1 Grundlagen der Maßtheorie In diesem Kapitel führen wir die Mengensysteme ein, die eine systematische Betrachtung von Ereignissen und zufälligen Beobachtungen in der Wahrscheinlichkeitstheorie erlauben. Ferner sollen Maße, insbesondere Wahrscheinlichkeitsmaße, auf solchen Mengensystemen konstruiert werden. Schließlich werden wir Zufallsvariablen als messbare Abbildungen definieren. 1.1 Mengensysteme Im Folgenden ist stets Ω = ∅ eine Menge und A ⊂ 2Ω (Potenzmenge von Ω) eine Familie von Teilmengen. Später wird die Menge Ω als Raum von Elementarereignissen interpretiert werden und A als ein System von beobachtbaren Ereignissen. Wir wollen in diesem Abschnitt Mengensysteme, die abgeschlossen sind unter einfachen mengentheoretischen Verknüpfungen, mit Namen versehen und einfache Beziehungen zwischen solchen Systemen herstellen. Definition 1.1. Das Mengensystem A heißt – ∩-stabil (sprich: schnittstabil) oder ein π-System, falls für je zwei Mengen A, B ∈ A gilt, dass auch A ∩ B ∈ A, – σ-∩-stabil (sigma-schnittstabil), falls für je abzählbar unendlich viele Mengen ∞ An ∈ A, A1 , A2 , . . . ∈ A gilt, dass auch n=1 – ∪-stabil (vereinigungsstabil), falls für je zwei Mengen A, B ∈ A gilt, dass auch A ∪ B ∈ A, – σ-∪-stabil (sigma-vereinigungsstabil), falls für je abzählbar unendlich viele Men∞ An ∈ A, gen A1 , A2 , . . . ∈ A gilt, dass auch n=1 – \-stabil (differenzmengenstabil), falls für je zwei Mengen A, B ∈ A gilt, dass auch A \ B ∈ A, – komplementstabil, falls mit jeder Menge A ∈ A auch Ac := Ω \ A ∈ A gilt. 2 1 Grundlagen der Maßtheorie Definition 1.2 (σ-Algebra). Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω heißt σ-Algebra, falls die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind. (i) Ω ∈ A, (ii) A ist komplementstabil, (iii) A ist σ-∪-stabil. σ-Algebren sind die natürlichen Mengensysteme für zufällige Ereignisse, denn wie wir sehen werden, können wir diesen Ereignissen in konsistenter Weise Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Satz 1.3. Ist A komplementstabil, so gelten die beiden folgenden Äquivalenzen. A ist ∩ -stabil ⇐⇒ A ist ∪ -stabil, A ist σ- ∩ -stabil ⇐⇒ A ist σ- ∪ -stabil. Beweis. Dies folgt direkt aus den de Morgan’schen Regeln (Erinnerung: ( Ai )c = c Ai ). Ist beispielsweise A σ-∩-stabil und sind A1 , A2 , . . . ∈ A, so ist auch ∞ c ∞ An = Acn ∈ A. n=1 n=1 Also ist A auch σ-∪-stabil. Die anderen Fälle folgen analog. 2 Satz 1.4. Ist A \-stabil, so gelten die folgenden Aussagen. (i) A ist ∩-stabil. (ii) Falls A σ-∪-stabil ist, dann ist A auch σ-∩-stabil. (iii) Jede abzählbare (beziehungsweise endliche) Vereinigung von Mengen aus A lässt sich als abzählbare (beziehungsweise endliche), disjunkte Vereinigung von Mengen in A schreiben. Beweis. (i) Seien A, B ∈ A. Dann ist auch A ∩ B = A \ (A \ B) ∈ A. (ii) Seien A1 , A2 , . . . ∈ A. Dann ist ∞ n=1 An = ∞ (A1 ∩ An ) = n=2 ∞ A1 \ (A1 \ An ) = A1 \ n=2 (iii) Seien A1 , A2 , . . . ∈ A. Dann ist gung in A darstellbar durch ∞ (A1 \ An ) ∈ A. n=2 ∞ n=1 An als abzählbare, disjunkte Vereini- 1.1 Mengensysteme ∞ 3 An = A1 (A2 \ A1 ) ((A3 \ A1 ) \ A2 ) (((A4 \ A1 ) \ A2 ) \ A3 ) . . . 2 n=1 Bemerkung 1.5. Manchmal bezeichnen wir, wie imobigen Beweis, die Vereinigung paarweise disjunkter Mengen mit dem Symbol . Dies soll lediglich der optischen Verdeutlichung dienen und ist keine neue Verknüpfung. 3 Definition 1.6. Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω heißt Algebra, falls gilt: (i) Ω ∈ A, (ii) A ist \-stabil, (iii) A ist ∪-stabil. Offenbar ist in einer Algebra stets ∅ = Ω \ Ω enthalten. Diese Eigenschaft ist im Allgemeinen jedoch schwächer als (i) in Definition 1.6. Satz 1.7. Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω ist genau dann eine Algebra, wenn es folgende drei Eigenschaften hat: (i) Ω ∈ A, (ii) A ist komplementstabil, (iii) A ist ∩-stabil. Beweis. Übung! 2 Definition 1.8. Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω heißt Ring, falls gilt: (i) ∅ ∈ A, (ii) A ist \-stabil, (iii) A ist ∪-stabil. Ein Ring heißt σ-Ring, falls er σ-∪-stabil ist. Definition 1.9. Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω heißt Semiring (oder Halbring), falls gilt: (i) ∅ ∈ A, (ii) für je zwei Mengen A, B ∈ A ist B \ A endliche Vereinigung von paarweise disjunkten Mengen aus A, (iii) A ist ∩-stabil. 4 1 Grundlagen der Maßtheorie Definition 1.10. Ein Mengensystem A ⊂ 2Ω heißt Dynkin-System (oder λ-System), falls gilt: (i) Ω ∈ A, (ii) für je zwei Mengen A, B ∈ A mit A ⊂ B ist B \ A ∈ A, (iii) für ∞je abzählbar viele, paarweise disjunkte Mengen A1 , A2 , . . . ∈ A gilt n=1 An ∈ A. Beispiele 1.11. (i) Ist Ω eine beliebige nichtleere Menge, so sind A = {∅, Ω} und A = 2Ω die trivialen Beispiele für Algebren, σ-Algebren und Dynkin-Systeme. Hingegen sind A = {∅} und A = 2Ω die trivialen Beispiele für Semiringe, Ringe und σ-Ringe. (ii) Sei Ω = R. Dann ist A = {A ⊂ R : A ist abzählbar} ein σ-Ring. (iii) A = {(a, b] : a, b ∈ R, a ≤ b} ist ein Semiring über Ω = R (aber kein Ring). (iv) Die Menge endlicher Vereinigungen von beschränkten Intervallen ist ein Ring über Ω = R (aber keine Algebra). (v) Die Menge endlicher Vereinigungen beliebiger (auch unbeschränkter) Intervalle ist eine Algebra über Ω = R (aber keine σ-Algebra). (vi) Sei E eine endliche, nichtleere Menge und Ω := E N die Menge aller Folgen ω = (ωn )n∈N mit Werten in E. Für ω1 , . . . , ωn ∈ E sei [ω1 , . . . , ωn ] := {ω ∈ Ω : ωi = ωi für jedes i = 1, . . . , n} die Menge aller Folgen, die mit den Werten ω1 , . . . , ωn beginnen. Sei A0 = {∅}. Für n ∈ N setze Dann ist A := ∞ An := {[ω1 , . . . , ωn ] : ω1 , . . . , ωn ∈ E}. n=0 (1.1) An ein Semiring, aber kein Ring (falls #E > 1). (vii) Sei Ω eine beliebige nichtleere Menge. Dann ist A := {A ⊂ Ω : A oder Ac ist endlich} eine Algebra. Ist #Ω = ∞, so ist A jedoch keine σ-Algebra. (viii) Sei Ω eine beliebige nichtleere Menge. Dann ist A := {A ⊂ Ω : A oder Ac ist abzählbar} eine σ-Algebra. (ix) Jede σ-Algebra ist auch ein Dynkin-System. (x) Sei Ω = {1, 2, 3, 4} und A = ∅, {1, 2}, {1, 4}, {2, 3}, {3, 4}, {1, 2, 3, 4} . Dann ist A ein Dynkin-System, aber keine Algebra. 3 1.1 Mengensysteme 5 Satz 1.12 (Inklusionen zwischen Mengensystemen). (i) Jede σ-Algebra ist ein Dynkin-System, eine Algebra und ein σ-Ring. (ii) Jeder σ-Ring ist ein Ring, jeder Ring ein Semiring. (iii) Jede Algebra ist auch ein Ring. Eine Algebra auf einer endlichen Menge Ω ist auch eine σ-Algebra. Beweis. (i) Das ist klar. (ii) Sei A ein Ring. Nach Satz 1.4 ist A schnittstabil und damit ein Semiring. (iii) Sei A eine Algebra, und seien A, B ∈ A. Dann ist A \ B = (Ac ∪ B)c ∈ A, also ist A ein Ring. Ist zudem Ω endlich, so ist A endlich und damit jede abzählbare Vereinigung in A schon eine endliche Vereinigung. 2 Definition 1.13 (liminf und limsup). Es seien A1 , A2 , . . . Teilmengen von Ω. Dann heißen ∞ ∞ ∞ ∞ Am und lim sup An := Am lim inf An := n→∞ n→∞ n=1 m=n n=1 m=n Limes inferior beziehungsweise Limes superior der Folge (An )n∈N . Bemerkung 1.14. (i) Es gilt lim inf An = ω ∈ Ω : #{n ∈ N : ω ∈ An } < ∞ , n→∞ lim sup An = ω ∈ Ω : #{n ∈ N : ω ∈ An } = ∞ . n→∞ Der Limes inferior ist also das Ereignis, dass schließlich alle der An eintreten, der Limes superior hingegen das Ereignis, dass unendlich viele der An eintreten. Insbesondere ist A∗ := lim inf n→∞ An ⊂ A∗ := lim supn→∞ An . (ii) Bezeichnen wir mit ½A (x) := 1, 0, falls x ∈ A, falls x ∈ A, (1.2) die Indikatorfunktion auf der Menge A, so gilt ½A∗ = lim inf ½An , n→∞ ½A∗ = lim sup ½An . n→∞ (iii) Ist A ⊂ 2Ω eine σ-Algebra und An ∈ A für jedes n ∈ N, so ist A∗ ∈ A und 3 A∗ ∈ A. Beweis. Übung! 2 6 1 Grundlagen der Maßtheorie Satz 1.15 (Schnitt von Mengensystemen). Ist I eine beliebige Indexmenge und Ai eine σ-Algebra für jedes i ∈ I, so ist AI := A ⊂ Ω : A ∈ Ai für jedes i ∈ I = Ai i∈I eine σ-Algebra. Dies gilt analog für: Ringe, σ-Ringe, Algebren und Dynkin-Systeme; nicht aber für Semiringe. Beweis. Wir führen den Beweis hier nur für σ-Algebren durch. Wir prüfen für A die Punkte (i)-(iii) aus Definition 1.2. (i) Für jedes i ∈ I ist Ω ∈ Ai . Also ist Ω ∈ A. (ii) Sei A ∈ A. Dann ist A ∈ Ai für jedes i ∈ I. Also ist auch Ac ∈ Ai für jedes i ∈ I. Mithin ist Ac ∈ A. (iii) Seien A1 , A2 , . . . ∈ A. Dann ist An ∈ Ai für jedes n ∈ N und jedes i ∈ I. Also ∞ ist auch A := n=1 An ∈ Ai für jedes i ∈ I und damit A ∈ A. Gegenbeispiel für Semiringe: Seien Ω = {1, 2, 3, 4}, A1 = {∅, Ω, {1}, {2, 3}, {4}} und A2 = {∅, Ω, {1}, {2}, {3, 4}}. Dann sind A1 und A2 Semiringe, aber A1 ∩ 2 A2 = {∅, Ω, {1}} ist keiner. Satz 1.16 (Erzeugte σ-Algebra). Sei E ⊂ 2Ω . Dann existiert eine kleinste σAlgebra σ(E) mit E ⊂ σ(E): A. σ(E) := A⊂2Ω ist σ-Algebra A⊃E σ(E) heißt die von E erzeugte σ-Algebra. E heißt Erzeuger von σ(E). Analog wird das von E erzeugte Dynkin-System δ(E) definiert. Beweis. A = 2Ω ist eine σ-Algebra mit E ⊂ A. Also ist der Schnitt nicht leer. Nach Satz 1.15 ist σ(E) eine σ-Algebra, und dies ist offenbar die kleinste σ-Algebra, die E enthält. Für Dynkin-Systeme geht der Beweis genauso. 2 Bemerkung 1.17. Es gelten die folgenden einfachen Aussagen. (i) E ⊂ σ(E). (ii) Gilt E1 ⊂ E2 , so ist σ(E1 ) ⊂ σ(E2 ). (iii) A ist genau dann σ-Algebra, wenn σ(A) = A. Die analogen Aussagen gelten für Dynkin-Systeme. Ferner ist stets δ(E) ⊂ σ(E).3 1.1 Mengensysteme 7 Satz 1.18 (Schnittstabiles Dynkin-System). Ist D ⊂ 2Ω ein Dynkin-System, so gilt D ist ∩-stabil Beweis. ” =⇒ “ ” ⇐= “ ⇐⇒ D ist eine σ-Algebra. Dies ist klar. Wir prüfen die Eigenschaften (i)-(iii) aus Definition 1.2. (i) Offensichtlich ist Ω ∈ D. (ii) (Komplementstabilität) Sei A ∈ D. Da Ω ∈ D gilt, und nach Eigenschaft (ii) des Dynkin-Systems, ist Ac = Ω \ A ∈ D. (iii) (σ-∪-Stabilität) Seien A, B ∈ D. Nach Voraussetzung ist A ∩ B ∈ D, und es gilt trivialerweise A ∩ B ⊂ A. Also ist A \ B = A \ (A ∩ B) ∈ D. Mithin ist D \-stabil. Seien nun A1 , A2 , . . . ∈ D. Nach Satz 1.4(iii) existieren paarweise ∞ ∞ An = Bn ∈ D. 2 disjunkte Mengen B1 , B2 , . . . ∈ D mit n=1 n=1 Satz 1.19 (Dynkin’scher π–λ–Satz). Sei E ⊂ 2Ω ein ∩-stabiles Mengensystem. Dann gilt σ(E) = δ(E). Beweis. ⊃“ Dies ist klar nach Bemerkung 1.17. ” ⊂“ Zu zeigen ist: δ(E) ist eine σ-Algebra. Nach Satz 1.18 reicht es zu zeigen, ” dass δ(E) ∩-stabil ist. Für B ∈ δ(E) sei DB := {A ∈ δ(E) : A ∩ B ∈ δ(E)}. Für die Schnittstabilität von δ(E) reicht es zu zeigen, dass δ(E) ⊂ DB für jedes B ∈ δ(E). (1.3) Wir zeigen, dass DE für jedes E ∈ δ(E) ein Dynkin-System ist, indem wir (i)-(iii) aus Definition 1.10) prüfen: (i) Offenbar ist Ω ∩ E = E ∈ δ(E), also ist Ω ∈ DE . (ii) Für A, B ∈ DE mit A ⊂ B ist (B \ A) ∩ E = (B ∩ E) \ (A ∩ E) ∈ δ(E). (iii) Seien A1 , A2 , . . . ∈ DE paarweise disjunkt. Dann ist ∞ ∞ An ∩ E = (An ∩ E) ∈ δ(E). n=1 n=1 8 1 Grundlagen der Maßtheorie Nach Voraussetzung ist für A ∈ E auch A ∩ E ∈ E, also ist E ⊂ DE , falls E ∈ E gilt. Nach Bemerkung 1.17(ii) ist daher auch δ(E) ⊂ DE für E ∈ E. Für B ∈ δ(E) und E ∈ E ist also B ∩ E ∈ δ(E). Mithin gilt E ∈ DB für jedes B ∈ δ(E), also 2 E ⊂ DB für jedes B ∈ δ(E), und damit gilt (1.3). Von besonderer Bedeutung sind σ-Algebren, die von Topologien erzeugt werden. Hier wiederum spielt natürlich der euklidische Raum Rn die prominenteste Rolle, aber wir wollen auch den (unendlichdimensionalen) Raum C([0, 1]) der stetigen Funktionen [0, 1] → R im Blick haben. Auf diesem Raum wird durch die Norm f ∞ = supx∈[0,1] |f (x)| eine Topologie erzeugt. Zur Erinnerung bringen wir hier das Axiomensystem der Topologie. Definition 1.20 (Topologie). Sei Ω = ∅ eine beliebige Menge. Ein Mengensystem τ ⊂ Ω heißt Topologie auf Ω, falls folgende drei Eigenschaften gelten. (i) ∅, Ω ∈ τ . (ii) Sind A, B ∈ τ , so ist auch A ∩ B ∈ τ . (iii) Ist F ⊂ τ eine beliebige Familie, so ist auch A∈F A ∈ τ. Das Paar (Ω, τ ) heißt dann topologischer Raum. Die Mengen A ∈ τ heißen offen, die Mengen A ⊂ Ω mit Ac ∈ τ heißen abgeschlossen. Anders als bei σ-Algebren sind bei Topologien nur endliche Schnitte, jedoch auch überabzählbare Vereinigungen erlaubt. Ist d eine Metrik auf Ω, und bezeichnet Br (x) = {y ∈ Ω : d(x, y) < r} die offene Kugel um x ∈ Ω mit Radius r > 0, so wird eine Topologie erzeugt durch τ= Br (x) : F ⊂ Ω × (0, ∞) . (x,r)∈F Dies ist das gewöhnliche System offener Mengen, das man in den meisten Analysisbüchern findet. Definition 1.21 (Borel’sche σ-Algebra). Sei (Ω, τ ) ein topologischer Raum. Die von den offenen Mengen erzeugte σ-Algebra B(Ω) := B(Ω, τ ) := σ(τ ) heißt Borel’sche σ-Algebra auf Ω. Die Elemente A ∈ B(Ω, τ ) heißen Borel’sche Mengen oder Borel-messbare Mengen. Bemerkung 1.22. Wir sind meistens an B(Rn ) interessiert, wobei wir auf Rn den euklidischen Abstand annehmen: 1.1 Mengensysteme 9 n d(x, y) = x − y2 = (xi − yi )2 . i=1 (i) Es gibt Teilmengen von Rn , die keine Borel’schen Mengen sind. Diese sind kompliziert herzustellen, wie beispielsweise die Vitali-Mengen, die man in Analysisbüchern findet (siehe etwa [7]). Wir wollen hier auf diesen Aspekt nicht näher eingehen, sondern lediglich die - mathematisch unpräzise - Feststellung treffen, dass jede Menge, die man sich konstruktiv herstellen kann, auch Borel’sch ist. (ii) Jede abgeschlossene Menge C ⊂ Rn ist in B(Rn ), denn es ist C c ∈ τ , also ist C = (C c )c ∈ σ(τ ). Speziell ist {x} ∈ B(Rn ) für jedes x ∈ Rn . (iii) B(Rn ) ist keine Topologie. Sei nämlich V ⊂ Rn , V ∈ B(Rn ). Wäre B(Rn ) eine Topologie, so wären beliebige Vereinigungen Borel’scher Mengen wieder Bo3 rel’sch, also auch V = x∈V {x} ∈ B(Rn ). Das Mengensystem der offenen Mengen, das die Borel’sche σ-Algebra erzeugt, ist in vielen Fällen unhandlich groß. Wir wollen daher andere Mengensysteme als Erzeuger von B(Rn ) identifizieren, mit denen wir in der Praxis besser arbeiten können. Hierzu wollen wir einerseits Mengen von einfacher Struktur, Quader etwa, betrachten, andererseits aber auch die Größe des Systems einschränken, indem wir abzählbare Mengensysteme betrachten. Wir führen folgende Notationen ein. Mit Q bezeichnen wir die Menge der rationalen Zahlen, mit Q+ die Menge der strikt positiven rationalen Zahlen. Für a, b ∈ Rn schreiben wir a < b, falls ai < bi für jedes i = 1, . . . , n. (1.4) Wir definieren für a < b den offenen Quader als das kartesische Produkt ×(a , b ) := (a , b ) × (a , b ) × · · · × (a , b ) n (a, b) := i i 1 1 2 2 n n (1.5) i=1 und analog [a, b], (a, b] und [a, b). Ferner schreiben wir (−∞, b) := ×i=1 (−∞, bi ) und definieren analog (−∞, b] und so fort. Wir führen die folgenden Mengensysteme ein: n E1 := {A ⊂ Rn : A ist offen}, E2 := {A ⊂ Rn : A ist abgeschlossen}, E3 := {A ⊂ Rn : A ist kompakt}, E5 := {(a, b) : a, b ∈ Qn , a < b}, E4 := {Br (x) : x ∈ Qn , r ∈ Q+ }, E6 := {[a, b) : a, b ∈ Qn , a < b}, E7 := {(a, b] : a, b ∈ Qn , a < b}, E9 := {(−∞, b) : b ∈ Qn }, E11 := {(a, ∞) : a ∈ Qn }, E8 := {[a, b] : a, b ∈ Qn , a < b}, E10 := {(−∞, b] : b ∈ Qn }, E12 := {[a, ∞) : a ∈ Qn }. Satz 1.23. Die Borel’sche σ-Algebra B(Rn ) wird von jedem der Mengensysteme E1 , . . . , E12 erzeugt: B(Rn ) = σ(Ei ) für jedes i = 1, . . . , 12. 10 1 Grundlagen der Maßtheorie Beweis. Wir zeigen nur exemplarisch ein paar der Identitäten. (1) B(Rn ) = σ(E1 ) gilt per Definition. (2) Sei A ∈ E1 . Dann ist Ac ∈ E2 , also A = (Ac )c ∈ σ(E2 ). Daher gilt E1 ⊂ σ(E2 ) und dann (wegen Bemerkung 1.17) auch σ(E1 ) ⊂ σ(E2 ). Analog folgt aber σ(E2 ) ⊂ σ(E1 ) und damit die Gleichheit. (3) Jede kompakte Menge ist abgeschlossen. Also gilt σ(E3 ) ⊂ σ(E2 ). Sei nun A ∈ E2 . Dann sind die Mengen AK := A ∩ [−K, K]n , K ∈ N, kompakt, also ist ∞ die abzählbare Vereinigung A = K=1 AK in σ(E3 ). Es gilt also E2 ⊂ σ(E3 ) und damit σ(E2 ) = σ(E3 ). (4) Offenbar ist E4 ⊂ E1 , also σ(E4 ) ⊂ σ(E1 ). Sei nun A ⊂ Rn offen. Für x ∈ A sei R(x) = min(1, sup{r > 0 : Br (x) ⊂ A}). Da A offen ist, folgt R(x) > 0. Sei r(x) ∈ (R(x)/2, R(x)) ∩ Q. Für jedes y ∈ A und x ∈ BR(y)/3 ∩ Qn ist nun 2 1 R(x) ≥ R(y) − x − y2 > 3 R(y), also r(x) > 3 R(y), also y ∈ Br(x) (x). Also ist A = x∈A∩Qn Br(x) (x) eine abzählbare Vereinigung von Mengen aus E4 und damit in σ(E3 ). Es gilt also auch σ(E1 ) ⊂ σ(E4 ). (5-12) Ähnliche Ausschöpfungsargumente wie in (4) funktionieren auch für die Quader. In (4) können statt der offenen Kugeln Br (x) offene Quader genommen werden. So folgt die Gleichheit mit σ(E5 ). Man bemerke beispielsweise, dass × n [ai , bi ) = i=1 ∞ × n k=1 i=1 ai − 1 , bi ∈ σ(E5 ). k Die anderen Inklusionen Ei ⊂ σ(Ej ) zeigt man analog. 2 Bemerkung 1.24. Jedes der Mengensystem E1 , E2 , E3 , E5 , . . . , E12 (nicht aber E4 ) ist schnittstabil, mithin ist die Borel’sche σ-Algebra jeweils gleich dem erzeugten Dynkin-System: B(Rn ) = δ(Ei ) für i = 1, . . . , 12. Die Mengensysteme E4 , . . . , E12 sind zudem abzählbar. Dies ist eine Eigenschaft, die wir an späterer Stelle wieder benötigen werden. 3 Definition 1.25 (Spur eines Mengensystems). Es sei A ⊂ 2Ω ein beliebiges System von Teilmengen von Ω und A ∈ 2Ω \ {∅}. Das Mengensystem A := {A ∩ B : B ∈ A} ⊂ 2A (1.6) A heißt Spur von A auf A, oder Einschränkung von A auf A. Satz 1.26. Ist A eine σ-Algebra, oder eines der Mengensysteme aus den Definitio nen 1.6 – 1.10 auf Ω, so ist A ein Mengensystem vom selben Typ, allerdings auf A A statt Ω. Beweis. Übung! 2 1.2 Mengenfunktionen 11 Übung 1.1.1. Sei A ein Semiring. Man zeige: Jede abzählbare (beziehungsweise endliche) Vereinigung von Mengen aus A lässt sich als abzählbare (beziehungsweise endliche), disjunkte Vereinigung von Mengen in A schreiben. ♣ Übung 1.1.2. Man zeige durch ein Gegenbeispiel, dass im die Allgemeinen die Ver♣ einigung A ∪ A zweier σ-Algebren keine σ-Algebra ist. Übung 1.1.3. Seien (Ω1 , d1 ) und(Ω2 , d2 ) metrische Räume, f :Ω1 → Ω2 eine beliebige Abbildung und Uf = x ∈ Ω1 : f ist unstetig in x die Menge der Unstetigkeitsstellen. Man zeige: Uf ∈ B(Ω1 ). Hinweis: Man zeige zunächst, dass für ε > 0 und δ > 0 die Menge Ufδ,ε := x ∈ Ω1 : es gibt y, z ∈ Bε (x) mit d2 (f (y), f (z)) > δ (wobei Bε (x) = {y ∈ Ω1 : d1 (x, y) < ε}) offen ist und konstruiere dann Uf aus solchen Mengen. ♣ Übung 1.1.4. Sei Ω eine überabzählbare Menge und A = σ({ω} : ω ∈ Ω). Zeige: A = A ⊂ Ω : A ist abzählbar oder Ac ist abzählbar . ♣ Übung 1.1.5. Sei A ein Ring auf der Menge Ω. Man zeige: A erfüllt die Axiome eines kommutativen Rings (im Sinne der Algebra) mit ∩“ als Multiplikation und ” “ als Addition. ♣ ” 1.2 Mengenfunktionen Definition 1.27. Sei A ⊂ 2Ω und µ : A → [0, ∞] eine Mengenfunktion. µ heißt (i) monoton, falls für je zwei Mengen A, B ∈ A mit A ⊂ B gilt, dass µ(A) ≤ µ(B), (ii) additiv, falls für je endlich viele disjunkte Mengen A1 , . . . , An ∈ A n paarweise n n Ai ∈ A gilt, dass µ Ai = µ(Ai ), mit i=1 i=1 i=1 (iii) σ-additiv, falls für je abzählbar viele disjunkte Mengen A1 , A2 , . . . ∞paarweise ∞ ∞ Ai ∈ A gilt, dass µ Ai = µ(Ai ), aus A mit i=1 i=1 i=1 (iv) subadditiv, falls für je endlich viele Mengen A, A1 , A2 , . . . , An ∈ A mit A ⊂ n n Ai gilt, dass µ(A) ≤ µ(Ai ), i=1 i=1 12 1 Grundlagen der Maßtheorie (v) σ-subadditiv, falls für je abzählbar viele A, A1 , A2 , . . . ∈ A mit A ⊂ gilt, dass µ(A) ≤ ∞ ∞ Ai i=1 µ(Ai ). i=1 Definition 1.28. Sei A ein Semiring und µ : A → [0, ∞] eine Mengenfunktion mit µ(∅) = 0. µ heißt – Inhalt, falls µ additiv ist, – Prämaß, falls µ σ-additiv ist, – Maß, falls µ ein Prämaß ist und A eine σ-Algebra, – Wahrscheinlichkeitsmaß (kurz W-Maß), falls µ ein Maß ist und µ(Ω) = 1. Definition 1.29. Sei A ein Semiring. Ein Inhalt µ auf A heißt (i) endlich, falls µ(A) < ∞ für jedes A ∈ A, (ii) σ-endlich, falls es Mengen Ω1 , Ω2 , . . . ∈ A gibt mit Ω = ∞ Ωn und n=1 µ(Ωn ) < ∞ für jedes n ∈ N. Beispiel 1.30 (Inhalte, Maße). (i) Sei ω ∈ Ω und δω (A) = ½A (ω) (siehe (1.2)). Dann ist δω ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf jeder σ-Algebra A ⊂ 2Ω und heißt Dirac-Maß im Punkt ω, oder Einheitsmasse. (ii) Sei Ω eine endliche, nichtleere Menge. Durch µ(A) := #A #Ω für A ⊂ Ω, wird ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf A = 2Ω definiert. µ heißt Gleichverteilung oder uniforme Verteilung auf Ω. Wir führen hierfür das Symbol UΩ := µ ein. Der so definierte Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, A, UΩ ) wird auch Laplace-Raum genannt. (iii) Sei Ω abzählbar unendlich und A := {A ⊂ Ω : #A < ∞ oder #Ac < ∞}. Dann ist A eine Algebra. Die durch µ(A) = 0, ∞, falls A endlich, falls Ac endlich, auf Mengenfunktion ist A definierte ein Inhalt, aber kein Prämaß, denn es gilt µ ω∈Ω {ω} = µ(Ω) = ∞, aber ω∈Ω µ ({ω}) = 0. 1.2 Mengenfunktionen 13 (iv) Sei (µn )n∈N eine Folge von Maßen (Prämaßen, Inhalten) ∞ und (αn )n∈N eine Folge von nichtnegativen Zahlen. Dann ist auch µ := n=1 αn µn ein Maß (Prämaß, Inhalt). Ω (v) Sei Ω eine (höchstens) abzählbare, nichtleere Menge und A = 2 . Ferner seien (pω )ω∈Ω nichtnegative Zahlen. Dann wird durch µ(A) := ω∈A pω für jedes A ⊂ Ω, ein σ-endliches Maß auf 2Ω definiert. Wir nennen p = (pω )ω∈Ω die Gewichtsfunktion von µ. (vi) Ist in (v) speziell ω∈Ω pω = 1, so ist µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß. Wir interpretieren dann pω als Wahrscheinlichkeit des Elementarereignisses ω und nennen p = (pω )ω∈Ω auch einen Wahrscheinlichkeitsvektor. (vii) Ist in (v) speziell pω = 1 für jedes ω ∈ Ω, so heißt µ das Zählmaß auf Ω. Ist Ω endlich, so ist auch µ endlich. (viii) Sei A der Ring endlicher Vereinigungen von Intervallen (a, b] ⊂ R. Für n a1 < b1 < a2 < b2 < . . . < bn und A = (ai , bi ] setzen wir i=1 µ(A) = n |bi − ai |. i=1 µ ist ein σ-endlicher Inhalt auf A (sogar ein Prämaß), denn es ist und µ((−n, n]) = 2n < ∞ für jedes n ∈ N. ∞ n=1 (−n, n] =R (ix) Sei f : R → [0, ∞) stetig. Analog zu (viii) setze µf (A) = n i=1 bi f (x) dx. ai µf ist ein σ-endlicher Inhalt auf A (sogar ein Prämaß). Die Funktion f heißt Dichte und spielt hier eine ähnliche Rolle wie die Gewichtsfunktion p in (v). 3 Lemma 1.31 (Eigenschaften von Inhalten). Sei A ein Semiring und µ ein Inhalt auf A. Dann gelten die folgenden Aussagen. (i) Ist A ein Ring, so ist µ(A∪B)+µ(A∩B) = µ(A)+µ(B) für je zwei Mengen A, B ∈ A. (ii) µ ist monoton. Ist A ein Ring, so gilt genauer µ(B) = µ(A) + µ(B \ A) für je zwei Mengen A, B ∈ A mit A ⊂ B. (iii) µ ist subadditiv. Ist µ sogar σ-additiv, so ist µ auch σ-subadditiv. (iv) Ist A ein Ring, so gilt für je abzählbar viele, paarweise disjunkte Mengen ∞ ∞ ∞ An ∈ A stets µ(An ) ≤ µ An . A1 , A2 , . . . ∈ A mit n=1 n=1 n=1 14 1 Grundlagen der Maßtheorie Beweis. (i) Es ist A ∪ B = A (B \ A) und B = (A ∩ B) (B \ A). Da µ additiv ist, folgt µ(A ∪ B) = µ(A) + µ(B \ A) µ(B) = µ(A ∩ B) + µ(B \ A). und Hieraus folgt sofort (i). (ii) Sei A ⊂ B. Wegen A ∩ B = A folgt µ(B) = µ(A (B \ A)) = µ(A) + µ(B \ A), falls B \ A ∈ A ist,insbesondere also, falls A ein Ring ist. Ist nun A nur n disjunkte ein Semiring, so ist B \ A = i=1 Ci für gewisses n ∈ N und paarweise n Mengen C1 , . . . , Cn ∈ A. In diesem Fall ist µ(B) = µ(A) + i=1 µ(Ci ) ≥ µ(A), also ist µ monoton. n (iii) Seien n ∈ N und A, A1 , . . . , An ∈ A mit A ⊂ i=1 Ai . Setze B1 = A1 und Bk = Ak \ k−1 k−1 Ai = i=1 (Ak \ (Ak ∩ Ai )) für k = 2, . . . , n. i=1 Per Definition des Semirings ist jedes Ak \ (Ak ∩ Ai ) disjunkte Vereinigung endlich vieler Mengen in A, also existiert ein ck ∈ N und Mengen Ck,1 , . . . , Ck,ck ∈ A mit ck B ⊂ Ak . Analog existieren dk ∈ N und Dk,1 , . . . , Dk,dk ∈ A mit i=1 Ck,i = dkk Dk,i . Da µ additiv ist, gilt Ak \ Bk = i=1 µ(Ak ) = ck µ(Ck,i ) + i=1 dk µ(Dk,i ) ≥ i=1 ck µ(Ck,i ). i=1 Wiederum aufgrund von Additivität und Monotonie gilt n c ck n k µ(A) = µ (Ck,i ∩ A) = µ(Ck,i ∩ A) k=1 i=1 ≤ ck n k=1 i=1 µ(Ck,i ) ≤ k=1 i=1 n µ(Ak ). k=1 Also ist µ subadditiv. Die σ-Subadditivität folgt aus der σ-Additivität in analoger Weise. (iv) ∞ Sei A ein Ring und A = gilt nach (ii) m µ(An ) = µ n=1 Also ist ∞ n=1 An ∈ A. Da µ additiv (und damit monoton) ist, n=1 µ(An ) ≤ µ(A). m An ≤ µ(A) für jedes m ∈ N. n=1 2 1.2 Mengenfunktionen 15 Bemerkung 1.32. In (iv) kann strikte Ungleichheit herrschen (siehe etwa Beispiel 1.30(iii)). Mit anderen Worten: Es gibt Inhalte, die keine Prämaße sind. 3 Satz 1.33 (Einschluss- Ausschlussformel). Sei A ein Ring und µ ein Inhalt. Dann gelten für n ∈ N und A1 , . . . , An ∈ A die Einschluss- Ausschlussformeln µ(A1 ∪ . . . ∪ An ) = µ(A1 ∩ . . . ∩ An ) = n (−1)k−1 k=1 {i1 ,...,ik }⊂{1,...,n} n (−1)k−1 k=1 µ(Ai1 ∩ . . . ∩ Aik ), µ(Ai1 ∪ . . . ∪ Aik ), {i1 ,...,ik }⊂{1,...,n} wobei sich die Summen über alle k-elementigen Teilmengen von {1, . . . , n} erstrecken. Beweis. Übung! Hinweis: Man verwende vollständige Induktion über n. 2 Wir wollen die σ-Subadditivität durch eine Stetigkeitseigenschaft charakterisieren (Satz 1.36). Hierzu verabreden wir die folgende Sprechweise und Notation. Definition 1.34. Sind A, A1 , A2 , . . . Mengen, so schreiben wir – An ↑ A, falls A1 ⊂ A2 ⊂ . . . und ∞ An = A, ∞ – An ↓ A, falls A1 ⊃ A2 ⊃ A3 ⊃ . . . und n=1 An = A. n=1 Wir sagen dann, dass (An )n∈N gegen A aufsteigt beziehungsweise absteigt. Definition 1.35 (Stetigkeit von Inhalten). Sei µ ein Inhalt auf dem Ring A. (i) µ heißt stetig von unten, falls für jedes A ∈ A und jede Folge (An )n∈N in A n→∞ mit An ↑ A gilt: µ(An ) −→ µ(A). (ii) µ heißt stetig von oben, falls für jedes A ∈ A und jede Folge (An )n∈N in A n→∞ mit An ↓ A sowie µ(An ) < ∞ für jedes n ∈ N gilt: µ(An ) −→ µ(A). (iii) µ heißt ∅-stetig, falls (ii) für A = ∅ gilt. Bei der Stetigkeit von oben wurde die Endlichkeitsbedingung eingeführt, weil sogar für das Zählmaß µ auf (N, 2N ) und An := {n, n+1, . . .} ↓ ∅ sonst keine Gleichheit gelten kann. 16 1 Grundlagen der Maßtheorie Satz 1.36 (Stetigkeit und Prämaß). Sei µ ein Inhalt auf einem Ring A. Betrachte die folgenden fünf Eigenschaften. (i) µ ist σ-additiv (also ein Prämaß). (ii) µ ist σ-subadditiv. (iii) µ ist stetig von unten. (iv) µ ist ∅-stetig. (v) µ ist stetig von oben. (i) ⇐⇒ (ii) ⇐⇒ (iii) =⇒ (iv) ⇐⇒ (v). Dann gelten die Implikationen Ist µ endlich, so gilt auch (iv) =⇒ (iii). ∞ Beweis. (i) =⇒ (ii)“ Seien A, A1 , A2 , . . . ∈ A mit A ⊂ i=1 Ai . Setze B1 = ” n−1 ∞ A1 und Bn = An \ i=1 Ai ∈ A für n = 2, 3, . . . Dann ist A = n=1 (A ∩ Bn ), also wegen der Monotonie von µ und der σ-Additivität von µ µ(A) = ∞ µ(A ∩ Bn ) ≤ n=1 ∞ µ(An ). n=1 Damit ist µ als σ-subadditiv erkannt. (ii) =⇒ (i)“ Dies folgt aus Lemma 1.31(iv). ” (i) =⇒ (iii)“ Sei µ ein Prämaß und A ∈ A sowie (An )n∈N eine Folge in A mit ” An ↑ A sowie A0 = ∅. Dann gilt µ(A) = ∞ µ(Ai \ Ai−1 ) = lim n→∞ i=1 n µ(Ai \ Ai−1 ) = lim µ(An ). n→∞ i=1 (iii) =⇒ (i)“ Gelte nun (iii). Seien B1 , B2 , . . . ∈ A paarweise disjunkt, und ” ∞ n gelte B = Bn ∈ A. Setze An = Bi für jedes n ∈ N. Dann folgt aus (iii) n=1 i=1 µ(B) = lim µ(An ) = n→∞ ∞ µ(Bi ). i=1 Also ist µ σ-additiv und damit ein Prämaß. (iv) =⇒ (v)“ Seien A, A1 , A2 , . . . ∈ A mit An ↓ A und µ(A1 ) < ∞. Setze ” Bn = An \ A ∈ A für jedes n ∈ N. Dann gilt Bn ↓ ∅. Es gilt also µ(An ) − µ(A) = n→∞ µ(Bn ) −→ 0. (v) =⇒ (iv)“ ” Dies ist trivial. 1.3 Fortsetzung von Maßen 17 (iii) =⇒ (iv)“ Seien A1 , A2 , . . . ∈ A mit An ↓ ∅ und µ(A1 ) < ∞. Dann gilt ” A1 \ An ∈ A für jedes n ∈ N und A1 \ An ↑ A1 , also µ(A1 ) = lim µ(A1 \ An ) = µ(A1 ) − lim µ(An ). n→∞ n→∞ Wegen µ(A1 ) < ∞ ist lim µ(An ) = 0. n→∞ (iv) =⇒ (iii)“ (für den Fall µ endlich) Es gelte nun µ(A) < ∞ für jedes A ∈ A, ” und µ sei ∅-stetig. Seien A, A1 , A2 , . . . ∈ A mit An ↑ A. Dann gilt A \ An ↓ ∅ und n→∞ µ(A) − µ(An ) = µ(A \ An ) −→ 0. 2 Also gilt (iii). Beispiel 1.37. (Vergleiche Beispiel 1.30(iii).) Sei Ω abzählbar und A = {A ⊂ Ω : #A < ∞ oder #Ac < ∞}, 0, falls A endlich, µ(A) = ∞, falls A unendlich. Dann ist µ ein ∅-stetiger Inhalt, aber kein Prämaß. 3 Definition 1.38. (i) Ein Paar (Ω, A), bestehend aus einer nichtleeren Menge Ω und einer σ-Algebra A ⊂ 2Ω , heißt Messraum. Die Mengen A ∈ A heißen messbare Mengen. Ist Ω höchstens abzählbar und A = 2Ω , so heißt der Messraum (Ω, 2Ω ) diskret. (ii) Ein Tripel (Ω, A, µ) heißt Maßraum, wenn (Ω, A) ein Messraum ist und µ ein Maß auf A. (iii) Ist zudem µ(Ω) = 1, so heißt (Ω, A, µ) ein Wahrscheinlichkeitsraum. In diesem Fall heißen die Mengen A ∈ A auch Ereignisse. (iv) Den Raum aller endlichen Maße auf (Ω, A) bezeichnen wir mit Mf (Ω) := Mf (Ω, A), den der W-Maße mit M1 (Ω) := M1 (Ω, A), schließlich den der σ-endlichen Maße mit Mσ (Ω, A). 1.3 Fortsetzung von Maßen In diesem Abschnitt wollen wir Maße konstruieren, indem wir zunächst auf einem einfachen Mengensystem, nämlich einem Semiring, plausible Werte für einen Inhalt angeben und dann, nach Möglichkeit, diesen Inhalt zu einem Maß auf der erzeugten σ-Algebra fortsetzen. Bevor wir zu den konkreten Bedingungen kommen, unter denen das machbar ist, bringen wir zwei Beispiele. 18 1 Grundlagen der Maßtheorie Beispiel 1.39 (Lebesgue-Maß). Sei n ∈ N und A = {(a, b] : a, b ∈ Rn , a < b} der Semiring der halboffenen Quader (a, b] ⊂ Rn (vergleiche (1.5)). Das n-dimensionale Volumen des Quaders ist µ((a, b]) = n (bi − ai ). i=1 Können wir µ zu einem (eindeutig bestimmten) Maß auf der Borel’schen σ-Algebra B(Rn ) = σ(A) fortsetzen? Wir werden sehen, dass dies möglich ist. Das resultierende Maß heißt Lebesgue-Maß (manchmal auch Lebesgue-Borel-Maß) λ auf (R, B(R)). 3 Beispiel 1.40 (Produktmaß, Bernoulli-Maß). Wir wollen ein Wahrscheinlichkeitsmaß konstruieren für die unendliche, unabhängige Wiederholung eines Zufallsexperiments mit endlich vielen möglichen Ausgängen. Die Menge der Ausgänge sei E. Für e ∈ E sei pe die Wahrscheinlichkeit, dass e eintritt. Es gilt also e∈E pe = 1. Die Ergebnisse dieser Experimente seien ω1 , ω2 , . . . ∈ E. Der Raum des gesamten Experiments ist daher Ω = E N . Wie in Beispiel 1.11(vi) definieren wir [ω1 , . . . , ωn ] := {ω ∈ Ω : ωi = ωi für jedes i = 1, . . . , n} (1.7) als die Menge aller Folgen, die mit den Werten ω1 , . . . , ωn beginnen. Sei A0 = {∅}. Für n ∈ N definieren wir das Mengensystem der Zylindermengen, die nur von den ersten n Koordinaten abhängen, An := {[ω1 , . . . , ωn ] : ω1 , . . . , ωn ∈ E}, ∞ und setzen A := n=0 An . (1.8) Wir interpretieren [ω1 , . . . , ωn ] als das Ereignis, dass im ersten Experiment der Wert ω1 herauskommt, im zweiten ω2 und schließlich im n-ten Experiment der Wert ωn . Die Ergebnisse der weiteren Experimente spielen für das Eintreten des Ereignisses keine Rolle. Für ω1 , . . . , ωn ∈ E soll die Wahrscheinlichkeit für [ω1 , . . . , ωn ] das Produkt der einzelnen Wahrscheinlichkeiten sein (das verstehen wir intuitiv unter Unabhängigkeit“) ” n µ([ω1 , . . . , ωn ]) = p ωi . i=1 Hierdurch wird ein Inhalt auf A definiert, und unser Ziel ist es, µ in eindeutiger Weise zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß auf σ(A) fortzusetzen. Bevor wir dies tun, treffen wir noch die folgenden Definition. Wir definieren eine (Ultra-)Metrik auf Ω durch 1.3 Fortsetzung von Maßen d(ω, ω ) = 2− inf{n∈N: ωn =ωn } , falls ω = ω , 0, falls ω = ω . 19 (1.9) Dann ist (Ω, d) ein kompakter, metrischer Raum. Offenbar ist [ω1 , . . . , ωn ] = B2−n (ω) = {ω ∈ Ω : d(ω, ω ) < 2−n }. Das Komplement von [ω1 , . . . , ωn ] ist die Vereinigung von (#E)n − 1 offenen Kugeln [ω1 , . . . , ωn ], [ω1 , . . . , ωn ]c = )=(ω ,...,ω ) (ω1 ,...,ωn 1 n also offen. Damit ist [ω1 , . . . , ωn ] abgeschlossen und kompakt, weil Ω kompakt ist. Ähnlich wie in Satz 1.23 kann man zeigen, dass σ(A) = B(Ω, d). 3 Übung: Man zeige die obigen Aussagen. Das Hauptergebnis dieses Kapitels ist der Fortsetzungssatz für Maße, den wir hier in der Form von Carathéodory formulieren. Satz 1.41 (Carathéodory). Sei A ⊂ 2Ω ein Ring und µ ein σ-endliches Prämaß auf A. Dann kann µ auf genau eine Weise zu einem Maß µ auf σ(A) fortgesetzt werden, und µ̃ ist σ-endlich. Den Beweis dieses Satzes müssen wir mit einigen Lemmata vorbereiten. Wir zeigen dann in Satz 1.53 eine etwas stärkere Aussage. Dort wird auch die griffige Formulierung kann fortgesetzt werden“ präzisiert. ” Lemma 1.42 (Eindeutigkeit durch schnittstabilen Erzeuger). Sei (Ω, A, µ) ein σ-endlicher Maßraum und E ⊂ A ein schnittstabiler Erzeuger von A. Es gebe E1 , E2 , . . . ∈ E mit En ↑ Ω und µ(En ) < ∞ für jedes n ∈ N. Dann ist µ durch die Werte µ(E), E ∈ E, eindeutig festgelegt. Ist µ ein W-Maß, so gilt die Folgerung auch ohne die Existenz der Folge (En )n∈N . Beweis. Sei ν ein weiteres σ-endliches Maß auf (Ω, A) mit der Eigenschaft µ(E) = ν(E) für jedes E ∈ E. Sei E ∈ E mit µ(E) < ∞. Betrachte das Mengensystem DE = {A ∈ A : µ(A ∩ E) = ν(A ∩ E)}. Um zu zeigen, dass DE ein Dynkin-System ist, prüfen wir die Eigenschaften aus Definition 1.10: (i) Offensichtlich ist Ω ∈ DE . 20 1 Grundlagen der Maßtheorie (ii) Seien A, B ∈ DE mit A ⊃ B. Dann ist µ ((A \ B) ∩ E) = µ(A ∩ E) − µ(B ∩ E) = ν(A ∩ E) − ν(B ∩ E) = ν ((A \ B) ∩ E) . Also ist A \ B ∈ DE . (iii) Seien A1 , A2 , . . . ∈ DE paarweise disjunkt sowie A = ∞ An . Dann ist n=1 µ(A ∩ E) = ∞ n=1 µ(An ∩ E) = ∞ ν(An ∩ E) = ν(A ∩ E), n=1 also A ∈ DE . Offenbar ist E ⊂ DE , also δ(E) ⊂ DE . Da E schnittstabil ist, ist nach Satz 1.19 A ⊃ DE ⊃ δ(E) = σ(E) = A. Also ist DE = A. Für jedes A ∈ A und E ∈ E mit µ(E) < ∞ gilt also µ(A ∩ E) = ν(A ∩ E). Seien nun E1 , E2 , . . . ∈ E mit En ↑ Ω und µ(En ) < ∞ für jedes n ∈ N. Da µ und ν von unten stetig sind, gilt für A ∈ A µ(A) = lim µ(A ∩ En ) = lim ν(A ∩ En ) = ν(A). n→∞ n→∞ Der Zusatz ist trivial, denn Ẽ := E ∪ {Ω} ist ebenfalls ein schnittstabiler Erzeuger von A, und der Wert µ(Ω) = 1 ist bekannt. Es kann also die konstante Folge En = Ω, n ∈ N, gewählt werden. Man beachte jedoch, dass es nicht reicht zu fordern, dass µ endlich ist, weil dann im Allgemeinen die Gesamtmasse µ(Ω) nicht eindeutig festgelegt ist (siehe Beispiel 1.45(ii)). 2 Beispiel 1.43. Sei Ω = Z und E = En : n ∈ Z , wobei En = (−∞, n] ∩ Z. E ist schnittstabil und σ(E) = 2Ω . Also ist ein endliches Maß µ auf (Ω, 2Ω ) eindeutig festgelegt durch die Werte µ(En ), n ∈ N. Ein σ-endliches Maß auf Z ist jedoch durch die Werte auf E noch nicht eindeutig bestimmt: Sei µ das Zählmaß auf Z und ν = 2µ. Dann ist µ(E) = ∞ = ν(E) für jedes E ∈ E. Um µ und ν zu unterscheiden, brauchen wir also einen Erzeuger, der Mengen endlichen Maßes (für µ) enthält. Tun es die Mengen F̃n = [−n, n] ∩ Z, n ∈ N? In der Tat ist für jedes σ-endliche Maß µ jetzt µ(F̃n ) < ∞ für jedes n ∈ N. Allerdings erzeugen die F̃n nicht 2Ω (sondern welche σ-Algebra?). Wir können aber die Definition so modifizieren: Fn = [−n/2, (n + 1)/2] ∩ Z. Dann ist σ({Fn , n ∈ N}) = 2Ω , also E = {Fn , n ∈ N} ein schnittstabiler Erzeuger von 2Ω und µ(Fn ) < ∞ für jedes n ∈ N. Wegen Fn ↑ Ω sind die Bedingungen des Satzes erfüllt. 3 1.3 Fortsetzung von Maßen 21 Beispiel 1.44 (Verteilungsfunktion). Ein W-Maß µ auf dem Raum (Rn , B(Rn )) ist n durch Angabe der Werte µ((−∞, b]) auf den Mengen (−∞, b] = ×i=1 (−∞, bi ], b ∈ Rn , eindeutig festgelegt, da diese Mengen einen schnittstabilen Erzeuger bilden (Satz 1.23). Speziell ist ein W-Maß µ auf R durch Angabe der Verteilungsfunktion F : R → [0, 1], x → µ((−∞, x]) eindeutig bestimmt. 3 Beispiel 1.45. (i) Sei Ω = {1, 2, 3, 4} und E = { 1, 2}, {2, 3} . Offenbar gilt σ(E) = 2Ω , jedoch ist E nicht schnittstabil. Tatsächlich ist hier ein W-Maß µ durch Angabe der Werte µ({1, 2}) = µ({2, 3}) = 12 nicht eindeutig festgelegt. Es gibt beispielsweise die Möglichkeiten µ = 12 δ1 + 12 δ3 oder µ = 12 δ2 + 12 δ4 . (ii) Sei Ω = {1, 2} und E = {{1}}. Dann ist E ein schnittstabiler Erzeuger von 2Ω , und ein W-Maß µ ist durch Angabe von µ({1}) eindeutig festgelegt. Allerdings gilt dies nicht für endliche Maße im Allgemeinen, denn µ = 0 und ν = δ2 sind zwei endliche Maße, die auf E übereinstimmen. 3 Definition 1.46 (Äußeres Maß). Eine Mengenfunktion µ∗ : 2Ω → [0, ∞] heißt äußeres Maß, falls gilt: (i) µ∗ (∅) = 0, (ii) µ∗ ist monoton, (iii) µ∗ ist σ-subadditiv. Lemma 1.47. Sei A ⊂ 2Ω ein beliebiges Mengensystem mit ∅ ∈ A und µ eine monotone Mengenfunktion auf A mit µ(∅) = 0. Für A ⊂ Ω sei F U(A) = F ⊂ A : F ist höchstens abzählbar und A ⊂ F ∈F die Menge der abzählbaren Überdeckungen F von A mit Mengen F aus A. Setze µ∗ (A) := inf µ(F ) : F ∈ U(A) , F ∈F wobei inf ∅ = ∞. Dann ist µ∗ (A) = µ(A) für jedes A ∈ A, und µ∗ ist ein äußeres Maß. Beweis. Wir weisen die Eigenschaften (i)-(iii) des äußeren Maßes nach. (i) Wegen ∅ ∈ A ist {∅} ∈ U(∅), also ist µ∗ (∅) = 0. (ii) Ist A ⊂ B, so ist U(A) ⊃ U(B), also ist µ∗ (A) ≤ µ∗ (B). ∞ (iii) Sei An ⊂ Ω für jedes n ∈ N und A ⊂ n=1 An . Wir müssen zeigen, dass ∞ ∗ ∗ µ∗ (A) ≤ n=1 µ (An ). Ohne Einschränkung sei µ (An ) < ∞ und damit 22 1 Grundlagen der Maßtheorie U(An ) = ∅ für jedes n ∈ N. Wähle ε > 0 und zu jedem n ∈ N eine Überdeckung Fn ∈ U(An ) mit µ(F ) ≤ µ∗ (An ) + ε 2−n . F ∈Fn Dann ist F := ∞ n=1 µ∗ (A) ≤ Fn ∈ U(A) und µ(F ) ≤ F ∈F ∞ µ(F ) ≤ n=1 F ∈Fn ∞ µ∗ (An ) + ε. 2 n=1 Definition 1.48 (µ∗ -messbare Mengen). Sei µ∗ ein äußeres Maß. Eine Menge A ∈ 2Ω heißt µ∗ -messbar, falls µ∗ (A ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ E) = µ∗ (E) für jedes E ∈ 2Ω . (1.10) Wir schreiben M(µ∗ ) = {A ∈ 2Ω : A ist µ∗ -messbar}. Lemma 1.49. Es ist A ∈ M(µ∗ ) genau dann, wenn µ∗ (A ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ E) ≤ µ∗ (E) für jedes E ∈ 2Ω . Beweis. Da µ∗ subadditiv ist, gilt stets die andere Ungleichung. 2 Lemma 1.50. M(µ∗ ) ist eine Algebra. Beweis. Wir prüfen die Eigenschaften (i)-(iii) der Algebra aus Satz 1.7. (i) Ω ∈ M(µ∗ ) ist klar. (ii) (Komplementstabilität) (iii) (Schnittstabilität) Per Definition ist A ∈ M(µ∗ ) ⇐⇒ Ac ∈ M(µ∗ ). Seien A, B ∈ M(µ∗ ) und E ∈ 2Ω . Dann ist µ∗ ((A ∩ B) ∩ E) + µ∗ ((A ∩ B)c ∩ E) = µ∗ (A ∩ B ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ B ∩ E) ∪ (Ac ∩ B c ∩ E) ∪ (A ∩ B c ∩ E) ≤ µ∗ (A ∩ B ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ B ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ B c ∩ E) + µ∗ (A ∩ B c ∩ E) = µ∗ (B ∩ E) + µ∗ (B c ∩ E) = µ∗ (E). Dabei haben wir in der vorletzten Gleichung A ∈ M(µ∗ ) benutzt und in der letzten 2 B ∈ M(µ∗ ). Lemma 1.51. Ein äußeres Maß µ∗ ist σ-additiv auf M(µ∗ ). 1.3 Fortsetzung von Maßen 23 Beweis. Seien A, B ∈ M(µ∗ ) mit A ∩ B = ∅. Dann ist µ∗ (A ∪ B) = µ∗ (A ∩ (A ∪ B)) + µ∗ (Ac ∩ (A ∪ B)) = µ∗ (A) + µ∗ (B). Induktiv folgt die (endliche) Additivität. Da µ∗ per Definition σ-subadditiv ist, folgt 2 nach Satz 1.36, dass µ∗ auch σ-additiv ist. Lemma 1.52. Ist µ∗ ein äußeres Maß, so ist M(µ∗ ) eine σ-Algebra. Speziell ist µ∗ ein Maß auf M(µ∗ ). Beweis. Nach Lemma 1.50 ist M(µ∗ ) eine Algebra, also insbesondere schnittstabil. Nach Satz 1.18 reicht es zu zeigen, dass M(µ∗ ) ein Dynkin-System ist. ∞ Seien also A1 , A2 , . . . ∈ M(µ∗ ) paarweise disjunkt und A := An . Zu zeigen n=1 ist A ∈ M(µ∗ ), also µ∗ (A ∩ E) + µ∗ (Ac ∩ E) ≤ µ∗ (E) Setze Bn = n für jedes E ∈ 2Ω . (1.11) Ai für jedes n ∈ N. Es gilt für jedes n ∈ N i=1 µ∗ (E ∩ Bn+1 ) = µ∗ (E ∩ Bn+1 ) ∩ Bn + µ∗ (E ∩ Bn+1 ) ∩ Bnc = µ∗ (E ∩ Bn ) + µ∗ (E ∩ An+1 ), n und induktiv µ∗ (E ∩ Bn ) = i=1 µ∗ (E ∩ Ai ). Wegen der Monotonie von µ∗ folgt µ∗ (E) = µ∗ (E ∩ Bn ) + µ∗ (E ∩ Bnc ) ≥ µ∗ (E ∩ Bn ) + µ∗ (E ∩ Ac ) = n µ∗ (E ∩ Ai ) + µ∗ (E ∩ Ac ). i=1 Indem wir n → ∞ gehen lassen, folgt mit der σ-Subadditivität von µ∗ µ∗ (E) ≥ ∞ µ∗ (E ∩ Ai ) + µ∗ (E ∩ Ac ) ≥ µ∗ (E ∩ A) + µ∗ (E ∩ Ac ). i=1 Also gilt (1.11), und der Beweis ist komplett. 2 Wir zeigen nun einen Satz, der mit schwächeren Voraussetzungen auskommt als der Satz von Carathéodory (Satz 1.41) und diesen impliziert. Satz 1.53 (Fortsetzungssatz für Maße). Sei A ein Semiring und µ : A → [0, ∞] eine additive, σ-subadditive, σ-endliche Mengenfunktion mit µ(∅) = 0. Dann existiert ein eindeutig bestimmtes, σ-endliches Maß µ : σ(A) → [0, ∞] mit µ (A) = µ(A) für jedes A ∈ A. 24 1 Grundlagen der Maßtheorie Beweis. Da A schnittstabil ist, folgt die Eindeutigkeit aus Lemma 1.42. Um die Existenz zu zeigen, definieren wir wie in Lemma 1.47 ∗ µ (A) := inf µ(F ) : F ∈ U(A) für jedes A ∈ 2Ω . F ∈F Nach Lemma 1.31(ii) ist µ monoton, also ist µ∗ nach Lemma 1.47 ein äußeres Maß und µ∗ (A) = µ(A) für jedes A ∈ A. Wir müssen zeigen, dass M(µ∗ ) ⊃ σ(A) gilt. Da M(µ∗ ) eine σ-Algebra ist (Lemma 1.52), reicht es, A ⊂ M(µ∗ ) zu zeigen. Seien also A ∈ A und E ∈ 2Ω mit µ∗ (E) < ∞. Sei ε > 0. Dann gibt es E1 , E2 , . . . ∈ A mit E⊂ ∞ En ∞ und n=1 µ(En ) ≤ µ∗ (E) + ε. n=1 Setze Bn := En ∩ A ∈ A . Da A ein Semiring ist, gibt es zu jedem n ∈ N ein m n k Cn . Also ist mn ∈ N sowie Cn1 , . . . , Cnmn ∈ A mit En \ A = En \ Bn = k=1 E∩A⊂ ∞ n=1 Bn , E ∩ Ac ⊂ ∞ m n n=1 k=1 Cnk En = Bn und m n Cnk . k=1 µ∗ ist σ-subadditiv, und nach Voraussetzung ist µ additiv. Wegen µ∗ ≤ µ (es gilt A sogar Gleichheit, wie wir gleich sehen) folgt µ∗ (E ∩ A) + µ∗ (E ∩ Ac ) ≤ ∞ µ∗ (Bn ) + n=1 ≤ ∞ = n=1 = ∞ µ∗ n=1 µ(Bn ) + n=1 ∞ ∞ m n µ(Cnk ) k=1 mn ∞ µ(Cnk ) n=1 k=1 µ(Bn ) + mn µ(Cnk ) k=1 µ(En ) ≤ µ∗ (E) + ε. n=1 Daher ist µ∗ (E ∩ A) + µ∗ (E ∩ Ac ) ≤ µ∗ (E) und damit A ∈ M(µ∗ ), also ist A ⊂ M(µ∗ ). Setze nun µ : σ(A) → [0, ∞], A → µ∗ (A). Nach Lemma 1.51 ist µ ein Maß und µ ist σ-endlich, weil µ σ-endlich ist. 2 Beispiel 1.54 (Lebesgue-Maß, Fortsetzung von Beispiel 1.39). Wir wollen das auf den Quadern A = {(a, b] : a, b ∈ Rn , a < b} eingeführte Volumen µ((a, b]) = 1.3 Fortsetzung von Maßen 25 n − ai ) zu einem Maß auf der Borel’schen σ-Algebra B(Rn ) fortsetzen. Um die Voraussetzungen von Satz 1.53 zu prüfen, müssen wir nur noch zeigen, dass µ σ-subadditiv ist. Seien also (a, b], (a(1), b(1)], (a(2), b(2)], . . . ∈ A mit i=1 (bi ∞ (a, b] ⊂ (a(k), b(k)]. k=1 Wir müssen zeigen, dass µ((a, b]) ≤ ∞ (1.12) µ((a(k), b(k)]). k=1 Hierzu benutzen wir ein Kompaktheitsargument, um (1.12) auf die endliche Additivität zurück zu führen. Sei also ε > 0, und sei für jedes k ∈ N ein bε (k) > b(k) so gewählt, dass µ((a(k), bε (k)]) ≤ µ((a(k), b(k)]) + ε 2−k−1 . Ferner sei aε ∈ (a, b) so gewählt, dass µ((aε , b]) ≥ µ((a, b]) − 2ε . Nun ist [aε , b] kompakt und ∞ (a(k), bε (k)) ⊃ k=1 ∞ (a(k), b(k)] ⊃ (a, b] ⊃ [aε , b]. k=1 K0 Also existiert ein K0 mit k=1 (a(k), bε (k)) ⊃ (aε , b]. Da µ (endlich) subadditiv ist (Lemma 1.31(iii)), folgt 0 ε ε µ((a(k), bε (k)]) µ((a, b]) ≤ + µ((aε , b]) ≤ + 2 2 K k=1 K0 ∞ −k−1 ε ≤ + ε2 + µ((a(k), b(k)]) ≤ ε + µ((a(k), b(k)]). 2 k=1 k=1 Da ε > 0 beliebig war, folgt (1.12) und damit die σ-Subadditivität von µ. 3 Zusammen mit Satz 1.53 haben wir den folgenden Satz gezeigt. Satz 1.55 (Lebesgue-Maß). Es existiert ein eindeutig bestimmtes Maß λn auf (Rn , B(Rn )) mit der Eigenschaft λn ((a, b]) = n (bi − ai ) für alle a, b ∈ Rn mit a < b. i=1 λn heißt Lebesgue-Maß auf (Rn , B(Rn )), oder Lebesgue-Borel-Maß. 26 1 Grundlagen der Maßtheorie Beispiel 1.56 (Lebesgue-Stieltjes-Maß). Sei Ω = R und A = {(a, b] : a, b ∈ R, a ≤ b}. A ist ein Semiring und σ(A) = B(R), wo B(R) die Borel’sche σAlgebra auf R ist. Ferner sei F : R → R monoton wachsend und rechtsseitig stetig. Wir definieren eine Mengenfunktion µ̃F : A → [0, ∞), (a, b] → F (b) − F (a). Offensichtlich ist µ̃F (∅) = 0, und µ̃F ist additiv. ∞ Seien (a, b], (a(1), b(1)], (a(2), b(2)], . . . ∈ A mit (a, b] ⊂ n=1 (a(n), b(n)]. Sei ε > 0, und sei aε ∈ (a, b) so gewählt, dass F (aε ) − F (a) < ε/2. Dies geht, weil F als rechtsstetig angenommen wurde. Ferner sei für jedes k ∈ N ein bε (k) > b(k) so gewählt, dass F (bε (k)) − F (b(k))< ε 2−k−1 . Wie in Beispiel 1.54 kann man ∞ jetzt zeigen, dass µ̃F ((a, b]) ≤ ε + k=1 µ̃F ((a(k), b(k)]). Es folgt, dass µ̃F σsubadditiv ist. Nach Satz 1.53 können wir µ̃F auf eindeutige Weise zu einem σ3 endlichen Maß µF auf B(R) fortsetzen. Definition 1.57 (Lebesgue-Stieltjes-Maß). Das Maß µF auf (R, B(R)) mit µF ((a, b]) = F (b) − F (a) für alle a, b ∈ R mit a < b heißt Lebesgue-Stieltjes-Maß zur Funktion F . Beispiel 1.58. Wichtige Spezialfälle für das Lebesgue-Stieltjes-Maß sind: (i) Ist F (x) = x, so ist µF = λ1 das Lebesgue-Maß auf R. x f (t) dt für x ∈ R. Dann ist µF (ii) Sei f : R → [0, ∞) stetig und F (x) = 0 die Fortsetzung des in Beispiel 1.30(ix) definierten Prämaßes mit Dichte f . ∞ (iii) Sind x1 , x2 , . . . ∈ R und αn ≥ 0 für n ∈ N mit n=1 αn < ∞, so gehört zu ∞ ∞ F = n=1 αn ½[xn ,∞) das endliche Maß µF = n=1 αn δxn . ∞ (iv) Sind x1 , x2 , . . . ∈ R, so ist µ = n=1 δxn ein σ-endliches Maß. µ ist genau dann ein Lebesgue-Stieltjes-Maß, wenn die Folge (xn )n∈N keinen Häufungspunkt hat. Hat nämlich (xn )n∈N keinen Häufungspunkt, so ist nach dem Satz von BolzanoWeierstraß #{n ∈ N : xn ∈ [−K, K]} < ∞ für jedes K > 0. Setzen wir F (x) = #{n ∈ N : xn ∈ [0, x]} für x ≥ 0 und F (x) = −#{n ∈ N : xn ∈ [x, 0)}, so ist µ = µF . Ist nun andererseits µ ein Lebesgue-Stieltjes-Maß, also µ = µF für ein F , dann ist #{n ∈ N : xn ∈ (−K, K]} = F (K) − F (−K) < ∞ für jedes K > 0, also hat (xn )n∈N keinen Häufungspunkt. (v) Gilt lim F (x) − F (−x) = 1, so ist µF ein W-Maß. x→∞ Den Fall, wo µF ein W-Maß ist, wollen wir noch weiter untersuchen. 3 1.3 Fortsetzung von Maßen 27 Definition 1.59 (Verteilungsfunktion). Eine rechtsseitig stetige, monoton wachsende Funktion F : R → [0, 1] mit F (−∞) := lim F (x) = 0 und F (∞) := x→−∞ lim F (x) = 1 heißt Verteilungsfunktion. Gilt statt F (∞) = 1 lediglich F (∞) ≤ x→∞ 1, so heißt F uneigentliche Verteilungsfunktion. Ist µ ein (Sub-)W-Maß auf (R, B(R)), so heißt Fµ : x → µ((−∞, x]) die Verteilungsfunktion von µ. Offenbar ist Fµ rechtsseitig stetig und F (−∞) = 0, weil µ stetig von oben und endlich ist (Satz 1.36). Auf Grund der Stetigkeit von unten ist F (∞) = µ(R), also ist Fµ tatsächlich eine (uneigentliche) Verteilungsfunktion, wenn µ ein (Sub-)WMaß ist. Die Argumentation aus Beispiel 1.56 liefert nun den folgenden Satz. Satz 1.60. Die Abbildung µ → Fµ ist eine Bijektion von der Menge der W-Maße auf (R, B(R)) auf die Menge der Verteilungsfunktionen, beziehungsweise von der Menge der Sub-W-Maße auf die der uneigentlichen Verteilungsfunktionen. Wir sehen also, dass jedes endliche Maß auf (R, B(R)) ein Lebesgue-Stieltjes-Maß für eine gewisse Funktion F ist. Für σ-endliche Maße ist dies im Allgemeinen falsch, wie wir in Beispiel 1.58(iv) gesehen haben. Wir kommen nun zu einem Satz, der Satz 1.55 mit dem Lebesgue-Stieltjes-Maß kombiniert. Später werden wir sehen, dass dieser Satz in größerer Allgemeinheit gültig ist. Speziell kann man auf die Bedingung verzichten, dass die einzelnen Faktoren vom Lebesgue-Stieltjes-Typ sind. Satz 1.61 (Endliche Produkte von Maßen). Sei n ∈ N, und seien µ1 , . . . , µn endliche Maße oder, allgemeiner, Lebesgue-Stieltjes-Maße auf (R, B(R)). Dann existiert ein eindeutig bestimmtes, σ-endliches Maß µ auf (Rn , B(Rn )) mit µ((a, b]) = n µi ((ai , bi ]) für alle a, b ∈ Rn mit a < b. i=1 Wir nennen µ =: n µi das Produktmaß zu den Maßen µ1 , . . . , µn . i=1 Beweis. Dies geht völlig analog zum Beweis von Satz 1.55. Man muss sich vergewissern, dass die Intervalle (a, bε ] und so weiter, so gewählt werden können, dass µ((a, bε ]) < µ((a, b]) + ε. Hierzu wird die Rechtsstetigkeit der zu den µi gehörigen 2 wachsenden Funktion Fi verwendet. Wir überlassen die Details zur Übung. Bemerkung 1.62. Wir werden später in Satz 14.14 sehen, dass die Aussage auch für beliebige σ-endliche Maße µ1 , . . . , µn auf beliebigen (auch unterschiedlichen) 28 1 Grundlagen der Maßtheorie Messräumen gilt. Wir können auch unendliche (sogar überabzählbare) Produkte betrachten, wenn wir voraussetzen, dass alle Faktoren Wahrscheinlichkeitsräume sind (Satz 14.36). 3 Beispiel 1.63 (Unendliches Produktmaß, Fortsetzung von Beispiel 1.40). Sei E eine endliche Menge und Ω = E N der Raum der Folgen mit Werten in E. Ferner sei (pe )e∈E ein Wahrscheinlichkeitsvektor. Der auf A = {[ω1 , . . . , ωn ] : ω1 , . . . , ωn ∈ E, n ∈ N} definierte Inhalt µ([ω1 , . . . , ωn ]) = n p ωi i=1 soll nun zu einem Maß auf σ(A) fortgesetzt werden. Um die Voraussetzungen von Satz 1.53 zu prüfen, müssen wir zeigen, dass µ σ-subadditiv ist. Wie im vorangehenden Beispiel geht dies mit Hilfe eines Kompaktheitsarguments. ∞ Seien also A, A1 , A2 , . . . ∈ A und A ⊂ n=1 An . Es reicht zu zeigen, dass es ein N ∈ N gibt mit der Eigenschaft A⊂ N An . (1.13) n=1 Dann ist nämlich aufgrund der endlichen Subadditivität von µ (Lemma 1.31(iii)) N ∞ µ(An ) ≤ µ(An ), also ist µ σ-subadditiv. schon µ(A) ≤ n=1 n=1 Wir geben nun zwei Beweise für (1.13) an. 1. Beweis Wie in Beispiel 1.40 angemerkt, ist Ω mit der von der Metrik d in (1.9) erzeugten Produkttopologie kompakt, und jedes A ∈ A ist abgeschlossen und damit auch kompakt. Da jedes der An zugleich offen ist, gibt es eine endliche Teilüberdeckung von A, mithin gilt (1.13). 2. Beweis Wir zeigen nun auf elementare Weise die Gültigkeit von (1.13). Das Vorgehen imitiert den Beweis dafür, dass Ω kompakt ist. Wir setzen Bn := n A \ i=1 Ai , nehmen an, dass Bn = ∅ für jedes n ∈ N und führen dies zum Widerspruch. Nach dem Dirichlet’schen Schubfachprinzip (E ist endlich) können wir ein ω1 ∈ E auswählen, sodass [ω1 ] ∩ Bn = ∅ für unendlich viele n ∈ N. Wegen B1 ⊃ B2 ⊃ . . . folgt [ω1 ] ∩ Bn = ∅ für jedes n ∈ N. Wähle nun sukzessive ω2 , ω3 , . . . ∈ E so aus, dass [ω1 , . . . , ωk ] ∩ Bn = ∅ für alle k, n ∈ N. Bn ist disjunkte Vereinigung von gewissen Mengen Cn,1 , . . . , Cn,mn ∈ A. Daher existiert zu jedem n ∈ N ein in ∈ {1, . . . , mn } mit [ω1 , . . . , ωk ] ∩ Cn,in = ∅ für unendlich viele k ∈ N. Wegen [ω1 ] ⊃ [ω1 , ω2 ] ⊃ . . . folgt 1.3 Fortsetzung von Maßen [ω1 , . . . , ωk ] ∩ Cn,in = ∅ 29 für alle k, n ∈ N. ist ω = (ω1 , ω2 , . . .) ∈ Für festes n ∈ N und großes k ist [ω1 , . . . , ωk ] ⊂ Cn,in , also ∞ 3 Cn,in ⊂ Bn . Es folgt im Widerspruch zur Annahme, dass n=1 Bn = ∅. Zusammen mit Satz 1.53 haben wir den folgenden Satz gezeigt. Satz 1.64 (Produktmaß, Bernoulli-Maß). Sei E eine endliche, nichtleere Menge und Ω = E N sowie (pe )e∈E ein Wahrscheinlichkeitsvektor. Dann gibt es ein eindeutig bestimmtes W-Maß µ auf σ(A) = B(Ω) mit µ([ω1 , . . . , ωn ]) = n p ωi für alle ω1 , . . . , ωn ∈ E und n ∈ N. i=1 Wir nennen µ das Produktmaß oder Bernoulli-Maß auf Ω mit Gewichten (pe )e∈E . ⊗N := µ. Wir schreiben auch e∈E pe δe Ferner nennen wir (2E )⊗N := σ(A) die Produkt-σ-Algebra auf Ω. Auf Produktmaße gehen wir systematisch noch einmal in Kapitel 14 ein. Der Fortsetzungssatz liefert uns einen abstrakten Existenz- und Eindeutigkeitssatz für Maße, die wir zuvor nur auf einem Semiring A definiert hatten. Der folgende Satz zeigt, wie gut wir das Maß von σ(A)-messbaren Mengen durch endliche, beziehungsweise abzählbare Operationen mit Mengen aus A annähern können. Wir schreiben A B := (A \ B) ∪ (B \ A), für A, B ⊂ Ω, (1.14) für die symmetrische Differenz zweier Mengen A und B. Satz 1.65 (Approximationssatz für Maße). Sei A ⊂ 2Ω ein Semiring und µ ein Maß auf σ(A), das σ-endlich auf A ist. (i) Zu A ∈ σ(A) und ε > 0gibt es paarweise disjunkte Mengen A1 , A2 , . . . ∈ A ∞ ∞ mit A ⊂ An und µ An \ A < ε. n=1 n=1 (ii) Zu A ∈ σ(A) mit µ(A) < ∞ und ε > 0 gibt es n ∈ N und paarweise n disjunkte Mengen A1 , . . . , An ∈ A mit µ A Ak < ε. k=1 ∗ (iii) Zu jedem A ∈ M(µ ) gibt es A− , A+ ∈ σ(A) mit A− ⊂ A ⊂ A+ und µ(A+ \ A− ) = 0. Bemerkung 1.66. Nach (iii) gelten (i) und (ii) auch für A ∈ M(µ∗ ) (mit µ∗ statt µ). Ist A eine Algebra, so gilt in (ii) für jedes A ∈ A sogar inf µ(A B) = 0. 3 B∈A 30 1 Grundlagen der Maßtheorie Beweis. (ii) Da µ auf σ(A) mit dem äußeren Maß µ∗ übereinstimmt und µ(A) endlich ist, gibt es nach Definition von µ∗ (siehe Lemma 1.47) eine Überdeckung B1 , B2 , . . . ∈ A von A mit ∞ µ(A) ≥ µ(Bi ) − ε/2. i=1 Sei n ∈ N mit ∞ µ(Bi ) < i=n+1 (dies existiert, weil µ(A) < ∞). Für je drei ε 2 Mengen C, D, E gilt C D = (D \ C) ∪ (C \ D) ⊂ (D \ C) ∪ (C \ (D ∪ E)) ∪ E ⊂ (C (D ∪ E)) ∪ E. ∞ n Mit C = A, D = i=1 Bi und E = i=n+1 Bi erhalten wir ∞ n ∞ µ A Bi ≤ µ A Bi + µ Bi i=1 i=1 ≤µ ∞ i=n+1 Bi − µ(A) + i=1 Schreibe nun n Bi = B1 i=1 n i−1 (Bi \ Bj ) =: i=2 j=1 ε ≤ ε. 2 k Ai i=1 für ein gewisses k ∈ N und gewisse A1 , . . . , Ak ∈ A (Semiring-Eigenschaft). (i) Sei A ∈ σ(A) und En ↑ Ω, En ∈ σ(A) mit µ(En ) < ∞ für jedes n ∈ N. Wähle zu n ∈ N eine Überdeckung (Bn,m )m∈N von A ∩ En mit ∞ µ(A ∩ En ) ≥ µ(Bn,m ) − 2−n ε. m=1 (Dies ist möglich nach Definition des äußeren Maßes µ∗ , das auf A mit µ über∞ ∞ einstimmt.) Schreibe Bn,m = An für gewisse An ∈ A, n ∈ N m,n=1 n=1 (Übung 1.1.1). Dann ist ∞ ∞ ∞ µ An \ A = µ Bn,m \ A n=1 n=1 m=1 ≤µ ∞ ∞ Bn,m \ (A ∩ En ) n=1 m=1 ≤ ∞ n=1 ∞ m=1 µ(Bn,m ) − µ(A ∩ En ) ≤ ε. 1.3 Fortsetzung von Maßen 31 (iii) Sei A ∈ M(µ∗ ) und (En )n∈N wie oben. Wähle zu m, n ∈ N ein An,m ∈ −n σ(A) mit An,m ⊃ A ∩ En und µ∗ (An,m ) ≤ µ∗ (A ∩ En ) + 2m . ∞ 1 Setze Am := An,m ∈ σ(A). Dann ist Am ⊃ A und µ∗ (Am \ A) ≤ m . Setze A+ := ∞ n=1 Am . Dann ist σ(A) A+ ⊃ A und µ∗ (A+ \ A) = 0. Wähle analog m=1 (A− )c ∈ σ(A) mit (A− )c ⊃ Ac und µ∗ ((A− )c \ Ac ) = 0. Dann ist A+ ⊃ A ⊃ A− und µ(A+ \ A− ) = µ∗ (A+ \ A− ) = µ∗ (A+ \ A) + µ∗ (A \ A− ) = 0. 2 Bemerkung 1.67. (Regularität von Maßen) (Vergleiche auch Satz 13.6 auf Seite 236.) Sei λn das Lebesgue-Maß auf (Rn , B(Rn )). Sei A der Semiring der Quader der Form [a, b) ⊂ Rn . Nach Satz 1.23 ist B(Rn ) = σ(A). Nach dem Approximationssatz gibt es zu A ∈ B(Rn ) und ε > 0 abzählbar viele A1 , A2 , . . . ∈ A mit ∞ Ai \ A < ε/2. λn i=1 Zu jedem Ai existiert ein offener Quader Bi ⊃ Ai mit λn (Bi \ Ai ) < ε 2−i−1 ∞ n (Stetigkeit von oben von λ ). Daher ist U = i=1 Bi eine offene Menge U ⊃ A mit λn (U \ A) < ε. Diese Eigenschaft von λn heißt Regularität von außen. Ist λn (A) endlich, so gibt es zu ε > 0 eine kompakte Menge K ⊂ Rn mit λn (A \ K) < ε. Diese Eigenschaft von λn heißt Regularität von innen. In der Tat: Sei N > 0 mit λn (A)−λn (A∩[−N, N ]n ) < ε/2. Wähle eine offene Menge U ⊃ (A∩[−N, N ]n )c mit λn (U \ (A ∩ [−N, N ]n )c ) < ε/2 und setze K := [−N, N ]n \ U ⊂ A. 3 Definition 1.68 (Nullmenge). Sei (Ω, A, µ) ein Maßraum. (i) Eine Menge A ∈ A heißt µ-Nullmenge, oder kurz Nullmenge, falls µ(A) = 0. Mit Nµ bezeichnen wir das System aller Teilmengen von µ-Nullmengen. (ii) Sei E(ω) eine Eigenschaft, die dem Punkt ω ∈ Ω zukommen kann. Wir sagen, dass E µ-fast überall (f.ü.) gilt oder für fast alle ω, falls es eine Nullmenge N gibt, sodass E(ω) für jedes ω ∈ Ω \ N gilt. Ist A ∈ A, so sagen wir, dass E fast überall auf A gilt, falls es eine Nullmenge N gibt, sodass E(ω) für jedes ω ∈ A \ N gilt. Ist µ = P ein W-Maß, so sagen wir dann auch, dass E P -fast sicher (f.s.) gilt, beziehungsweise fast sicher auf A. (iii) Sind A, B ∈ A, so schreiben wir A = B N gibt mit A B ⊂ N . (mod µ), falls es eine Nullmenge 32 1 Grundlagen der Maßtheorie Definition 1.69. Ein Maßraum (Ω, A, µ) heißt vollständig, falls Nµ ⊂ A. Bemerkung 1.70 (Vervollständigung eines Maßraums). Sei (Ω, A, µ) ein Maßraum. Es gibt genau eine kleinste σ-Algebra A∗ ⊃ A und eine Fortsetzung µ∗ von µ auf A∗ , sodass (Ω, A∗ , µ∗ ) vollständig ist. (Ω, A∗ , µ∗ ) heißt die Vervollständigung von (Ω, A, µ). In der Notation des Beweises von Satz 1.53 ist Ω, M(µ∗ ), µ∗ M(µ∗ ) diese Vervollständigung. Ferner ist M(µ∗ ) = σ(A ∪ Nµ ) = {A ∪ N : A ∈ A, N ∈ Nµ } und µ∗ (A ∪ N ) = µ(A) für jedes A ∈ A und N ∈ Nµ . Da wir diese Aussagen im Folgenden nicht benötigen werden, verzichten wir auf den Beweis und verweisen auf die gängigen Maßtheoriebücher, etwa [43]. Beispiel 1.71. Ist λ das Lebesgue-Maß (genauer: das Lebesgue-Borel-Maß) auf (Rn , B(Rn )), so lässt sich λ eindeutig fortsetzen zu einem Maß λ∗ auf B ∗ (Rn ) = σ(B(Rn ) ∪ N ), wo N die Menge der Teilmengen der Lebesgue-Borel’schen Nullmengen bezeichnet. B ∗ (Rn ) heißt σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen. Zur Unterscheidung wird manchmal λ das Lebesgue-Borel-Maß genannt und λ∗ das LebesgueMaß. Wir werden diese Unterscheidung im Folgenden aber nicht benötigen. 3 Beispiel 1.72. Sei µ = δω auf einem Messraum (Ω, A). Ist {ω} ∈ A, so ist die Vervollständigung A∗ = 2Ω , µ∗ = δω . Im Extremfall der trivialen σ-Algebra A = {∅, Ω} hingegen ist Nµ = {∅}, also die Vervollständigung A∗ = {∅, Ω}, µ∗ = δω . Man beachte, dass man auf dieser trivialen σ-Algebra die Dirac-Maße zu verschiedenen Punkten aus Ω nicht unterscheiden kann. 3 Definition 1.73. Sei (Ω, A, µ) ein Messraum und Ω ∈ A. Dann wird durch µ (A) := µ(A) für A ∈ A mit A ⊂ Ω Ω ein Maß auf der Spur-σ-Algebra A schränkung von µ auf Ω . Ω definiert. Dieses Maß nennen wir die Ein- Beispiel 1.74. Die Einschränkung des Lebesgue-Borel-Maßes λ von (R, B(R)) auf [0, 1] ist ein W-Maß auf ([0, 1], B(R) ). Allgemeiner nennen wir für messbares [0,1] A ∈ B(R) die Einschränkung λ das Lebesgue-Maß auf A. Oftmals wird als SymA bol wieder λ verwendet, weil wir nicht zu viele kleinliche Unterscheidungen treffen wollen. Wir sehen später (Korollar 1.84), dass B(R) = B(A), wobei B(A) die Borel’sche A σ-Algebra auf A ist, die von den in A (relativ) offenen Mengen erzeugt wird. 3 1.4 Messbare Abbildungen 33 Beispiel 1.75 (Gleichverteilung). Ist A ∈ B(Rn ) mit n-dimensionalem LebesgueMaß λn (A) ∈ (0, ∞), so wird durch µ(B) := λn (B) λn (A) für B ∈ B(Rn ), B ⊂ A, ein W-Maß auf B(Rn ) definiert. Wir nennen µ die uniforme Verteilung oder A 3 Gleichverteilung auf A und schreiben UA := µ. Übung Man zeige die folgende Verallgemeinerung von Beispiel 1.58(iv): Ein 1.3.1. ∞ ist genau dann ein Lebesgue-Stieltjes Maß zu einer geeigneten Maß n=1 αn δxn ♣ Funktion F , wenn n: |xn |≤K αn < ∞ für jedes K > 0 gilt. Übung 1.3.2. Sei Ω eine überabzählbare Menge und ω0 ∈ Ω ein beliebiges Element. Sei A = σ({ω} : ω ∈ {ω0 }). (i) Charakterisiere A ähnlich wie in Übung 1.1.4 (Seite 11). (ii) Zeige, dass (Ω, A, δω0 ) vollständig ist. ♣ Übung 1.3.3. Sei (µn )n∈N eine Folge von endlichen Maßen auf dem Messraum (Ω, A). Für jedes A ∈ A existiere der Grenzwert µ(A) := lim µn (A). n→∞ Man zeige: µ ist ein Maß auf (Ω, A). Hinweis: Zu zeigen ist insbesondere die ∅-Stetigkeit von µ. ♣ 1.4 Messbare Abbildungen Eine Zwangshandlung in der Mathematik ist es, Homomorphismen zwischen Objekten anzugeben, also strukturerhaltende Abbildungen. Für topologische Räume sind dies die stetigen Abbildungen, für Messräume die messbaren Abbildungen. Seien im Folgenden stets (Ω, A) und (Ω , A ) Messräume. Definition 1.76 (Messbare Abbildungen). (i) Eine Abbildung X : Ω → Ω heißt A – A -messbar (oder kurz: messbar), falls X −1 (A ) := {X −1 (A ) : A ∈ A } ⊂ A ist, falls also X −1 (A ) ∈ A für jedes A ∈ A . Ist X messbar, so schreiben wir auch X : (Ω, A) → (Ω , A ). (ii) Ist Ω = R und A = B(R) die Borel’sche σ-Algebra auf R, so heißt X : (Ω, A) → (R, B(R)) kurz eine reelle A-messbare Abbildung. 34 1 Grundlagen der Maßtheorie Beispiel 1.77. (i) Die Identität id : Ω → Ω ist A – A-messbar. (ii) Ist A = 2Ω oder A = {∅, Ω }, so ist jede Abbildung X : Ω → Ω schon A – A -messbar. (iii) Sei A ⊂ Ω. Die Indikatorfunktion ½A : Ω → {0, 1} ist genau dann A – 3 2{0,1} -messbar, wenn A ∈ A. Satz 1.78 (Erzeugte σ-Algebra). Sei (Ω , A ) ein Messraum und Ω eine nichtleere Menge sowie X : Ω → Ω eine Abbildung. Das Urbild X −1 (A ) := {X −1 (A ) : A ∈ A } (1.15) ist die kleinste σ-Algebra, bezüglich der X messbar ist. Wir nennen σ(X) := X −1 (A ) die von X erzeugte σ-Algebra auf Ω. 2 Beweis. Übung! Wir wollen nun σ-Algebren betrachten, die von mehreren Abbildungen erzeugt werden. Definition 1.79 (Erzeugte σ-Algebra). Sei Ω eine nichtleere Menge. Sei I eine beliebige Indexmenge, und für jedes i ∈ I sei (Ωi , Ai ) ein Messraum sowie Xi : Ω → Ωi eine beliebige Abbildung. Dann heißt −1 σ(Xi , i ∈ I) := σ σ(Xi ) = σ Xi (Ai ) i∈I i∈I die von (Xi , i ∈ I) erzeugte σ-Algebra auf Ω. Dies ist die kleinste σ-Algebra, bezüglich der jedes Xi messbar ist. Wie bei stetigen oder linearen Abbildungen gibt es eine Verknüpfungseigenschaft. Satz 1.80 (Verknüpfung von Abbildungen). Sind (Ω, A), (Ω , A ) und (Ω , A ) Messräume sowie X : Ω → Ω messbar und X : Ω → Ω messbar, so ist die Abbildung Y := X ◦ X : Ω → Ω , ω → X (X(ω)) messbar bezüglich A – A . Beweis. Es ist Y −1 (A ) = X −1 ((X )−1 (A )) ⊂ X −1 (A ) ⊂ A. 2 Praktisch kann man die Messbarkeit einer Abbildung X kaum prüfen, indem man sämtliche Urbilder X −1 (A ), A ∈ A auf Messbarkeit hin untersucht. Dafür sind die meisten σ-Algebren A einfach zu groß. Glücklicherweise reicht hier die Betrachtung eines Erzeugers von A aus: 1.4 Messbare Abbildungen 35 Satz 1.81 (Messbarkeit auf einem Erzeuger). Für jedes System E ⊂ A von A -messbaren Mengen gilt σ(X −1 (E )) = X −1 (σ(E )) und damit X ist A – σ(E )-messbar ⇐⇒ X −1 (E ) ∈ A für jedes E ∈ E . Ist speziell σ(E ) = A , dann gilt X ist A – A -messbar ⇐⇒ X −1 (E ) ⊂ A. Beweis. Offenbar ist X −1 (E ) ⊂ X −1 (σ(E )) = σ(X −1 (σ(E ))). Also ist auch σ(X −1 (E )) ⊂ X −1 (σ(E )). Für die andere Inklusion betrachten wir das Mengensystem A0 := A ∈ σ(E ) : X −1 (A ) ∈ σ(X −1 (E )) und zeigen zunächst, dass A0 eine σ-Algebra ist, indem wir die Punkte (i)-(iii) aus Definition 1.2 prüfen: (i) Offensichtlich ist Ω ∈ A0 . (ii) (Komplementstabilität) Ist A ∈ A0 , so ist X −1 ((A )c ) = (X −1 (A ))c ∈ σ(X −1 (E )), also (A )c ∈ A0 . (iii) (σ-∪-Stabilität) Seien A1 , A2 , . . . ∈ A0 . Dann ist ∞ ∞ X −1 An = X −1 (An ) ∈ σ(X −1 (E )), also ist ∞ n=1 An n=1 ∈ n=1 A0 . Wegen E ⊂ A0 ist A0 = σ(E ), also X −1 (A ) ∈ σ(X −1 (E )) für jedes A ∈ σ(E ) 2 und damit X −1 (σ(E )) ⊂ σ(X −1 (E )). Korollar 1.82 (Messbarkeit von verknüpften Abbildungen). Sei I eine nichtleere Indexmenge sowie (Ω, A), (Ω , A ) und (Ωi , Ai ) Messräume, i ∈ I. Sei ferner (Xi : i ∈ I) eine Familie messbarer Abbildungen Xi : Ω → Ωi mit der Eigenschaft A = σ(Xi : i ∈ I). Dann gilt: Eine Abbildung Y : Ω → Ω ist genau dann A-A messbar, wenn Xi ◦ Y messbar ist bezüglich A-Ai für jedes i ∈ I. Beweis. Ist Y messbar, so ist nach Satz 1.80 jedes Xi ◦ Y messbar. Sei nun jede der zusammengesetzten Abbildungen Xi ◦ Y messbar bezüglich A-Ai . Die Menge E := {Xi−1 (A ) : A ∈ Ai , i ∈ I} ist nach Voraussetzung ein Erzeuger von A , und es gilt Y −1 (A ) ∈ A für jedes A ∈ E wegen der Messbarkeit aller Xi ◦ Y . Nach Satz 1.81 ist also Y messbar. 2 36 1 Grundlagen der Maßtheorie Wir erinnern an den Begriff der Spur eines Mengensystems aus Definition 1.25. Korollar 1.83 (Spur der erzeugten σ-Algebra). Ist E ⊂ 2Ω und A ⊂ Ω nichtleer, so gilt σ E = σ(E) A A Beweis. Sei X : A → Ω, ω → ω die Inklusionsabbildung. Dann ist X −1 (B) = A ∩ B für jedes B ∈ Ω. Nach Satz 1.81 ist σ E = σ({E ∩ A : E ∈ E}) A = σ({X −1 (E) : E ∈ E}) = σ(X −1 (E)) = X −1 (σ(E)) = {A ∩ B : B ∈ σ(E)} = σ(E) . 2 A Zur Erinnerung: Für eine Teilmenge A ⊂ Ω eines topologischen Raums (Ω, τ ) ist τ die Topologie der in A relativ offenen Mengen. Mit B(Ω, τ ) = σ(τ ) bezeichnen A wir die Borel’sche σ-Algebra auf (Ω, τ ). Korollar 1.84 (Spur der Borel’schen σ-Algebra). Sei (Ω, τ ) ein topologischer Raum und A ⊂ Ω eine beliebige Teilmenge von Ω. Dann gilt B(Ω, τ ) = B A, τ . A A Beispiel 1.85. (i) Ist Ω abzählbar, so ist X : Ω → Ω genau dann A – 2Ω messbar, wenn X −1 ({ω }) ∈ A für jedes ω ∈ Ω . Für überabzählbare Ω ist dies im Allgemeinen falsch. (Man betrachte etwa Ω = Ω = R, A = B(R), X(ω) = ω für jedes ω ∈ Ω. Offenbar ist X −1 (ω) = {ω} ∈ B(R). Ist andererseits A ⊂ R nicht in B(R), so ist A ∈ 2R , jedoch X −1 (A) ∈ B(R).) (ii) Für x ∈ R verabreden wir folgende Schreibweisen für das Ab- und Aufrunden x := max{k ∈ Z : k ≤ x} und x :== min{k ∈ Z : k ≥ x}. (1.16) Die Abbildungen R → Z, x → x und x → x sind messbar bezüglich B(R) – 2Z , denn für jedes k ∈ Z sind die Urbilder {x ∈ R : x = k} = [k, k + 1) und {x ∈ R : x = k} = (k − 1, k] in B(R). Nach dem Verknüpfungssatz (Satz 1.80) sind dann für jede messbare Abbildung f : (Ω, A) → (R, B(R)) auch die Abbildungen f und f messbar bezüglich A – 2Z . (iii) Eine Abbildung X : Ω → Rd ist genau dann A – B(Rd )-messbar, wenn X −1 ((−∞, a]) ∈ A für jedes a ∈ Rd , denn σ((−∞, a], a ∈ Rd ) = B(Rd ) nach Satz 1.23. Analog gilt dies auch für die anderen Mengensysteme E1 , . . . , E12 aus Satz 1.23. 3 1.4 Messbare Abbildungen 37 Beispiel 1.86. Sei d(x, y) = x − y2 der gewöhnliche euklidische Abstand auf Rn und B(Rn , d) = B(Rn ) die Borel’sche σ-Algebra zu der von d erzeugten Topologie. 3 Für jede Teilmenge A von Rn ist dann B(A, d) = B(Rn , d) . A Wir wollen die reellen Zahlen um die Punkte −∞ und +∞ erweitern und definieren R := R ∪ {−∞, +∞}. Topologisch wollen wir R als die so genannte Zweipunktkompaktifizierung ansehen, indem wir R als topologisch isomorph zu [−1, 1] betrachten, beispielsweise vermöge der Abbildung ⎧ ⎪ ⎨ tan(πx/2), falls x ∈ (−1, 1), −∞, falls x = −1, ϕ : [−1, 1] → R, x → ⎪ ⎩ ∞, falls x = +1. ¯ y) = ϕ−1 (x)−ϕ−1 (y) für x, y ∈ R eine Metrik auf R In der Tat wird durch d(x, definiert, sodass ϕ und ϕ−1 stetig sind (also ist ϕ ein topologischer Isomorphismus). Mit τ̄ bezeichnen wir die induzierte Topologie auf R, mit τ die gewöhnliche Topologie auf R. Korollar 1.87. Es gilt τ̄ = τ , und daher gilt B(R) = B(R). R R Ist speziell X : (Ω, A) → (R, B(R)) messbar, so ist X in kanonischer Weise auch eine R-wertige messbare Abbildung. Mit R haben wir also eine echte Erweiterung der reellen Zahlen geschaffen, und die Inklusion R → R ist messbar. Satz 1.88 (Messbarkeit stetiger Abbildungen). Sind (Ω, τ ) und (Ω , τ ) topologische Räume und f : Ω → Ω stetig, dann ist f auch B(Ω) – B(Ω )-messbar. Beweis. Wegen B(Ω ) = σ(τ ) reicht es nach Satz 1.81 zu zeigen, dass f −1 (A ) ∈ σ(τ ) für jedes A ∈ τ . Da f stetig ist, gilt aber sogar f −1 (A ) ∈ τ für jedes 2 A ∈ τ . Für x, y ∈ R verabreden wir folgende Notationen x∨y x∧y x+ x− |x| sign(x) = max(x, y) = min(x, y) = max(x, 0) = max(−x, 0) = max(x, −x) = x− + x+ = ½{x>0} − ½{x<0} (Maximum), (Minimum), (Positivteil), (Negativteil), (Absolutbetrag), (Vorzeichenfunktion). 38 1 Grundlagen der Maßtheorie Analog bezeichnen wir für reelle messbare Abbildungen beispielsweise X + = max(X, 0). Die Abbildungen x → x+ , x → x− und x → |x| sind stetig (und damit nach dem vorangehenden Satz messbar), die Abbildung x → sign(x) ist offenbar auch stetig. Wir erhalten also (zusammen mit Korollar 1.82): Korollar 1.89. Ist X eine reelle oder R-wertige messbare Abbildung, so sind auch die Abbildungen X − , X + , |X| und sign(X) messbar. Satz 1.90 (Koordinatenabbildungen sind messbar). Sei (Ω, A) ein Messraum und f1 , . . . , fn : Ω → R Abbildungen, sowie f := (f1 , . . . , fn ) : Ω → Rn . Dann gilt f ist A – B(Rn )-messbar ⇐⇒ jedes fi ist A – B(R)-messbar. Die Aussage gilt analog für fi : Ω → R := R ∪ {±∞}. Beweis. Für b ∈ Rn ist f −1 ((−∞, b)) = n i=1 fi−1 ((−∞, bi )). Ist jedes fi messbar, so ist also f −1 ((−∞, b)) ∈ A. Die Quader (−∞, b), b ∈ Rn , erzeugen aber B(Rn ), und daher ist dann f messbar. Sei nun f messbar. Für i = 1, . . . , n sei πi : Rn → R, x → xi die i-te Projektion. Offenbar ist πi stetig also B(Rn ) – B(R)-messbar. Nach 2 Satz 1.80 ist auch fi = πi ◦ f messbar. Für den folgenden Satz vereinbaren wir die Konvention x 0 := 0 für jedes x ∈ R. Satz 1.91. Sei (Ω, A) ein Messraum und f, g : (Ω, A) → (Rn , B(Rn )) sowie h : (Ω, A) → (R, B(R)) messbar. Dann sind auch die Abbildungen f + g, f − g, f · h und f /h messbar. Beweis. Die Abbildung π : Rn × R → Rn , (x, α) → α · x ist stetig, also messbar. Nach Satz 1.90 ist (f, h) : Ω → Rn × R messbar, also auch die zusammengesetzte Abbildung f · h = π ◦ (f, h). Analog folgt die Messbarkeit von f + g und f − g. Um die Messbarkeit von f /h zu zeigen, definieren wir H : R → R, x → 1/x. Nach unserer Konvention ist H(0) = 0. Dann ist f /h = f · H ◦ h. Es reicht also zu zeigen, dass H messbar ist. Offenbar ist H stetig. Für offenes U ⊂ R ist R\{0} auch U \ {0} offen und damit H −1 (U \ {0}) ∈ B(R). Ferner ist H −1 ({0}) = {0}. 2 Also ist schließlich H −1 (U ) = H −1 (U \ {0}) ∪ (U ∩ {0}) ∈ B(R). Satz 1.92. Sind X1 , X2 , . . . messbare Abbildungen (Ω, A) → (R, B(Rq)), dann sind auch die folgenden Abbildungen messbar: inf Xn , n∈N sup Xn , n∈N lim inf Xn , n→∞ lim sup Xn . n→∞ 1.4 Messbare Abbildungen 39 Beweis. Für jedes a ∈ R gilt −1 inf Xn n∈N ([−∞, a)) = ∞ Xn−1 ([−∞, a)) ∈ A. n=1 Nach Satz 1.81 folgt hieraus die Messbarkeit von inf Xn . Analog geht der Beweis n∈N für sup Xn . n∈N Für n ∈ N setzen wir Yn := inf Xm . Dann ist Yn messbar, und damit auch m≥n lim inf Xn := sup Yn . Analog folgt der Beweis für den Limes superior. n→∞ 2 n∈N Ein wichtiges Beispiel für messbare Abbildungen (Ω, A) → (R, B(R)) sind Elementarfunktionen. Definition 1.93 (Elementarfunktion). Sei (Ω, A) ein Messraum. Eine Abbildung f : Ω → R heißt Elementarfunktion, wenn es ein n ∈ N und paarweise disjunkte, messbare Mengen A1 , . . . , An ∈ A, sowie Zahlen α1 , . . . , αn ∈ R gibt mit f= n αi ½Ai . i=1 Bemerkung 1.94. Eine messbare Abbildung, die nur endlich viele Werte annimmt ist eine Elementarfunktion. (Übung!) 3 Definition 1.95. Sind f, f1 , f2 , . . . Abbildungen Ω → R mit f1 (ω) ≤ f2 (ω) ≤ . . . und lim fn (ω) = f (ω) n→∞ für jedes ω ∈ Ω, so schreiben wir fn ↑ f und sagen, dass (fn )n∈N punktweise monoton aufsteigend gegen f konvergiert. Analog schreiben wir fn ↓ f , falls (−fn ) ↑ (−f ). Satz 1.96. Sei (Ω, A) ein Messraum und f : Ω → [0, ∞] messbar. Dann gelten die folgenden Aussagen. (i) Es gibt eine Folge nichtnegativer Elementarfunktionen (fn )n∈N mit fn ↑ f . (ii) Es gibt A1 , A2 , . . . ∈ A und α1 , α2 , . . . ≥ 0 mit f = ∞ αn ½An . n=1 Beweis. (i) Für n ∈ N0 definiere fn = (2−n 2n f ) ∧ n. Dann ist fn messbar (nach Satz 1.92 und Beispiel 1.85(ii)) und nimmt höchstens n2n + 1 Werte an, ist also eine Elementarfunktion. Offenbar gilt fn ↑ f . 40 1 Grundlagen der Maßtheorie (ii) Seien fn wie oben, Bn,i := {ω : fn (ω)−fn−1 (ω) = i 2−n } und βn,i = i 2−n 2 n für n ∈ N und i = 1, . . . , 2n . Man überlege sich, dass i=1 Bn,i = Ω. Dann ist 2n fn − fn−1 = βn,i ½Bn,i . Nach Umnummerierung (n, i) → m erhalten wir i=1 (αm )m∈N und (Am )m∈N , sodass f = f0 + ∞ (fn − fn−1 ) = n=1 ∞ αm ½Am . 2 m=1 Als Korollar zu dieser Strukturaussage für messbare [0, ∞]-wertige Abbildungen zeigen wir das Faktorisierungslemma. Korollar 1.97 (Faktorisierungslemma). Seien (Ω , A ) ein Messraum und Ω eine nichtleere Menge. Sei f : Ω → Ω eine Abbildung. Eine Abbildung g : Ω → R ist genau dann messbar bezüglich σ(f ) – B(R), wenn es eine messbare Abbildung ϕ : (Ω , A ) → (R, B(R)) gibt mit g = ϕ ◦ f . Beweis. ” ⇐= “ Ist ϕ messbar und g = ϕ ◦ f , so ist g messbar nach Satz 1.80. =⇒ “ Sei nun g messbar bezüglich σ(f ) – B(R). Wir betrachten zunächst den ” Fall, wo g nichtnegativ ist. Dann existieren messbare ∞ Mengen A1 , A2 . . . ∈ σ(f ) sowie Zahlen α1 , α2 , . . . , ∈ [0, ∞) mit g = n=1 αn ½An . Nach der Definition von σ(f ) gibt es für jedes n ∈ N eine Menge Bn ∈ A mit f −1 (Bn ) = An , also mit ½An = ½Bn ◦ f . Wir definieren nun ϕ : Ω → R durch ϕ= ∞ αn ½Bn . n=1 Offenbar ist ϕ messbar bezüglich A – B(R), und es gilt g = ϕ ◦ f . Sei nun der allgemeine Fall betrachtet, wo g auch negative Werte annehmen kann. Dann existieren messbare Abbildungen ϕ− und ϕ+ mit g − = ϕ− ◦ f und g + = 2 ϕ+ ◦ f . Daher leistet ϕ := ϕ+ − ϕ− das Gewünschte. Mit einer messbaren Abbildung wird auch ein Maß von einem Raum auf einen anderen transportiert. Definition 1.98 (Bildmaß). Seien (Ω, A) und (Ω , A ) Messräume und µ ein Maß auf (Ω, A). Ferner sei X : (Ω, A) → (Ω , A ) messbar. Das durch µ ◦ X −1 : A → [0, ∞], A → µ(X −1 (A )) definierte Maß auf (Ω , A ) heißt Bildmaß von µ unter X. 1.4 Messbare Abbildungen 41 Beispiel 1.99. Sei µ ein Maß auf Z2 und X : Z2 → Z, (x, y) → x + y. Dann ist µ ◦ X −1 ({x}) = µ({x − y, y}). 3 y∈Z Beispiel 1.100. Ist L : Rn → Rn eine bijektive lineare Abbildung und λ das Lebesgue-Maß auf (Rn , B(Rn )), so ist λ ◦ L−1 = | det(L)|−1 λ. Dies ist klar, weil n mit a < b das Spat (oder Parallelepiped) L−1 ([a, b)) das Volumen für a, b ∈ R n −1 3 | det(L )| i=1 (bi − ai ) hat. Als Verallgemeinerung des letzten Beispiels geben wir hier ohne Beweis den Transformationssatz für Maße mit stetigen Dichten unter differenzierbaren Abbildungen an. Den Beweis findet man in Lehrbüchern zur Analysis II unter dem Stichwort Transformationssatz“ oder Substitutionsregel“ (siehe etwa [7] oder [43]). ” ” Satz 1.101 (Dichtetransformationsformel im Rn ). Es sei µ ein Maß auf Rn mit stetiger (oder stückweise stetiger) Dichte f : Rn → [0, ∞), das heißt xn x1 dt1 · · · dtn f (t1 , . . . , tn ) für jedes x ∈ Rn . µ((−∞, x]) = −∞ −∞ Sei A ⊂ R eine offene (oder abgeschlossene) Menge mit µ(Rn \ A) = 0. Ferner sei B ⊂ Rn offen oder abgeschlossen, sowie ϕ : A → B bijektiv und stetig differenzierbar mit Ableitung ϕ . Dann hat das Bildmaß µ ◦ ϕ−1 die Dichte ⎧ f (ϕ−1 (x)) ⎪ ⎨ , falls x ∈ B, −1 fϕ (x) = | det(ϕ (ϕ (x)))| ⎪ ⎩ 0, falls x ∈ Rn \ B. n Übung 1.4.1. Sei f : R → R, x → |x|. Zeige: Eine Borel-messbare Abbildung g : R → R ist genau dann messbar bezüglich σ(f ) = f −1 (B(R)), wenn g gerade ist. ♣ Übung 1.4.2. Man zeige: Ist (Ω, A, µ) ein Maßraum, f : Ω → R messbar und g = f µ-fast überall, so braucht g nicht messbar zu sein. ♣ Übung 1.4.3. Sei f : R → R differenzierbar mit Ableitung f . Zeige: f ist B(R)– B(R) messbar. ♣ Übung 1.4.4. (Vergleich Beispiele 1.40 und 1.63.) Sei Ω = {0, 1}N und A = (2{0,1} )⊗N die σ-Algebra, die von den Zylindermengen [ω1 , . . . , ωn ] : n ∈ N, ω1 , . . . , ωn ∈ {0, 1} erzeugt wird. Ferner sei µ = ( 12 δ0 + 12 δ1 )⊗N das Bernoulli-Maß auf Ω mit gleichen Gewichten auf 0 und 1. Für n ∈ N sei Xn : Ω → {0, 1}, ω → ωn die n-te Koordinatenabbildung, und sei U (ω) = ∞ n=1 Xn (ω) 2−n , für ω ∈ Ω. 42 1 Grundlagen der Maßtheorie (i) Zeige: A = σ(Xn : n ∈ N). (ii) Zeige: U ist A–B([0, 1]) messbar. (iii) Bestimme das Bildmaß µ ◦ U −1 auf ([0, 1], B([0, 1])). (iv) Man gebe ein Ω0 ∈ A an, sodass Ũ := U bijektiv ist. Ω0 (v) Man zeige, dass Ũ −1 messbar ist bezüglich B([0, 1])–A Ω0 . (vi) Welche Interpretation hat die Abbildung Xn ◦ Ũ −1 ? ♣ 1.5 Zufallsvariablen In diesem Abschnitt werden wir messbare Abbildungen als Zufallsvariablen auffassen, die zufällige Beobachtungen beschreiben. Wir definieren den Begriff der Verteilung von Zufallsvariablen. Im Folgenden sei stets (Ω, A, P) ein Wahrscheinlichkeitsraum. Die Mengen A ∈ A heißen Ereignisse. P[A] wird als die Wahrscheinlichkeit interpretiert, dass A eintritt. Oft ist allerdings nicht der Wahrscheinlichkeitsraum selbst betrachtbar, sondern nur gewisse Beobachtungsgrößen. Wir wollen also Wahrscheinlichkeiten dafür definieren, dass Zufallsgrößen bestimmte Werte annehmen und einen Kalkül für, zum Beispiel, Summen von Zufallsgrößen entwickeln. Definition 1.102 (Zufallsvariablen). Sei (Ω , A ) ein Messraum und X : Ω → Ω messbar. (i) X heißt Zufallsvariable mit Werten in (Ω , A ). Ist (Ω , A ) = (R, B(R)), so nennen wir X eine reelle Zufallsvariable oder schlicht Zufallsvariable. (ii) Ist A ∈ A , so schreiben wir {X ∈ A } := X −1 (A ) und P[X ∈ A ] := P[X −1 (A )]. Speziell schreiben wir {X ≥ 0} := X −1 ([0, ∞)) und analog {X ≤ b} und so weiter. Definition 1.103 (Verteilungen). Sei X eine Zufallsvariable. (i) Das W-Maß PX := P ◦ X −1 heißt Verteilung von X. (ii) Ist X eine reelle Zufallsvariable, so heißt die Abbildung FX : x → P[X ≤ x] die Verteilungsfunktion von X (eigentlich von PX ). Ist µ = PX , so schreiben wir auch X ∼ µ und sagen, dass X nach µ verteilt ist. (iii) Eine Familie (Xi )i∈I heißt identisch verteilt, falls PXi = PXj D i, j ∈ I. Wir schreiben X = Y , falls PX = PY (D für distribution). für alle 1.5 Zufallsvariablen 43 Satz 1.104. Zu jeder Verteilungsfunktion F existiert eine reelle Zufallsvariable X mit FX = F . Beweis. Wir müssen explizit einen Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, A, P) und eine Zufallsvariable X : Ω → R angeben mit FX = F . Die einfachste Möglichkeit ist, (Ω, A) = (R, B(R)) zu wählen, X : R → R die identische Abbildung und P das Lebesgue-Stieltjes Maß mit Verteilungsfunktion F (siehe Beispiel 1.56). Eine andere Möglichkeit, die zudem etwas lehrreicher ist, beruht darauf, zunächst unabhängig vom konkreten F eine Art Standard-Wahrscheinlichkeitsraum zu definieren, auf dem eine uniform auf (0, 1) verteilte Zufallsvariable definiert ist, die dann vermöge der Umkehrabbildung F −1 zu einer Zufallsvariablen X mit Vertei lungsfunktion F transformiert wird: Wir wählen Ω := (0, 1), A := B(R) und Ω P das Lebesgue-Maß auf (Ω, A) (siehe Beispiel 1.74). Definiere die (linkssstetige) Inverse von F F −1 (t) := inf{x ∈ R : F (x) ≥ t} Dann ist für t ∈ (0, 1). F −1 (t) ≤ x ⇐⇒ t ≤ F (x). Speziell ist {t : F −1 (t) ≤ x} = (0, F (x)] ∩ (0, 1), also ist F −1 : (Ω, A) → (R, B(R)) messbar und P[{t : F −1 (t) ≤ x}] = F (x). Mithin ist X := F −1 die gewünschte Zufallsvariable. 2 Beispiel 1.105. Wir geben zu verschiedenen Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf R reelle Zufallsvariablen X mit ebendieser Verteilung an. (Der konkrete Ort in diesem Buch dient lediglich als Vorwand, um ein paar der wichtigsten Verteilungen einzuführen, auf die wir bei späteren Gelegenheiten immer wieder zurückkommen.) (i) Ist p ∈ [0, 1] und P[X = 1] = p, P[X = 0] = 1 − p, so heißt PX =: Berp die Bernoulli-Verteilung mit Parameter p. Formal ist Berp = (1 − p) δ0 + p δ1 , und die Verteilungsfunktion ist FX (x) = ⎧ ⎨ 0, 1 − p, ⎩ 1 falls x < 0, falls x ∈ [0, 1), falls x ≥ 1. (ii) Ist p ∈ [0, 1] und n ∈ N sowie X : Ω → {0, . . . , n} mit n k P[X = k] = p (1 − p)n−k , k 44 1 Grundlagen der Maßtheorie so heißt PX =: bn,p die Binomialverteilung mit Parametern n und p. Formal ist bn,p = n n k k=0 pk (1 − p)n−k δk . (iii) Ist p ∈ (0, 1] und X : Ω → N0 mit P[X = n] = p (1 − p)n für jedes n ∈ N0 , 1 so heißt γp := b− 1,p := PX die geometrische Verteilung mit Parameter p. Formal können wir schreiben: ∞ p (1 − p)n δn . γp = n=0 Die Verteilungsfunktion ist F (x) = 1 − (1 − p)x∨0 für x ∈ R. Wir können X + 1 als die Wartezeit auf den ersten Erfolg bei unabhängigen“ ” Zufallsexperimenten auffassen, die jeweils mit Wahrscheinlichkeit p zum Erfolg ⊗N führen. In der Tat: Sei Ω = {0, 1}N und P das Produktmaß (1 − p)δ0 + p δ1 (Satz 1.64), sowie A = σ([ω1 , . . . , ωn ] : ω1 , . . . , ωn ∈ {0, 1}, n ∈ N). Wir setzen X(ω) := inf{n ∈ N : ωn = 1} − 1, mit der Konvention inf ∅ = ∞. Offenbar ist jede der Abbildungen n − 1, falls ωn = 1, Xn : Ω → R, ω → ∞, falls ωn = 0, A – B(R)-messbar und X = inf n∈N Xn . Also ist X auch A – B(R)-messbar, also eine Zufallsvariable. Sei ω 0 := (0, 0, . . .) ∈ Ω. Dann ist P[X ≥ n] = P[[ω10 , . . . , ωn0 ]] = (1 − p)n . Also ist P[X = n] = P[X ≥ n] − P[X ≥ n + 1] = (1 − p)n − (1 − p)n+1 = p (1 − p)n . (iv) Seien r > 0 (nicht notwendigerweise ganzzahlig) und p ∈ (0, 1]. Mit b− r,p := ∞ −r k=0 k (−1)k pr (1 − p)k δk (1.17) bezeichnen wir die negative Binomialverteilung oder Pascal-Verteilung mit Pa rametern r und p. (Hierbei ist xk = x(x−1)···(x−k+1) für x ∈ R und k ∈ N der k! 1 Obacht: Manche Autoren nennen die um Eins verschobene Verteilung auf N die geometrische Verteilung. 1.5 Zufallsvariablen 45 verallgemeinerte Binomialkoeffizient.) Für r ∈ N ist b− r,p , ähnlich wie im vorangehenden Beispiel, die Verteilung der Wartezeit auf den r-ten Erfolg bei unabhängigen Versuchen. Wir werden hierauf in Beispiel 3.4(iv) zurückkommen. (v) Ist λ ∈ [0, ∞) und X : Ω → N0 mit P[X = n] = e−λ λn n! für jedes n ∈ N0 , so heißt PX =: Poiλ die Poisson-Verteilung mit Parameter λ. (vi) Die hypergeometrische Verteilung mit Parametern S, W, n ∈ N S W n−s HypS,W,n ({s}) = sS+W , s ∈ {0, . . . , n}, (1.18) n gibt die Wahrscheinlichkeit an, aus einer Urne mit S schwarzen und W weißen Kugeln bei n-maligen Ziehen ohne Zurücklegen genau s schwarze Kugeln zu ziehen. (vii) Seien µ ∈ R, σ 2 > 0 und X reell mit x (t−µ)2 1 P[X ≤ x] = √ e− 2σ2 dt 2πσ 2 −∞ für x ∈ R, Dann heißt PX =: Nµ,σ2 Gauß’sche Normalverteilung mit Parametern µ und σ 2 . (viii) Ist X ≥ 0 reell und θ > 0, sowie P[X ≤ x] = P[X ∈ [0, x]] = x θe−θt dt für x ≥ 0, 0 so heißt PX Exponentialverteilung mit Parameter θ (kurz: expθ ). (ix) Ist X Rd -wertig, µ ∈ Rd , Σ eine positiv definite d × d Matrix und 1$ % t − µ, Σ −1 (t − µ) λd (dt) exp − P[X ≤ x] = det(2π Σ)−1/2 2 (−∞,x] für x ∈ Rd (wobei · , · das Skalarprodukt im Rd bezeichnet), so heißt PX =: 3 Nµ,Σ die d-dimensionale Normalverteilung mit Parametern µ und Σ. Definition 1.106. Hat die Verteilungsfunktion F : Rn → [0, 1] die Gestalt x1 xn F (x) = dt1 · · · dtn f (t1 , . . . , tn ) für x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn , −∞ −∞ für eine integrierbare Funktion f : Rn → [0, ∞), so heißt f die Dichte der Verteilung. 46 1 Grundlagen der Maßtheorie Beispiel 1.107. (i) Für θ, r > 0 heißt die Verteilung Γθ,r auf [0, ∞) mit Dichte x → θr xr−1 e−θx Γ (r) (wo Γ die Gamma-Funktion bezeichnet) Gamma-Verteilung mit Größenparameter θ und Formparameter r. (ii) Für r, s > 0 heißt die Verteilung βr,s auf [0, 1] mit Dichte x → Γ (r + s) r−1 x (1 − x)s−1 Γ (r)Γ (s) Beta-Verteilung mit Parametern r und s. (iii) Für a > 0 heißt die Verteilung Caua auf R mit Dichte x → 1 1 aπ 1 + (x/a)2 Cauchy-Verteilung mit Parameter a. 3 Übung 1.5.1. Man leite (1.17) nach als Wartezeit kombinatorisch Interpretation der n+k−1 k (−1) . ♣ her unter Benutzung der Identität −n = k k Übung 1.5.2. Man gebe ein Beispiel an für zwei normalverteilte X und Y , sodass (X, Y ) nicht (zweidimensional) normalverteilt ist. ♣ Übung 1.5.3. Man zeige mit Hilfe von Satz 1.101 (Transformationsformel für Dichten): (i) Ist X ∼ Nµ,σ2 und sind a ∈ R\{0} und b ∈ R, so ist (aX +b) ∼ Naµ+b,a2 σ2 . (ii) Ist X ∼ expθ und a > 0, so ist aX ∼ expθ/a . ♣ http://www.springer.com/978-3-540-25545-1