Was wissen wir wirklich? - Ruhr

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Editorial
Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie 2005;15:136–137
DOI: 10.1159/000087950
Online publiziert: 10. September 2005
Was wissen wir wirklich?
Jürgen Margraf
Institut für Psychologie, Universität Basel, Schweiz
Was wissen wir wirklich über die Ursachen psychischer Störungen? Genau besehen, wissen wir erstaunlich wenig. Die
meisten unserer Befunde bleiben auf der Ebene von Korrelationen. Aber wir können dennoch einige wichtige, grundlegende Aussagen machen, die dann später für die mehreren
Hundert Störungen aus ICD oder DSM ausdifferenziert werden müssen.
Grundsätzlich entstehen psychische Störungen bei einer negativen Balance zwischen gesundheitsfördernden, schützenden, salutogenen Faktoren einerseits und pathogenen Faktoren andererseits. Bei den pathogenen Faktoren ist es zudem
sinnvoll, zwischen Vulnerabilität, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren zu unterscheiden. Abbildung 1 veranschaulicht dieses Beziehungsgeflecht. Auf der Seite der pathogenen Faktoren haben die verschiedenen Berufsgruppen
unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Während psychiatrische und biologische Theoretiker vor allem die Vulnerabilität
betonten, konzentrierten sich Umwelttheoretiker stärker auf
auslösende Bedingungen, insbesondere im sozialen Raum.
Die Verhaltenstherapie betonte von jeher neben den auslösenden vor allem die aufrechterhaltenden Faktoren. Allgemein tendieren Kliniker dazu, die Rolle pathogener Bedingungen zu überschätzen und die Bedeutung salutogener und
schützender Prozesse zu vernachlässigen.
Mit Hilfe dieses Denkmodells wird deutlich, dass wir am besten über die aufrechterhaltenden Faktoren Bescheid wissen
und am wenigsten über die Bestandteile und Mechanismen
der Vulnerabilität. Natürlich sind die aufrechterhaltenden
Faktoren als Ansatzpunkt für therapeutische Veränderungen
von besonderer Bedeutung. Wir wollen ja die Zukunft verändern und nicht die Vergangenheit. Aber aus ätiologischer Perspektive ist es mehr als unbefriedigend, dass wir so wenig darüber wissen, wie pathogene Entwicklungen überhaupt in
Gang kommen bzw. wie und warum die Balance zwischen salutogenen und pathogenen Einflüssen ins Negative umschlägt.
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Unser schlechter Kenntnisstand hat zu einem erheblichen Teil
forschungspraktische Gründe. Der weitaus größte Teil der
Forschung geschieht an Menschen, die bereits eine Störung
entwickelt haben. Diese suchen klinische Einrichtungen auf
und stellen sich eher für Forschung zur Verfügung. Werden
nun mehr oder minder spezifische Auffälligkeiten bei einer
Gruppe von Patienten mit einem bestimmten Problem festgestellt, so bleibt die Frage nach der Kausalität immer offen [vgl.
Barnow et al., 2005; Forstmeier und Rüddel, 2005; Hechler et
al., 2005]. So wichtig derartige Befunde sind, stellen sie aus
ätiologischer Perspektive doch nur einen ersten Schritt dar.
Letzten Endes haben wir nur eine Korrelation zwischen dem
Vorliegen der Störung und der wie auch immer erfassten
«Auffälligkeit» gefunden. In Bezug auf die Störungsvariable
bleibt dieser Ansatz korrelativ. Als Königsweg zu kausalen
Aussagen gilt nach wie vor das Experiment. Ein echter experimenteller Ansatz stößt aber in unserem Feld auf enge ethische Grenzen: Wir können nicht einfach Menschen krank machen, um unsere Theorien zu überprüfen. Damit bleibt das
Henne-Ei-Problem ungelöst. Was kam zuerst: die Depression
oder die kognitive Verzerrung, der passive Rückzug, die Auffälligkeiten im serotonergen System, beim Cortisol oder bei
der Stressverarbeitung?
Wollen wir jedoch wirklich verstehen, wie psychische Gesundheit und Krankheit entstehen, so müssen wir über das rein
korrelative Stadium der Forschung hinauskommen. Dazu
müssen wir die von uns angenommenen ätiologischen Faktoren zunächst in dem dargestellten Schema einordnen. Dann
müssen wir zeigen, dass die potentiellen Vulnerabilitätsfaktoren oder Auslöser wirklich der Störung vorausgehen und wie
sie mit salutogenen und schützenden Faktoren interagieren.
Das kann nur mit Hilfe prospektiver Längsschnittstudien erfolgen, deren hoher Aufwand ein wichtiger Grund für ihre
Seltenheit ist. Im nächsten Schritt müssen wir untersuchen, ob
sich derartige Faktoren verändern lassen und schließlich, ob
Prof Dr. rer. soc. Jürgen Margraf
Institut für Psychologie
Universität Basel
Missionsstr. 60–62, 4055 Basel, Schweiz
Tel. +41 61 26706-60, Fax -48
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Abb. 1.
Abb. 1. Klassen ätiologischer Faktoren in der Entstehung psychischer
Störungen (modifiziert nach Margraf [2000]).
ihre positive Veränderung tatsächlich das Neuauftreten der
Störungen verhindert oder verringert. Dazu sind systematische Präventionsstudien erforderlich [vgl. Liberman und Robertson, 2005]. Diese stellen eine ethisch akzeptable Alternative zur Induktion pathogener Faktoren dar. Werden sie hinreichend exakt geplant und durchgeführt, so können sie als
ein «gesund machendes» Experiment angesehen und ausgewertet werden. Natürlich sind Prävention und mehr noch Therapie so komplex, dass die einfache Rückführung der Ergebnisse auf einzelne Prozesse immer problematisch bleiben wird
[vgl. Lutz et al., 2005]. Da die für die Ätiologie in Frage kommenden Faktoren und Prozesse die gesamte Bandbreite von
Biologie und Genetik über Psychologie und Neurowissen-
Was wissen wir wirklich?
schaften bis hin zu Soziologie und Ökonomie umfassen, muss
die Forschung vermehrt interdisziplinär angelegt sein. Dies
darf nicht nur ein Wort für Sonntagsreden sein. Ohne die
Überwindung der disziplinären Insularität, die den allergrößten Teil der Forschung kennzeichnet, wird kein echter Fortschritt möglich sein. Ohne ein tief greifendes Verständnis der
Ätiologie sind jedoch die Chancen für bessere Therapie und
vor allem Prävention minimal.
Und warum brauchen wir das alles? Weil psychische Störungen die große Epidemie darstellen, die auf uns zurollt. Individuelles Leiden und gesellschaftliche Kosten psychischer Störungen sind weitaus höher, als die meisten Menschen vermuten. Diese Epidemie werden wir nicht mit rein kurativen Maßnahmen bewältigen können. – Aber ist es nicht eine der
spannendsten Fragen, die Ursachen wirklich zu verstehen?
Literatur
Barnow S, Plock K, Spitzer D, Hamann N, Freyberger H-J: Trauma, Temperamentsund Charaktermerkmale bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung. Verhaltenstherapie DOI:
10.1159/000087439.
Forstmeier S, Rüddel H: Zur Überlegenheit von Selbstregulation über Selbstkontrolle in Psychotherapie und psychosomatischer Rehabilitation. Verhaltenstherapie
DOI: 10.1159/000087450.
Hechler T, Beumont P, Touyz S, Marks P, Vocks S: Die Bedeutung körperlicher Aktivität bei Anorexia nervosa: Dimensionen, Erfassung und Behandlungsstrategien
aus Expertensicht.Verhaltenstherapie DOI: 10.1159/000087374.
Liberman RP, Robertson MJ: A pilot, controlled skills training study of schizotypal
high school students. Verhaltenstherapie DOI: 10.1159/000087775.
Lutz W, Tholen S, Kosfelder J, Tschitsaz A, Schürch E, Stulz N: Evaluation und störungsspezifische Rückmeldung des therapeutischen Forschritts in der Psychotherapie. Verhaltenstherapie DOI: 10.1159/000087551.
Margraf J: Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd 1, ed 2. Berlin, Springer, 2000.
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