Alexander von Pechmann Artikel Alexander

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In: Widerspruch Nr. 45 Glaube oder Vernunft (2007), S. 101-116
Autor: Alexander von Pechmann
Artikel
Alexander
von Pechmann
Materialismus und Religionskritik
Über die ethischen Grundlagen
der Marxschen Theorie
Einleitung
Mehr als jede andere Theorie gehört heute der Marxismus auf den Prüfstand der Kritik. Denn war es nicht Marx’ „wissenschaftlicher Sozialismus“,
der den Beweis erbrachte, dass mit dem Fortschritt der Gesellschaft auch
die Religion und mit ihr alle Formen des Aberglaubens und Irrationalismus
verkümmern und absterben werden, da sie der nur elende Ausdruck elender
Verhältnisse sind? Und war er nicht zuletzt deshalb für ein ganzes Jahrhundert die einflussreichste und wirkungsvollste Lehre, die nicht nur weltweit
das politische Handeln organisiert und orientiert, sondern auch das intellektuelle Potential der besten Köpfe fasziniert und motiviert hatte?
Heute erscheint dies als ein Märchen aus vergangener Zeit und Marx als
toter Hund. Mag man in Wissenschaftskreisen noch seine Kapitalanalysen
als hellsichtig und zutreffend würdigen, – die Idee einer proletarischen
Weltrevolution, an die er den Fortschritt geknüpft hatte, hat sich vor Wirklichkeit blamiert. Auf den wenigen verbliebenen Inseln im globalisierenden
Meer ringt der Sozialismus buchstäblich mit dem Tode, die Kommunistische Partei Chinas hat das hohe Lied des „Enrichez vous“ angestimmt, und
in den entwickelten Industrieländern ringen die Arbeiter mit ganz anderen
Sorgen als dem Aufbau des Sozialismus.
Mit dem Niedergang des Marxismus einher geht die Wiederauferstehung
der schon tot geglaubten Religion. In Moskau, vormals Zentrum der Weltrevolution, erstrahlt am Ort proletarischer Körperertüchtigung, dem größten Freibad der Stadt, heute als Zeichen des Triumphes über den Unglauben die wiedererbaute Christi Erlöser-Kathedrale in vorrevolutionärem
Glanz. In der islamischen Welt wird derzeit auch dem verstocktesten Intellektuellen mit wenig Federlesen beigebracht, dass Allah der Größte sei, und
die verbliebene Weltmacht weiß sich mit dem Bischof von Rom so einig
wie selten, dass niemand außer Christus unser Herr sei.
Ist also der Marxismus durch die Geschichte widerlegt, und haben die Recht
behalten, die schon immer sagten, dass das Heil nicht von dieser Welt sei?
In seinem Artikel hat sich Bernhard Schindlbeck an der Fehlersuche beteiligt und auf das philosophische Element der Marxschen Theorie, den historischen Materialismus, konzentriert. Er sieht dessen wesentliches Defizit in
einer undurchsichtigen Verquickung von theoretisch-deskriptiven Begriffen
mit ethisch-normativen Kategorien. Diese Vermischung habe dazu geführt,
dass zum einen Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen und Prozesse teleologisch bzw. heilsgeschichtlich ‚aufgeladen’ und den Charakter von
Prophezeiungen über das Ende der Geschichte angenommen haben, und
dass zum anderen die normative Grundstruktur menschlicher Existenz
außerhalb des Blickfelds des historischen Materialismus verblieben sei. Sein
Messianismus und unreflektiertes Verhältnis zur jüdisch-christlichen Zeitauffassung sowie sein dogmatischer Relativismus in ethischen Fragen verweisen auf Schwach- und Leerstellen, die gleichsam die Einfallstore für die
Rückkehr der Religion im globalen Bewusstsein gebildet haben.
Nun soll nicht bestritten werden, dass diese Deutung des historischen Materialismus nicht nur möglich, sondern auch die gängige Lesart ist. Er wird
als eine Philosophie der Geschichte verstanden, die als solche sowohl die
ethische Dimension als auch die existentielle Situation des einzelnen ausgeblendet habe. Auch wenn es für diese Lesart durchaus Anknüpfungspunkte
im Marxschen Werk gibt, so unterschlägt sie meines Erachtens jedoch das
Wesentliche: die materialistischen Grundlagen und die darin begründete areligiös-humanistische Ethik, die die Marxsche Theoriebildung gleichsam anleiten. Man mag es Marx anlasten, dass er diese Grundlagen seiner Theorie
nicht systematisch behandelt, sondern als selbstverständlich erachtet hat. Er
hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass der Materialismus und dessen
ethisches Anliegen in der deutschen, durch den Idealismus von Kant bis zu
Feuerbach geprägten Tradition – anders als in England und Frankreich –
keine Aufnahme fand. Es soll mir im folgenden darum gehen, diesen materialistischen Gehalt der Marxschen Geschichtstheorie wieder sichtbar zu
machen, der in der gängigen, auch von Schindlbeck übernommenen Lesart
unterschlagen bzw., kenntnislos, als „naiv“ und „unreflektiert“ abgetan wird.
Die Unterscheidung zwischen theoretischem und normativem Gehalt
Es ist zweifellos so, dass sich in der Ethik des Marxismus nicht nur eine
Verquickung theoretischer Begriffe mit normativen Kategorien finden, sondern sogar ein Widerspruch konstruieren lässt. Denn einerseits bildet es geradezu das ideologiekritische Grundgerüst des historischen Materialismus,
dass für ihn moralische Normen keine unbedingte und überzeitliche Geltung
haben, sondern dass sie der jeweiligen Produktionsweise und Gesellschaftsformation entsprechen, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Das Ideelle, so
Marx’ allgemeiner Grundsatz, sei „nichts andres als das im Menschenkopf
umgesetzte und übersetzte Materielle“1. Daher galt in der Antike der Sklavenmarkt als das von Natur Gerechte, im Feudalismus der Besitz von Leibeignen als das von Gott Gewollte und im Kapitalismus schließlich gelten
Lohnarbeit und Arbeitsmarkt als das Vernunft- und Sachgemäße. Insofern
sind die moralischen Vorstellungen von dem, was gerecht und gut ist, nicht
geschichtslos, sondern spiegeln die je vorhandenen Verhältnisse wider; sie
sind allemal bedingt, hypothetischer Natur. – Andererseits hat Marx in
Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie den kategorischen Imperativ aufgestellt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist“2. Dieser Imperativ kann nur bedeuten, dass ein solcher Umsturz der Verhältnisse nicht nur
ein natürliches Recht ist, wie die Vertragstheorien es begründet haben, dass
er auch nicht nur der Ausdruck eines vorhandenen revolutionären Bewusstseins ist, sondern dass Marx ihn als unbedingte Pflicht versteht. Er bildet
den ethischen Maßstab, der den Umsturz nicht beschreibt oder erklärt, sondern als ein ethisch-praktisches Sollen postuliert. Er ist, wie Schindlbeck mit
Recht schreibt, die „raison d’être“ des Marxismus. – Beides jedoch, ein
bedingter und unbedingter, ein hypothetischer und kategorischer Imperativ,
1
2
MEW 23, 27.
MEW 1, 385.
ist zugleich unmöglich; er wäre in der Tat wie ein rundes Viereck. Würde
Marx also behaupten, jede Handlungsnorm sei als Ausdruck sozialer Verhältnisse bedingt, so geriete er zweifellos in Widerspruch zum Unbedingten
des von ihm formulierten Imperativs.
Statt nun zu unterstellen, Marx habe sich unreflektiert in diesem Widerspruch – der auch nicht besser wird, wenn man ihn mit dem Etikett
„dialektisch“ versieht – bewegt, macht es mehr Sinn, zwischen der
deskriptiv-theoretischen Ebene, die materielle wie ideelle Verhältnisse
beschreibt, analysiert und erklärt, und der normativ-praktischen Ebene, die
Handlungsnormen postuliert und begründet, zu unterscheiden. In diesem
Fall sind die ideologiekritischen Erklärungen moralischer Normen aus den
gesellschaftlichen Verhältnissen als ein wesentlicher Bestandteil der historischmaterialistischen Theorie zu verstehen; der kategorische Imperativ ist dann
jedoch kein Teil der Theorie, sondern der moralische Bestimmungsgrund
bzw. das Handlungsmotiv, das Marx zur Ausarbeitung seiner Gesellschaftsund Geschichtstheorie bewegt hat. Beides ist evidenterweise nicht dasselbe;
denn die Erklärung der geltenden Normen sind Teil der Theorie, der
kategorische Imperativ aber deren Voraussetzung und Beweggrund. Beide
Ebenen hängen aber auch nicht unmittelbar zusammen, weil jene
revolutionäre Pflicht für Marx unbedingt gilt, die Ausarbeitung seiner
historisch-materialistischen Theorie jedoch von der historischen Situation
abhängt.
Der „kategorische Imperativ“ als Handlungsmotiv
Nun scheinen freilich die Motive, die einen Denker zu seinen Gedanken
bewegen, in wissenschaftstheoretischer wie ethischer Hinsicht uninteressant
zu sein. Mögen nicht so freundlich gesonnene Marxologen das Motiv in
Marx’ ungebändigter Sehnsucht zu herrschen ausgemacht haben3, die Verehrer hingegen in seiner tiefen Solidarität mit der arbeitenden Klasse4; was
zählt, sind nicht die Motive, sondern die Begründbarkeit und sachliche
Richtigkeit einer Theorie. Nicht müßig aber ist die Frage dann, wenn der
Beweggrund zum einen aus einer Überzeugung resultiert, die einen allgemeinen und begründeten Geltungsanspruch erhebt, und wenn er zum anderen den Sinn und den Zweck der Theorie verständlich macht. Dieser Be-
3
4
Vgl. K. Löw, Die Lehre des Karl Marx – Dokumentation, Kritik, Köln 1982.
Vgl. F. Engels, Rede am Grab von Karl Marx am 17.3.1883. In: MEW 19, 335-337.
weggrund war, so nehme ich an, für Marx jener kategorische Imperativ; und
so ist er auch verstanden worden.
Um dieses Motiv zu begreifen, ist es üblicherweise – und Schindlbeck
schließt sich dem an – in die Tradition der deutschen Philosophie eingeordnet und in gewisser Weise als Fortbildung und Konkretisierung des
Kantischen Imperativs gedeutet worden. Als „Schüler Hegels“5 habe Marx
sich der Kritik Hegels am Formalismus des kantischen Vernunftprinzips
angeschlossen und zu eigen gemacht. Die Vernunft, so kurz gefasst der
Einwand Hegels, habe ihren Sitz nicht allein im moralischen Gewissen, in
der Achtung für das Gesetz, sondern in der Wirklichkeit. Mithin sei die
Aufgabe der Philosophie, nicht Grundsätze der Erkenntnis und der Moral
aufzustellen, sondern die Wirklichkeit selbst als vernünftig und damit die
Vernunft als wirklich zu begreifen. Diesem Prinzip der Einheit von Vernunft
und Wirklichkeit, von Sein und Sollen, sei Marx gefolgt. Er unterscheide sich
jedoch von Hegel grundsätzlich dadurch, dass er diese Versöhnung nicht
idealistisch im Begriff, d.h. im Medium der Philosophie, verwirklicht sieht,
sondern dass sie materialistisch in der Wirklichkeit selbst durch das revolutionäre Handeln herzustellen sei. Es komme daher nicht darauf an, so die bekannte These, die Welt nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern.
Marx wird so eingereiht in die klassische deutsche Philosophie, die er durch
ihr Praktisch-Werden in gewisser Weise beendet habe. Und in der Tat liegt
diese Einordnung des Marxismus seiner Deutung als einer Lehre des säkularen Heils zugrunde, die die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit
als einen immanenten, durch die menschliche Gattung herzustellenden
Geschichtsprozess begreift, als dessen Vollstrecker Marx das Proletariat, die
arbeitende Klasse, eingesetzt habe. Sie liegt aber auch der Kritik zugrunde,
die dem historischen Materialismus vorhält, er habe, unzulässig, das unbedingte Sollen mit dem allemal nur historisch bedingten Sein verbunden.
Meines Erachtens argumentiert Marx ganz anders. Sinn und Zweck revolutionären Handelns sei nicht die Versöhnung der Wirklichkeit mit der Vernunft, sondern der Mensch. „Die Kritik der Religion“, heißt es, „endet mit
der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also
mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen
5 vgl. zu dieser Interpretation den einflussreichen Artikel von D. Henrich, Karl Marx als
Schüler Hegels. In: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/Main 1971, 187-207.
der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist.“6
Dieser Mensch aber ist, wie Marx wiederholt betont hat7, nicht das Vernunftsubjekt der deutschen Philosophen – weder Kants moralische Person
noch der Hegelsche Weltgeist noch Feuerbachs Gattungswesen –, sondern
der wirkliche, der sinnlich-tätige Mensch. Was aber ist mit diesem „wirklichen Menschen“ gemeint?
Die Rede vom „wirklichen Menschen“
Um diese Frage zu klären, bedarf es eines Exkurses, der uns weg von der
deutschen Tradition in den französischen Philosophiediskurs führt. Wie
Marx, in dessen Trierer Familie übrigens Voltaire der Hausheilige war,
selbst erklärte, habe ihn die Befassung mit ökonomischen Fragen als Zeitungsredakteur dazu bewogen, sich von der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehen, um sich mit den Inhalten der französischen
Debatte vertraut zu machen. In Paris, wohin er exilierte, vertiefte er sich in
die Geschichte der Staatsverfassungen und ihre Revolutionen sowie in die
bedeutendsten Staatstheorien. Von diesem Studium zeugt ein 250-seitiges
Konvolut mit Exzerpten aus 24 Werken. Ein Jahr später teilte er einem
Bekannten mit, er habe den materialistischen Standpunkt seiner Geschichtsauffassung gefunden, wie er sie dann im „Vorwort zur Kritik der
politischen Ökonomie“ dargelegt hat. Von diesem Standpunkt aus rechnete
er in diversen Schriften, der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“,
der „Deutschen Ideologie“ oder der „Heiligen Familie“, gemeinsam mit
Engels über den Rhein hinweg mit „unserm ehemaligen philosophischen
Gewissen“8 ab. Marx, so die Schlussfolgerung, hat seinen materialistischen
Standpunkt nicht in der Auseinandersetzung mit der deutschen, sondern
mit der französischen, damals weitgehend materialistischen Philosophie
gefunden. Dementsprechend findet er harsche Worte über die Borniertheit
des deutschen Geisteslebens, dem die eigene Philosophie die Philosophie
schlechthin, in dem, wie er spottet, „’der Mensch’… realiter ‚der Deutsche’“9 sei.
6
7
8
9
MEW 1, 385.
z.B. MEW 1, 370; MEW 13, 632; MEW 40, 577, 584.
MEW 13, 10.
MEW, Bd. 3, 42.
In der „Heiligen Familie“ haben Marx und Engels einen kurzen Überblick
über den französischen Materialismus gegeben. Dieser begann mit Pierre
Gassendi, der den antiken Materialismus von Demokrit, Epikur und Lukrez
– dem übrigens Marx’ Dissertation gewidmet war – wiederherstellte. Auf
dem Gebiet der Natur erneuerte er die rationale und atheistische, durch ein
religiöses Eiferertum für ein Jahrtausend verdrängte Lehre, dass die Natur
auf natürliche, nicht außernatürliche Weise erklärt werden müsse. Es sei
daher widersinnig, die Welt als eine aus Nichts entstandene Schöpfung
anzunehmen; sie besteht vielmehr, unerschaffen, aus sich selbst. Raum, Zeit
und Bewegung sind deshalb auch nicht die Produkte eines außernatürlichen
Geistes und fangen nicht irgendwo und -wann an, sondern sind als Eigenschaften der materiellen Welt selbst zu begreifen. Auf dem Gebiet der Logik
und Erkenntnis richteten sich die Materialisten gegen die Vorstellung, dass
die menschliche Seele eine immaterielle und unsterbliche Substanz ist, die
als solche die Quelle apriorischer oder ewiger Wahrheiten sei. Diese von
Philosophen wie Pythagoras und Platon in ihren Schulen verbreitete Auffassung sei nur eine „für die Eitelkeit und für die Einbildungskraft der
Sterblichen so schmeichelhafte Lehre“10. Der Mensch, so der materialistische Grundsatz, denkt allein mittels der Sinne; diese Fähigkeiten des Empfindens seien gleichsam die Schaltstellen, die Materielles in Ideelles umsetzen. Stirbt der Mensch, erlischt auch sein Denken. Da die Ideen ihren Ursprung in der sinnlichen Erfahrung haben, hänge, so die praktische Wendung, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ganz von den Umständen und von der Erziehung ab. Auf dem Gebiet der Ethik schließlich
richteten sich die Materialisten vor allem gegen die dualistische Vorstellung
vom Menschen als einem „Zwitterwesen“ zwischen Tier und Gott, das, in
sich zerrissen, sich vor die Entscheidung zwischen „gut und böse“, zwischen ewigem Glück und ewigem Unglück, gestellt sehe. Solche Lehren
haben den Menschen nur „böse, ungesellig, nutzlos, unruhig, fanatisch“11
gemacht. Für sie ist der Mensch selbst Teil der Natur, und Triebfedern
seines Handelns seien nicht Selbsthass oder -zweifel, sondern die Selbstliebe, das Streben nach seinem, allemal weltlichen, Glück. Da nun aber der
Mensch seiner ganzen Natur nach ein soziales Wesen sei, hängen gut und
10
P. T. d’Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der
moralischen Welt, Frankfurt/Main 1978, 211.
11 ebd., 275.
böse weder vom imaginären Willen eines außernatürlichen Gesetzgebers
noch von bloßen Konventionen ab, sondern gründen in den sozialen Beziehungen, in denen der Mensch lebt. Gut ist daher, wer zum Glück seiner
Mitmenschen beiträgt; schlecht hingegen, wer ihnen Schaden zufügt.
„Es bedarf keines großen Scharfsinns,“12 bemerken Marx und Engels dazu, um aus diesen materialistischen Lehren vom Menschen den Zusammenhang mit dem revolutionären Sozialismus einzusehen: wenn der
Mensch aus der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis sich bildet, so
kommt es darauf an, diese Welt so einzurichten, dass er sich in ihr als
Mensch erfährt; wenn die Selbstliebe das Prinzip aller Moral ist, so kommt
es darauf an, dass das private mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt; wenn der Mensch frei ist, wo er seine Individualität geltend macht,
dann muss jedem der soziale Raum für seine wesentlichen Lebensäußerung
gegeben sein. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so
muss man die Umstände menschlich bilden; wenn der Mensch von Natur
gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine Natur erst in der Gesellschaft …
„Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich selbst in den ältesten
französischen Materialisten.“13
Um also, so unser Fazit, Marx’ Rede vom Menschen, vom „wirklichen,
leiblichen, auf der festen Erde stehenden, alle Naturkräfte aus- und einatmenden Menschen“14, zu verstehen, der dem Menschen das höchste Wesen
ist, bedurfte es keiner „Umstülpung“ der deutschen Transzendental- und
idealistischen Philosophie. Ihre Elemente lagen im französischen Materialismus vor. Marx’ kategorischer Imperativ freilich, die menschlichen Verhältnisse auch menschlich zu bilden, zog die praktische Konsequenz aus
diesen Lehren, vor der ihre Vertreter noch zurückgeschreckt waren.
Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens
Wenn wir aus diesem Exkurs den Schluss ziehen, dass der kategorische
Imperativ, der der Marxschen Theorie als Motiv zugrunde liegt, nicht heilsgeschichtlich durch das Prinzip der Versöhnung von Sein und Sollen begründet wird, sondern dass er die praktische Konsequenz aus der materialistischen Lehre vom „wirklichen Menschen“ zieht, dann stellt sich zwangs12
13
14
MEW 2, 138.
ebd.
MEW 40, 39.
läufig die Frage, ob und wie diese Lehre ihrerseits begründet werden kann.
Wie lässt sie sich gegen die Annahme derer verteidigen, für die nicht der
natürliche leibliche Mensch das höchste Wesen ist, weil in ihm, wie sie
sagen, noch ein ‚höheres’, übernatürliches und apriorisches Prinzip wirkt?
Die einfache Antwort ist: sie kann nicht begründet werden, so wenig wie
die ihr widersprechende Lehre. Denn in beiden Fällen erweist sich das Begründungsverfahren als tautologisch, da das, was bewiesen werden soll, in
den Prämissen schon vorausgesetzt ist. Wollte man dem Opponenten gegenüber dennoch ein Argument finden, das den Beweis für die Aussage
erbringen würde, dass dem Menschen der Mensch das höchste Wesen sei,
dann müsste man als Beweisgrund ein höheres Prinzip annehmen, dessen
Existenz die Aussage doch gerade verneint. Umgekehrt lässt sich gleichfalls
kein vernünftiger Grund finden, der zur Annahme zwingt, im sinnlichen
Menschen walte ein übersinnlich ideelles Prinzip. Zwischen den
Kontrahenten gibt es folglich kein Drittes, das als gemeinsamer
Bezugspunkt den Streit beenden könnte. Die Frage nach dem Sein des
Menschen, ob er sinnlich-materieller oder ideell-übersinnlicher Natur sei, ist
demnach nicht zu entscheiden, und die Debatte darüber müßig. Sie heizt
immer nur aufs Neue den alten, in theoretischer Hinsicht unfruchtbaren
Streit zwischen dem Atheisten an, der in seinen Erklärungen ohne ein
außerweltliches Prinzip auskommt, und dem Theisten, der, wo auch immer,
das Wirken eines solchen Prinzips erkennt. Es scheint daher das Beste zu
sein, die Rede vom „Sein des Menschen“ zu beenden.
Ganz anders verhält es sich freilich, wenn man den Sinn dieser Rede nicht
in ihrer ontologischen, sondern in ihrer existentiellen Bedeutung erkennt.
Denn dann antwortet sie nicht auf die Frage: „was ist der Mensch: ideell
oder materiell?“, sondern: „als was versteht sich der Mensch?“ Diese Frage bezieht sich nun aber nicht mehr auf den Menschen als ein Objekt, das so
oder so erkannt wird und daher bewiesen oder widerlegt werden kann,
sondern auf die Ebene des Sinns, d.h. des letzten Zwecks menschlicher
Existenz, von der Schindlbeck meint, der historische Materialismus habe sie
ausgeblendet. Sie richtet sich auf keine vermeintliche Einsicht in die Natur
des Menschen, sondern bezieht sich auf meine Entscheidung, was ich mir
als Mensch bin. Auf diese Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz
haben nun die verschiedenen Religionen bzw. ihre Stifter geantwortet, dass
es über den mir gewissen Tod und mein endliches Dasein hinaus etwas gibt,
ein Jenseits, und dass der Sinn meines Lebens im Bezug auf dieses Jenseits
besteht. Die Materialisten hingegen haben darauf geantwortet, dass es jenseits meines Todes nichts gibt, und dass daher der Sinn meines Lebens
dieses Leben selbst ist. Jene verneinen, diese bejahen den unendlichen Wert, den
das endliche Leben für den Menschen hat. Da nun aber beide Antworten
ihrem ethischen Gehalt nach nicht sagen, was der Mensch ist, sondern die
Frage nach dem Sinn seines Lebens beantworten, drücken sie keinen Sachverhalt aus, sondern den Akt der Sinnstiftung und damit die Überzeugung
vom Wert des eigenen endlichen Lebens. Dieser Akt der Sinngebung aber
ist weder logisch aus Vernunftgründen erschlossen noch ist er das zwangsläufige Resultat gemachter Erfahrungen; er ist vielmehr meine freie ethische Entscheidung, die mein gesamtes Leben, mein Denken, Erleben und Erfahren
prägt und orientiert.
Dieser Prägung entsprechend haben die Anhänger der verschiedenen Religionen nicht nur ihre Überzeugung vom Jenseits als Sinn des Lebens
vertreten, sondern haben sich auch darum bemüht, den Glauben an ein
jenseitig-künftiges Leben philosophisch im Begriff einer immateriellen und
unsterblichen Seele zu fassen und deren Dasein mit den Mitteln des Denkens als eine notwendige Idee zu beweisen, um ihren Gegnern, den Skeptikern wie den Materialisten, Vernunftlosigkeit oder Uneinsichtigkeit zu
unterstellen. Sie haben die unterschiedlichen Vorstellungen vom künftigen
Leben, wie der Wiedergeburt, dem Paradies oder dem „jüngsten Gericht“,
jeweils theologisch als Offenbarungen gedeutet, um Andersgesinnte der Gottesferne oder -feindschaft zu zeihen, die sie, oft genug und wo sie konnten,
getötet oder deren Lehren und Schriften verboten haben. Umgekehrt haben
die Materialisten für ihre Überzeugung vom unendlichen Wert des endlichen
Lebens gleichfalls die Vernunft bemüht, um den Glauben an eine jenseitige
Welt als haltlose Spekulation einer irrenden Vernunft oder als Trugbilder
einer ungezügelten Phantasie zu entlarven. Sie haben in ihm die Ursachen
des menschlichen Unglücks gesehen, weil er den Verstand verwirrt, die
Seele quält und den Menschen vom Streben nach irdischem Glück abhält,
und haben gleichfalls Priester als Volksverführer getötet, Theologen mundtot gemacht oder deren Schriften geächtet.15 Während die Religionen bei all
15
Erwähnt sei hier nur David Humes Aufruf zur Bücherverbrennung, mit dem seine
„Untersuchung über den menschlichen Verstand“ endet: „When we run over libraries,
persuaded of these principles, what havoc must we make? If we take in our hand any
ihren Unterschieden und Konflikten darin einig sind, dass Materialisten die
dem Menschen unwürdige Lehre vertreten, der Mensch sei nichts als Materie, erkennen Materialisten in den Religionen eine tiefe Missachtung oder
Gleichgültigkeit gegenüber dem wirklichen Leben der Menschen, das seinen
Wert nur als Bewährungsfeld fürs Jenseits habe.
Wenn angesichts dieser existenziellen Alternative zwischen Religion und
Materialismus Marx nun auf der Grundlage seiner Geschichtstheorie erklärt
hat, dass mit der Lehre vom Menschen als höchstem Wesen die Kritik der
Religion zugleich beendet sei, und dass die Menschheit nunmehr zu Anderem, Wichtigerem, der Errichtung einer menschlichen Gesellschaft, übergehen könne, dann scheint er damit einen Konflikt als beendet angesehen zu
haben, der, wie nicht zuletzt die Gegenwart zeigt, gar nicht abzuschließen
ist. – Angemessener hat diese Alternative Friedrich Engels formuliert, wenn
er es als die „höchste Frage der gesamten Philosophie“ bezeichnet hat:
„Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur“?16 Diese so genannte
„höchste Frage“ muss freilich dem als sinnlos erscheinen, der sie schon
beantwortet hat. Wenn Bernhard Schindlbeck daher in seinem Artikel
schon davon ausgeht, dass das Prinzip jene „normative Grundstruktur“
menschlicher Existenz sei, a priori um gut und böse zu wissen, und er das
Ursprüngliche damit im „Geist“ erkennt, und wenn er konsequenterweise
dem Materialismus vorhält, aufgrund seines ‚naiven’ Menschenbildes diese
Dimension ausgeblendet zu haben, dann erübrigt sich freilich die Frage. Als
höchste Frage gewinnt sie ihre Bedeutung nur dann, wenn man die Antwort
nicht schon hat, sondern die Frage erst stellt. Auf sie aber gibt die Philosophie niemals die eine, abschließende und endgültige Antwort, sondern eben
nur die zwei Antworten: „Geist“ oder „Natur“. In der einen Antwort ist der
unbedingte Wert ausgedrückt, den der religiöse Glaube dem jenseitigen
Leben und mit ihm dem übernatürlichen Prinzip gibt; die zweite Antwort
hingegen drückt den ebenso unbedingten Wert aus, den die humanistische
Überzeugung dem natürlichen und wirklichen Leben des Menschen gibt.
volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any
abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames:
for it can contain nothing but sophistry and illusion.”
16 „Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? – diese Frage spitzte sich, der
Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?“ (MEW 21, 275)
Zwischen diesen beiden Antworten mag es im wissenschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Leben viele Gemeinsamkeiten und Vermittlungen geben, und mag die eine Partei ihren Einfluss auf Kosten der anderen erweitern; im Höchsten und Letzten aber, wo sich die Frage nach dem
Sinn dieses Ganzen stellt, schließen beide einander aus.
Die Elemente der materialistischen Ethik
Diese bejahende Beziehung der Materialisten zum Leben hat sich in der
‚heidnischen Antike’ im Ideal der Ευθυµια, der Heiterkeit der Seele, ausgedrückt. Demokrit, der Begründer der materialistischen Ethik, sah das Endziel des menschlichen Lebens in einer Heiterkeit, „die keineswegs zusammenfällt mit der Lust, wie einige es missverstehen, sondern ein Zustand ist,
in welchem die Seele ein friedliches und gleichmäßiges Dasein führt, von
keiner Furcht, von keinem Aberglauben oder sonst welcher Störung aus
dem Gleichgewicht gebracht.“17 Diese Ethik formulierte das Ideal einer
diesseitigen Lebensführung, das sich klar von der Wundergläubigkeit der
Stoiker, der Weltflucht der Platoniker oder dem gottesfürchtigen Eiferertum der Christen unterschied.
Stand in der Antike das Bild des Weisen und die Sorge um die eigene Seele
im Zentrum, erneuerte der Materialismus nach über einem Jahrtausend der
christlichen Gottesliebe in der Zeit der Aufklärung die atheistische Ethik des
Diesseits unter dem Begriff der Selbstliebe. In ihm drückte sich das neu
erwachte Vertrauen des Menschen in den Willen und die Kraft aus, sein
Leben und Sterben selbst zu gestalten und es ohne Furcht vor göttlichen
Strafen und ohne Bitte um höheren Beistand zu führen. Der Mensch, so die
antiklerikale Überzeugung, bedarf weder der Bevormundung durch Seelsorger noch der Mysterien der Priester. Vor allem der französische Materialismus erweiterte jedoch das Verständnis vom menschlichen Leben, in dem
er, wie gesehen, den einzelnen zugleich als ein von Natur aus gesellschaftliches
Wesen betrachtete. Er widersprach damit insbesondere der Vorstellung von
der menschlichen Natur als einer einsamen, privaten und egoistischen
‚Macht- und Kampfmaschine’, zu der sie Thomas Hobbes erklärt hatte.
Ohne die Gemeinschaft mit anderen, so Condillac und Helvetius, ist es dem
Menschen seiner Natur nach gar nicht möglich, seine kognitiven wie
17
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, IX, 44.
sprachlichen Fähigkeiten sowie seine Bedürfnis- und Genussfähigkeiten
auszubilden und zu gebrauchen. Insofern ist das kommunistische Ideal:
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“18 in der
Tat, wie Marx bemerkte, die politische Folgerung aus einer Ethik, die die
Entfaltung der menschlichen Anlagen und Fähigkeiten in diesem Leben
zugleich als eine Sache der Gesellschaft begreift.
Was der historische Materialismus dem im 19. Jahrhundert hinzufügte, war
die Auffassung vom tätigen Charakter des menschlichen Lebens. „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus“, schrieb Marx in der 1. These zu
Feuerbach, „ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter
der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis“.19 Marx hielt zwar an der materialistischen Einsicht fest, dass der Mensch in seinem Denken und Handeln das Produkt der
gesellschaftlichen Verhältnisse ist20; er sah im Menschen jedoch auch den
Produzenten dieser Verhältnisse. Er erweiterte den Materialismus damit um
die historische Dimension, um die Geschichte der Gattung Mensch, die
selbst diejenigen Verhältnisse geschaffen hat und schafft, in denen die Menschen leben. Damit aber gewinnt die Arbeit als gemeinschaftliche sinnlichmaterielle Tätigkeit ihre zentrale Rolle im historischen Materialismus.21
Auf diesen Grundlagen wird nun der ethische Gehalt des kategorischen
Imperativs, wie Marx ihn formuliert hat, verständlich. Er gründet in keinem
Versöhnungsprinzip, sondern in der materialistischen Ethik: da es für den
Menschen nichts gibt als sein endliches Leben, das ihm daher das wirkliche
Leben ist, kann nichts moralisch verwerflicher sein als Verhältnisse, die
seinem Streben nach Glück in diesem Leben entgegenstehen, in denen er
also in seinen Lebensäußerungen nicht frei, sondern geknechtet, nicht geach18
19
20
MEW 19, 21.
MEW 3, 533.
Vgl. MEW, 40, 538: ,,Allein auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit,
die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann, so bin ich
gesellschaftlich, weil als Mensch tätig. Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir – wie
selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist – als gesellschaftliches Produkt gegeben,
mein eignes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus mir mache, ich
aus mir für die Gesellschaft mache und mit dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens... Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen."
21 siehe dazu F. Engels’ Entwurf über den „Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung
des Affen“. In: MEW 20, 444-455.
tet, sondern missachtet, nicht anerkannt, sondern erniedrigt ist. Im Umsturz
solcher Verhältnisse verwirklichen die Menschen freilich keinen heilsgeschichtlichen Plan, sondern folgen allein dem Wissen um den unendlichen
Wert, den das endliche menschliche Leben hat. Und dieser ethisch gesollte
Umsturz ist zugleich historisch möglich, weil die Verhältnisse nicht ‚von
Natur’ bestehen, sondern von den Menschen selbst gemacht sind: sie sind,
wie Marx schreibt, „kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger
und beständig in Veränderung begriffener Organismus“22.
Schlussfolgerungen
Akzeptiert man diese Darstellung der materialistischen und areligiösen
Grundlagen der Marxschen Theorie, dann ist es schlicht falsch und beruht
auf Unkenntnis, wenn das Wesen des historischen Materialismus nicht im
Materialismus, sondern, wie auch Schindlbeck behauptet, in einem quasireligiösen Heilsversprechen gesehen wird. Seine Normativität ist kein allwissender und omnipotenter Zwerg, um Benjamins Bild zu bemühen, der
sich hinter der Geschichtstheorie verbirgt. Sie liegt vielmehr vor aller Augen: sie besteht in der dezidiert humanistischen Überzeugung, dass dem
Menschen sein wirkliches Leben der höchste Wert ist. Aus dieser Überzeugung entspringen zwangsläufig die Empörung über dessen Missachtung
und die praktische Forderung, die menschlichen Verhältnisse menschlich zu
gestalten. Und die Umgestaltung der Verhältnisse erscheint nicht deshalb
als möglich, weil in sie das jüdisch-christliche Zeitschema von Vorzeit,
endlicher Zeit und ihrer Vollendung ‚hineinkopiert’ worden ist, sondern
weil sie von den Menschen selbst geschaffen sind. Dies ist meines Erachtens das Wesen der sowohl materialistischen wie historischen Philosophie.
Wo Marx hingegen tatsächlich darüber hinausgegangen ist, wo er nicht
nur den Umsturz der Verhältnisse kategorisch fordert und auf dessen Möglichkeit verweist, sondern wo er von den geschichtlichen Notwendigkeiten,
von den Gesetzmäßigkeiten und Zwangsläufigkeiten, gesprochen hat, nach
denen sich der historische Fortschritt vollzieht, dort hat er – und nach ihm
der Marxismus – in der Tat das ethisch begründete Sollen mit der analytischen Einsicht in das, was ist, vermischt. Diese Umwandlungen analytischer
Aussagen in metaphysische und damit einer Theorie der Gesellschaft in
22
MEW 23, 16.
eine Philosophie der Geschichte hat zweifellos der Deutung Vorschub
geleistet, der historische Materialismus betrachte die Geschichte als ein
autonomes und zielgerichtetes Subjekt und künde so vom künftigen „Reich
der Freiheit“ auf Erden. Und in Tat hat es wohl kein marxistisches Parteiprogramm gegeben, das nicht mit der Darstellung der menschlichen Geschichte, ihrer Gesetze und ihres künftigen Verlaufs begann. Dieses Prophetische hat dem Marxismus zweifellos seine geschichtliche Wirkung
verschafft, – und hat ihn heute diskreditiert.
Wenn man zum Abschluss fragt, was vom historischen Materialismus
nach der Blamage bleibt, so ist es gewiss der beständige Appell, unmenschliche Verhältnisse menschlich zu gestalten. Dieses Postulat wird von ihm
freilich nicht um der „ewigen Idee“ der Freiheit oder der Gerechtigkeit
willen erhoben, sondern geht aus dem unendlichen Wert hervor, den er
dem menschlichen Leben selbst gibt. Dieser Imperativ wird bleiben und
wirken, solange Menschen nach ihrem Glück und ihrer Entfaltung in diesem
Leben streben und sich in ihm doch als erniedrigte, geknechtete, verächtliche Wesen erfahren. Diese humanistische Ethik bedarf daher keiner Ergänzung um „normative Grundstrukturen“, die sie nur in ihr Gegenteil verkehren würde. Wohl aber bedarf sie heute der Erneuerung der Einsicht, dass
der Mensch, um den es geht, nicht nur das gesellschaftliche, sondern vor
allem anderen das „wirkliche, leibliche, auf der festen Erde stehende, alle
Naturkräfte aus- und einatmende“23 Wesen ist, so dass ihre Zerstörung
zugleich dessen Verschwinden wäre.
Was vom theoretischen Gehalt des historischen Materialismus hingegen
bleibt, wird eine Theorie sein, welche die menschliche Geschichte materialistisch, d.h. auf natürliche Weise und ohne transzendente Prinzipien oder
letzte Zwecke, erklärt, und die gerade deshalb die Veränderbarkeit scheinbar unveränderlicher Verhältnisse zu erkennen vermag. Ihres Dogmatismus
und ihrer Parteilichkeit entledigt, wird sie in die science community zurückkehren und, wie jede andere Theorie, den Kriterien der Wissenschaft zu
genügen haben: der inneren Konsistenz und Kohärenz ihrer Sätze sowie
der Übereinstimmung ihrer Aussagen mit den Tatsachen. Für ihre Wahrheitsfähigkeit gilt nicht mehr die Parteinahme für die ‚gute Sache’, sondern
allein das ‚gute Argument’; das, was Marx selbst von ihr verlangt hat: „Bei
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MEW 40, 39.
dem Eingang in die Wissenschaft aber, wie beim Eingang in die Hölle, muss
die Forderung gestellt werden:
Qui si convien lasciare ogne sospetto
Ogne viltà convien che qui sia morta.”24
24
MEW 13, 11. „Hier sei jeder Argwohn weggebannt, / Und jede Zagheit sterb’ an
diesem Ort.“ (Dante, Göttliche Komödie, I, 3, 14 f.)
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