Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV OCIV-SS2005-Teil3 Radikale 4. Struktur von Radikalen C (+) Carbenium-Ion C. Radikal C (-) Carbanion zumeist planar trigonal planar bis pyramidal, starr oder flexibel (Zwischenstellung) zumeist pyramidal . . C C . starre oder flexible Pyramide planar trigonal 2 Prof. Dr. P. Rademacher Radikal • Organische Chemie IV Struktur (Methode) planar oder leicht pyramidal (ESR) CH3 IR (bei tiefer Temperatur in gefrorenem Inertgas, Matrix): max. 5° Abweichung von der Planarität • CH2Cl • planar (ESR, IR) pyramidal (ESR, IR) CCl3 • pyramidal (ESR, IR) CF3 • C(CH3)3 pyramidal (ESR), ϕ = 20°, Beziehung zwischen Kopplung des ESR-Signals mit 13C und Hybridisierung des zentralen C-Atoms. Temperaturabhängigkeit des Spektrums: Inversionsbarriere 2.4 kJ/mol • CH2OH O . O pyramidal (ESR) pyramidal (ESR) O Einfluss von Substituenten: Tendenz zur pyramidalen (nicht planaren) Struktur: CF3 < CH3 < Cl < F < RO Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 3 Stereochemie von Radikal-Reaktionen z.B. Chlorierung: ermöglicht Rückschluss auf die Struktur der Zwischenstufe. Me Cl H Et Me Cl2 + HCl Cl Et hν (+) ein Enantiomer Cl (+) Racemat Verlust der optischen Aktivität, das Radikal bildet keine "stabile" Pyramide. Brückenkopf-Radikale werden im Gegensatz zu Brückenkopf-Carbenium-Ionen relativ leicht gebildet. Die Planarität bei CR3(+) ist stärker ausgeprägt als bei CR3•. Bei CR3(+) ist die planare Form etwa 85 kJ/mol stabiler als die pyramidale. Reaktionen über Brückenkopf- . relativ zu acyclische Verbindungen Radikale 500–1000-mal langsamer Carbenium-Ionen (SN1) 1014-mal langsamer 4 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Formyl-Radikal, •CHO, Struktur durch MW-Spektroskopie bestimmt (r0-Werte; Brown u. Ramsay, 1975). H 125.0° 112.5 pm O 117.5 pm Allyl-Radikal, planar . CH 2 . H2C Vinyl-Radikal, Inversionsbarriere ca. 8 kJ/mol R R' . R" R R' R" . Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Pentaphenylcyclopentadienyl und Diphenylpicrylhydrazyl Röntgenstrukturanalyse . Ph . Ph Ph Ph Torsionswinkel φ Ph Ph φ ~ 60° Propellerartige Struktur 49° Ph O2N N. 22° N 33° O 2N NO2 5 6 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 5. Stabilität von Radikalen R3C . > R2CH . > RCH2 . > CH3 . Reaktivitätsfolge umgekehrt analog: Carbenium-Ionen. +I-Effekt von R und Hyperkonjugation (Carbanionen invers) Bindungsstärken von C−H-Bindungen [kJ/mol] DE(C−H) Me O + Me. Et CH3−H MeCH2−H Me2CH−H Me3C−H 435 410 397 385 Me Et C O Me Alkoxy-Radikal Geschwindigkeit der H-Abstraktion von Toluol: . . Ph−CH3 + R → Ph−CH2 + RH DE(C−H) = 355 kJ/mol . primäres > sekundäres > tertiäres Radikal R • • Me2C=O + Et. Et ist stabiler als Me . Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 7 Benzyl-Radikal Konjugation mit π-Systemen erhöht die Stabilität . CH2 CH2 CH2 CH2 . . . ESR: Radikaldichte im SOMO (einfach besetztes MO) ~ LCAO-Koeffizienten Ph3C−H: DE(C−H) = 314 kJ/mol Allyl-Radikal "delokalisiertes" Radikal, nicht linear, Aufenthaltswahrscheinlichkeit des ungepaarten Elektrons an den Enden ~ HOMO CH2=CH−CH3 DE(C−H) = 370 kJ/mol Propargyl-Radikal HC≡C−CH3 DE(C−H) = 393 kJ/mol 8 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Ar . , H2C=CH . , HC≡C . Aryl-, Vinyl-, Ethinyl-Radikale sind sehr reaktiv, da das ungepaarte Elektron nicht delokalisiert werden kann. Bindungsdissoziationsenergien DE und Hybridisierung DE(C−H) [kJ/mol] HC≡CH sp 471 Ph−H sp2 460 H2C=CH2 sp2 451 H3C−CH3 sp3 410 Auch die Konjugation mit n-Elektronen erhöht die Stabilität: • CH2-OH ist stabiler als •CH3 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 9 Stabilität einiger Radikale Struktur Eigenschaft/Stabilität Als Feststoff selbst an Luft unbegrenzt stabil. . Ph . Ph Ph Im kristallinen Zustand wird die Verbindung nur langsam von Sauerstoff angegriffen, obwohl Lösungen gegen Luft empfindlich sind; in Abwesenheit von Sauerstoff ist sie auch bei höheren Temperaturen stabil. Ph Ph C6Cl5 In Lösung selbst an der Luft tagelang stabil. Im festen Zustand unbegrenzt stabil. Thermisch stabil bis 300 °C. . C6Cl5 C6Cl5 R R O O. R R R = t-Bu Galvinoxyl Stabil gegenüber Sauerstoff; kann als Feststoff längere Zeit unzersetzt aufbewahrt werden. Zersetzt sich langsam in Lösung. 10 Prof. Dr. P. Rademacher Stabil in verdünnten Lösungen (<10-5 M) unterhalb von -30 °C in Abwesenheit von Sauerstoff: t1/2 = 50 s bei 25 °C. Me3C . Organische Chemie IV H Me3C Thermisch stabil bis 70 °C. Stabil gegenüber Sauerstoff. (CF3)2CF . CF2CF3 (CF3)2CF Me3C N . O Selbst oberhalb 100 °C stabil gegen Sauerstoff. Me3C <Carey-Sundberg, S. 631> Persistente Radikale bilden keine stabilen Dimere, sie reagieren also nicht diffusionskontrolliert mit sich selbst, aber mit anderen reaktiven Radikalen wie CH3• und O2. Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 11 6. Radikal-Reaktionen 6.0 Übersicht 1.) Rekombination/Dimerisierung von Radikalen Azoverbindungen, Diacylperoxide 2.) Radikalische Substitution SR Halogenierung, Allylische Halogenierung (mit NBS), Sulfochlorierung, Oxidation, Hocksche Phenolsynthese 3.) Radikalische Addition an Mehrfachbindungen AR Addition von Halogen, Halogenwasserstoff, Halogenmethanen, Thiolen, Alkoholen radikal. Polymerisation 4.) H-Abstraktion und andere SH2-Reaktionen 5.) Umlagerung (intramolekulare H-Abstraktion) 6.) Disproportionierung 7.) Redox-Reaktionen mit radikalischen Zwischenstufen Acyloin-Synthese, Birch-Reduktion, Sandmeyer-Reaktion 8.) Biochemisch wichtige Antioxidanzien 12 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 6.1 Radikal-Rekombination 2 R• → R−R Radikal-Radikal-Reaktionen sind sehr schnell, verlaufen in der Regel diffusionskontrolliert. Aktivierungsenergie Ea ≈ 0. Geschwindigkeitskonstante k ist sehr groß, z.B. 2 CH3• → H3C−CH3 k = 109 s-1. Radikale werden aus organischen Vorstufen stets als Paare gebildet. Deshalb besteht immer die Gefahr einer Rekombination, bevor sie zu freien Radikalen werden. Bei der Radikalbildung in Lösung sind die beiden R• zunächst räumlich nahe bei einander, in derselben Solvathülle (Lösungsmittelkäfig). Bei Peroxiden ist die Rekombination unproblematisch. R 2 R O O O R Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 13 Bei Azoverbindungen und ähnlichen Vorstufen wird jedoch der Radikalbildner nicht zurückgebildet. R [R. + N2 + .R] N N R R R Rekombination 2 R. Diffusion freie Radikale - N2 Solvens-Käfig Bestimmung des Verhältnisses durch Abfangen der freien Radikale. Me Ph C Me N N Me 40 °C C Ph Me Me Ph Benzol C . + N2 + . C Beispiel: Azocumol Me Ph Me Me Me Ph Me Me Diffusion kDiff Produkte 73 % 2 Ph Radikalfänger . Me kDiff / kRekomb = 2.7 Das Verhältnis von kDiff/kRekomb ist abhängig von Temperatur und Lösungsmittel-Viskosität, jedoch auch von der Natur des Rekombination Radikalbildners. kRekomb Me Ph Me 27 % 14 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Bei Diacylperoxiden ist der Käfigeffekt kleiner als bei Azoverbindungen: größere Entfernung der beiden R• O R [R. + CO2 + CO2 + .R] O O R O Solvens-Käfig Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 15 6.2 Radikalische Substitution SR Kettenreaktion. Beispiele: Photochlorierung R-H + Cl2 hν R-Cl + HCl ∆H [kJ/mol] Start (Bildung des Radikals) : Cl 2 Fortpflanzung: Cl. + R-H +243 HCl + R. RCl + Cl. R. + Cl2 R-H Cl. H-Cl R. Kettenabbruch: hν 2 Cl. R-Cl Cl2 2 Cl. 2 R. R-R R. + Cl. R-Cl Cl2 -5 -96 Quantenausbeute: bis zu 106; d.h. für jedes absorbierte Photon werden bis zu 106 Produktmoleküle gebildet. R−R wird als Nebenprodukt gefunden (wenn es nicht selbst weiterreagiert): <0.1 %. Radikalinhibitoren stören!! z. B. O2: 2 R• + O2 → RO−OR) 16 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Radikalreaktionen sind sehr schnell und zumeist wenig spezifisch. relative Reaktivitäten von prim., sek. und tert. H-Atomen: CH3 H2C H 1.00 krel: CH3 H2C H 108 (1.0 H 111 CH CH3 H2C H H 462 4.3 85 1.0 CMe2 H 590 7.0) Einfluss der Temperatur krel −CH3 −CH2− >CH− bei 100 °C 1.0 4.3 7.0 bei 200 °C 1.0 3.7 5.4 Bei höherer Temperatur nimmt die Selektivität ab (~ statistische Verteilung). Bei niedrigerer Temperatur entspricht k in etwa der Stabilität des jeweiligen Radikals. Ph−CH2−CH2−CH2−CH3 krel: 20 10 13 1 Allgemein: benzylisch > nicht-benzylisch; tertiär >sekundär> primär Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Kinetik von Radikalreaktionen Meistens komplizierte Geschwindigkeitsgesetze Typisch: Edukt-Konzentrationen mit gebrochenen Exponenten, z. B. Photochlorierung unter bestimmten Bedingungen: Geschw. = k [RH] [Cl2]1/2 Radikalische Polymerisation: kinetische Kettenlänge v = Polymerisationsgrad v = Gesamtgeschw./Geschw. der Startreaktion niedrige Radikal-Konzentration (keine Rekombination!) → große Kettenlänge 17 18 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Sulfochlorierung Chlorsulfonierung. Reed-Reaktion (1933) Einführung der SO2Cl-Gruppe in Paraffine und Cycloparaffine Verfahren zur Herstellung von Aniontensiden, speziell Alkansulfonaten Reagenzien: Chlor + Schwefeldioxid (1:1) Cl2 R H Cl + hν 2 Cl R + HCl O + R SO2 R O O O R S O S + Cl2 R S O Cl + Cl Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Halogenierung in Allyl- und Benzylposition Bromierung mit N-Bromsuccinimid (NBS) H Br O + N Br O + AIBN O CH3 N H O CH2-Br + NBS AIBN Spezifische Substitution von allylischem bzw. benzylischem Wasserstoff. Mechanistische Untersuchungen zeigten, dass molekulares Brom das halogenierende Agens ist. Br2-Konzentration muss sehr niedrig sein, sonst Br2-Addition! 19 20 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Br• + H−R → HBr + R• O O HBr + N Br O schnell, ionisch N H + Br2 O Br2 + R• → R−Br + Br• Die Reaktion wird am besten in CCl4 durchgeführt, in dem NBS nahezu unlöslich ist. Dies bedingt eine sehr niedrige NBS- und damit auch Br2-Konzentration. <Im OC-Grundpraktikum wird das weniger giftige Cyclohexan als LM verwendet.> Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Autoxidation, Bildung von Hydroperoxiden und Dialkylperoxiden R−H + O2 → R−O−O−H Hydroperoxid Praktische Bedeutung: Trocknen und Härten von Öl in Farben und Lacken Altern von Kunststoffen und Gummi Verderben von Lebensmitteln Die Reaktion ist relativ selektiv, bevorzugt tertiären, allylischen oder benzylischen Wasserstoff. Bildung von Diaklyperoxiden und Alkoholen. R−O−O−H + O2 → R−O−O• + •O−O−H R O O 2 RO O O R O Tetroxid 2 RO. + O2 R-H R-OH + R. R-O-O-R Dialkylperoxid 21 22 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Die Hocksche Phenolsynthese verläuft über ein Hydroperoxid Me Me Me H Me OOH OH O2 + Me2C=O H(+) Cumenhydroperoxid relativ stabil Cumen Besonders reaktiv sind Ether, die tertiäre H-Atome besitzen, z. B. Diisopropylether: H O H Me Me Me Me HOO 2 O2 O OOH Me Me Me usw. Me Die Hydroperoxide und Dialkylperoxide sind schwerer flüchtig als die Ether. Heftige Explosion bei der Destillation! Vernichten durch Reduktion, z. B. mit FeSO4. Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV 23 6.3 Additionsreaktionen AR Addition von Halogen an Alkene und Aromaten X + X2 X Zwei Mechanismen (Grundpraktikum): ionisch (AE): polares Lösungsmittel, Lewis-Säure-Katalyse z.B. Br2-Addition, Zwischenstufe: Bromonium-Ion radikalisch (AR): unpolares Lösungsmittel, Gasphase, Licht, Radikalbildner Reaktivität bei AR: F2 > C12 > Br2 > I2 F2-Addition: sehr heftig, ohne photochemische oder andere Aktivierung, unkontrolliert, viele Nebenprodukte, praktisch unbrauchbar. 24 Prof. Dr. P. Rademacher Organische Chemie IV Cl2- und Br2-Addition 1/2 X2 hν oder ∆T oder Radikalbildner X = Cl oder Br X. X C X2 X Chlorierung: lange Reaktionsketten. Quantenausbeute: 103 - 104 Bromierung: kürzere Reaktionsketten I2-Addition: schwer, Addukte spalten das Iod leicht wieder ab, Rückreaktion ist begünstigt Addition von Chlor an Benzen Cl + Cl2 Licht oder Peroxide Cl Cl Cl Cl Cl Hexachlorcyclohexan (HCH) acht Stereosomere u.a. Gammexan (Insektizid) X + X.