staatlichen Maximen zu unterwerfen.
In theologischer Hinsicht hat in der Zeit der Neuen
Ordnung bei der Bestimmung des Verhältnisses der
Kirchen zum Staat insbesondere die Lehre vom
Reich Gottes eine wichtige Rolle gespielt. So stellte
der langjährige Vorsitzende des Rates der Kirchen in
Indonesien, der ehemalige General T.B. Simatupang,
schon frühzeitig heraus, dass das Evangelium vom
Reich Gottes eine kritische Distanz gegenüber allen
Ereignissen in Staat und Politik ermögliche. Die Botschaft vom Reich Gottes war für ihn Norm und Kriterium für die Beteiligung der Kirchen am Nationalen
Aufbau. Wie die indonesische Revolution der Sukarno-Zeit, so wollte er die Entwicklungspläne seit den
70er Jahren nach dem Maßstab der Übereinstimmung mit dem Reich Gottes beurteilt wissen. Die
Rettungstat Gottes in Jesus Christus wurde so eine
Art kritischer Spiegel zur Beurteilung aller Anstrengungen zur Befreiung des indonesischen Volkes von
„Armut, Rückständigkeit und sozialer Ungerechtigkeit“. Da das Evangelium gute Nachricht für die Armen sei, sollte das Schicksal der Armen auch das
zentrale Anliegen der Kirchen in Indonesien werden.
Nicht nur Lasten zu erleichtern, sah Simatupang als
Aufgabe der Christen an, sondern auch dazu beizutragen, dass im Rahmen des Nationalen Aufbaus die
Leiden verursachenden Strukturen zum Verschwinden gebracht würden.
IV. Aktuelle Herausforderungen für die indonesische Christenheit
Gegenüber der Mehrzahl der Muslime in Indonesien
ist die Zahl der Christinnen und Christen in diesem
Land – mehr als die Hälfte sind Protestanten – bis
heute bescheiden und wird auf acht bis zwölf Prozent
geschätzt. 27 Konnten Christen in den vergangenen
Jahrzehnten trotz ihres begrenzten Anteils an der
Bevölkerung einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss ausüben, so ist der Einfluss christlicher Einzelpersönlichkeiten, Institutionen und Kirchen in jüngster Zeit geringer geworden. International Schlagzeilen machten vor allem die gewalttätigen Konflikte
zwischen muslimischen und christlichen Molukkern,
bei denen zwischen 1999 und 2003 über 6000 Menschen starben und Hunderttausende zu Flüchtlingen
wurden. Spannungen zwischen Christen und Muslimen hat es in Indonesien immer gegeben. Doch waren die Beziehungen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften an der Basis im Großen und
Ganzen durchaus gut und normal. Seit dem Sturz
des autoritären Präsidenten Suharto im Mai 1998 ist
es aber zu einem Wandel der religiösen Lage und zu
einem Erstarken des militanten Islam mit einer Reihe
von schwierigen Folgeproblemen gekommen. 28
Auf Seiten christlicher Gemeinschaften ist zu beobachten, dass sich immer mehr Christen evangelikalen und charismatischen Glaubensüberzeugungen
zuwenden. 29 Insbesondere in den Städten haben
diese Gruppen bei ihren Treffen großen Zulauf. Sie
nutzen die von der Regierung verstärkt zugestandene Religionsfreiheit, um sich nicht nur in Kirchen,
sondern auch in Hotels, Gesellschaftsräumen oder
auch Fußballstadien zu versammeln. 30 Diese Welle
evangelikalen und charismatischen Christentums mit
seinen bunten Gottesdiensten, feurigen Predigten
sowie dem Verbot von Nikotin, Alkohol und außerehelichem Sex könnte als Ausdruck besonderer
Stärke verstanden werden, faktisch ist dies alles
jedoch Ausdruck eines elementaren Gefühls der
Furcht.
27
Die meisten Statistiken geben die Zahl der Christen mit etwa zehn Prozent an. Es gibt allerdings Kreise, die sagen, dass die Anzahl der Christen in den letzten Jahren zugenommen habe. Das wäre poli‐
tisch brisant; offiziell gibt es keine genaueren Zahlen. 28
Die Provinz Aceh führte die Shari´a, das islamische Recht, ein. Ähnliches gilt für inzwischen zwanzig weitere Provinzen. – Seit dem Sturz Suhartos wurden über 400 Kirchen niedergerissen, zerbombt oder geplündert. Nicht wenige Indonesier chinesischer Abstam‐
mung suchen in den USA Asyl, nicht wegen Rassendiskriminierung, sondern wegen religiöser Verfolgung als Christen. 29
Vgl. zum Folgenden Dini Djalal: Von Furcht getrieben. In Indonesien suchen immer mehr Menschen in evangelikalen Überzeugungen Schutz, dt. Übersetzung eines Artikels aus der Far Eastern Economic Review vom 13. Juni 2002, in: Der Überblick, 3/2002, 100–102. 30
Die Bethany‐Gemeinde in Jakarta ist so populär, dass sie das Kon‐
gresszentrum der Stadt jeden Sonntag fünfmal füllen kann. Fernseh‐
shows mit Predigern amerikanischen Stils haben in Lokalsendern ihren festen Platz. An Universitäten schließen sich Tausende von Studenten christlichen Netzwerken an. DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
11
Durch die zunehmende Streitbarkeit des Islam fühlt
sich die kleine christliche Minderheit Indonesiens
ernsthaft bedroht. Insbesondere die Ereignisse des
Bürgerkrieges auf den Molukken, aber auch die anhaltenden Spannungen auf der Insel Sulawesi, bestärken die christlichen Gemeinschaften in diesen
Ängsten. Als Reaktion wenden sie sich von der Mitte
der Gesellschaft ab und ihren eigenen „Scharfmachern“ zu. Aus der Sicht vieler Christen ist ein Kampf
ums Überleben ausgebrochen. Unter Ausklammerung ihrer dogmatischen Differenzen finden sie sich
hinter dem Anliegen verstärkter Selbstbehauptung
geeint und heizen mit diesem Verhalten den bereits
dampfenden Kessel religiöser Spannungen weiter
an. Manche sind sogar den Weg militärischer Radikalisierung gegangen. 31 Das eher labile Gleichgewicht zwischen den Religionen in diesem Land erfährt durch solche hier und da auftretende christliche
Militanz eine weitere Bedrohung. In vieler Hinsicht ist
das Erstarken dieses Typs von Christentum ein
Spiegelbild dessen, was mit der muslimischen Mehrheit im Land seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Suharto geschah.
Da es fast unmöglich ist, Baugenehmigungen für
Kirchen zu bekommen – Stadtplaner weigern sich,
Kirchen an Standorten zu bauen, wo es noch keine
Moscheen gibt; bereits erteilte Baugenehmigungen
werden mit Rücksicht auf islamische Kritik wieder
entzogen usw. – ist es verständlich, wenn einige
Gruppen dazu übergegangen sind, ihre Versammlungen in Hotels und ähnlichen Orten zu veranstalten. Die Gemeinden, die sich in Hotels und Gesellschaftsräumen versammeln, geraten aber mancherorts in den Ruf, Heimlichtuer und öffentlichkeitsscheu
zu sein. Ein solches Verhalten wird von Muslimen
zum Teil als provokativ gedeutet und erneut mit dem
alten Vorwurf geheimer Christianisierungsstrategien
für das ganze Land in Verbindung gebracht. Dazu
kommen immer wieder die Vermutungen, lokale
Christen würden von ausländischen Gruppen finanziert, auch wenn die Betreffenden das bestreiten.
Aufs Ganze gesehen scheinen solche Schwierigkei-
31
In der christlich dominierten Provinz Nordsulawesi patrouillierten zeitweise schwarz gekleidete christliche Milizen durch die Städte, bereit, es mit Mitgliedern des Laskar Jihad („Djihad‐Kämpfer“) auf‐
zunehmen. Dortige Christen glaubten, dass sie keine Alternative zu diesen militanten Gruppen hätten. Sie behaupteten zugleich, mili‐
tante Gruppen träten auf Seiten der Christen immer nur „spontan“ in Erscheinung; sie dienten lediglich der Selbstverteidigung, weil die Regierung sie nicht schützen könne. Vertreter der großen christli‐
chen Konfessionen, insbesondere römisch‐katholische und protes‐
tantische Kirchenführer, verurteilten die Gewaltaktionen. 12
ten christliche Gemeinden aber in ihrer Entschlossenheit zur Selbstbehauptung nur zu stärken. 32
Man wird kritisch fragen müssen, ob Repräsentanten
der traditionellen protestantischen Kirchen in der
Vergangenheit nicht zu oft in einer Art von Binnenorientierung gefangen waren, die sich zu stark an
den Interessen der eigenen Gruppe ausrichtete.
Nach Auffassung des langjährigen Rektors der Theologischen Hochschule von Ostindonesien, Dr. Zakaria Ngelow 33 , pflegen die Kirchenleitungen die vorgegebene und oft bequeme Beziehung zu den Inhabern
der Macht, doch erweist sich ihr Traum, dadurch
politischen Einfluss auszuüben, als nicht realistisch,
sondern führt in Sackgassen. So hätten sie sich in
der Vergangenheit wenig um sozial gerechte Veränderungen in der Gesellschaft gekümmert. Sie hätten
es oft versäumt, Autoritäten gegenüber einen kritischen Standpunkt einzunehmen und sich für die
Geschicke der Menschen – gleich welcher Religion –
einzusetzen, die an der Basis der Gesellschaft leben
oder gar marginalisiert werden. Als Vertretern einer
Minderheit würde es Kirchenführern manchmal zur
zweiten Natur, vor allem eine Art Selbstverteidigungsmechanismus zu entwickeln. Die eigenen
Rechte als gleichberechtigte Bürger würden eifersüchtig und durch starke Proteste verteidigt. Trete
die Gesellschaft aber die Rechte anderer mit Füßen,
seien Mitgefühl und Solidarität vergleichsweise gering. Als in den vergangenen Jahren vermehrt Christen selbst zu Opfern gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wurden, sei die Reaktion vieler Kirchenführer hilflos und verwirrt gewesen.
Nach Ngelow unterminiert das Auseinanderdriften
der Kirchen in ein traditionelles und ein fundamentalistisch-charismatisches Lager ihr Leben und Zeugnis. Die Pluralität christlicher Prägungen, die auch
ein Reichtum sein könne, werde da zum Fluch, wo
jede Gemeinschaft sich allein für die Hüterin der
Wahrheit halte. Es fehle an einem Wissen um die
Komponenten raschen sozialen Wandels, so dass
die Menschen darauf oft irritiert reagierten. Wo auf
sozialen Wandel aber nicht angemessen reagiert
werde, seien Konflikte und Gewalt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zwangsläufig.
Zakaria Ngelow mahnt deshalb an, dass der indone32
So wird etwa in christlich geführten Unternehmungen immer häufi‐
ger „spirituelle Orientierung“ für die Belegschaft angeboten, indem pro Woche ein bis zwei Gottesdienste auf dem Firmengelände ab‐
gehalten werden. Christliche Geschäftsleute werden in evangelikal geistliche Ämter eingesetzt etc. 33
Vgl. Zakaria J. Ngelow, Referat auf der 53. Generalversammlung der Europäischen Arbeitsgemeinschaft für ökumenische Beziehungen mit Indonesien (Eukumindo), gekürzt und in Auszügen wiedergege‐
ben in: Zeitschrift für Mission 2/2004, 168–172; 170. sische Protestantismus neu in ein Ringen um eine
Vision und Praxis von Kirche eintreten müsse, die
dem Evangelium und dem lokalen Kontext gemäß
seien. In diesem Zusammenhang betont er den Weg
Jesu inmitten der Gesellschaft seiner Zeit , d.h. der
galiläischen Landbevölkerung, wo er Hungrige gespeist, Kranke geheilt, Frauen und andere marginalisierte Menschen als gleichwertig behandelt und religiöse Analphabeten gelehrt habe, in Liebe und Frieden zu leben 34 . Auch die paulinische Lehre einer
kenotischen Inkarnation müsse neu untersucht und
auf das Leben der Kirche angewandt werden. Nur so
könne ihr Merkmal, leidender Gottesknecht zu sein,
neu erweckt werden. Sich diese ganz und gar auf
den anderen Menschen ausgerichtete Lebensart
Jesu vor Augen zu halten und sich daran zu orientieren, biete gerade im pluralistischen Kontext Indonesiens eine bedeutsame Perspektive. Sie erschließe
die Bedeutung von Jesu messianischem Dienst und
christlicher Nachfolge. Besonders auf dem Feld gesellschaftlich relevanter Bildung, wie etwa in Fragen
staatsbürgerlicher Pflichten oder der Menschenrechte, eröffneten sich für die Kirchen weite Betätigungsmöglichkeiten. Hier sollten die Kirchen das
Heft des Handelns nicht länger fundamentalistischen
oder charismatischen Gruppen überlassen. 35
Für Gerrit Singgih, viele Jahre Dekan der Theologischen Fakultät der Universitas Kristen Duta Wacana
in Yogyakarta 36 , muss sich der christliche Glaube in
Indonesien heute ausrichten am Ziel der Menschlichkeit und der Achtung vor den Andersgläubigen. Darin
liege sein Potential, zu Versöhnung und Frieden beizutragen. Das aber erfordere Mut und Geduld auch
da, wo es Rückschläge gebe. Die Kirche werde ihre
Aufgabe in der Gesellschaft nur dann richtig verstehen, wenn sie die anderen als Partner bei der Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben sehe. Das
gehe über das bisherige, oft eng auf den diakonischen Bereich ausgerichtete Engagement hinaus. Im
Miteinander der Religionen sei heute die Wahrnehmung und Analyse der komplexen politischen, sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen und die historischen Wurzeln von
Konflikten vorrangig. So müssen nach Singgih Christen zusammen mit Angehörigen anderer Glaubensweisen nach Wegen und Mitteln suchen, Menschen
im Widerstand gegen ökonomische Ausbeutung und
soziale Ungerechtigkeit beizustehen, und so zu Versöhnung und Frieden 37 zwischen rivalisierenden
Gruppen beizutragen.
Nachbarschaft von protestantischer Kirche und Moschee in
Kendari, Südostsulawesi (Foto: EMS / David Tulaar)
34
Zakaria J. Ngelow, a.a.O., 172. 35
Bedauerlich findet es Ngelow, dass traditionell evangelische Verlage immer mehr nordamerikanische Erbauungsliteratur herausgeben, während die Verlage von Katholiken und Muslimen die Buchläden mit frischen akademischen Diskursen zu sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Themen beliefern. Auch die geistliche Begleitung und Ausbildung christlicher Universitätsstudenten liege leider weithin in den Händen dieser Gruppen und tendiere zu mora‐
listisch‐spiritualistischer Unausgewogenheit. 36
Vgl. Esther Müller, Ein Missionar im Anzug. Der Missionar Emanuel Gerrit Singgih, in: darum – Zeitschrift für Mission und Ökumene, 7–
11; 8f. 37
Siehe Dieter Becker, Interreligiöser Dialog in Indonesien. Ein Poten‐
tial für den Frieden?, in: Michael Koch (Hg.), Verändert der Dialog die Religionen? Religionsbegegnungen und Interreligiöser Dialog, Frankfurt a.M. 2007, 133–156. DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
13
SPANNUNG IM INTERRELIGIÖSEN DIALOG
ÜB ER WELCHE G ESELLSCHAFTLICH EN TH EMEN STR E IT EN D IE RELIG ION EN? WELCH EN EINFLUSS GEWINN EN R AD IKALE
STRÖ MUNGEN? WIE G ELINGT D AS ZUSAMMEN LEB EN IM ALLTAG UND WOH IN EN TWIC KELT ES SICH?
Dr. Luthfi Assyaukanie
Dr. Luthfi Assyaukanie ist Islamwissenschaftler und lehrt nach seinem Studium in Jordanien und Australien an
der Paramadina-Universität in Jakarta. Er ist Mitbegründer des indonesischen „Netzwerk Liberaler Islam“ (JIL)
und hat neben zwei Büchern zahlreiche Artikel zur Entwicklung des Islam in Indonesien und zum Verhältnis von
Religion und Politik veröffentlicht.
Spannungen waren immer ein Charaktermerkmal
interreligiöser Beziehungen, besonders wenn wir
über Islam und Christentum sprechen. Die Natur
beider Religionen trägt stark dazu bei, Feindseligkeit
zwischen ihren Anhängern zu schüren. Wie wir alle
wissen, erheben sowohl der Islam als auch das
Christentum den Anspruch auf Wahrheit und Erlösung. Sie haben durch die Geschichte hindurch diesen Anspruch dazu benutzt, ihren einzigartigen Status zu proklamieren. Sowohl Muslime als auch Christen haben aufeinander bezogen das Gefühl theologischer Überlegenheit.
Die Begegnung zwischen Islam und Christentum ist
sehr alt. Sie ist so alt wie der Islam selbst. Neue
Forschungsergebnisse zur Entstehungszeit des Islam enthüllen, dass Khadijah, die erste Frau des
Propheten Mohammed, eine Christin war und dass
sie vom Propheten als Christin anerkannt wurde,
indem er ihr den Namen al-tahirah (die Reine) gab,
um sie mit der heiligen Maria zu vergleichen. Khadijah war die einzige Frau des Propheten, die einen
solchen Namen erhielt.
Das muslimisch-christliche Verhältnis war harmonisch und blieb so, bis Muslime dadurch an politischer Macht gewannen, dass sie ihr Territorium über
die arabische Halbinsel hinaus ausdehnten. Die militärische Begegnung zwischen einer muslimischen
Armee und dem römischen Reich in Mu´tah im Jahr
629 markiert den ersten Konflikt zwischen Islam und
Christentum. Diese militärische Auseinandersetzung
hatte einen bedeutenden Einfluss auf die weitere
Geschichte der muslimisch-christlichen Beziehungen.
Einige der Spannungen zwischen Islam und Christentum in Indonesien wurden durch diese bittere
geschichtliche Erfahrung im Mutterland des Islam
ebenfalls geprägt. Das historische Vermächtnis verwob sich dann mit theologischen und politischen
14
Faktoren, die die indonesische Geschichte hindurch
wirksam wurden.
Der Islam kam zuerst nach Indonesien, später folgte
das Christentum. Beide Religionen wurden von
Händlern ins Land gebracht; die eine aus dem indischen Gujarat, die andere aus Portugal und Spanien.
Die indischen Händler kamen im 14. Jahrhundert
nach Indonesien und verbreiteten den Islam nach
und nach unter den Einwohnern. Die portugiesischen
und spanischen Händler kamen im 16. Jahrhundert
und zusammen mit ihnen die katholischen Missionare, die das Christentum in den Archipel brachten.
Die Geschichte der Islamisierung und Christianisierung in Indonesien war bestimmt von Spannungen
und Konflikten. Während der Islam ins Land kam, um
die vorherrschenden Religionen, vor allem Hinduismus und Buddhismus abzulösen, kam das Christentum, um Anhängern aller existierenden Glaubensrichtungen seine Überzeugung zu predigen. Sowohl
muslimische als auch christliche Missionare kämpften darum, so viele Anhänger wie möglich als Konvertiten zu gewinnen.
Islamisierung und Christianisierung sind beides fortlaufende Prozesse und halten bis auf den heutigen
Tag an. Es ist an diesem Punkt wichtig anzumerken,
dass Islamisierung und Christianisierung nicht jeweils nur Verfahren sind, Nichtmuslime oder Nichtchristen zum Islam und zum Christentum zu bekehren, sondern beide beinhalten auch eine aktive Kampagne, die islamischen beziehungsweise christlichen
Werte der indonesischen Gesellschaft aufzuprägen.
Spannungen zwischen Muslimen und Christen wurden deshalb oft durch Versuche ausgelöst, die indonesische Gesellschaft islamischer oder christlicher
zu formen.
Die Spannungen in Indonesien äußern sich nicht
immer in Kämpfen. In sehr subtiler Form äußern sie
sich in einem gewissen gegenseitigen Misstrauen.
Seit der Unabhängigkeit hegten Muslime und Christen immer einen Argwohn gegeneinander. Während
Muslime Christen verdächtigten, einen versteckten
Plan (hidden agenda) zur Christianisierung der muslimischen Mehrheit zu verfolgen und das Land in ein
christliches umwandeln zu wollen, verdächtigten
Christen Muslime, einen islamischen Staat in Indonesien errichten zu wollen.
Die Einführung der Shari´a
Die erste Auseinandersetzung, die solch gegenseitiges Misstrauen aufbaute, wurde zwei Monate vor der
Unabhängigkeit des Landes in einer Generalversammlung
ausgetragen,
die
als
BPUPKIVersammlung bekannt geworden ist. Es war eine
Konferenz zur Vorbereitung der indonesischen Unabhängigkeit, bei der die Führer verschiedener politischen Gruppen und gesellschaftlicher Organisationen zusammenkamen, um über die Grundlagen und
die Verfassung des Staates zu diskutieren. Außer
säkularen Nationalisten waren auch Muslime und
Christen an dem Treffen beteiligt.
Es gab einige hitzige Debatten unter den Mitgliedern
der Versammlung. Verschiedene religiös-politische
Fragen wurden aufgeworfen. Die am meisten umstrittene Frage war aber die Annullierung der sieben
Worte, die als Jakarta Charta bekannt sind und die
„eine Verpflichtung für Muslime, islamisches Recht
zu befolgen“ besagen. Muslime betrachteten diese
Charta als die konstitutionelle Basis dafür, die Shari´a in Indonesien einzuführen.
Die Geschichte des indonesischen Islam seither ist
die Geschichte des Kampfes darum, die Jakarta
Charta in die Verfassung zurück zu bringen. Bis zu
einem gewissen Grad wurde auch das Verhältnis
zwischen Islam und Christentum im Land von diesem
Streitpunkt geprägt. Während die Muslime die Christen dafür verurteilten, die Charta mit verhindert zu
haben, klagten die Christen die Muslime für ihr Vorhaben an, einen islamischen Staat errichten zu wollen.
Die ganze Geschichte des postkolonialen Indonesien
hindurch haben Muslime darum gekämpft, durch eine
Wiederaufnahme der Jakarta Charta islamisches
Recht einzuführen. In der Sukarnozeit wurde das Ziel
hauptsächlich dadurch verfolgt, Muslime dafür zu
mobilisieren, islamische Parteien zu wählen. Der
Versuch scheiterte jedoch, wie sich in den Wahlen
von 1955 und der verfassunggebenden Versammlung 1957 zeigte, und einige Muslime empfanden
das als grundsätzliche Enttäuschung.
Nach dem politischen Wechsel von Sukarno zu Suharto nahmen Muslime noch ein Mal den Kampf um
die Charta auf. Suharto war jedoch im Gegensatz zu
Sukarno nicht an ideologischen Frontstellungen interessiert. Er wollte vor allem die Entwicklung des
Landes voranbringen. Er behinderte deshalb bewusst die Arbeit der alten politischen Parteien mit
starker ideologischer Basis. Dann fusionierte er alle
Parteien in zwei verbleibende: die nationalistische
Indonesische Demokratische Partei und die moderatislamische Entwicklungs- und Einheits-Partei. Er
selbst schuf eine neue Quasi-Partei mit dem Namen
Funktionale Gruppen (Golkar).
Mit Hilfe von Golkar regierte Suharto mehr als drei
Jahrzehnte lang. Er gab den muslimischen politischen Aktivisten keine Chance, ihr ideologisches
Programm auf die Tagesordnung zu setzen, das in
der Sukarnozeit ein vorherrschendes Thema gewesen war. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten
seiner Herrschaft verfolgte Suharto eine ablehnende
Politik gegenüber dem politischen Islam. Verschiedene radikale islamische Gruppen wurden zerschlagen und viele ihrer Mitglieder diskreditiert und ins
Gefängnis gebracht.
Suharto war jedoch nicht vollständig gegen den Islam. Er wandte sich vor allem gegen die politischen
Bewegungen, die seiner Einschätzung nach sein
Programm nationaler Entwicklung gefährdeten. Auf
nicht-politischem Gebiet unterstützte Suharto das
Erstarken der muslimischen Gemeinschaft. So gründete er 1982 die „Wohlfahrtsstiftung der PancasilaMuslime“, zu deren Hauptzielen die Errichtung von
1000 Moscheen in Indonesien gehörte. Er leitete
diese Stiftung bis zu seinem Rücktritt vom Amt.
Nach dem Sturz Suhartos hielt Freiheit und Demokratie in Indonesien Einzug. Politische Gruppen, die
in der Suhartozeit unterdrückt worden waren, traten
wieder auf und warben für ihre ideologischen Ziele.
Die radikalislamischen Gruppen, die in der Suhartozeit klein gehalten worden waren, beanspruchen jetzt
ihren Platz in der gesellschaftlichen und politischen
Arena. Manche von ihnen wenden Gewalt an und
andere „demokratische“ Mittel, um ihre islamischen
Themen in die Regierung zu bringen.
Anfangs versuchten sie, über die Demokratie zu gewinnen, indem sie dafür warben, islamische Parteien
zu wählen. Aber sie scheiterten, da sie in den letzten
beiden Wahlen (1999 und 2004) nicht mehr als 17%
der Stimmen erhielten. Diese Situation zwang sie
dazu, neue Strategien zu entwickeln, von denen eine
lautete, islamische Themen auf regionaler Ebene
einzubringen. Da sie auf nationaler Ebene scheiterten, setzen sie jetzt ihre Hoffnung auf die regionale
Ebene.
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
15
Diese neue Strategie verband sich mit dem Autonomiegesetz von 1999, in dem den Regionen auf Regierungsbezirksebene die Autonomie verliehen wurde, sich selbst zu verwalten. Die Islamisten benutzten dieses Gesetz, um ihr Vorhaben umzusetzen,
das inzwischen als „Shari´a-Verordnung“ (Perda
Syariah) bekannt ist.
Es gibt mittlerweile 40 Regierungsbezirke, die die
Shari´a schon eingeführt haben oder dabei sind, sie
einzuführen. Obwohl es Kritik von liberaler muslimischer Seite gibt, geht die „Shari´aisierung“ der lokalen Gesetzgebung weiter. Schlimmer noch, sie ist zu
einem politischen Pfund geworden, mit dem nicht nur
Islamisten wuchern, sondern auch säkulare Politiker,
die muslimische Stimmen fangen wollen.
Liberale Muslime sind führend in der Bewegung gegen die Einführung der Shari´a in Indonesien. Sie
sind der Ansicht, dass ein solcher Plan die Nation
spalten könnte, er würde nicht nur die Rechte von
Nichtmuslimen missachten, sondern auch diejenigen
Muslime, die der Idee der Shari´a nicht zustimmen.
Die Einführung der Shari´a hat bereits eine nationale
Spaltung provoziert. Indonesien ist kein islamischer
Staat. Wenn das Land in die islamische Richtung
gedrängt wird, gibt es Opposition dagegen. Es ist
wichtig zu sehen, dass die „Shari´aisierung“ der lokalen Gesetzgebung von Regionen mit nichtmuslimischer Majorität wie Bali und Papua strikt abgelehnt
wird. In Bali verlangten Hindus eine hinduistische
Variante der Shari´a, während in Papua Christen im
Gegenzug die Errichtung einer „biblischen Stadt“ in
der Region forderten.
Das Erstarken des Konservatismus in Indonesien
sollte größere Besorgnis erregen als das Aufkommen
extremistischer Gruppen. Die Sicherheitskräfte können Extremisten bekämpfen, aber gegen die Konservativen richten sie nichts aus. Die Konservativen sind
weder Terroristen noch Rebellen, die sich gegen den
Staat richten. Die Konservativen sind einfach diejenigen religiösen Leute, die sich demokratischer Mittel
bedienen wollen, um ihren religiösen Kodex durchzusetzen.
Die Kampfansage der konservativen Muslime
Die meisten Unterstützer der Einführung der Shari´a
sind religiös Konservative, die ein wortgetreues Verständnis des Islam haben. Für sie muss die Shari´a
so angewendet werden, wie sie da steht. Sie sind
mehrheitlich gegen die liberalen Muslime, die die
Shari´a vor ihrer Anwendung einer Reform unterziehen wollen. Für liberale Muslime ist die Shari´a kein
16
gänzlich von Gott geschaffenes Regelwerk, sondern
eher ein Produkt menschlicher Geschichte. Die Shari´a besteht einfach in einer Reihe von Bestimmungen, die von Ulemas oder religiösen Gelehrten im
Lauf der islamischen Geschichte formuliert wurden.
Sie ist nicht unveränderbar.
Konservative Gläubige sind im Allgemeinen ihrer
Religion mehr verbunden als dem Staat. Viele von
ihnen ignorieren konstitutionelle Grundrechte, wenn
es um ihre religiösen Doktrinen geht. Eine Menge
Klauseln in den Statuten religiöser Gemeinschaften
enthalten Regelungen, die essentiell gegen den
Geist der indonesischen Verfassung gerichtet sind.
Die Einführung der Shari´a selbst ist ein Angriff auf
den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, da
nur Muslime verpflichtet sind, diesem Gesetz zu gehorchen.
In vielen Fällen hat die Einführung der Shari´a in den
entsprechenden Regionen Indonesiens ernsthafte
Probleme verursacht und eindeutig Menschenrechte
verletzt. In Tangerang, einem Regierungsbezirk in
der Nähe von Jakarta, verpflichtet das Shari´aGesetz zum Beispiel jede Frau ohne Begleitung,
nach 10 Uhr abends zuhause zu bleiben. Sie darf
das Haus nicht alleine verlassen, sie würde sonst
unter der Anklage festgenommen werden, eine Prostituierte zu sein. Diese Regelung hat große Probleme
verursacht, da Tangerang eine Industrieregion ist, in
der viele Frauen bis spätabends arbeiten gehen.
Die Shari´a verletzt außerdem die Rechte von
Nichtmuslimen, da sie in der Praxis nicht nur auf
Muslime, sondern auch auf Nichtmuslime angewendet wird. In Aceh zwingt zum Beispiel die Regelung
zur khahwat (verbotenen Beziehungen zwischen
Männern und Frauen) Nichtmuslime, den Vorschriften ebenfalls zu gehorchen, wenn sie nicht von der
Religionspolizei verhaftet werden wollen. In Padang
wurde die Pflicht, den hijab in den Schulen zu tragen,
nicht nur den muslimischen Schülerinnen verordnet,
sondern in einigen Fällen auch nichtmuslimischen
Schülerinnen.
Die Einführung von Shari´a-Gesetzen ist so in der
Tat zu einem ernsthaften Hindernis für bessere Beziehungen zwischen den Religionen in Indonesien
geworden. Sie erzeugt Spannungen – nicht nur zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern auch
unter Muslimen selbst.
Die einzige Lösung für die Indonesier ist, sich auf
ihre Verfassung zurück zu besinnen. Die Verfassung
garantiert allen Staatsbürgern, ihre Rechte in gleicher Weise in Anspruch zu nehmen und ausüben zu
dürfen. Ich bin überzeugt davon, dass interreligiöser
Dialog nicht von der Basis religiöser Doktrinen aus
aufgebaut werden kann, sondern nur von einer gemeinsamen Basis aus, die über allen Religionen
steht.
Lassen Sie mich diesen Vortrag abschließen mit der
Feststellung, dass Demokratie in Indonesien zum
zweischneidigen Schwert geworden ist. Auf der einen Seite wird sie als die Hoffnung Indonesiens gefeiert, seine politische und wirtschaftliche Lage zu
verbessern. Auf der anderen Seite jedoch ist sie zu
einem Vehikel geworden, mittels dessen einige gesellschaftliche Elemente ihre illiberalen Programme
voran bringen.
Aber lassen Sie uns nicht zu pessimistisch sein. Indonesien kennt Demokratie noch nicht einmal seit
einer ganzen Dekade. Politikwissenschaftler sagen,
die Umwandlung in eine Demokratie brauche mindestens 20 Jahre, um in einem Land wirklich stabil
verankert zu sein. Trotz vieler Probleme, mit denen
das indonesische Volk jetzt konfrontiert ist, bin ich
zuversichtlich, dass wir uns auf dem richtigen Weg
befinden.
Übersetzung aus dem Englischen:
Christine Grötzinger
Dr. Luthfi Assyaukanie (Foto: EMS / Steffen Grashoff)
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
17
BÜNDNISSE GEGEN RADIKALISMUS
WIE ARBEITEN CHR IS TLICH E UND MU SLIMISCH E ORGAN ISATION EN
G EGEN R ELIGIÖ SE R AD IKALISIERUNG UND GEWALT ZUSAMMEN?
Dr. Zakaria Ngelow
Der Theologe Dr. Zakaria Ngelow lehrt nach seiner langjährigen Tätigkeit als Rektor der Theologischen Hochschule für Ostindonesien (STT Intim) in Makassar heute als Dozent an der Staatlichen Theologischen Hochschule in Toraja (STAKN). Er ist Mitbegründer des interreligiösen „Dialogforum unter uns in Südsulawesi“ (Forlog) und
seit langem im christlich-muslimischen Dialog in Indonesien engagiert.
In der ursprünglichen Planung dieser Konferenz war
vorgesehen, dass Dr. Andreas Yewangoe, der Präsident der Gemeinschaft der Kirchen Indonesiens zu
diesem Thema sprechen sollte. Ich fühle mich sehr
geehrt, seinen Platz einzunehmen, um mit Ihnen
meine Gedanken zum Thema zu teilen. Aber lassen
Sie mich zuerst sagen, dass ich den größten Teil
meines Lebens in theologischen Ausbildungsstätten
und im Engagement im interreligiösen Bereich verbracht habe. Mein Vortrag befasst sich deshalb weniger mit der Zusammenarbeit innerhalb interreligiöser Organisationen auf nationaler Ebene als mit den
regionalen Bemühungen auf diesem Gebiet. Entsprechend geht es auch weniger um die Kooperation
zwischen christlichen und muslimischen Organisationen als um generelle interreligiöse Zusammenarbeit.
Eine Frage der Definition
Es ist eine heikle Aufgabe, religiösen Radikalismus
zu definieren, speziell islamischen Radikalismus im
globalen wie im indonesischen Kontext. Manche
Begriffe zur Charakterisierung jedweder religiösen
Gruppierung können abwertend aufgefasst werden
und unbeabsichtigte Probleme aufwerfen. Ein Internetwörterbuch definiert Radikalismus gnädig als „die
Glaubenssätze und Meinungen von Radikalen, im
speziellen ein Gedankengebäude, das für einen tiefgreifenderen sozialen und politischen Wandel plädiert als der politische Mainstream befürwortet“.
(www.allwords.com/word-radicalism.html)
Ein junger indonesischer muslimischer Wissenschaftler definiert religiösen Radikalismus als „die rigide
religiöse Haltung, die Gewalt einschließt“. Er zitiert
Hassan Hanafi, einen angesehenen ägyptischen
Gelehrten, damit, dass mindestens zwei Gründe für
die Gewalt im heutigen Islam auszumachen sind.
Zum einen hat sie mit der Unterdrückung in den
herrschenden politischen Regimes zu tun. Islamische
18
Gruppen genießen keine Meinungsfreiheit. Zum
zweiten erscheint durch den Bankrott säkularer Ideologien der herrschenden Regime religiöser Fundamentalismus oder Radikalismus als ideologische
Alternative die einzige Wahl für muslimische Gemeinschaften. Er bezieht sich außerdem auf die Forschungsergebnisse des Chicago-Projekts zu Fundamentalismus, die besagen, dass Fundamentalismen
einen Abwehrmechanismus darstellen, der als Reaktion auf eine bedrohliche Krise auftritt.
Olivier Roy, ein französischer Experte für politischen
Islam, benennt das das Phänomen eines religiösen
Radikalismus (Salafismus) und politischen Radikalismus (al Qaida) in der jüngsten Entwicklung des
Islam im Westen. Er meint, dass der derzeitige religiöse Radikalismus vor allem eine Folge der Globalisierung und der „Westenisierung“ des Islam ist,
ebenso wie die ähnliche Entwicklung im amerikanischen Protestantismus.
AIVD, der Geheimdienst der Niederlande, definiert in
einer Studie Radikalismus als „die (aktive) Verfolgung und/oder Unterstützung weitreichender Veränderungen in der Gesellschaft, die eine Gefahr für die
demokratische Rechtsordnung bilden kann und die
den Einsatz undemokratischer Mittel und Methoden
einschließt, die das Funktionieren der demokratischen Rechtsordnung behindern können.“ Die Studie
zeigt auf, dass der radikale Islam aus einer Vielzahl
von Bewegungen, Organisationen und Gruppen besteht, die eine gewisse Affinität zueinander besitzen,
die aber ebenso sehr unterschiedliche ideologische
und strategische Standpunkte aufweisen. Die Studie
unterscheidet drei Sorten radikalen Islams. Die erste
Sorte ist der radikale Kalifatismus. Er markiert den
Widerstand gegen die westliche politische (und folglich auch wirtschaftliche) Unterdrückung. Sein Fokus
liegt auf der politischen Macht des Westens. Diese
Macht soll gebrochen und durch die politische Macht
des Islam ersetzt werden. Die zweite Sorte radikalen
Islams ist radikal-islamischer Puritanismus. Er betont
den Widerstand gegen die westliche kulturelle Unterdrückung. Der Fokus liegt in erster Linie auf dem
„schädlichen“ westlichen Lebensstil, der als Gefahr
für den „reinen Islam“ betrachtet wird. Die dritte Sorte wird als radikaler muslimischer Nationalismus
(oder radikaler muslimischer Kommunitarismus) beschrieben. Er ist eine Reaktion auf sowohl die politische als auch die kulturelle Dominanz des Westens,
aber gibt sich weniger religiös motiviert in der vorgeschlagenen Alternative. Diese drei Sorten haben
einen wichtigen Faktor gemeinsam: Sie ziehen starke mobilisierende Kraft aus der Ideologie der Umma,
dem Ideal einer muslimischen weltweiten Gemeinschaft. In der islamischen Welt wird die Umma als
Quelle der Inspiration für Identifikation und gemeinsame Organisation gesehen und als Grundstein für
die Umsetzung der Ziele des radikalen Islam.
Rumadi vom Wahid-Institut beobachtet eine Kombination von drei Faktoren hinter dem Auftreten von
religiösen Radikalismus in Indonesien: (1) Enttäuschung über das demokratische System, das als
säkular angesehen wird und in dem Religion keinen
Platz im Staatsgefüge hat, und daraus folgend ein
Kampf für einen theokratischen Staat; (2) Enttäuschung über den Kollaps des Sozialsystems, vermeintlich hervorgerufen durch die Ohnmacht des
Staates, das soziale Leben religiös zu regeln; und (3)
politische Ungerechtigkeit, in Folge derer religiöser
Radikalismus als eine Form von Opposition oder
Widerstand gegen das politische System betrachtet
wird, das als repressiv und unfair gilt.
Im heutigen indonesischen Kontext bezieht sich der
Begriff islamischer Radikalismus auf die ganze
Bandbreite der Entwicklung, die sich im Aufkommen
von Gruppen, Organisationen und Bewegungen wie
Jemaah Islamiyah, Komando Jihad, FPI, Majelis
Mujahidin Indonesia, Hizb-ut Tahrir etc. manifestiert.
Während sie einen gemeinsamen radikalen Charakter besitzen, haben sie unterschiedliche Schwerpunkte und benutzen unterschiedliche Mittel. Einige
arbeiten auf die formale Aufnahme der Shari´a über
verfassungsrechtliche Kanäle hin, andere organisieren antiamerikanische/-westliche Massendemonstrationen oder gewalttätige Mobs, die Nachtclubs, Hotels und Kirchen zerstören. (Ein muslimischer Wissenschaftler prägte den Begriff „Islam Pentungan“ knüppelnder Islam - zur Charakterisierung dieser
Mobs.) Einige organisieren und trainieren sich zu
Milizen, um sich an gewalttätigen bewaffneten lokalen Konflikten zu beteiligen oder begehen sogar terroristische Akte wie Selbstmordattentate.
Es sollte hinzugefügt werden, dass religiöse Radikale sich auch unter nichtmuslimischen Gemeinschaften in Indonesien finden. Aber bisher sind sie nicht
von Bedeutung im Hinblick auf Gewalt und auf politische Vorhaben. Gewalttätige christliche Mobs fanden
sich in Ambon und Poso und an anderen Orten in
den letzten lokalen Konflikten. Es wird berichtet,
dass sich in der Minahasa (christliche) Milizen gebildet haben, die sich aber bisher nicht so öffentlich
exponieren, dass der interreligiöse Frieden gestört
würde. Es wird ebenso berichtet, dass Christen in
einer Region auf Papua versuchen, eine Art exklusives christliches Gesetz einzuführen und Hindus auf
Bali genauso. Ein Bericht der Oslo-Koalition (Oddbjorn Leirvik, 2002) erwähnt die christlichen Hardliner
der charismatischen Bewegung: „Auf christlicher
Seite wurde beobachtet, dass einige der Hardliner
unter den christlichen Gruppierungen ihre Inspiration
aus dem amerikanischen charismatischen Christentum ziehen. Die „Hardliner-Gruppen beider Seiten
(Christen und Muslime) sind nicht unbedingt gewaltbereit (die meisten von ihnen sind es nicht), aber ihr
radikaler Diskurs und ihre sektiererische Identitätspolitik kann dessen ungeachtet Ausbrüche lokaler Gewalt anheizen.“
Christlicher Nationalismus
Weltreligionen in Verbindung mit politischer Macht
sind ein verbreitetes Phänomen in der indonesischen
Geschichte. Hinduismus, Buddhismus und Islam
kamen auf den Archipel zusammen mit ihren jeweiligen politischen Zentren wie den hinduistischen oder
buddhistischen Königreichen und den islamischen
Sultanaten. Im Fall der Christen gab es kein politisches Zentrum. Die frühen katholischen Missionen
der Portugiesen etablierten im 16. Jahrhundert kein
römisch-katholisches Königreich auf den Molukken,
noch tat dies die Holländische OstindienHandelsgesellschaft (VOC). In den beiden folgenden
Jahrhunderten ihrer Herrschaft errichtete sie keine
calvinistisch-protestantische Monarchie. Westliche
Mächte waren im Zeitalter des Merkantilismus weniger an Religion als an wirtschaftlichen Monopolen
interessiert. Dieselbe Politik verfolgte die holländische Kolonialregierung in Indonesien. Der französischen Revolution folgte der Prozess der Säkularisierung und der Trennung von Kirche und Staat, und die
Politik von „Sicherheit und Ordnung“ erlaubte christlichen Missionsgesellschaften nur, unter den „heidnischen“ indonesischen Stämmen zu arbeiten. Letztendlich formten sich indonesische Kirchen entlang
ethnischer Grenzen, wie die Niaskirche(n), die Batakkirche(n), die Dayakkirche, die Torajakirche(n),
die Papuakirche, die Sumbakirche etc. Die Zahl indonesischer Christen bewegt sich zwischen 8 und
12%, aber es sind keine offiziellen Statistiken verfügbar.
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
19
(Das Statistische Zentralamt Indonesiens [BPS] führt
alle zehn Jahre eine Volkszählung durch. Die letzten
verfügbaren Daten von 2000 basieren auf 201.241.999
Antworten, das BPS geht davon aus, dass die Zählung
4,6 Millionen Menschen nicht erfasste. Dem Bericht der
BPS zufolge bezeichnen sich 88,2% der Bevölkerung
als Muslime, 5,9% als Protestanten, 3.1% als Katholiken, 1,8% als Hindus, 0,8% als Buddhisten und 0,1%
als „andere“, einschließlich traditioneller Religionen,
anderen christlichen Gruppen und Juden. Die religiöse
Zusammensetzung des Landes bleibt ein politisch aufgeladenes Thema und einige Christen, Hindus und
Mitglieder anderer Minderheitsreligionen meinen, die
Volkszählung habe zu wenig Nichtmuslime erfasst.
Atheismus erkennt die Regierung nicht an. [USBotschaft Jakarta, 2006])
Das holländische Kolonialregime unterstützte Christen nur auf zwei Ebenen, nämlich: (1) darin, sich um
die holländischen und einheimischen Gemeinden zu
kümmern, die von der früheren VOC her stammten.
Diese Gemeinden waren in einer gemeinsamen „Protestantischen Kirche in Niederländisch-Indien“ ohne
bedeutende missionarische Aktivitäten organisiert.
(2) Es unterstützte christliche Missionsstationen in
den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts
darin, Grundschulen zu unterhalten, vor allem auf
„Außeninseln“ (jenseits von Java), in Umsetzung der
kolonialethischen Politik, den Einheimischen Bildung
zuteil werden zu lassen. Der katholischen Kirche
wurde nur erlaubt, auf Flores zu arbeiten und ihre
kleinen städtischen Gemeinden, die übers Land verteilt waren, zu erhalten. Aus diesem Grund konzentrierte sich die katholische Kirche in Indonesien auf
Einrichtungen in den Bereichen Bildung und medizinische Versorgung, die heute als die besten im Land
angesehen werden. Seit den 30ern kamen weitere
protestantische Gruppierungen ins Land, hauptsächlich aus Nordamerika, die meisten von ihnen mit
evangelikalem oder fundamentalistischem Gesicht.
Indonesische Christen begannen mit politischen Aktivitäten 1917 (vor jetzt 90 Jahren!) unter dem Dach
einer holländischen protestantischen Partei, als die
Kolonialregierung eine Volksversammlung ins Leben
rief. Diese pro-kolonialistische Partei stand nicht im
Einklang mit der indonesischen nationalistischen
Bewegung. In den 20ern entwickelte eine kleine
Gruppe christlicher Studenten einen indonesischen
christlichen Nationalismus, der eine moderne demokratische Weltanschauung propagierte, die Menschenrechte, Pluralismus und Toleranz, Antidiskriminierung und Religionsfreiheit garantiert. Als politische Strategie bedienten sich die indonesischen
Christen eines Modells, das ein holländischer Theologe und Staatsmann, Abraham Kuyper, aufgebracht
20
und praktiziert hatte. In einer modernen pluralistischen Gesellschaft sollte demnach jede Gemeinschaft für ihr eigenes Wohlergehen arbeiten und das
Beste dafür tun, dadurch den Weg der allgemeinen
gesellschaftlichen Entwicklung mit zu bestimmen.
Folglich sollten Christen ihr eigenen Universitäten,
sozialen Einrichtungen, Massenmedien und natürlich
eine christliche politische Partei aufbauen. Die zahlenmäßige Minderheit kann nach Kuyper durch
hochqualifiziertes Humankapital und gute Organisation aufgewogen werden. Dieses Ideal der „kreativen
Minorität“ lebt in bestimmten indonesischen christlichen Kreisen fort, mit Bezug auf die politischen Rollen biblischer Figuren wie Joseph im ägyptischen
Palast und Daniel am babylonischen Gerichtshof.
Christen und Pluralismus
Die Gründerväter Indonesiens lösten das Problem
der religiösen Vielfalt in Indonesien mit der Pancasila, einer weder religiösen noch säkularen Ideologie.
Am 22. Juni 2945 formulierten sie den Entwurf für
einen Grundsatz der Verfassung, bekannt als Jakarta
Charta: die Aufnahme der islamischen Shari´a. Am
18. August 1945 wurde eine Revision dessen akzeptiert, da christliche Führer aus Ostindonesien Widerstand gegen die berühmten sieben Worte leisteten,
die sie als Diskriminierung und als Ausdruck eines
religiösen Staates ansahen. Aber bald darauf, 1946,
wurde als Kompensation das Ministerium für religiöse Angelegenheiten eingerichtet, um muslimischen
Interessen zu dienen.
In den 50er Jahren gab es einige wichtige Ereignisse
in den interreligiösen Beziehungen. Während Rebellionen der Darul Islam Christen in einigen Regionen
bedrohten, wurde auf den Südmolukken, einer christlichen Enklave, die RMS (Südmolukkische Republik)
ausgerufen. Nach den landesweiten Wahlen 1955
unterstützten protestantische und katholische politische Parteien die nationalistische Seite darin, die
Pancasila hochzuhalten, während muslimische Politiker für die islamische Ideologie warben. Währenddessen waren andere christliche Enklaven in Nordsumatra und Nordsulawesi in militärische Aufstände
verwickelt.
Die interreligiösen Beziehungen wurden getrübt, als
muslimische Mobs im Oktober 1967 einige christliche
Kirchen und andere Gebäude in Makassar zerstörten. Auslöser war eine Erklärung eines High SchoolLehrers zum Propheten Mohammed, die von Muslimen als Erniedrigung angesehen wurde. Im weiteren
Kontext war es die Reaktion auf Massenchristianisierungen, finanziert von ausländischen Missionswer-
ken in der Folge des Machtwechsels 1965. Die Regierung der „Neuen Ordnung“ etablierte einen interreligiösen Dialog zur Förderung der Harmonie zwischen den Religionsgemeinschaften in einem dreigliedrigen „Programm für interreligiöse Harmonie“:
zwischen Anhängern verschiedener Religionen, zwischen den Religionsgemeinschaften selbst und zwischen den Religionsgemeinschaften und der Regierung. Dieses Regierungsprojekt entpuppte sich als
Top-Down-Vorstoß unter militärischer Kontrolle, um
die religiösen Führer in Suhartos Machtinteressen
einzubinden. Ein Kritiker nannte solche interreligiöse
Harmonie eine „Harmonie vom Standpunkt der Gewehre aus“.
Das Ministerium für religiöse Angelegenheiten erließ,
später im Verbund mit dem Innenministerium, Anordnungen für die Religionsgemeinschaften, namentlich zu ihrer Unterstützung aus dem Ausland und zur
Einschränkung der Errichtung religiöser Gebäude
(d.h. von Kirchen). Die Anordnungen wurden von
Christen als ungerecht abgelehnt und von Radikalen
in den letzten Jahren dazu missbraucht, kirchliche
Gebäude einzureißen oder sich neuen Bauplänen zu
widersetzen. Aber anstatt bessere Neuregelungen
heraus zu bringen, erließen die beiden Ministerien im
März 2006 zwei weitere komplizierte und diskriminierende Verordnungen. Die Führer der NU (für die
Muslime), der PGI (für die Protestanten) und der KWI
(für die Katholiken) akzeptierten sie zwangsläufig,
veröffentlichten jedoch ein gemeinsames Statement
im April 2006 und appellierten (1) an die Glaubensgemeinschaften, die interreligiöse Harmonie zu erhalten und von Straßenjustiz und anarchistischem
Verhalten abzusehen, (2) an die Staats- und Regionalregierungen, die Verordnungen fair anzuwenden,
(3) an die Sicherheits- und Polizeikräfte, Glaubensgemeinschaften die Ausübung ihrer Religion zu garantieren und von allen illegalen anarchistischen
Ausschreitungen gegen sie abzusehen und (4) an
die Medien, mit journalistischer Sorgfalt über illegale
Schließungen von Andachtsorten zu berichten. Der
dritte Punkt des Statements zielt auf die Aufgabe der
Autoritäten ab, rechtlichen Schutz zu gewähren und
diese Aufgabe in der Praxis auch ernsthaft wahrzunehmen. In vielen Fällen gewalttätiger Attacken von
Radikalen taten die Sicherheitskräfte nichts, um die
Opfer zu schützen. Diese sogenannte „Politik Pembiaran“ (Duldungspolitik) der Autoritäten in den vergangenen lokalen Konflikten brachte die Opfer letztlich dazu, Vergeltungsschläge zu organisieren.
Das Regime der Neuen Ordnung wandte sich strikt
gegen jede Alternative zur Pancasila-Ideologie, einschließlich der des Islam. Aber christliche Führer und
Politiker machten sich Sorgen über muslimische Politiker mit ihrer islamischen Ideologie, wie sie sich in
der Ära nach der Neuen Ordnung manifestierte. Die
Zahl der zerstörten Kirchen stieg ebenso wie die
Zahl der lokalen Konflikte in christlichen Enklaven,
der terroristischen Bombenattentate und der Versuche, die Jakarta Charta wieder zu beleben. Das alles
schürt die christliche Islamophobie.
(Die Jakarta Charta wurde in den Sitzungen des Verfassungsgebenden Rats 2001 und 2002 ausführlich
diskutiert und die Sache wurde einmal mehr damit
beschlossen, die berühmten sieben Worte außen vor
zu lassen, weil es keine Mehrheit für ihre Aufnahme
gab. Die beiden größten muslimischen Organisationen, Nu und Muhammadiyah, stellten sich klar und
resolut gegen diesen Versuch, die Shari´a in die
Verfassung aufzunehmen. Dies markiert jedoch nicht
das Ende der Versuche, der Shari´a gesetzgebende
Kraft in Indonesien zu geben. Es gibt Versuche, die
durch die Regionalautonomie erweiterte Macht der
Regionalparlamente dazu zu benutzen, Elemente der
Shari´a in regionales Recht einzuziehen. Islamische
Beamte des Justizministeriums bereiten nachweislich
eine große Zahl von Gesetzesänderungen vor, die zu
einem signifikanten Grad an Islamisierung führen
würden. Nichtmuslime registrieren außerdem ein
nachhaltiges Bemühen, auch in anderen neuen Gesetzesvorhaben eine schleichende Islamisierung
voranzubringen, so zum Beispiel im neuen Gesetz
zur Staatlichen Bildung, das Schulen dazu verpflichtet, Schülern Unterricht in ihrer eigenen Religion
anzubieten – so dass alle christlichen Schulen zu
Zentren muslimischer Bildung werden.)
Seit den frühen 70ern haben christliche theologische
und kirchliche Einrichtungen mit moderater (ökumenischer) Ausrichtung inklusive und pluralistische interreligiöse theologische Ansätze aufgegriffen, um
eine exlusivistische und apologetische Theologie
abzulösen. Diese Entwicklung stand in Beziehung zu
drei Meilensteinen in der Geschichte des Christentums im 20. Jahrhunderts: der Gründung des ÖRK
(1948), des protestantischen ökumenischen Rats mit
seiner weltumspannenden Agenda, den Ergebnissen
des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), namentlich der Erklärung zum Verhältnis der Religionen
(Nostra Aetate) und dem Aufkommen der Befreiungstheologie in Lateinamerika (späte 60er), die sich
sozialen Fragen mit einer „Option für die Armen“
zuwendete. 1980 begann die PGI ein jährliches Seminar über Religionen zu organisieren, mit der Unterstützung von Olaf Schumann, einem deutschen
Experten in der Islamforschung und anderen. Dieses
jährliche Studienseminar machte Studenten und Kirchenleitungen nicht nur mit den neuen Ideen der
interreligiösen Theologie und deren Verknüpfungen
mit dem soziokulturellen, wirtschaftlichen und politi-
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
21
schen Kontext bekannt, sondern ermöglichte ihnen
auch persönliche Kontakte mit Muslimen.
Ein weiteres wichtiges Bindeglied zwischen den indonesischen Kirchen und der ökumenischen Bewegung bildet das gemeinsame Engagement, globale
Themen auf lokaler Ebene anzugehen. Interreligiöser
Dialog, Frauenthemen, Menschenrechte, Armut,
Umweltkrisen, Demokratisierung und Gewalt stehen
auf der gemeinsamen Agenda der weltweiten ökumenischen Kirchen. Erst im Rahmen dieser gemeinsamen Agenda wurden Kirchen dazu angespornt, in
ihrem jeweiligen Kontext für Gerechtigkeit, Frieden
und Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten. Klassische und traditionelle theologische Ansätze wurden
einer Revision unterzogen und die Bibel wurde aus
unterschiedlichen Perspektiven gelesen, um neue
theologische Einsichten für die verschiedenen Herausforderungen zu gewinnen. Biblische Botschaften
der Verpflichtung zur Liebe und zur Vergebung bilden die Grundlage für Christen, sich jeder Art von
Gewalt zu widersetzen und in Harmonie mit anderen
Glaubensgemeinschaften zu leben.
Interreligiöse NGOs
Im folgenden Jahrzehnt, in dem bereits mehr radikale
Gruppen in der Öffentlichkeit auftauchten, wurden
zugleich religionsübergreifende und „Dialog-“ Foren
gegründet. Das erste Forum, das eingerichtet wurde,
war Interfidei (Interreligiöser Dialog), gegründet von
Th. Sumarthana 1991 in Yogyakarta mit der Vision,
„eine Zivilgesellschaft aufzubauen, die in humanitären und demokratischen Werten wurzelt.“ 1996 wurde in Jakarta MADIA (Gesellschaft für interreligiösen
Dialog) gegründet. In einer öffentlichen Erklärung
erläuterte MADIA 1998 ihre Anliegen:
„Mit tiefer Besorgnis registrieren wir, wie oft religiöse
Symbole ebenso wie ethnische und rassische Unterschiede als Instrumente zur politischen Steuerung
und für wirtschaftliche Interessen missbraucht worden sind, zum Vorteil bestimmter Gruppen und Einzelner und auf Kosten der Gesellschaft als ganzes.
Mit tiefer Besorgnis werden wir Zeugen einer Kultur
der Gewalt, die zur normalen Praxis geworden ist,
um politische Veränderungen in Indonesien zu erreichen, und dem Verlust an Respekt vor humanitären
Werten und der Menschenwürde, der die Folge solcher Gewalt ist. Mit tiefer Besorgnis stellen wir fest,
dass keines der genannten Probleme bisher ernsthafte Beachtung gefunden hat oder offen, kritisch
und ernsthaft diskutiert worden ist, weder von der
Machtelite des Landes noch von seinen religiösen
Führern.“
22
Im Jahr 2000 setzte Präsident Abdurrahman Wahid
den ICRP (Indonesischer Rat zu Religion und Frieden) ein, verbunden mit der Vision, eine friedvolle,
gerechte, gleiche und brüderlich/schwesterliche indonesische Gesellschaft in religiöser und konfessioneller Vielfalt und mit Respekt vor der Menschenwürde zu errichten.
In Makassar, der Hauptstadt Südsulawesis, kamen
die Teilnehmer einer interreligiösen Konferenz, die
von Interfidei organisiert wurde, überein, ein regionales interreligiöses Forum zu gründen, Forlog (Dialogforum unter uns in Südsulawesi). Forlog erklärte es
zu seiner Mission, durch Bildungsarbeit im formalen
wie im nichtformalen Bildungsbereich zur Entwicklung einer toleranten pluralistischen Gesellschaft im
Geist einer inklusiven und pluralistischen Weltanschauung beizutragen. In der Region existieren mittlerweile außerdem ein Forum mit Führern verschiedener Religionen, das von der Provinzregierung ins
Leben gerufen wurde, um den sozialen Spannungen
in der Region zu begegnen und ein indonesischchinesisches Forum.
Auf einer interreligiösen Netzwerkkonferenz im letzten Jahr in Banjarmasin, die von Interfidei organisiert
wurde, wurde berichtet, dass heute zwischen 80 und
90 interreligiöse Organisationen im Land eine große
Bandbreite von Themen bearbeiten. Es ist wichtig
hinzuzufügen, dass die meisten der interreligiösen
Aktivisten junge Leute sind, Männer und Frauen, die
sich in ganz unterschiedlichen Bereichen auf Graswurzelebene engagieren. Einige kämpfen gegen
wirtschaftliche Armut, andere engagieren sich in
demokratischer Bildung oder im Umweltschutz oder
für die Rechte indigener Einwohner und anderer
marginalisierter Gruppen. Sie widmen sich religiöser
und kultureller Aufklärung ebenso wie Menschen(besonders Frauen-) Rechten und sozialen Übeln.
Sie setzen sich auch für diskriminierte Gemeinschaften mit nicht anerkannter Religionszugehörigkeit und
religiöse Gruppen, die als blasphemisch, häretisch
oder kriminell angesehen werden ein. Ebenso für
gemischtreligiöse Paare. Viele der Gruppen engagieren sich bei Hilfsaktionen nach Natur- (und sozialen)
Katastrophen. Im Gegensatz zu den staatlich geförderten interreligiösen Dialogforen und ihrem TopDown-Ansatz bauen diese interreligiösen NGOs die
Zivilgesellschaft auf.
Es muss aber auch gesagt werden, dass sogar in
moderaten religiösen Gemeinschaften interreligiös
engagierte Aktivisten oft von der eigenen Gemeinschaft abgelehnt werden. Die Oslo-Koalition berichtet
2002: „ Christliche und muslimische Dialog-Aktivisten
schmieden oft interreligiöse Bündnisse, die in beiden
Lagern umstritten sind. Im interreligiösen Dialog
müssen interne Differenzen ebenso ernst genommen
werden wie Bemühungen, die Grenzen zwischen den
Religionen zu überwinden.“ Die Entwicklung fortschrittlicher interreligiöser theologischer Ansätze ist
deshalb eine wichtige Unterstützung interreligiöser
Aktivitäten. Deren Schwäche (und Stärke) besteht
darin, dass die meisten der Organisationen nicht
formell mit ihren jeweiligen religiösen Institutionen
verbunden sind. Ein weiteres Problem ist der Mangel
an finanzieller Unterstützung, von dem die meisten
der interreligiösen NGOs im Land betroffen sind.
Kirche und Religionen in Südsulawesi
Im Hinblick auf interreligiöse Beziehungen ist Südsulawesi historisch und demographisch eine der bedeutsamen Regionen des Landes. Islam und katholisches Christentum konkurrierten seit dem 16. Jahrhundert in der Region miteinander. Alauddin, der
Sultan von Gowa, islamisierte mittels militärischen
Drucks den größten Teil der Region im frühen 17.
Jahrhundert. Die drei dominierenden ethnischen
Gruppen der Bugis, Makassaresen und Mandaresen
konvertierten nominell zum Islam. Eine Mischung aus
Islam und vorislamischer Religion war weit verbreitet
in der Region. Einige mystische Ansätze flossen
ebenfalls ein, die die muslimischen Varianten in der
Region verbreiterten und später zur Reinigung des
Islam beitrugen. Nur den Torajas gelang es einigermaßen, ihre angestammte Religion beizubehalten,
bis im zweiten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts
christliche Missionare anfingen, sie zum Christentum
zu bekehren. Eine kleine Anzahl Bugis und Makassaresen trat außerdem seit den 30ern zum Christentum
über und wurde in der GKSS zusammen gefasst.
Bugis und Makassaresen wanderten in den ganzen
Archipel aus. Man findet sie in verschiedenen ostindonesischen Städten zumeist als kleine Händler. Sie
wurden mit hineingezogen, als (1998-2000) die lokalen Konflikte in Osttimor, Kupang, Ambon, Halmahera, Poso, Luwu und an anderen Stätten ausbrachen,
und viele von ihnen kehrten als Flüchtlinge nach
Hause zurück. In Makassar führte die emotionale
und ethnische Solidarität mit den Flüchtlingen (oder
– wie manche Analytiker sagen - wurde sie missbraucht) zur Verfolgung von Christen.
Wie bereits erwähnt, erschütterte in den 50ern eine
Rebellion der Darul Islam (DI) unter Kahar Muzakkar
die Region. Viele christliche Dörfer wurden terrorisiert, besetzt oder niedergebrannt. Christen wurden
umgebracht oder gezwungen, von ihrem Glauben
abzulassen. Ich war noch ein Baby, als mein Volk
(die Toseko) vor der Besatzung durch die DI floh. Die
bittere Erinnerung an die DI wurde wieder wach, als
in jüngerer Zeit eine Gruppe muslimischer Radikaler
ein Komitee zur Einführung der Shari´a in der Provinz unter der Leitung eines Sohns von Kahar Muzakkar einsetzte. Dieses Komitee hat – beeinflusst
von landesweiten und internationalen radikalen
Netzwerken – die Vision, in der Provinz nach dem
Vorbild Acehs Shari´a-Gesetze einzuführen. Einige
Landkreise haben solche Gesetze schon formell
erlassen, von denen sich die meisten gegen „Untugenden“ richten.
Die Führer der Kirchen in der Region reagierten auf
die unerwünschte Bewegung, indem sie den Autoritäten ihre Bedenken nahelegten. Sie organisierten
einige Treffen und Konferenzen, um sich genauer
über die Bewegung zu informieren und um Appelle
zu veröffentlichen und luden dazu teilweise Sprecher
sowohl moderater als auch radikaler muslimischer
Kreise ein. Die PGI führte eine landesweite Untersuchung in Regionen mit Pro-Shari´a-Bewegungen
durch, in die Südsulawesi einbezogen war. Das Ergebnis für die Region war, dass das Gesetzgebungsverfahren auf Landkreisebene beim Erlass der
neuen Gesetze nicht eingehalten und bei ihrer
Durchsetzung Terror und Gewalt angewendet worden war. Die Bewegung wurde außerdem einer eher
politischen als religiösen Agenda überführt. Während
der Geist der neuen Gesetze eine Anhebung der
gesellschaftlichen Moral verheißt und sie nur für
Muslime erlassen wurden, wurde in der Praxis über
die Diskriminierung Andersgläubiger und von Frauen
berichtet.
Auf das Drängen religiöser Führer hin setzte die
südsulawesische Regierung ein Komitee zur Untersuchung der Bewegung ein. Zusammen mit zwei
Kollegen wurde ich als Repräsentant der Christen in
das Komitee aufgenommen. Das Komitee bat die
Regierung darum, eine formale Einführung der Shari´a abzulehnen. Als religiöse Angelegenheit sollte
ihre Anwendung von Muslimen und ausschließlich für
Muslime, die dies von einem kulturellen Ansatz her
begrüßen, geregelt werden. Der Regierung wurde
außerdem angetragen, ernsthafter gegen gesellschaftliche „Laster“ vorzugehen und soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit für alle
durchzusetzen. (Es war interessant zu beobachten,
dass in den Wahlen vergangene Woche das Provinzgouvernement von einem Kandidatenpaar errungen wurde, das als inklusiv gilt. Ein Kandidat der
radikalen muslimischen Zirkel erhielt nur 21,69% der
Stimmen.)
Einige interreligiöse Gruppen und NGOs begegneten
der Bewegung mit Bildungsprogrammen, eigenen
Untersuchungen und Bürgerbefragungen. Sie lancierten außerdem öffentliche Diskussionen mit moderaten Muslimen und Schriftstellern in den Medien, um
der Bewegung zu begegnen.
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
23
Abschließende Bemerkungen
Dieser Vortrag ist ein Versuch, den indonesischen
Kontext interreligiöser Zusammenarbeit als Antwort
auf muslimischen Radikalismus zu skizzieren. Die
indonesischen Glaubensgemeinschaften sind mit
einer Realität konfrontiert, in der sich Radikale in
religiösen und politischen Bewegungen auf lokaler,
nationaler und internationaler Ebene organisieren
und in der sie unterschiedliche Kampfformen anwenden, von einem indoktrinierenden öffentlichen Diskurs und verfassungsrechtlichen Kanälen bis hin zu
Gewalt und Terrorismus.
Religiöser und politischer Radikalismus ist eine Reaktion auf religiöse und politische Bedingungen lokaler und globaler Art. Deshalb sollte der Existenz von
Radikalismus mit religiösen und politischen Reformen begegnet werden. Auf religiöser Ebene könnten
zumindest drei Programme umgesetzt werden. Zum
einen ein neuer Ansatz in der Glaubenserziehung
unter der Perspektive von interreligiösem Frieden
und der Ablehnung von Gewalt, unterstützt von einschlägigem theologischen und ethischen Gedankengut. Die religiöse Erziehung prägt die religiöse Haltung. Rigide und enge doktrinäre Ansätze bringen
letztlich radikale Ansichten hervor. Dagegen fördern
flexible und vorurteilsfreie kulturell-ethische Ansätze
das religiöse Engagement für Frieden und die Ablehnung von Gewalt. Die Lektüre unserer religiösen
Schriften birgt beide Ausrichtungen – auf exklusive
und inklusive Doktrinen. Wir brauchen deshalb eine
kontextuelle Perspektive als Orientierung für unsere
Wahl. Die kontextuelle Perspektive von Frauenanliegen kann dazu dienen, eine entsprechende Theologie zu entwickeln. Andere Aspekte der religiösen
Bildung sollten sich mit einem verbesserten Verständnis der Geschichte befassen. In das Curriculum
religiöser Bildung sollte sozio-politische Geschichte
und die Rolle der Religionen auf Landes- und globaler Ebene sowie Religionsgeschichte aufgenommen
werden.
Zum zweiten sollte eine Balance zwischen der Ausübung von Glaubensriten und sozialen Programmen
zur Entwicklung sozial-ökonomischer Gerechtigkeit
und einer prosperierenden Gesellschaft gesucht
werden. Glaubensgemeinschaften sind verpflichtet,
sich im sozialen Bereich zu engagieren, um Armut zu
bekämpfen, demokratische Prozesse zu unterstützen, Menschenrechte zu verteidigen, gesellschaftliche Randgruppen zu stärken etc. In christlichen
Kreisen wird solches Engagement durch Jesus´ beispielhaftes Tun in Galiläa gestützt. Da der Radikalismus den moralischen gesellschaftlichen Verfall
anprangert, ist es unabdingbar für die Glaubensgemeinschaften, die soziale Moral zu stärken. Politi-
24
sche und wirtschaftliche Demokratie, verstärkt durch
einen höheren Bildungsstandard, wird den Radikalismus letzten Endes schwächen.
Zum dritten müssen Möglichkeiten für den verbindlichen Dialog und Austausch mit radikalen Gruppen
geschaffen werden. Es stellt eine Schwäche der interreligiösen Bewegung dar, dass in ihr hauptsächlich moderate Gruppierungen miteinander vernetzt
sind. Natürlich ist die Einbeziehung Radikaler in den
interreligiösen Dialog nicht einfach. Aber es sollten
ernsthafte Versuche unternommen werden, beiden
Seiten Räume zu eröffnen, sich auf friedliche Art zu
begegnen, nicht notwendigerweise in akademischen
Foren, sondern im gemeinsamen sozialen Engagement oder durch ähnliches. Ulil Absar Abdallah vom
Liberalen Netzwerk Islam (JIL) ist der Meinung, dass
die Pluralität von islamischen Diskursen eine gesunde Entwicklung im Blick auf die Zukunft des Islam
darstellt. Er könnte dann Recht behalten, wenn ein
friedlicher Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften kontinuierlich lebendig gehalten wird. Ein
Erbe der lokalen Konflikte der Vergangenheit bilden
– als Glück im Unglück - die Wiedererstarkung des
interreligiösen Einsatzes für Frieden und Versöhnung, mehr Stimmen für gewaltfreie Konfliktlösungen
und ernsthafte Forschungen, um die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und theologischen Wurzeln
der Konflikte zu verstehen.
Der islamische Radikalismus in Indonesien und anderswo ist aber auch motiviert durch – oder eine
Reaktion auf – lokale wie globale Gegebenheiten,
namentlich westliche Politik und das wirtschaftliche
Gefälle zwischen Nord und Süd. Glaubensgemeinschaften weltweit sollten deshalb kontinuierlich
Netzwerke der Zusammenarbeit für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden auf- und ausbauen. Ein substantieller Aspekt dabei werden aufrichtige und couragierte prophetische Stellungnahmen gegenüber Regierungen und Wirtschaftsmächten sein, namentlich
derer der Supermächte.
Dieser Vortrag befasst sich nicht mit dem politischen
Vorgehen gegen Radikalismus, aber zwei kurze Anmerkungen will ich noch dazu machen. Zum einen
sollten sich religiöse Führer strikt dem Missbrauch
von Religion für politische Interessen widersetzen.
Zum zweiten: Da Radikalismus ein fortdauerndes
Phänomen darstellt, sollte der Hinweis von Rumadi
Beachtung finden, dass die Rolle des Staates nicht
darin besteht, Radikalismus zu eliminieren, sondern
darin, ihn in politischen Institutionen zu kanalisieren,
um ihn im demokratischen Rahmen zu kontrollieren.
Übersetzung aus dem Englischen:
Christine Grötzinger
CHRISTEN UND MUSLIME IN KONFLIKTGEBIETEN: MOLUKKEN
WIE VERH A LTEN SICH CHR IS TEN UND MUSLIME IM R EG ION ALEN KON FL IKT AUF DE N MOLU K KEN? WIE TRAG EN S IE ZUR
SEIN ER VER SCH ÄRFUNG OD ER LÖSUNG B E I?
Sonia Parera-Hummel
Sonia Parera-Hummel ist Pfarrerin der Protestantischen Kirche auf den Molukken (GPM) und arbeitet als Asienreferentin bei der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in Wuppertal. Von 2001 bis 2007 war sie bereits als Referentin für Frauen, Jugend und Kinder bei der VEM tätig. Wir dokumentieren Auszüge aus der PowerpointPräsentation, die sie in der Arbeitsgruppe zeigte.
AREA MAP OF MALUKU PROVINCE
UU RI No. 46 Thn.
Thn. 1999
7,6 %
92,4%
90%
632
Island
TOTAL = 712.479,69 km2
Kep. Kai
Kep. Tayandu
TUAL
Elat
Dobo
Th
Thee rel
relig
igio
ious
us cau
causes
ses of
of co
confl
nflict
ict
OOccccur
urren
ren ccee of
of
rreligious
eligious
vvio
l
e
nc
e
io le nc e
W
Willingn
illingn es
esss of
of
rreligiou
eligiou ss
ccom
om mmuu nities
nities to
to
enter
enter into
into cconflic
onflict t
Th
Th ee inc
incrreas
easee of
ofccoo nflic
nflict t
poten
poten tial
tial am
am ong
ong
re
i
l
g
ious
c
o
m
m
u
nity
re il g ious c o m m u nity
Po
Po litic
liticizization
ation of
of
RReligio
eligio ns
ns
Lo
Lo ww ccoop
oop erat
eration
ion
am
am ong
ong rreligious
eligious
ccom
m
unitie
s
om m unitie s
In
In terv
tervee ntion
ntion of
of
pp olitic
oliticss on
on rreligion
eligion
MMisisus
usee of
of
religio
religio nn by
by the
the
elites
as
elites as
legitim
atiz
at
ion
legitim atiz at ion
of
ofpp ow
ower
er
Inab
t tyy to
Inab ili
ili
to aa sssses
es
the
the role
role of
of
relig
ion.
relig ion.
In
In ccreas
reasee of
of
mmisistrtrus
ust tbb etw
etween
een
religiou
religiou ss
ccom
ommm unitie
unitie ss
RRee li g
li g ious
ious’ ’ cclaim
laim ss
oo nn ab
ab ssolute
olute trut
truthh
AAnti-p
nti-p lulu ralis
ralismm Th
Th eolo
eolo gy
gy
TThe
he ccoo mmmm unity
unity lo
lo ww
unde
unde rsrstan
tan ding
ding of
of
religiou
s
plur
alis
religiou s plur alismm
Th
Th ee ten
ten denc
denc yy of
of
religiou
religiou ss lea
lea ders
ders
to
y
ield
pow
e
r
in
to y ield pow e r in
pp olitic
oliticss
UUnd
nd erde
erde vvelope
elope dd
cc onc
oncep
ep t tof
of
““Th
elogia
Th elogia
RReligion
um
eligion um””
Th
Th ee ssoc
ocial
ial
cconc
oncer
ernn of
of
The
ology
The ology isis
under
de
v
elope
under de v elope dd
RReligiou
eligiou ss
fa
fa natic
naticisismm
Lac
Lackk of
of
sshh aring
aring
am
ong
am ong
rreligious
eligious
adh
adh eren
eren tsts
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
Inc
Incrreas
easee of
ofliter
literalal
inter
interpre
pre tation
tation of
ofhh oly
oly
sscc riptur
es
riptur es
WWW.EMS-ONLINE.ORG
25
POPULATION Census
2000
TOTAL POPULATIONS
Male
Female
Population Growth
Women from Ambon, Poso and Ternate
= 1.200.067 people
= 603.587 people
= 596.480 people
= 0,37 % / year
. 10.000-15.000 people have been killed
. More then 500 000 Internally Displaced Persons
. 251 religious buildings have been destroyed
. 106 unit
of governmental
buildings
have been
destroyed
TOTAL
POPULATION
= 1.288.813
people
. 136 educational infrastructures have been smashed to
Growth pieces
= 2,41 % / year
2003 POPULATION
Peace Sermon
Capacity Building for Women in 3
Provinces
Training of Trainers
Monthly Meetings
Providing forum for religious
leaders to meet & talk
Awareness raising on social
problems (corruption, gambling,
social injustice, drugs and
poverty) as common problems
to be solved
Guidance to each religious
community
The Outputs:
-Programs to build the capacity of women in 3
provinces
-Regional Women Forum
Trauma Counseling &
Trauma Healing
Counselor TOT
(for counselors in 3 sub-district, 32
location in Ambon Island)
Module for Trauma healing and Trauma
Counseling
Results
MUI
GPM Synod
Dioceses
32 counselors in 32 sites in 3
sub-districts on Ambon
Decreasing level of trauma in 800
beneficiaries esp. in IDP site
Creating interaction between
target groups
In Cooperation with:
Hualopu Foundation (Database)
Information: YAP-Maluku
(poster and Sticker Campaign)
Baku Bae
Peace Movement (Poster and
Documentation and
Disemination
Sticker Campaign, TV Public Service break)
GPP & Child care Network (Campaign on
Child and Women Protection)
Results:
Library,
Database,
Journal,
Poster, Card &
Sticker
Film,
Website
In-depth Study
Articles
T-Shirt
26
The Summit of Asian Religious
Youth Leaders
Attended by 21 Asian Countries
Confronting Violence and Advancing Shared Security
Participants came from:
Burma, Srilanka, Thailand, India, Singapore, Japan,
Malaysia, Bangladesh, Philippine, Pakistan, Jordan,
Georgia, New Zealand, Korea, Cambodia, China, Laos,
Saudi Arabia, Canada and Libanon, Indonesia (Aceh,
Poso, Jogja, Ambon, Kalimantan)
Maluku Interfaith Institution
for Capacity Building, Advocacy and
Lobby
Religious
Leaders
On Going Program
Empowerment of the
religious leaders on
social issues.
Youth and
Children
*Training
Facilitated by Interfaith Staff and
some local partners such as
Komnas Maluku, GMKI,
Hualopu, Baku Bae, CC GPM etc
Women
of women to
do analysis and
identification of local
wisdom, local value and
culture especially on the
role of women as peace
makers
*Income Generating
Projects
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
Introducing
Children and
Youth to the
ideas and the
culture of living
together in
pluralistic
community
through
activities such
as live-in
programs,
Trauma
counseling and
Trauma
healing, art,
music, dances
etc
WWW.EMS-ONLINE.ORG
27
CHRISTEN UND MUSLIME IN KONFLIKTGEBIETEN: WEST-PAPUA
WIE VERH A LTEN SICH CHR IS TEN UND MUSLIME IM KON FLIKT IN WEST-P APU A?
WIE TRAG EN SIE ZUR SEINER VERSCH ÄRFUNG OD ER LÖ SUNG B E I?
Dr. Uwe Hummel
Dr. Uwe Hummel ist Asienreferent der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in Wuppertal und Koordinator des
West Papua Netzwerks. Der Theologe arbeitete zuvor sieben Jahre lang für die VEM auf Nias in Indonesien.
I. West-Papua, ein Überblick
II. Menschenrechtssituation
Name: West-Papua (Tanah Papua), zur Kolonialzeit
Nederlandsch Nieuw-Guinea, unter Sukarno Irian
Barat, unter dem Suharto-Regime Irian Jaya, 2002
umbenannt in Papua, seit 2003 getrennt in die Provinzen Papua und Irian-Jaya Barat, seit 2007 in die
Provinzen Papua und Papua Barat
Folter
Fläche: 421.982 km2 (22% der Fläche Indonesiens)
Indonesien ist Mitglied des UNO-Menschenrechtsrates und gehört zu den ersten Ländern, die sich
dem Universal Periodic Review unterziehen müssen.
UNO-Sonderberichterstatter Prof. Manfred Nowak
bereiste Indonesien (einschließlich Tanah Papua) in
der zweiten Novemberhälfte 2007 und legte einen
kritischen Bericht über Folter und andere grausame
Praktiken und Strafen gegen Menschen in WestPapua vor. Er weist u.a. darauf hin, dass in Untersuchungshaft von der Polizei und dem Militär regelmäßig gefoltert wird. In mehreren Paragraphen der Fragenliste des Komitees gegen Folter (CAT) wird die
sehr bedenkliche Menschenrechtssituation in Papua
explizit angesprochen. Indonesien muss sich im Mai
diesen Fragen stellen.
Waldfläche: ca. 41 Mio. Hektar
Einschüchterung von Menschenrechtlern
Höchster Berg: Puncak Jaya, 5030 Meter
Vom 5. bis 12. Juni 2007 besuchte Hina Jilani, Sondergesandte des UNO-Generalsekretärs, auf Einladung der indonesischen Regierung Jakarta, WestPapua und Aceh. Ihr Auftrag war, sich vor Ort über
die Lage von Menschenrechtlern zu informieren und
die Umsetzung der im Jahre 1998 von der UNOGeneralversammlung verabschiedeten Declaration
on Human Rights Defenders voranzutreiben. Sie
kritisiert unter anderem die Einschüchterung und
Behinderung von Menschenrechtlern durch die Sicherheitskräfte und das unrechtsstaatliche Vorgehen
durch die Justiz nach der blutigen Demonstration
vom 16. März 2006. Vor allem die Berichte über die
Willkür der Sicherheitskräfte und der Verwaltung
gegen indigene Papua wurde von der Sondergesandten sehr ernst aufgenommen. Die Haltung der
Staatsorgane, die Kritiker als Separatisten stigmatisieren und unverantwortliche Beamte schützen, sei
nach internationalen Maßstäben nicht tolerierbar.
Bevölkerung: ca. 2,5 Mio. Einwohner, davon über
40% Zuwanderer
Politischer Status: Teil der Republik Indonesiens
seit 1963
Hauptstädte: Jayapura (Papua) und Manokwari
(Papua Barat)
Größter Hafen: Humboldtbucht, Jayapura
Nachbarland: Papua-Neuguinea
Sprachen: Amtssprache Bahasa Indonesia, mehr als
250 Lokalsprachen
Währung: Indonesische Rupiah
Wichtigste Wirtschaftszweige: Bodenschätze (Kupfer, Gold, Silber, Öl, Gas), Holzwirtschaft (darunter
seltene Edelhölzer), Landwirtschaft und Fischerei
Bruttoeinkommen pro Kopf: ca. 60,- € pro Monat
(starkes Stadt-Land-Gefälle)
Religion: Christen (Protestanten 70% und Katholiken 20% der indigenen Papua), Muslime (10% der
indigenen Papua). Viele Papua pflegen neben der
offiziellen Religion traditionelle Glaubensvorstellungen. Die Zuwanderer aus anderen Teilen Indonesiens sind zu über 80% Muslime.
28
Unter anderem empfiehlt Hina Jilani:
- spezielle Beschwerdestellen (complaint cells) für
die Bürger einzurichten, in denen Menschenrechtsvergehen registriert werden können und die dafür
sorgen, dass ihnen nachgegangen wird.
- Die indonesische Regierung solle bessere Investigationsmechanismen entwickeln, um den vielen Beschwerden von Menschenrechtlern, die an der Ausübung ihrer Aktivitäten behindert werden, nachzugehen.
- Es sollten bürokratische Hürden und restriktive
Bestimmungen, welche die Versammlungs- und Vereinsbildungsfreiheit einschränken, abgebaut werden.
- Gerichte, Staatsanwaltschaft und Polizei sollten
aufhören, Menschenrechtler zu kriminalisieren.
- Die nationale Menschenrechtskommission (Komnas
HAM) solle gestärkt werden, damit sie auch in abgelegenen Regionen wie West-Papua effektiv funktionieren kann.
schutz die Insel Biak und die Stadt Manokwari besuchen. Insgesamt durfte er nur wenige Stunden mit
Papua sprechen; mit der Bevölkerung auf der Straße
nur 5 Minuten und unter strengster Bewachung
durchs Militär. In seinem Beschwerdebrief an den
indonesischen Präsidenten schreibt Faleomavaega:
„During the course of our meeting, a highly respected
traditional leader, Chief Tom Beanal, was detained
by the military, as was Mr Willie Mandowen." Er
bemerkte außerdem, dass "Papuans who had gathered in the streets in Biak were denied the opportunity to meet with us, and U.S. Ambassador Cameron
Hume and I had to force our way through a military
barricade just to meet with the Papuan people who
had to walk several miles from the airport and wait in
the hot sun because Indonesian military forces (TNI)
barred them from meeting with Ambassador Hume
and me." (zitiert in dem Januar 2008 Bericht der Robert F. Kennedy Foundation).
Große Sorgen macht sich Jilani auch um die Ausbreitung von HIV und AIDS in West-Papua.
Scharf kritisiert Faleomavaega das Militär (TNI), das
die Bevölkerung einschüchtere, vergewaltige und
peinige (“TNI as intimidating, abusing and harassing
Papuans”).
Einschränkung der Pressefreiheit
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
Immer wieder klagen Papua-Führer darüber, dass
Journalisten nicht in Konfliktregionen bzw. internationale Medien überhaupt nicht in West-Papua zugelassen werden. Monatelang gab es keine offiziellen
Nachrichten über die Menschenrechtsvergehen von
Militär und Kampfpolizei in Mulia Puncak Jaya. Autoren, die kritisch über die soziokulturellen oder politischen Zustände berichten werden zensiert oder bedroht. Die Publikation des neusten Buches des
Hochlandpapuas Sendius Wonda mit einem Vorwort
von Socratez Sofyan Yoman, Präses der Baptistenunion in Papua (Tenggelamnya Rumpun Melanesia =
Der Untergang des melanesischen Stammes) wurde
von der Staatsanwaltschaft verboten.
Ausländische Besucher brauchen für Reisen außerhalb der Hauptstadt Jayapura besondere von der
Polizei ausgestellte Reiseerlaubnis (surat jalan).
Aber auch Papua können sich nicht frei bewegen. In
der südlichen Region Merauke befinden sich alle 25
Kilometer Polizeiposten. Papua, die ohne triftigen
Grund reisen, werden als Separatisten bzw. Widerständler verdächtigt und an der Weiterreise behindert.
Restriktionen für westliche Politiker und Diplomaten
Immer wieder haben westliche Abgeordnete und
Diplomaten Schwierigkeiten, Papua zu besuchen und
sich frei einen eigenen Eindruck der Lage zu verschaffen. Im Juli 2007 besuchte der USKongressmann Eni Faleomavaega, der eine wachsende Gruppe von Politikern anführt, die sich für eine
wahre Autonomie Papuas in den Grenzen der indonesischen Republik einsetzen, Indonesien. Ihm wurde die Reise nach Papua aber nicht erlaubt. Im Dezember durfte er nur kurz unter strengem Polizei-
Willkürliche Verhaftungen
Immer wieder werden Regimekritiker, Menschenrechtler und Religionsführer vorgeladen oder verhaftet: So wurde der Anwalt und Menschenrechtler Sabar Iwangin Olif (43) auf offener Straße verhaftet,
weil er eine Schmäh-SMS, die er von dem Juristen
Marto J. Jowey erhalten hatte, weitergeleitet haben
soll. Die SMS besagte: ”Die neuste Nachricht ist eine
Warnung, dass SBY die Eliminierung der Papua und
die Kontrolle über ihre Bodenschätze und andere
Naturressourcen angeordnet hat.” (SBY ist das Akronym für den heutigen Staatspräsidenten.) Unter
dem Vorwand, dass die Polizei das Handy untersuchen müsse, wurde Olif in die Untersuchungshaft
nach Jakarta überführt. Erst durch eine internationale
Urgent Action und die Führsprache von u. a. dem
Präsidenten des Weltkirchenrates, Altbischof Soritua
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
29
Nababan, wurde Olif nach Papua zurückgebracht, wo
er seitdem in Untersuchungshaft sitzt. (Zusatz: Der
Strafprozess gegen Olif hat am 7. Januar 2008 vor
dem Landgericht Jayapura begonnen.)
Gewaltaktionen gegen Bürger von Militär und
Kampfpolizei
Seit der Eingliederung Papuas in die Republik Indonesiens (1963) wird die einheimische Bevölkerung
von den indonesischen Sicherheitskräften drangsaliert. Die physische und kulturelle Unterdrückung
führte 1965 zur Bildung der Organisasi Papua Merdeka (OPM), des militärischen Widerstandes. Seit
der Suharto-Zeit werden sogenannte Durchkämmungsaktionen (penyisiran) mit dem Kampf gegen
„Separatisten“ und der Jagd auf Terroristen gerechtfertigt. Dabei vergreifen sich die Militärs und die berüchtigte Kampfpolizei (Brimob) ständig an der Zivilbevölkerung. So zum Beispiel seit Ende 2005 im
Hochland von Mulia Puncak Jaya. Auf der Suche
nach dem berüchtigten Partisanen-Führer Goliat
Tabuni zerstörten sie Acker und Hütten, stahlen
Süßkartoffeln und erschossen Schweine. Mindestens
5000 Zivilisten flohen in die Wälder und Berge. Einige starben an den Folgen von Kälte und Hunger,
andere wurden einfach hingerichtet (z.B. ein Pfarrer
namens Tabuni, nicht der Guerilla-Führer).
Straflosigkeit, politische Gefangene, kaum Papua-Anwälte
Die Nationale Menschenrechtskommission (Komnas
HAM) hat die Menschenrechtsschändungen in Wamena und Wasior untersucht und bereits 2005 der
Staatsanwaltschaft vorgelegt. Dort sind die Berichte
in der Schublade verschwunden. Wie üblich kommen
Mitglieder der Sicherheitskräfte ohne Strafe davon.
Nach einer Demonstration am 16. März 2006 in Abepura wurden 23 Demonstranten willkürlich festgenommen und in einem dem Rechtsstaat unwürdigen
Prozess wegen Hochverrat zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Sohn des Präses der Evanglischen
Kirche (GKI-TP), der Student Eko Berotabui, nahm
sich nach wenigen Monaten aus unerklärlichen
Gründen in der Haft das Leben. Zig Papua sitzen als
politische Gefangene in verschiedenen Gefängnissen (auch außerhalb Tanah Papua). Ihr Rechtsbeistand ist sehr unadäquat, zumal papuanische Juristen offen-sichtlich daran gehindert werden, die Zulassung als Anwalt zu bekommen.
30
Rassismus
In der Haltung der Streitkräfte, der überwiegend von
Westindonesiern besetzten Bürokratie und von Teilen der Zuwanderer kommt häufig in extremer Form
Rassismus gegen die dunkelhäutigen und kraushaarigen (melanesischen, also nicht asiatischen) Papua
zum Ausdruck. Eine im Rahmen der Sonderautonomie vorgesehene affirmative action, nach der überwiegend Papua in die regionale Polizei aufgenommen werden sollen, gibt es seit der Amtszeit des
balinesischen Polizeichefs von Papua, Pastika
(2000-2002) nicht mehr. Nicht selten sind hohe Offiziere der Sicherheitskräfte solche, die sich in OstTimor im Namen des „Einheitsstaates“ (NKRI) auf
schändlichste Weise der Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung schuldig gemacht haben
(z.B. die Obersten Timbul Silaen und Burhanuddin
Siagian). Der Präses der Evangelischen Kirche (GKITP), Pfarrer Corinus Berotabui, legte dem Rat der
VEM sowie dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte im September 2007 einen umfassenden
Bericht über Rassismus gegen Papua vor.
Genozid-Frage
Basierend auf einer Studie der Yale University (USA)
wurde Anfang 2004 die Kampagne gegen den Völkermord an den Papua gestartet. Die Studie, die eine
ganze Reihe von Menschenrechtsverletzungen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzeigt, betont aber, dass es keinen Beweis für die systematische, geplante Ausrottung der indigenen Papua gebe
und man deshalb nicht kategorisch von Genozid
sprechen könne. Trotzdem behaupten die Papua,
dass Jakarta eine Strategie verfolge, sie physisch
und kulturell langsam, aber sicher auszumerzen
(membasmi) um somit frei über die Ressourcen Tanah Papuas verfügen zu können. Die seit Jahren
steigende Zahl von HIV/AIDS-Erkrankungen interpretiert man als eine durch Jakarta initiierte Strategie. 38
In letzter Zeit haben eine ganze Reihe von starken
(zum Teil tödlichen) Vergiftungen durch den Genuss
von Speisen, Getränken und Zigaretten den Genozidverdacht wieder verstärkt. In der Folge hatte es
Wutausbrüche seitens der Bevölkerung gegeben, die
nicht mehr gezügelt werden konnten. So sind in den
Landkreisen Wamena, Yahukimo und Boven Digul
38
Die Region Tanah Papua hat nach Jakarta die höchste HIV‐ und AIDS‐Rate in ganz Indonesien. Betroffen sind sowohl Indigene als auch Siedler, vor allem in Timika (Freeport‐Bergbau), Merauke, Jayapura und Sorong. Ansteckungen erfolgen zu über 90% durch Geschlechtsverkehr. Frauen sind besonders stark betroffen. Weitere häufige Erkrankungen sind Tuberkulose und Malaria.
einige Geschäfte und Verkaufstände für Nahrung
zerstört worden. Viele Papua haben Angst vor Krankenhäusern, westindonesischen Hebammen und
Impfaktionen, da Gerüchte die Runde machen, dass
Papua gezielt infiziert oder getötet würden. Das
Misstrauen gegenüber dem indonesischen Establishment ist extrem.
III. Religiöse Politik als Konfliktpotential
Seit der Asienkrise (1997) hat die Verelendung großer Teile der ohnehin armen Bevölkerung weiter
zugenommen. Millionen Menschen, gerade auch in
großen Städten, können sich nicht einmal mehr satt
essen. Von der korrupten Verwaltung ist keine Hilfe
zu erwarten. Dagegen überzeugen fundamentalistisch-islamische Organisationen durch regelmäßige
Vergabe von Instantnudeln, Reis und sauberem
Trinkwasser. Fundamentalisten haben den Ruf, nicht
korrupt zu sein. Ihre Erklärung, dass alle Missstände
letztlich auf den dekadenten Einfluss des „Westens“
zurückzuführen ist, lässt die Ablehnung des Islamstaats als Alternative zum indonesischen Nationalstaat immer mehr abbröckeln. Die Staatsideologie
Pancasila, Garantin für Pluralismus und Gleichberechtigung der Religionen, ist durch die SuhartoDiktatur (die sie als ideologische Waffe gegen jegliche Opposition einsetzte) diskreditiert. Der militante
Islam ist sexy, das Konterfei Osama Bin Ladens bei
Jugendlichen so beliebt wie Che Guevara bei der
68er Generation. Sogar an den Universitäten tragen
die meisten Studentinnen das Jilbab-Kopftuch; Studentenpolitik, die Keimzelle des Widerstandes gegen
Suharto, ist zur Propaganda-Zentrale für islamisches
Recht geworden. Der Campus der Elitehochschule
Universitas Indonesia ist heute eine Islamische Zone.
Die wichtigste Voraussetzung für die Islamisierung
ist jedoch die 1999 eingeführte Regionalautonomie
(nicht zu verwechseln mit Sonderautonomie!) in allen
Landkreisen Indonesiens. Auf Landkreis- und Provinzebene ist in mehr als 53 Fällen bereits die Shari´a eingeführt worden.
In West-Papua gibt es zwar noch keine Shari´aLandkreise, Fundamentalisten wie die Laskar Jihad
(vgl. die Religionskonflikte auf den Molukken) und
Barisan Merah Putih (vgl. „Verbrannte Erde“ in Osttimor) beeinflussen unter nationalistischem Vorwand
die Zuwanderer und bilden Milizen.
Manokwari soll Evangelischer Landkreis werden
Auch in den wenigen christlichen Konzentrationsgebieten – wie übrigens auch im hinduistischen Bali
– nimmt der Einfluss der Religion auf die Regionalgesetzgebung zu. So werden in West-Papua „Evangelische Landkreise“ errichtet. Der erste, kaum von
der Öffentlichkeit beachtet, war der Landkreis Supiori-Biak Numfor. Weit kontroverser ist das Vorhaben,
Manokwari, die Hauptstadt der Provinz West Irian
Jaya, „evangelisch“ zu machen. Am 5. Februar 1855
landeten hier die ersten deutschen Missionare. Dieser Tag ist jedes Jahr Anlass für zigtausende Papuas, zu dieser „heiligen Stätte“ zu pilgern. Inzwischen
leben in Manokwari jedoch mehr Siedler aus anderen
Teilen Indonesiens als Indigene und die meisten von
ihnen sind Muslime.
Als sich vor einigen Jahren das Gerücht verbreitete,
dass in Manokwari „die größte Moschee Ostindonesiens“ gebaut werden soll, war das Maß für die Papua voll. Das Land musste fürs „Christentum“ gesichert werden. Am 7. März 2007 erschien der Entwurf
für eine Regionalverordnung zur Schaffung eines
„Evangelischen Landkreises“. Die Papuas berufen
sich auf das Sonderautonomiegesetz (UU 21/2001)
und fordern eine Ordnung gemäß dem Evangelium.
Es sollen die Normen und Werte der Gottesherrschaft gelten, die in Jesus Christus angebrochen ist.
Das sind Heiligkeit, Liebe, Frieden und Versöhnung,
Gemeinschaft, Wohlfahrt, Gerechtigkeit, Gleichheit,
Partnerschaft und Offenheit. Das Recht auf freie
Religionsausübung wird zwar erwähnt, die Vorrangstellung des Christentums aber stark betont.
Die Landkreisobrigkeit behält sich das Recht vor, an
öffentlichen Gebäuden christliche Symbole anzubringen. Dabei wird darauf verwiesen, dass die Christen
unter den Indigenen die Mehrheit bilden. Als Medium
der geistlichen Aktivitäten sind nur die indonesische
Nationalsprache und die einheimischen PapuaSprachen zugelassen (somit ist Arabisch für Muslime
nicht erlaubt). Öffentliche Veranstaltungen müssen
sich nach den christlichen Bräuchen richten und nur
christliche Feiertage gelten als Ruhetage. In Dörfern,
in denen es bereits eine Kirche gibt, dürfen keine
Gotteshäuser oder Kultstätten anderer Religionen
erreichtet werden. Auch darf in der Öffentlichkeit, in
den Schulen und im Öffentlichen Dienst keine Kleidung getragen werden, die auf eine bestimmte Religionszugehörigkeit hinweist.
Die Regierung in Jakarta, die beide Augen zudrückt
bei der Einführung der Shari´ah, ist empört und will
den „Evangelischen Landkreis“ Manokwari auf jeden
Fall verhindern. Das birgt ein ungeheuerliches Konfliktpotenzial.
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
31
IV. Sonderautonomie
Realistische, aber ungenutzte Chance
Das Anfang 2002 erlassene Gesetz zur Sonderautonomie für die Region Tanah Papua (UU 21/2001,
auch Otsus genannt) darf als die einzige realistische,
friedliche Lösung des Papua-Problems angesehen
werden. Mit der Spaltung der Region Papuas in zwei
Provinzen gegen den Willen der Papua (2003 per
Präsidialdekret von Megawati Sukarnoputri) hatte
Jakarta gegen die Sonder-Autonomie verstoßen und
ist das Vertrauen gebrochen.
Otsus für gescheitert erklärt
Der traditionelle Adat-Rat, das Papua-Präsidium,
Nichtregierungsorganisationen und Kirchen haben
die Sonderautonomie für gescheitert erklärt. All diese
gesellschaftlichen Elemente fordern einen international vermittelten Dialog zwischen den anerkannten
Papua-Führern (Gouverneure, Volksrat, Parlamente,
Religionsgemeinschaften) und der Indonesischen
Regierung. Jakarta weigert sich, über seine gescheiterte Politik zu sprechen und wirft den Papua vor,
dies nur als Vorwand für ihren Kampf um staatliche
Unabhängigkeit nutzen zu wollen. 39
Korruption
Auch gibt es immer wieder Klagen des Volksrates
der Papua (MRP), dass die regionalen Bestimmungen zur Implementierung der Sonderautonomie (Perdasus dan Perdasi) noch nicht geschaffen worden
sind, sodass eine praktische Umsetzung nicht möglich ist und die Korruption auf den oberen Verwaltungsebenen gigantische Ausmaße annimmt.
Menschenrechtsgerichtshof
39
Ende November 2007 erklärte der Premierminister der Salomonen, Sogavare, dass die Pioniergruppe der melanesischen Staaten (Melane‐
sian Spearhead Group oder MSG) sich stärker für die Selbstbestim‐
mungsrechte der indigenen Bevölkerung West‐Papuas einsetzen werde. Das schließe eine staatliche Unabhängigkeit von Indonesien nicht aus. In Vanuatu besteht eine ständige Vertretung West‐Papuas und West‐Papua könnte als ständiges Mitglied in das Forum aufge‐
nommen werden. Sogavare betonte die Notwendigkeit eines interna‐
tional vermittelten Dialogs zwischen anerkannten Papua‐Führern und der Regierung in Jakarta: "We've made it very plain and clear that if we have to push their agenda of course we take it up and discuss it formally with the relevant authorities. That is open and our charter clearly mandates us to do that." 32
Der im Sonderautonomiegesetz vorgesehene ständige Menschenrechtsgerichtshof in Papua ist bis heute
(sechs Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes) noch
nicht eingerichtet worden.
V. Die Vision des Friedens
Protest der Religionsgemeinschaften
Das Volk der Papua sehnt sich nach Frieden. 2007
haben sich Religionsführer (Protestanten, Katholiken, Muslime, Hindus und Buddhisten) mehrfach
öffentlich gegen die Schändung der Autonomie seitens Jakartas ausgesprochen. Immer wieder werden
traditionelle Landrechte missachtet. Sogenannte
Entwicklungsprogramme spalten die ethnischen
Gruppen, vertreiben sie von ihrem Land oder machen sie zu Randgruppen. Die Autonomiegelder versickern in den Taschen korrupter Beamter oder werden für Infrastruktur verwendet, die nicht den Papua
nützt, sondern noch mehr Zuwanderer anzieht. Die
Konfliktlösungsstrategie der Religionsführer ist ”Papua, Land des Friedens”. Darunter versteht man
Widerstand gegen Ungerechtigkeit und der Kampf
um die eigene Würde und Identität ohne die Anwendung von Gewalt.
CHRISTEN UND MUSLIME IN KONFLIKTGEBIETEN: ACEH
WIE STELLEN SICH MU SLIM E UND CHR IS TEN ZUR SOND ERAU TONOMIE IN ACEH? WELCH E KON SEQU EN ZEN H AT D IE EINFÜHRUNG D ER SH AR I´A FÜR BEID E GRUPP EN UND WO SETZT D IE KR IT IK AN IHR AN ?
Samia Dinkelaker
Samia Dinkelaker studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Nach einem Einsatz im Ökumenischen Freiwilligenprogramm des EMS in Indonesien ist sie heute freie Mitarbeiterin bei Watch Indonesia!, beschäftigt sich dort mit dem Thema „Frauen und Islam“ und in diesem Zusammenhang auch mit der Region Aceh.
Das Verhältnis zwischen den Religionen in Indonesien ist seit jeher von Toleranz geprägt. In jüngster
Zeit sorgt jedoch eine schleichende Islamisierung in
Indonesien für Spannungen innerhalb der Gesellschaft und für Besorgnis bei den religiösen Minderheiten. Zwar ist Indonesien das bevölkerungsreichste
muslimische Land, nicht aber ein islamischer Staat.
Die Provinz Aceh im Norden Sumatras stellt vor diesem Hintergrund einen Sonderfall dar, weil sich dort
momentan ein Wandel vollzieht: Die Zusicherung
eines Sonderautonomiestatus durch die indonesische Regierung im Jahr 1999 beinhaltete die Einführung der Shari´a. Der Islam entwickelt sich somit
zum politischen Ordnungsprinzip der Gesellschaft
und bildet den Kontext, in welchem sich das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Aceh abspielt.
Aceh – „Veranda von Mekka“
Aceh liegt auf der Nordwestspitze von Sumatra, der
westlichsten Insel Indonesiens und wird zu 98% von
Muslimen bewohnt. Wie in ganz Südostasien sind die
meisten davon Sunniten. Aceh hat einen vergleichsweise großen Bevölkerungsanteil von Schiiten, nämlich 10%. Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten
traten bisher nicht auf. Es gibt eine sehr kleine christliche Minderheit in Aceh, bestehend aus acehnesischen Christen, Migranten aus Batak, ethnischen
Chinesen und – seit der Tsunami-Katastrophe vom
Dezember 2004 – ausländischen Hilfskräften.
Arabische Händler gaben Aceh einst den Beinamen
„Die Veranda von Mekka“. Bevor es für die angehenden Mekkapilger Flugreisen gab, war hier der letzte
Abreiseort per Schiff für die Reisenden. Außerdem
ist, wenn man dem Großteil der Historiker Glauben
schenkt, Aceh die Gegend Indonesiens, die die Islamisierung am frühesten erreichte. Die erste muslimische Gemeinde wollen Historiker bereits im 12. Jahrhundert wissen, der erste Kontakt mit arabischen
Händlern geht wohl auf eine viel frühere Zeit im 9.
Jahrhundert zurück.
Die frühe Islamisierung der Provinz trägt mit dazu
bei, dass der Islam untrennbarer Bestandteil der
kulturellen Identität Acehs wurde. Die muslimische
Identität der Menschen in Aceh nährt sich aus der
Geschichte des über Jahrhunderte existierenden
Sultanates. Es gilt als historisches Ideal, auf das
sich Unabhängigkeitsbewegungen – sei es im Kampf
gegen die Kolonialmacht oder sei es im Kampf gegen die indonesische Zentralregierung – immer wieder bezogen haben. Die acehnesischen Muslime
werden als tolerant beschrieben, weil sich das Handelszentrum Aceh von je her gegenüber äußeren
Einflüssen offen zeigen musste.
In Aceh ist wie in ganz Indonesien die schafiitische
Lehre, eine der vier Rechtsschulen des sunnitischen
Islam, vorherrschend. Die schafiitische Rechtsschule
gilt als Mittelweg zwischen einem strengen Festhalten an der Tradition und der Sichtweise, dass die
Entwicklung neuer Rechtsnormen durch Analogieschlüsse möglich sei.
Religiosität ist in Aceh sehr eng mit Rebellion verbunden: Das Sultanat Aceh rebellierte im 17. Jahrhundert gegen die portugiesischen, Ende des 19.
Jahrhunderts gegen die niederländischen Kolonialherren. Die Kämpfe wurden als Jihad gegen Ungläubige proklamiert. Außerdem nahmen einige Acehnesen an der Darul Islam-Rebellion teil, die sich in den
beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit gegen
die Zentralregierung Indonesiens richtete. Ziel für die
acehnesischen Kämpfer der Darul Islam-Rebellion
war es, in Aceh eine islamische Republik zu errichten, deren Grundlagen die Shari´a schaffen sollte.
Den jüngsten Unabhängigkeitskampf in Aceh führte
die Unabhängigkeitsbewegung Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies Aceh, GAM) gegen die Zentralregierung in Jakarta von 1976 bis zum Jahr 2005,
als das Memorandum of Understanding mit der indonesischen Regierung unterzeichnet wurde. Dieser
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
33
drei Jahrzehnte anhaltende Konflikt wurde vor allem
zu Anfang von der GAM als Fortsetzung der Darul
Islam-Bewegung propagiert. In erster Linie ging es
aber um größere kulturelle und politische Selbstbestimmung sowie um größere Anteile am Ressourcenreichtum in Aceh. Die Provinz ist eine der reichsten
in Indonesien, die Erlöse aus den Gas- und Erdölvorkommen blieben allerdings während der „Neuen
Ordnung“ Staatsbetrieben sowie internationalen
Wirtschaftsunternehmen vorbehalten. Weiter waren
die zahllosen Menschenrechtsverletzungen an der
Zivilbevölkerung, die während der 30 Jahre des Konfliktes durch das indonesische Militär begangen wurden, Grund für den andauernden Widerstand.
Einführung der Shari´a und der Versuch der politischen Lösung des Konflikts
Entgegen der allgemeinen Vorstellung, die Einführung der Shari´a sei Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus, war die Einführung der Shari´a eine
Politik der Zentralregierung. Nach dem Sturz Suhartos begannen die Bemühungen der zweiten Nachfolgeregierung unter Abdurrahman Wahid, eine politische Lösung für den Konflikt in Aceh zu finden. Die
Einführung der Shari´a war Teil der politischen Verhandlungsstrategie der Zentralregierung, als sich die
Spannungen intensivierten: Etliche Menschenrechtsverletzungen traten erst zu Tage, nachdem 1998 der
über zehn Jahre andauernde Status der Provinz als
militärisches Sondergebiet (Daerah Operasi Militer,
DOM) aufgehoben worden war und konnten dann
nicht mehr verheimlicht werden. Dennoch fanden
weiterhin Morde, Entführungen und Razzien durch
das Militär statt und mehr Menschen schlossen sich
dem bewaffneten Kampf an. Die Hoffnungen der
GAM auf Erfolg steigerten sich nach dem Unabhängigkeits-Referendum in Osttimor.
In diesem Kontext war die Einführung der Shari´a ein
Bestandteil der Gewährung eines besonderen Status
für Aceh. Das Gesetz zum Sonderstatus Acehs von
1999 spricht von der Shari´a als Leitlinie für die Anwendung der islamischen Lehre in allen Lebensbereichen („Syariat Islam adalah tuntutan ajaran Islam
dalam semua aspek kehidupan“). Anfang 2002 trat
das Sonderautonomiegesetz Nr. 18/2001 in Kraft,
welches die Umbenennung Acehs in „Nanggroe
Aceh Darussalam“ (Haus des Friedens), mehr Beteiligung an den Gewinnen von Öl- und Gasvorkommen
und weitere Maßnahmen zur Anwendung islamischer
Gesetze wie die Einrichtung islamischer Gerichte,
vorsah. Nach dem Friedensschluss vom 15. August
2005 erließ das indonesische Parlament ein neues
Autonomiegesetz (Law on Governing Aceh – LoGA),
34
welches ebenfalls Regelungen zur Anwendung der
Shari´a enthält. Seit der Einführung der Shari´a gilt
Aceh als Vorbild für andere Provinzen in Indonesien,
regionale Gesetze einzuführen, die von der Shari´a
inspiriert sind.
Während weder große Teile der Bevölkerung noch
die GAM die Einführung der Shari´a gefordert hatten,
beruhte deren Einführung auf dem politischen Willen
der Zentralregierung in Jakarta und der politischen
Elite Acehs: Es wurde nach einer Strategie gesucht,
die Bevölkerung Acehs zu besänftigen, die nach
jahrzehntelanger Unsicherheit, nach Menschenrechtsverletzungen und nach ökonomischer Ausbeutung sehr verbittert war und deren kulturell-religiösen
Besonderheiten man – scheinbar – entgegen kommen wollte. In Kreisen der Zentralregierung herrschte außerdem der Glaube vor, dass die Shari´a eines
der Mobilisierungsventile der GAM blockieren würde,
und dass durch die Einführung der Shari´a das öffentliche Vertrauen in die Zentralregierung wieder
hergestellt werden würde. Gleichzeitig stieß die Einführung der Shari´a durchaus auf die Akzeptanz der
Bevölkerung, insbesondere bei Teilen der islamischen Gelehrten und bei einigen „modernistischen“
Muslimen aus dem städtischen Raum. Tatsächlich
bedeutete die Einführung der Shari´a die Errichtung
von Verwaltungsstrukturen, wo das nationale Rechtssystem in der Folge des Krieges lahm gelegt war.
Der Hauptgrund für das Wohlwollen gegenüber der
Shari´a in der Bevölkerung ist der, dass mit ihrer
Einführung viele Erwartungen verbunden waren,
Hoffnungen, dass soziale Probleme gelöst werden
würden und dass sie eine gleichberechtigte Gesellschaft ohne Ausbeutung und Korruption schaffen
würde. Als sich der Konflikt zwischen 2000 und 2004
verschlimmerte und schließlich die damalige Präsidentin Megawati Sukarnoputri das Kriegsrecht ausrief, war das Militär daran interessiert, sich für die
Umsetzung der Shari´a einzusetzen, um sie als Bollwerk gegen die Unabhängigkeitsbewegung zu nutzen. Dagegen war die Position der Befreiungsbewegung GAM zur Shari´a eine ambivalente: Die GAM
ist eher eine nationalistische als eine religiöse Bewegung. Die Führung der GAM stand der Einführung
des islamischen Rechts abweisend gegenüber. Die
Variante, dass die Shari´a von der Regierung eingeführt würde, lehnte die GAM ab. Wenn, dann sollte
die Bevölkerung per Abstimmung selbst darüber
entscheiden können, ob sie die Shari´a wolle oder
nicht, so verlautete es aus Kreisen der GAM. Die
Bewegung lehnte das Zugeständnis der Zentralregierung ab, weil es dazu dienen konnte, die Widerstandsbewegung als fundamentalistisch zu kriminalisieren.
Der historische Kontext der Einführung der Shari´a
ist für das Verhältnis von Religion und Politik in Indonesien im Allgemeinen wichtig: Die Instrumentalisierung von Religion ist als Mittel der Politik häufig
zu finden.
Umsetzung der Shari´a in Aceh und ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen in Aceh
Um die Jahrtausendwende sahen sich islamische
Gelehrte und die Bürokratie mit einer ganz neuen
Situation konfrontiert: Nachdem Aceh einen Sonderautonomiestatuts bekommen hatte und grünes Licht
für die Einführung der Shari´a gegeben war, wurde
plötzlich etwas möglich, was vorher im PancasilaStaat Indonesien undenkbar gewesen war. Die Vertreter der Verwaltung in Aceh hatten schwierige Entscheidungen zu treffen: Welche Aspekte der Shari´a
sollten zuerst in Kraft treten? Sollten bestehende
Institutionen wie die Polizei oder Gerichte beibehalten werden oder neue Strukturen geschaffen werden? Wie sollten Verstöße gegen das islamische
Recht bestraft werden?
Schließlich wurde eine Reihe neuer Institutionen
geschaffen und somit auch eine Bürokratie, die dafür
zuständig ist, Regelungen zu formulieren und für die
Umsetzung der Shari´a zu sorgen. Darunter fallen
die Errichtung von Shari´a-Ämtern (Dinas Syariat),
ein beratender Ulama-Rat (Majelis Permusyawaratan
Ulama) und die Einrichtung von Shari´a-Gerichten.
Vertreter der Bürokratie haben sich vor allem anfangs bemüht, sich von einer extremistischen oder
salafistischen Position zu distanzieren. Unter den
muslimischen Gelehrten und in der Bürokratie gab es
eine intensive Diskussion darum, wie die Shari´a
einzuführen sei. Es wurden Gesetze erlassen, die
das Alltagsleben der Acehnesen tangieren. Zunächst
wurden Gesetze zur Kleiderordnung erlassen, der
Konsum von Alkohol wurde verboten und Gesetze
traten in Kraft, die unerlaubte Beziehungen zwischen
Männern und Frauen unter Strafe stellen. Die Handhabung letzterer Regelung bedeutet, dass sich zwei
Menschen unterschiedlichen Geschlechts, die nicht
miteinander verheiratet sind, nirgendwo alleine aufhalten dürfen. Die Geschichten häufen sich von verhafteten unverheirateten Pärchen, die zum Beispiel
händchenhaltend am Strand „erwischt“ wurden.
Langsam wurde die Anwendung der Shari´a auf neue
Rechtsgebiete ausgeweitet, das heißt insbesondere
auch auf die Bestrafung von Gesetzesbruch. Im
Rahmen des Autonomiegesetzes und seiner Erneuerungen wurde in Aceh eine unabhängige Strafgesetzgebung erlaubt, so dass seit dem Jahr 2005 für
Vergehen, die dem Koran entsprechend nach der
sogenannten Hudud (oder Hadd) zu ahnden sind, die
Prügelstrafe angewendet wird. Diese Strafen werden
für Straftatbestände verhängt, die gegen die „Rechte
Gottes“ verstoßen. Im Koran handelt es sich dabei
um die Bestrafung von Unzucht, Verleumdung, Alkoholkonsum, Diebstahl und Raub. Zu den Strafmaßen
gehören die öffentliche Prügelstrafe oder auch die
Amputation der Hände, eine Strafe für Diebstahl, die
in Aceh nicht angewendet wird. Der Einführung der
Prügelstrafe ging in Aceh eine Diskussion unter den
islamischen Gelehrten voraus, wie diese Strafe auf
humanere Art und Weise ausgeführt werden könnte.
Die Praxis in Malaysia, Pakistan oder Singapur – wo
die Prügelstrafe angewendet wird, ohne dass sich
dortige Gesetze auf den Islam beziehen – wurde
gerade nicht als Vorbild gesehen. Nichtsdestotrotz
kritisieren Menschenrechtsorganisationen die Prügelstrafe als eine Verletzung der Menschenwürde:
Gewöhnlich finden Prügelstrafen, die wegen Verstößen gegen das Verbot von Alkoholkonsum, von
Glücksspielen und von außerehelichen Beziehungen
ausgesprochen werden, öffentlich zum Freitagsgebet
statt. Sie bedeuten die Ächtung der ganzen Familie
und haben eine stark moralisierende Funktion. Kritiker verweisen darauf, dass nur die finanziell minder
bemittelten Schichten der Bevölkerung die Prügelstrafe befürchten müssen. Wohlhabendere Leute
können sich davon freikaufen, wenn denn überhaupt
ein Verfahren gegen sie eröffnet werden sollte.
Verantwortlich für die Formulierung von Shari´aGesetzen oder Qanuns, wie die regionalen Gesetze
in Aceh genannt werden, ist das Provinzparlament.
Es wird von den religiösen Gelehrten und der religiösen Bürokratie beraten. Weil es den Abgeordneten
des Provinzparlaments an Expertise und Fachkompetenz in religiösem Recht fehlt, nehmen Institutionen wie das Shari´a-Amt und die religiösen Gelehrten eine kritische Rolle ein. Was das Zustandekommen der Shari´a-Gesetze betrifft, so wird oft die fehlende Transparenz bemängelt.
Höchst umstritten ist schließlich die Frage nach den
Akteuren, die die Shari´a umsetzen. Dafür gibt es in
Aceh die Shari´a-Polizei, genannt Wilayatul Hisbah,
für die Malaysia und Saudi-Arabien Modell standen.
Die Shari´a-Polizei kontrolliert das Alltagsleben: sie
bewacht Friseursalons, Bekleidungsgeschäfte, führt
Razzien durch und hat die Kompetenz, Leute festzunehmen. Die Mitglieder dieser Institution sind äußerst unpopulär und dazu schlecht ausgebildet. Mit
der Schaffung der Shari´a-Polizei hat sich eine bürokratische Eigendynamik entwickelt, da es im Interesse der Wilayatul Hisbah liegt, ihre Autorität zu vergrößern, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten.
Die Arbeitsteilung mit der staatlichen Polizei ist dabei
unklar und sehr problematisch, denn während die
Shari´a-Polizei versucht, ihre Autorität auszuweiten,
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
35
ist die reguläre Polizei bereits mit ihren eigenen Bereichen überfordert. Schließlich ermutigt die Praxis
der Shari´a-Polizei Bürgerinnen und Bürger zum
Denunziantentum und zur Selbstjustiz. Es bildeten
sich muslimische konservative Vereinigungen, die
die Umsetzung der Shari´a selbst in die Hand nehmen und zum Beispiel unter dem Namen „Anti-ViceTeam“ eigens Verhaftungen vornehmen oder bei
Musikkonzerten für die räumliche Trennung von
Männern und Frauen sorgen.
Die Umsetzung der Shari´a folgt also einer bestimmten Eigendynamik in Form der Bürokratisierung und
einer zunehmenden Selbstjustiz. Frauenrechtlerinnen, mit denen Watch Indonesia! in Kontakt steht,
sprechen davon, dass die Situation in Aceh anarchisch geworden sei. Auf der institutionellen Ebene
sollen bestimmte Shari´a-Gesetze ausgeweitet werden und die Shari´a-Polizei soll noch mehr Kompetenzen erhalten.
Die Umsetzung der Shari´a in der innermuslimischen Diskussion
In Aceh stößt die Shari´a auf Kritik. Kritik zu üben
bedeutet aber, heftigen Anschuldigungen ausgesetzt
zu sein, das heißt Anschuldigungen, die in eine islamische Rhetorik gepackt werden: Insbesondere
Frauen, die die Shari´a-Praxis in Aceh kritisieren,
werden als Ungläubige, als unislamisch oder westlich
bezeichnet.
Die Kritik an der Shari´a setzt daran an, dass die
Hoffnungen, die mit ihrer Einführung verbunden waren, bei der Umsetzung nicht erfüllt wurden. Die
NGO-Partner von Watch Indonesia! sagen, dass die
Zivilgesellschaft nicht die Shari´a, sondern den
Rückzug des Militärs, die Bestrafung der Täter von
Gewaltakten und Gerechtigkeit für die Opfer gefordert habe. Viele Menschen stellen sich außerdem die
Frage: Warum gibt es kein Shari´a-Gesetz gegen
Korruption oder für Gerechtigkeit? Anzumerken ist,
dass den Menschen ein Stück ihrer Tradition, die
nicht allein muslimisch ist, durch die Einführung der
Shari´a genommen wird. In vielen Gegenden Acehs
wird traditionell zum Beispiel kein Kopftuch getragen.
Es wird mit Besorgnis betrachtet, dass ein „arabisierter“ Islam, wie die Menschen ihn dort nennen, radikalere Kräfte fördern könnte und etwa eine rigidere
Ausführung der Hudud-Strafen zur Folge haben
könnte.
Die Kritik der Menschen setzt also meistens an der
Umsetzung der Shari´a an und greift die Shari´a an
sich nicht an. Die heftigen Reaktionen den Kritikern
gegenüber lassen das auch gar nicht zu. Die Grund-
36
aussage ist: Die Shari´a hat mehr Probleme geschaffen als sie zu lösen vermochte.
Im Dezember 2006 wurde ein neuer Gouverneur,
Irwandi Yusuf, der frühere Sprecher der GAM, gewählt. Er distanziert sich von einer orthodoxen Rhetorik und verspricht eine humane Ausgestaltung der
Shari´a. Seine Interessen sind auch wirtschaftliche;
Investoren sollen nicht abgeschreckt werden. Dies
zeigt: Unterschiedliche Interessen sind am Werk, die
Shari´a dient Politikern häufig zu populistischen
Zwecken.
Leben von Minderheiten in Aceh im Kontext der
Einführung der Shari´a: Christen in Aceh
Die Partnerinnen und Partner von Watch Indonesia!
aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich sagen, dass
die Frage der Beziehungen zwischen den Religionen
in Aceh wenig relevant sei. Vielmehr sei darauf aufmerksam zu machen, dass die Opfer der Shari´a die
Muslime selbst seien, insbesondere Frauen und Arme. Entgegen diesem Bild werden in anderen Teilen
Vorstellungen der Diskriminierung von Christen in
Aceh geschürt. In vielen christlichen Gemeinden
kursieren Erzählungen, dass der Tsunami Strafe
Gottes für das Verbot gegenüber den Christen in
Aceh gewesen sei, Weinachten zu feiern. Die Sicht
der Christinnen und Christen, die in der Region arbeiten, weichen jedoch nicht so sehr von denen unserer Partnerinnen und Partner ab: Christinnen und
Christen in Aceh können durchaus ihre Gottesdienste feiern. In Banda Aceh gibt es vier Kirchen, auffällige Gebäude, mit denen die meisten Muslime offensichtlich kein Problem haben.
Prinzipiell gilt die Shari´a nicht für Nicht-Muslime.
Etwa gilt die Kleiderordnung nur für Muslime. In der
Praxis bedeutet die Shari´a aber, dass sich die gesamte Gesellschaft in Aceh an die neuen Regeln
anpassen muss. Es gibt Fälle, in denen Christinnen
festgenommen wurden, weil sie kein Kopftuch trugen, aber auf Anhieb nicht als Christinnen erkannt
wurden. Das bedeutet, dass sie stets dazu angehalten sind, sich ausweisen zu können.
Zurzeit wird eine Diskussion geführt, dass bestimmte
Shari´a-Gesetze auch für Nicht-Muslime und für die
Militärs in Aceh gelten sollen. Die Nahdlatul Ulama
argumentiert damit, dass nur so Rechtsgleichheit
vorherrsche.
Christinnen und Christen sind im sozialen Leben
integriert, also in der Schule oder im Arbeitsleben.
Manche Christen arbeiten für die Regierung und sind
teilweise auch als Lehrkräfte tätig. Seit 2002 müssen
Frauen, die in der Verwaltung arbeiten, den Jilbab
tragen.
Eine menschlichere Gestaltung der Shari´a
Die Frage der Beziehungen zwischen den Religionen
scheint für die Menschen in Aceh weniger besorgniserregend zu sein als die Verletzung der Menschenrechte von Muslimen und Muslima durch die
Praxis der Shari´a in Aceh. Die Christen in Aceh
stellen eine sehr kleine Minderheit dar. Wissentlich
werden sie nicht unterdrückt, aber als Minderheit
werden sie bei der Aufstellung von Maßstäben übersehen. Dass sie keine absichtliche Diskriminierung
erfahren, kann die Chance in sich bergen, dass die
Christen in Aceh ihre Rechte als Minderheit auf
selbstbewusste Art und Weise einfordern. Die Frage
danach, wer Acehnesin oder Acehnese ist, müsste
neu gestellt werden und inklusivere Konzepte müssten gefunden werden. Christen müssten Teil dieser
acehnesischen Identität sein. Das Bewusstsein für
eine multikulturelle Identität ist nichts Neues in Aceh:
Nicht wenige Acehnesen erzählen stolz davon, dass
der Name Aceh gleichsam als Abkürzung für Araber,
Chinesen, Europäer und Hindus zu lesen sei. Eine
multikulturelle Identität hieße in der Konsequenz,
dass rechtliche Regelungen überprüft werden müssten, die sich de facto nur auf die Mehrheitsgesellschaft der Muslime beziehen.
Unter vielen Muslimen wird eine Verbesserung der
Menschenrechtslage insbesondere durch eine humanere Gestaltung der Shari´a erhofft, durch ein
ethisch fundiertes und weniger doktrinäres Verständnis der Shari´a und durch mehr Interpretationsspielraum. Dabei wird die Verhältnismäßigkeit der Mittel
angemahnt. Die Menschen fordern Gerechtigkeit,
das bedeutet die Aufarbeitung der Vergangenheit,
die Entschädigung der Opfer des Konflikts und die
rechtliche Verfolgung der Täter von Menschenrechtsverletzungen. Mit Shari´a oder ohne.
Kinder in Aceh (Foto: Watch Indonesia! / Sven Hansen)
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 1/2008
WWW.EMS-ONLINE.ORG
37
IMPRESSUM
EMS-Dokumentationsbrief Nr. 1/2008:
„Das andere muslimische Land – Zum Verhältnis der Religionen in Indonesien“
Indonesientagung des EMS 23.-25.11.2007 in Stuttgart
Herausgegeben vom Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland e.V.
Redaktion: Christine Grötzinger, David Tulaar
Vogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, Deutschland
Tel: 0711 636 78 -0; Fax: 0711 636 78 -45
Mail: [email protected]
Internet: www.ems-online.org
Bankverbindung: Ev. Kreditgenossenschaft Stuttgart, Konto Nr. 124, BLZ 520 604 10
Herunterladen