PREDIGT zum 19. Sonntag nach Trinitiatis am 26.10.2014 über

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PREDIGT
zum 19. Sonntag nach Trinitiatis
am 26.10.2014
über Johannes 20, 24-29 (31)
in der Ev.-luth. Martin-Luther Kirchengemeinde Witten
unter Verwendung von „Zweifeln erlaubt – Predigt im Wetzlarer Dom,
20.05.2012 A.Odrich ©
KANZELGEBET
1. Prolog
1.1. Ich möchte heute morgen eine Lanze brechen für den ungeliebten
Bruder des Glaubens, das verstoßene Familienmitglied, das schwarze
Schaf, den etwas skurilen Onkel, den jeder mag, mit dem aber keiner
war zu tun haben möchte: den Zweifel!
gegnung mit Gott, auf Orientierung und Wahrheit. Jeder möchte doch
mit einem besseren Gefühl wieder rausgehen als er oder sie reingekommen ist. Gefestigt, gestärkt, orientiert. Würde ich das alles von
vornherein bezweifeln, ich wäre nicht hier.
1.5. Und dennoch bringe ich auch diese Zeiten mit, in denen ich das
alles nicht für wahr halte, mir das alles nichts bedeutet und eher ganz im
Gegenteil von meinem Leben als einer gottverlassenen Einsamkeit reden
muss. Und dann bleibt die Frage: wie geht Gott mit mir und meinem
Unglauben, meinem Zweifeln und meinem entleerten Glaubensleben
um.
1.6. Wir werden Jesus kennenlernen als einen einladenden Souverän,
der Augenhöhe herstellt. Jesus begibt sich mit Ihren und mit meinen
Zweifeln in einen echten Dialog, der von Nähe gekennzeichnet ist und
von Zuwendung und gerade nicht von einer aburteilenden, unbarmherzigen Gerechtigkeit.
2. Biblisches Zweifeln
1.2. Er hat es so schwer, weil er so unbequem ist, in Frage stellt, irgendwie den Spiegel vorhält und den vermeintlichen Wahrheiten auf
den Grund gehen will. Diese Typen mag man nicht so, aber sie sind
unwahrscheinlich wichtig.
1.3. Keiner ist heute hierher gekommen mit dem Satz „Komm, mein
Schatz, lass uns heute zweifeln gehen, zweifeln ist so wunderschön.“ Mal
so richtig in Orientierungslosigkeit baden, mal so richtig hin und her
gerissen sein und so richtig im Zwiespalt stehen (daher kommt nämlich
das Wort Zweifel). Ist das ein gutes Gefühl? Gibt das Kraft für den Alltag? Sehr wahrscheinlich nicht.
1.4. Wir haben eher ausgesprochen oder unausgesprochen eine Hoffnung auf Geborgenheit, auf Gemeinschaft mit Menschen, auf eine Be-
2.1. Der folgende Bericht aus dem Johannes-Evangelium macht das
deutlich: Die Geschichte spielt in den Tagen nach der Auferstehung.
Jesus zeigt sich seinen Jüngern. Doch nicht jeder von den Jüngern kann
das glauben. Der Evangelist Johannes berichtet:
Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus
kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber
sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen
Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht
glauben.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas
war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie
und spricht: Friede sei mit euch!
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Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und
reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern
gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig
sind, die nicht sehen und doch glauben!
2.2. Dieses Stück Evangelium ist in die Geschichte eingegangen als die
Geschichte von Thomas dem Zweifler. Und er ist nicht der einzige. Die
ganze Ostergeschichte ist voll von Menschen, die erst mal zweifeln. Die
Frauen am Grab glauben zunächst, dass der Leichnam Jesu abtransportiert wurde. Die Jünger müssen das leere Grab erst ganz genau untersuchen. Maria aus Magdala zweifelt nicht nur, sie ist ver-zweifelt. Jesus
muss ihr erscheinen und seinen Jüngern auch, dann erst fassen sie Vertrauen. Die ganze Auferstehungsgeschichte ist voll von Menschen, die
zweifeln. Und diese Zweifel werden von Jesus nicht unterdrückt. Jesus
nimmt sie sehr ernst.
2.3. Denn immerhin ist der Zweifel schon der Stein des Anstoßes, der in
der Paradiesgeschichte alles ins Rollen bringt „Sollte Gott gesagt haben…?“ ist die teuflische Frage, die uns Angst macht und die wir uns
besser vom Leibe halten sollten, sagt die frömmelnde Seele. Vade retro
Satanas!
2.4. Die Versuchungsgeschichte Jesu zementiert dieses Bild zweifelhafter
Einflüsterungen. Und wie Jesus sollen wir standhalten und uns nicht in
Frage stellen lassen. Und von dort her entsteht eine ganze Theologie
und Frömmigkeit, die den Zweifel an sich schon uns fürchten lehren
möchte, wie der Teufel das Weihwasser.
2.5. Doch ich erlebe wie Jesus mich als angefochtenes, menschliches
Wesen ernst nimmt, zu dem das Zweifeln eben dazugehört, sowohl das
ängstlich-notvolle, wie das methodisch-wissenschaftliche.
3. Berechtigte Zweifel
3.1. Hätte die Institution Kirche dieses Stück Evangelium doch besser
beherzigt. Unendlich viel Leid wäre Menschen erspart geblieben.
Der Zweifel ist ein hohes Gut, das nur selten gewährt wird
Zweifeln ist und war in der Kirche über Jahrhunderte fast immer verboten. Wer zu viel zweifelte, der wurde ein Opfer der Inquisition, und landete auf dem Scheiterhaufen.
3.2. Warum eigentlich? Auch unter den Inquisitoren gab es Vertreter, die
die Menschen auf den rechten Pfad des Glaubens bringen wollten.
Doch im Grunde ging es oft um etwas viel banaleres:
Zweifel stellt in Frage. Zweifel rüttelt an Autoritäten. Zweifel ist für die,
die bezweifelt werden lästig und gefährlich. Schwache Autoritäten reagieren auf Zweifel mit Abwehr. Sie haben Angst, dass ihre Macht in Frage gestellt wird, dass sie bloß gestellt werden und im wahrsten Sinne des
Wortes vom Thron gefegt werden.
„Ein Mann wandert an einer steilen Felsklippe entlang und genießt die schöne Aussicht. Er ist nur einen Augenblick unaufmerksam und da geschieht auch schon das
Unglück: Er stürzt in die Tiefe. Geistesgegenwärtig greift er im Fallen nach einer dicken
Baumwurzel, die aus dem Felsen herausragt. Er kann sich tatsächlich festhalten, aber
er merkt schnell, dass er nicht wieder zurück klettern kann und seine Kräfte nachlassen.
Der Mann schreit also mit lauter Stimme: „Ist irgend jemand da oben?“ „Ja“, antwortet
ihm jemand, „ich bin hier!“ „Wer sind sie denn?“, ruft der Gestürzte. Darauf sagt die
Stimme: „Ich bin es, der Herr.“ „Oh, Gott sei Dank! Hilf mir, Herr!“ „Vertraust du mir
denn?“, fragte der Herr. „Ja natürlich, ich hab noch nie so auf dich vertraut, wie jetzt
gerade!“ Darauf meint die Stimme von oben: „Gut, dann lass die Wurzel los!“ Der
Mann meint entsetzt: „Wie bitte? Ich soll loslassen?!“ Doch die Stimme wiederholte:
„Vertraue mir, lass los!“ Daraufhin entstand eine längere Pause. Schließlich rief der
Mann: „Ist vielleicht noch jemand anders da oben?“
Man wird doch wohl mal fragen dürfen, oder?
3.3. Die Reformation war deshalb nicht nur eine geistliche Auseinandersetzung. In den Augen der Kirche war sie ein Angriff auf die vorhande-
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nen Machtstrukturen. Und ein Angriff auf die Wirtschaftskraft der Kirche.
Der Verlust des Ablasshandels gefährdete die Bautätigkeiten für den
Petersdom in Rom. Ein Gott der Gnade macht es überflüssig, dass Menschen sich von ihren Sünden freikaufen können. Eine ganz einfache
Rechnung.
3.4. Zweifel ist daher nötig, wichtig und richtig. Im Grunde ist die Faustformel ganz einfach: Überall dort wo nicht gezweifelt werden
darf, ist der Zweifel höchst notwendig.
Diktaturen von rechts und von links, aus vergangenen Tagen und aus
der aktuellen Gegenwart dulden keine Zweifel und machen Zweifler
mundtot. Und gerade deshalb muss an ihnen ganz energisch gezweifelt
werden. Und Hut ab vor jedem, der dies tut.
Ich bin deshalb dankbar für Leute, die den Zweifel aushalten oder sogar
befördern. Denn Zweifel ist nicht nur in autoritären Kirchen- und Staatsstrukturen immer wieder nötig.
4. Methodischer Zweifel
4.1. Der methodische Zweifel ist im Umgang mit Aberglauben, Okultismus und allen religiösen Formen nur angebracht. Was ist simpler Trick,
was Psychosomatik, was ist Abhängigkeit? Wer in unserer Zeit, in der
alles und jeder um Dich wirbt, nicht gelernt hat, die Appetithappen in
Frage zu stellen, ob sie mir auch wirklich gut tun, ist den Fallen unserer
Wirtschaft rettungslos ausgeliefert. Warum kosten die Dinge immer 8,99
€€ oder 21,99 €€? Weil es günstiger klingt, als 9,00 €€ oder 22,00 €€. In
einer Zeit, in der unser Verhalten bis in die Gesichtszuckungen in unseren Augenwinkeln unter Beobachtung steht, tun wir gut daran allen, die
was von uns wollen oder die uns irgendwo hin haben wollen, den methodischen Zweifel entgegenzusetzen.
4.2. Das gilt auch für alle Lebensregeln und Sprichworte, die unser Leben bestimmen. „Der Toast fällt immer auf die Butterseite!“ ist ein Bei-
spiel. Das ist aber kein Ausdruck immer währenden Pechs oder Unglücks. Sondern es stimmt, weil der Weg von der Tischkante bis zum
Boden nicht lang genug für eine ganze Drehung ist. Andere Experimente
mit größerer Fallhöhe haben gezeigt, dass es dann zu einer 50/50%
Chance kommt. Es tut gut, auch an unseren Vorurteilen, an unseren Sinneswahrnehmungen, unseren Erinnerungen und damit auch an unserem
Verstand zu zweifeln.
4.3. Werner Tiki Küstenmacher, beschreibt in seinem neuen Buch „Limbi“ die Bedeutung der Entdeckung unseres Gehirns als Forschungsgegenstand durch MRT-Aufnahmen. Und siehe da: die Großhirnrinde, das
jüngste Mitglied unserer Hirngemeinschaft, auf dessen faktengestützte
analytische Kraft wir so stolz sind, wird regelmäßig vom limbyschen System, dem älteren Bestandteil mit dem Sitz unserer Emotionen, ausgetrickst. Du kannst alle Fakten kennen, am Ende entscheidet die dazu
passende oder unpassende Emotion über Dein Handeln.
4.4. Auch hier ist Zweifeln nicht nur erlaubt, sondern auch hier ist Zweifeln dringend erwünscht! Und demzufolge ist gerade der Zweifel eine
christliche Tugend, auch wenn der Satz „Im Zweifel für den Angeklagten!“ schon auf Aristoteles zurückgeht.
4.5. Der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, hat in
seiner Predigt zum Reformationstag 2011 den Zweifel ausdrücklich als
Tugend gelobt:
„Zweifel ist die Freiheit, sich nicht abzufinden mit dem was ist. Es ist die
Freiheit, Zweifel zu äußern an dem, was Menschen sagen und tun, und
damit Umdenken, Neubesinnung und Veränderung zu befördern.“
Ich bin dankbar, dass ich in einer Kirche leben darf, wo der Zweifel erlaubt ist. Ich freue mich, dass wir in unserer Gemeinde Fragen nicht
ausklammern, und niemand stromlinienförmige Antworten geben muss,
sondern dass wir auch über unsere Zweifel sprechen können.
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Zweifeln dürfen ist ein Zeichen für Gedankenfreiheit. Und
Gedankenfreiheit muss immer wieder neu erkämpft werden,
weil es genügend Leute gibt, die Gedankenfreiheit lästig
finden.
5. Theologischer Zweifel
5.1. Zweifel bringen uns auch in der Theologie und im Glauben voran.
Krise ist Chance. Eine meiner Versuchungen ist das Miteinander von
Glaube und Wissenschaft. Ich gebe mal ein Beispiel (aus Robinson,
Toast, S. 227ff) Nachdem ich so was gelesen habe, wünschte ich mir
Jesus nähme mich in den Arm und sagte: „Ach komm, der hat sie nicht
mehr alle“ Und doch nagt dann die Frage in mir, wie ich so ein Menschenbild mit dem Bild einer Schöpfers, der sich für diese Spezies
Mensch liebevoll interessieren soll, in Verbindung bringen soll.
5.2. Der positive Effekt ist aber dann tatsächlich der notwendige Kampf,
die Herausforderung, den von Jesus in mir hervorgerufenen Glauben
theologisch, philosophisch, wissenschaftlich redlich weiterzubringen.
Woran soll ich zweifeln: an der Schöpfungsgeschichte oder an den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vielleicht bringt mich aber auch der Dialog mit beiden einen wichtigen Schritt weiter.
5.3. Nehmen wir das Beispiel Ewigkeit. Der christliche Glaube hat seine
ersten großen Niederlagen hinnehmen müssen, als die Vorstellungen
von Himmel und Hölle, Fegefeuer und Engeln auf Wolken im Zuge der
Aufklärung und der wissenschaftlichen Erforschung der Welt und des
Menschen nicht mehr auf allgemeine Zustimmung stießen, sondern immer mehr zweifelnd in Frage gestellt wurden. Welche eine bindende und
lebensgestaltende Kraft da verlorengegangen ist, können wir bei jedem
beobachten, der sich als Selbstmordattentäter eine der über 70 Jungfrauen sichern möchte. Da lächeln wir über das mythische Trostbild, haben aber kein Bild, das wir dem entgegenhalten können. Wir drucksen
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rum, erzählen den Kindern, dass Oma jetzt vom Himmel auf Dich herabschaut und fragen uns doch bei jeder Beerdigung, wo isser denn jetzt?
5.4. Wir brauchen ein zeitgemäßes Reden von der Ewigkeit. Das ist
Thomas übrigens auch schon aufgefallen z.B. in Johannes 14, 1-6. Jesus redet von seinem Weggang zum Vater: „Und wo ich hingehe, den
Weg dahin wisst ihr." Da unterbricht ihn Thomas brüsk: „Herr, wir wissen
nicht, wo du hingehst, wie können wir dann den Weg wissen!" Thomas
war gründlich und skeptisch. Aber zugleich durch seinen skeptischen
Einwand gab er Anlass für eine der schönsten und tiefsten Aussagen
Jesu, die wir überhaupt im NT finden (Johannes 14, 6): „Ich bin der
Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn
durch mich.“ Aber am nächsten Tag hing Jesus tot am Kreuz. Da fing
Thomas an zu grübeln: wie kann ein Toter der Weg zu Gott sein? Und
er setzte sich von den anderen Jüngern ab. Wir brauchen ein modernes
Reden von Tod, Sterben und Ewigkeit, das trotzdem biblisch fundiert
genannt werden kann.
5.5. Wie wäre es mit dem Energieerhaltungssatz, der besagt, dass Energie im Universum nicht verlorengehen kann. Mit meinem Tod kehrt meine Lebensenergie zurück zu dem Gott, der alles in allem ist. Was ich
bin, war und wurde, aufgehoben in meinem genetischen Code, der ja
bekanntlich in jeder meiner Zellen den ganzen Dirk Schuklat abgelegt
hat, kehrt zurück zu Gott, wie er ihn im Moment des Schaffens ins Lebens gerufen hat. Und Erlösung meint, dass Jesus mir die Angst vor dem
Tod nimmt. Und vielleicht kann wirklich keiner verloren gehen, weil Gott
die ganze Welt liebt oder gerade doch: wer sich nicht hier in diesem
Leben bei Gott festmacht, löst sich auf, als hätte es ihn nie gegeben.
Das ist vielleicht unausgegorenes Zeug, aber vielleicht auch eine moderne Sprachweise für all die Bilder, Worte und Taten, mit denen die
Bibel Tod und Auferstehung in der Sprache ihrer Zeit den Menschen nahe bringen wollte. Zumindest bringt der theologische Zweifel die Gedanken und Bilder in Bewegung
le Art des Umgangs damit. Den Jesus ist auch die richtige Adresse für
meine Zweifel.
6. Gefährliche Zweifel
6.1. Der Zweifel darf nicht zum alles beherrschenden Prinzip
werden.
Zweifeln um des Zweifeln willens ist ungesund und führt in die Depression. Wer immer nur alles anzweifelt, wer immer nur alles in Frage stellt,
und zwar aus Prinzip, der wird vom Zweifler zum Verzweifelten.
Wer wie Richard Robinson sich in einem Buch ausgehend von „Murphys
Law“ „Was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen!“ das Leben des
Menschen nur unter diesem Vorzeichen sieht, kann nur zu dem eben
verlesenen Schluss kommen. Wie sähe ein Buch aus, dass von der These
ausgeht: „Was funktionieren kann, wird auch funktionieren!“
6.2. Werner Tiki Küstenmacher verharrt in seinem Umgang mit dem Neocortex und dem limbyschen System nicht in ohnmächtiger Fassungslosigkeit, sondern fragt, wie wir uns die Stärken unserer Gehirnbestandteile im Miteinander zu nutze machen können. Eine Kirche des fortwährenden Zweifels ist eine Kirche der Orientierungslosigkeit. Das lädt nicht
ein, das stößt ab. Ein Zustand, der nicht aufbaut sondern runterzieht. Es
braucht Menschen in der Kirche, die den Mut haben, zu ihren Glaubensüberzeugungen zu stehen. Der Zweifel ist nicht allein eine Sache
des Verstandes, sondern gerade auch eine Sache der Emotionen, die wir
damit verbinden.
6.3. Den Zweifel beherrschen heißt, ihn gezielt als Instrument des Denkens zu einzusetzen. Sich vom Zweifel beherrschen zu lassen, heißt,
langfristig kaputt zu gehen. Deshalb ist Zweifeln erlaubt, will aber unbedingt gelernt sein. Erst der reife und mündige Umgang mit dem Zweifel
macht fähig zu berechtigtem Zweifel und er schützen vor unberechtigter
Verzweiflung. „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ ist die sinnvol-
7. Evangelischer Zweifel
7.1. Und diese richtige Art des Zweifels kann man lernen. Ein Lehrstück
ist die Geschichte von Thomas. Und wir können von Thomas und von
Jesus lernen.
7.2. Thomas, das ist der mündige Gläubige, der seinen
Zweifel sehr genau beschreibt und definiert. Jesus, das ist
der König der Welt, der diesen Zweifel zulässt und ihn auf
Augenhöhe und mit ganz viel Nähe und Verständnis behandelt.
7.3. Thomas, der mündige Zweifler
„Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als
Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er
aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht
glauben“.
7.4. Reicht das Wort der Jünger nicht? Hat Thomas kein Vertrauen in
seine Weggefährten? Wir wissen es nicht. Offensichtlich ist aber: die
Zweifel des Thomas bleiben erst einmal stehen. Der Zweifel des Thomas
wird nicht einfach weggewischt. Es gibt kein Strafgericht und keine Inquisition.
7.6. Diese Leute, die mit Jesus gelebt haben, und seine Reden gehört
haben, sind trotzdem nicht auf Linie gebürstet. Es ist eine Gemeinschaft
von Schwachen und von Fragenden. Oft hat Jesus sie deshalb zur Ord5
nung gerufen. Er hat sie als Kleingläubige bezeichnet, aber er hat diese
Zwölf nicht weggeschickt, sondern er hat sich auch weiter mit ihnen umgeben. Jesus findet Zerrissenheit und Zweifel nicht unbedingt erstrebenswert.An anderer Stelle werden die Leute mit mangelndem Vertrauen
von Jesus gescholten. Aber dennoch lässt Jesus den Zweifel zu.
7.7. Auch bei Thomas haben wir es nicht mit einem grundsätzlichen
Zweifler zu tun. Thomas hat sich im Prinzip für Jesus entschieden. Die
Geschichte von Thomas, dem Zweifler, ist keine Geschichte von jemandem, der den Glauben an Christus grundsätzlich ablehnt. Thomas hat
nur bestimmte Bedingungen, an die er seinen Glauben knüpft. Und die
kann er klar benennen: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in
seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.“
7.8. Das ist eine klare Ansage. Kein: „Ich weiß ja auch nicht so genau.“
Thomas kann genau beschreiben, um was es ihn geht. Er hat sich mit
der Frage, ob Jesus wirklich auferstanden ist, eingehend beschäftigt, und
will eine fundierte Antwort. Und genau das zeichnet jemanden aus, der
sich mündig und angemessen mit einer Frage auseinandersetzt. Hier
geht’s nicht um ein paar Vorurteile, die Thomas schlampig zusammengekratzt hat. Thomas hat sich klar mit den Fakten auseinandergesetzt.
8. Ausgehaltener Zweifel
8.1. Und jetzt ist es spannend, was als nächstes geschieht. Die Antwort
ist ganz einfach: Nichts. Es passiert erst einmal nichts. Jesus ist souverän. Er muss nicht gleich hastig alles geradebiegen und zurechtrücken.
Er lässt sich von Thomas nicht manipulieren, nicht steuern und nicht treiben. Erst einmal wartet Jesus ab. Jesus verzichtet darauf, in Hektik zu
verfallen. Jesus lässt die Sache ganz ruhig angehen.
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8.2. Ganze acht Tage vergehen. Thomas muss sich in Geduld üben. Ein
Reifeprozess. So wie Gott das Volk Israel 40 Jahre durch die Wüste
führt, obwohl der Weg eigentlich in wenigen Wochen zu schaffen gewesen wäre, muss auch Thomas warten. Jesus entzieht sich ganz dem Justin-Time-Gefühl unserer Tage. Wo wir es gewöhnt sind, dass auf eine EMail spätestens in einer halben Stunde eine Reaktion zu erfolgen hat,
oder auf einen Facebookeintrag nach höchstens 5 Minuten. Jesus lässt
sich Zeit.
8.3. Ich bin der Überzeugung, dass Gott uns ganz bewusst solche Reifeprozesse zumutet. Schmerzen wollen durchwacht und durchlebt werden,
bevor es eine Antwort gibt. Ich selbst versuche mir den Anspruch abzugewöhnen, dass alles ganz schnell gehen muss. Eine Krankheit, die länger dauert als gewünscht, kann zu einem Prozess des Nachdenkens führen, der sonst vielleicht nicht stattgefunden hätte. Eine längere Durststrecke, selbst wenn sie sich über Jahre erstreckt, kann in der Rückschau ein
unwiederbringlicher Lernprozess sein. Porentief klar und rein in Sekunden, das gibt es nur im Werbefernsehen.
8.4. Auch im Glauben, im Vertrauen auf Gott sind Prozesse nötig. Auf
drängende Fragen zunächst keine Antwort zu bekommen, das ist eine
Herausforderung, das will durchgestanden werden. Und wenn diese
Stille nur dazu dient, um zu prüfen, ob die Fragen ernst gemeint sind.
Wenn nicht, lohnt auch nicht die Mühe um eine Antwort.
9. Berührter Zweifel
9.1. Doch Thomas kann warten und bekommt seine Antwort:
„Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas
war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie
und spricht: Friede sei mit euch!
Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und
reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern
gläubig!“
9.2. Jesus lässt Nähe zu, die es sonst nicht gibt
Das also ist die Begegnung, die von Thomas herbeigesehnt wurde.
Auch hier keine Vorwürfe, keine Anklage. Stattdessen kommt es zu einer
sehr persönlichen Begegnung. Jesus begnügt sich nicht damit, Thomas
einfach vor Augen zu treten. Jesus hilft Thomas die Dinge zu begreifen.
Jesus geht nicht auf Abstand. Er geht mit Thomas auf Augenhöhe und in
einen sehr intimen Kontakt. Jesus lässt hier eine Nähe zu, die sonst nicht
möglich ist. Nähe macht im wahrsten Sinne des Wortes angreifbar und
verletzbar. Die Nägelmale zu begreifen, die Wunde in der Seite zu berühren, das ist ein hohes Maß an Intimität. Jesus Christus hat die Größe
sich be-zweifeln und be-rühren zu lassen. Wie schon erwähnt: der Zweifel ist eine Sache von Verstand und Emotion und „Limbi“ will berührt und
nicht argumentativ überzeugt werden.
10. Aufbrechender Zweifel
mich auf ihn verlassen. Ob aus Erfahrungen und Berührungen Glaube
wird oder nur Bestätigung der eigenen zweifelhaften Vorurteile steht
noch auf einem ganz andere Blatt.
10.3. Nach dem Zweifeln, nach der gründlichen Prüfung der Fakten,
setzt der wichtigste Schritt ein: Auf das, was Christus ausmacht, zu vertrauen. Sich auf ihn einzulassen. Nicht im ungesunden Zweifel zu verharren.
10.4. Zweifeln ist möglich und manchmal nötig. Zweifeln ist gut, wenn
Zweifeln ein Werkzeug ist.
Aber dann muss es weitergehen. Nach dem Zweifel muss der
nächste Schritt erfolgen. Und wenn dieser Schritt gewagt
wird, dann kann aus diesem Zweifeln bei Christus ein AhaErlebnis und ein Staunen werden.
KANZELSEGEN
"Und der Friede Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne
in Christus Jesus. Amen!" (Phil. 4,4-7)
10.1. Kommt aber dennoch am Ende die Schelte, kommt die
große Schlussabrechnung?
„ Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig
sind, die nicht sehen und doch glauben!“
10.2. Was wird Thomas aus dieser Berührung, aus dieser Erfahrung machen? Denn ob bei Thomas aus diesem Wissen dauerhaftes Vertrauen
erwächst, das ist zum Ende der Geschichte noch nicht klar. Vielleicht sitzt
er abends schon wieder da und denkt weiter: aha, ich konnte seine
Wunden berühren. Also war Jesus gar nicht tot. Da hat ihm doch jemand
geholfen. Auf einen Scheintoten, der sein Grab wieder verlassen hat, auf
so einen Zombie werde ich mein Leben ganz sicher nicht setzen und
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