Ulrike Lembke Hrsg. Sexualität und Recht im modernen Staat

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Geschlecht und Gesellschaft
Ulrike Lembke Hrsg.
Regulierungen
des Intimen
Sexualität und Recht
im modernen Staat
Geschlecht und Gesellschaft
Band 60
Herausgegeben von
B. Kortendiek, Duisburg-Essen, Deutschland
I. Lenz, Bochum, Deutschland
H. Lutz, Frankfurt/Main, Deutschland
M. Mae, Düsseldorf, Deutschland
M. Meuser, Dortmund, Deutschland
U. Müller, Bielefeld, Deutschland
M. Oechsle, Bielefeld, Deutschland
B. Riegraf, Paderborn, Deutschland
K. Sabisch, Bochum, Deutschland
P.-I. Villa, München, Deutschland
S. Völker, Köln, Deutschland
Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen
Fragen der Sozial- und Kulturwissenschaften; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen
und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine
prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht & Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge aus der Frauen- und Geschlechterforschung,
die Impulse für die Sozial- und Kulturwissenschaften geben. Zu den Veröffent­
lichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und t­heoretischen
Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in
­dieser Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung
in deutschsprachiger Übersetzung
Herausgegeben von
Beate Kortendiek,
Universität Duisburg-Essen
Mechtild Oechsle,
Universität Bielefeld
Ilse Lenz,
Ruhr-Universität Bochum
Birgit Riegraf,
Universität Paderborn
Helma Lutz,
Johann-Wolfgang-Goethe Universität
Frankfurt/Main
Katja Sabisch,
Ruhr-Universität Bochum
Michiko Mae,
Heinrich-Heine Universität Düsseldorf
Paula-Irene Villa,
Ludwig-Maximilians Universität
München
Michael Meuser,
Technische Universität Dortmund
Susanne Völker,
Universität zu Köln
Ursula Müller
Universität Bielefeld
Koordination der Buchreihe:
Beate Kortendiek,
Netzwerk Frauenund Geschlechterforschung NRW,
Universität Duisburg-Essen
Ulrike Lembke
(Hrsg.)
Regulierungen
des Intimen
Sexualität und Recht
im modernen Staat
Herausgeberin
Ulrike Lembke
­Universität Greifswald, Deutschland
Geschlecht und Gesellschaft
ISBN 978-3-658-11749-8 (eBook)
ISBN 978-3-658-11748-1
DOI 10.1007/978-3-658-11749-8
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Lektorat: Dr. Cori Mackrodt, Daniel Hawig
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
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Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
A
Einführung
Sexualität und Recht: eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Ulrike Lembke
B
Die Individualrechtspositionen: Sexuelle Autonomie
Sexuelle Selbstbestimmung als Individualrecht und als Rechtsgut .
Überlegungen zu Regulierungen des Intimen als Einschränkung
sexueller Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Elisabeth Holzleithner
Sexuelle Freiheiten als LGB-Menschenrecht: Privatheitsschutz
oder „öffentlicher Belang“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Katharina Bager und Sarah Elsuni
Hat der Staat den Bürger*innen Sexualität zu ermöglichen? . . . . . . . . . . . . . . . 71
Julia Zinsmeister
C
Staatliche Regelungsinteressen: Reproduktion, Ehe und Familie
„Produktive Sexualität“: Bevölkerungspolitik durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Ute Sacksofsky
VI
Inhalt
Eheliche (Rechts-)Pflichten: Ein verborgener Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Bettina Heiderhoff
Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Nora Markard
D Regulierungsaufgaben I: Deviante Sexualitäten
Sexual Citizenship. Zum Zusammenhang von Sexualsubjektivität,
sexueller Devianz und Bürger*innenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Elisabeth Greif
Das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare . . . . . . . . . . . 177
Ulrike Lembke
Primat des Einverständnisses? Unerwünschte konsensuelle Sexualitäten . . . 197
Joachim Renzikowski
Schutz durch Kontrolle? Zur Debatte über die Regulierung der Sexarbeit
in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Maria Wersig
E Regulierungsaufgaben II: Jenseits der Intimität
Bienen und Blumen im Dreieck. Sexualkundeunterricht zwischen
Elternrechten, Kinderrechten und staatlichem Erziehungsauftrag . . . . . . . . . 237
Ulrike A. C. Müller
Das Ansehen des Staates. Sexualbezogene Handlungen als
Dienstpflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Christoph Goos
Sexualität in der Öffentlichkeit. Zwischen Konfrontationsschutz und
Teilhabe am öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Ulrike Lembke
Inhalt
F
VII
Regulierungsgrenzen: Medienwandel und sexuelle Skripte
Exponierte Intimität. Rechtliche Grenzen ungewollter Offenbarung . . . . . . . 295
Karl-Nikolaus Peifer
Sex sells!? Rechtliche Grenzen sexualisierter Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Berit Völzmann
Pornographie: Verbot – Regulierung – Freigabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Anja Schmidt
Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
a .A .
a .F .
ABl .
Abs .
AG
AIDS
allg .
Art .
AufenthG
AufenthV
Aufl .
Az .
BayEUG
BayVGH
BBG
BbgSchulG
BDG
BDSM
BeamtStG
begr .
BGB
BGBl .
BGH
BMAS
BMFSFJ
BR-Drs .
BremSchulG
BSG
andere Ansicht
alte Fassung
Amtsblatt
Absatz
Amtsgericht
Acquired Immune Deficiency Syndrome (erworbene
Immunschwäche)
allgemein
Artikel
Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit
und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet
(Aufenthaltsgesetz)
Aufenthaltsverordnung
Auflage
Aktenzeichen
Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und
Unterrichtswesen
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Bundesbeamtengesetz
Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg
Bundesdisziplinargesetz
Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism &
Masochism
Beamtenstatusgesetz
begründet von
Bürgerliches Gesetzbuch
Bundesgesetzblatt
Bundesgerichtshof
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend
Bundesrats-Drucksache
Bremisches Schulgesetz
Bundessozialgericht
X
BT-Drs.
BVerfG
BVerfGE
BVerfG-K
BVerwG
BVerwGE
BZgA
C.D. Cal
CDU
CEDAW
d.h.
dies.
Distr. Court
DJB
DSM
ebd.
EGMR
EGStGB
EheschlRG
EKD
EL
EMRK
ESchG
EStG
et al.
EuGH
e.V.
f.
ff.
FamFG
FamRL
FKK
GG
GKV
GVG
Abkürzungsverzeichnis
Bundestag-Drucksache
Bundesverfassungsgericht
Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts
Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Bundesverwaltungsgericht
Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Central District of California
Christlich Demokratische Union Deutschlands
Convention on the Elimination of All Forms of
Discrimination against Women (UN-Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau)
das heißt
dieselbe
District Court (Bezirksgericht)
Deutscher Juristinnenbund
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer
Störungen)
ebenda
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Eheschließungsrechtsgesetz
Evangelische Kirche in Deutschland
Ergänzungslieferung
Europäische Menschenrechtskonvention
Embryonenschutzgesetz
Einkommensteuergesetz
et alii / et aliae / et alia (und andere)
Europäischer Gerichtshof
eingetragener Verein
folgende
fortfolgende
Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Familiennachzugsrichtlinie
Freikörperkultur
Grundgesetz
Gesetzliche Krankenversicherung
Gerichtverfassungsgesetz
Abkürzungsverzeichnis
HansOLG
Herv. d. Verf.
HessVGH
HIV
HmbgSG
Hrsg.
hrsg.
HSchG
i.d.F.
i.S.d.
i.V.m.
ibid.
ICD
ICERD
insb.
Intim-OPs
i.V.m.
JMStV
JuSchG
KassH
KG
KMK
KOK e.V.
krit.
LG
LGB
LGBTI*
LGBTIQ*
LPartG
LPG
Ls.
LSG
m.w.N.
Nr.
NRW
NS
XI
Hanseatisches Oberlandesgericht
Hervorhebung durch Verfasser*in
Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Human Immunodeficiency Virus (Humanes
Immundefizienz-Virus)
Hamburgisches Schulgesetz
Herausgeber*in
herausgegeben von
Hessisches Schulgesetz
in der Fassung
im Sinne der*des
in Verbindung mit
ebenda
International Classification of Diseases
International Convention on the Elimination of All Forms
of Racial Discrimination (UN-Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung)
insbesondere
Operationen im Intimbereich
in Verbindung mit
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag
Jugendschutzgesetz
Oberster Gerichts- und Kassationshof (Österreich)
Kammergericht (Berlin)
Kultusministerkonferenz
Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel
e.V.
kritisch
Landgericht
Lesbian, Gay, Bisexual
Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*
Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer
Lebenspartnerschaftsgesetz
Landespressegesetz
Leitsatz
Landessozialgericht
mit weiteren Nachweisen
Nummer
Nordrhein-Westfalen
Nationalsozialismus
XII
NSchG
o.ä.
OGH
OLG
ÖPNV
OVG
OWiG
Pacs
ProstG
ProstSchG
RBEG
RG
RGBl.
RL
Rn.
Rs.
RStGB
RStV
S.
s.a.
SbStG
SchG BaWü
SchlHolst SchulG
SchoG Saar
SchulG Bln
SchulG LSA
SchulG M-V
SchulG NRW
SchulG Rhpf
SEA
SG
SGB
SoFFI
sog.
SPD
SperrgebietsVO
StG
Abkürzungsverzeichnis
Niedersächsisches Schulgesetz
oder ähnliche/s
Oberster Gerichtshof (Österreich)
Oberlandesgericht
Öffentlicher Personennahverkehr
Oberverwaltungsgericht
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
pacte civil de solidarité (französischer Zivilpakt)
Prostitutionsgesetz
Prostitutiertenschutzgesetz
Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Reichsgericht
Reichsgesetzblatt
Richtlinie
Randnummer
Rechtssache
Reichsstrafgesetzbuch
Rundfunkstaatsvertrag
Seite
siehe auch
Selbstbestimmungsstärkungsgesetz
Schulgesetz für Baden-Württemberg
Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz
Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Saarland
Schulgesetz für das Land Berlin
Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt
Schulgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern
Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen
Schulgesetz für das Land Rheinland-Pfalz
systematische Verzeichnisse der Einnahmen und Ausgaben
privater Haushalte
Sozialgericht
Sozialgesetzbuch (Bücher I bis XII)
Sozialwissenschaftliches FrauenForschungsInstitut
sogenannte*r/s
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Sperrgebietsverordnung
Strafgesetz (Österreich bis 1974)
Abkürzungsverzeichnis
StGB
StGBl
StRG
ThürSchulG
TSchG
TSG
Tz.
UN CESCR
UN-BRK
USA
usw.
UWG
v.
VG
VGH
VGH BaWü
vgl.
WHO
WRV
WTG
z.B.
z.T.
XIII
Strafgesetzbuch
Staatsgesetzblatt (Deutschösterreich und Republik
Österreich 1918-1920)
Gesetz zur Reform des Strafrechts
Thüringer Schulgesetz
Tierschutzgesetz
Transsexuellengesetz
Teilziffer
UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights
(UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte)
Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen
United States of America
und so weiter
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
versus (gegen)
Verwaltungsgericht
Verwaltungsgerichtshof
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
vergleiche
Welthandelsorganisation
Weimarer Reichsverfassung
Wohn- und Teilhabegesetz
zum Beispiel
zum Teil
A
Einführung
Sexualität und Recht: eine Einführung
Ulrike Lembke
Zusammenfassung
Im Rechtsdiskurs wird der Umstand, dass rechtliche Normen erheblichen
Einfluss auch auf konsensuale Sexualitäten haben, weithin ignoriert . Seit dem
Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz gilt das Dogma
der staatsfreien Intimsphäre, wonach der moderne Rechtsstaat sich aus den
sexuellen Beziehungen seiner Bürger*innen herauszuhalten habe, sofern diese
nur einverständlich sind . Hintergrund ist ein reduzierter Liberalismus, der
nicht nach den Bedingungen sexueller Autonomie fragt, aber auch ein herrschaftsstabilisierendes Verständnis von Privatheit . Tatsächlich gibt es vielfältige
rechtliche Regelungen konsensualer Sexualitäten unter Erwachsenen, die sich auf
Öffentlichkeiten, Konfrontationsschutz, Bevölkerungspolitiken, Zuwanderung,
Staatsdienst, Jugendschutz, Kommerzialisierung oder Moralvorstellungen beziehen . Ihre Legitimität ist differenziert zu bewerten . Auff ällig ist, dass auch der
Rechtsdiskurs keine Definition von Sexualitäten als Regelungsgegenstand gibt,
ungeachtet aller Freiheitsrhetorik aber wesentlich an der Aufrechterhaltung und
Verbreitung eines reduzierten Sexualitätsverständnisses, vergeschlechtlichter
Sexualitätsmythen und entsprechender Geschlechterstereotype beteiligt ist .
Jurist*innen sind stolz darauf, dass ihnen nichts Menschliches fremd ist . Geht es
allerdings um die Relevanz von Recht für den Bereich einverständlicher Sexualitäten, schneidet eine große Liberalisierungserzählung weitere Annäherungen an
das Thema ab . Danach haben die Entfaltung sexueller Selbstbestimmung und das
Recht doch nichts mehr miteinander zu tun, die Staatsfreiheit der Intimsphäre gilt
manchen gar als Lackmustest moderner Gesellschaftsformen und Rechtssysteme .
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017
U. Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen,
Geschlecht und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-11749-8_1
4
Ulrike Lembke
Diese Coverstory eines reduzierten Liberalismus, der überdies rechtlich akzeptiertes
Einverständnis einem elaborierteren Konzept sexueller Autonomie1 vorzieht, ist
nicht uncharmant, aber unzutreffend. In diversen Rechtsgebieten wird Sexualität
adressiert. Zwar zeigen Gesetzestexte zunehmend Zurückhaltung, der juristische
Diskurs als Gesamtheit der Verständigungen über die geltende Rechtslage bleibt
jedoch eine wesentliche Quelle von Sexualitätsverständnissen und angesichts vielfältiger Regulierung ein Ort des gesellschaftlichen Kampfes um gute bzw. richtige
Sexualität, auch wenn die Thematisierung oft indirekt und auf Umwegen erfolgt.
Der vorliegende Band will rechtliche Zugriffe auf (einverständliche) Sexualität und
die ihnen zugrunde liegenden Verständnisse beleuchten, indem juristische Diskurse
zur Regulierung von Sexualität identifiziert und kritisch analysiert werden. Der
ungeordnete – und vielfach nur rhetorische – Rückzug des modernen Rechtsstaates
aus der Intimsphäre hat zu einer Gemengelage von sexualbezogenen Regelungen,
Motivationen, Konzepten, Legitimationen und rechtlichen wie faktischen Regelungsgrenzen geführt, welche hier nicht in übergreifende Modelle aufgelöst werden
können. Die Wiederkehr von Diskursmustern ist jedoch zu beobachten. Dabei
bleibt ein wesentliches Element rechtlicher Zugriffe auf Sexualität die Entfaltung
von Geschlechterstereotypen. Im Sprechen über die rechtliche Regulierung von
Intimität offenbart sich daher auch die Modernität juristischer Diskurse aus ganz
anderer Perspektive.
1
Regulierungsmodelle
Rechtliche Regulierung von Intimität kann verschiedenen Leitgedanken folgen. Die
Widersprüche und Fallen eines reduzierten liberalen Paradigmas, welches Privatheit
essentialisiert oder unter den Vorbehalt einer spezifischen Rationalität stellt und
Herrschaftsverhältnisse stabilisiert, sind von Cohen (2002) ebenso überzeugend
analysiert worden wie die Gefahren eines interventionistischen wohlfahrtstaatlichen Paradigmas, und ihre Konzeption von Privatheit in einem reflexiven Modell
verspricht keine pauschale Freiheit vom Staat, sondern ermöglicht verantwortete
Freiheit. Allerdings ist der von ihr betonte Antagonismus von liberalem und wohlfahrtstaatlichem Ansatz nicht zwingend, lässt sich doch gerade aus Perspektive eines
feministischen Liberalismus die Forderung nach einem Rückzug des bevormundenden Staates aus dem Feld autonomer Intimität verbinden mit der Forderung,
1 Ausführlich Holzleithner, in diesem Band, S. 31-50.
Sexualität und Recht: eine Einführung
5
die Mindestbedingungen dieser Autonomie wie Abwesenheit von Zwang staatlich
durchzusetzen (Nussbaum 2010).
Der radikale Flügel der ersten Frauenbewegung forderte eine grundlegende
Änderung des Eherechts, um den Subjektstatus von Frauen nach der Eheschließung
zu garantieren, und zugleich Zurückhaltung des Staates in Fragen der Sexualmoral:
„Welch finsteres Mittelalter liegt doch alleine darin, daß man sich überhaupt noch
erlaubt, in das privateste Privatleben, das Liebesleben, von Staats wegen einzugreifen, daß man sich vorzuschreiben erdreistet, in welcher Art und Form sich dieses
Leben abzuspielen hat?“ (Stöcker 1911). Die notwendige Differenzierungsleistung
zwischen Intimität und sexualisierter Gewalt fiel einigen Jurist*innen auch sechs
Jahrzehnte später noch schwer: männliche Homosexualität blieb strafbar, während
eine Vergewaltigung keine war, wenn sie innerhalb einer Ehe erfolgte. Solche ins
Auge springenden Widersprüche sind zwar weitgehend behoben. Die Regulierung
von Sexualität in Deutschland bleibt aber ein unübersichtliches Feld der Stärkung
sexueller Autonomie, der Reste rechtlich bewehrter Sexualmoral, der Konsequenzen entgrenzter Liberalisierung, feministischer Interventionen und verschiedener
Privatheitsverständnisse. Von Regelungsmodellen kann daher eigentlich nicht
gesprochen werden und es seien im Folgenden nur die Schlagworte vorgestellt, auf
welche der juristische Diskurs bei der expliziten Thematisierung von Sexualität
fokussiert: Rechtsgüterschutz, Einverständnis, Staatsfreiheit.
1.1
Von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz
Der juristische Diskurs muss sich schon deshalb mit der Identifikation eines Regelungsmodells schwertun, weil sein Zugriff auf die Regulierung von Sexualität
gerade im (rhetorischen) Verzicht besteht. Rechtswissenschaftliche Debattenbeiträge beziehen sich weit überwiegend auf das Jahr 1974 zurück: Damals vollzog der
bundesdeutsche Gesetzgeber die Wende vom Schutz der öffentlichen Ordnung und
Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz,2 der das freie Einverständnis zum Prüfstein
sexualbezogener Regulierungsnotwendigkeit wie Regulierungsbefugnis erhebt.
Die Verabschiedung von Sittlichkeit und Moral als Legitimation von Rechtserzeugung stellte einen Paradigmenwechsel dar. Schließlich wurde die grundsätzliche
Aufrechterhaltung von Ordnung, Sitte und Moral lange (auch in der Neuzeit) als
öffentliche Angelegenheit und staatliche Aufgabe betrachtet. Vollwertiges Mitglied
der Gesellschaft konnte nur sein, wer sich an bestimmte Sexualnormen halten konnte
und wollte (etliche Sittlichkeitsvergehen zogen die Aberkennung der bürgerlichen
2 Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (335ff.).
6
Ulrike Lembke
Ehrenrechte nach sich) und wer durch „produktive“ Sexualität einen Beitrag zum
Bevölkerungswachstum und damit für das Gemeinwesen leistete.3
Die explizite Abkehr von staatlichen Sittlichkeitsregimen artikulierte das
Fanny-Hill-Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. Juli 1969: „Das Strafgesetz
hat nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des
erwachsenen Bürgers durchzusetzen […]“ Forderungen zur Reduktion staatlicher
Intervention hatte es schon mehr als ein halbes Jahrhundert früher gegeben: „[D]er
Staat [kann] nicht die Kompetenz haben, etwas zu bestrafen, deshalb, weil es die eigene
Gesundheit gefährdet oder unmoralisch ist, sondern nur wenn ein Rechtsgut verletzt
wird.“ (Jellinek 1905, zu Abtreibung). Doch erst 1974 folgte die große Reform des
Sexualstrafrechts, welche aus Delikten wider die Sittlichkeit die „Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung“ machte. Damit wurde einverständliche Sexualität
unter Erwachsenen grundsätzlich zur Privatsache.
Die Anrufung eines Paradigmenwechsels von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz verdeckt zugleich Widersprüche wie Folgen dieses Prozesses. Zum einen war
die Verabschiedung von Sittlichkeitsvorstellungen unvollkommen, blieb männliche
Homosexualität doch weiterhin strafbar und einem Sonderregime unterworfen und
werden bestimmte Formen einverständlicher Sexualität bis heute durch Moralstrafrecht4 begrenzt. So unvollkommen der staatliche Rückzug aus der Sexualmoral
gelang, so überschießend stellt er sich im Bereich sexualisierter Gewalt dar, ist das
fehlende Einverständnis doch keineswegs hinreichend, um staatlichen Schutz des
Rechtsguts „sexuelle Selbstbestimmung“ zu begründen (kritisch Lembke 2014).
Zum anderen förderte die Privatisierung von Sexualität nicht nur individuelle
Freiheit, sondern auch den sog. freien Wettbewerb. Kommerzialisierte Sexualität
ist ausgesprochen lukrativ und pauschale Liberalisierung ohne Folgenabschätzung unterstützt entfesselte Märkte, die zu gesellschaftlicher Emanzipation und
Geschlechtergerechtigkeit erfahrungsgemäß eher wenig beitragen (siehe in Bezug
auf Pornographie die Beiträge in Dane und Schmidt 1990).
In Bezug auf Sexualität konnte aus dem Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit
zum Rechtsgüterschutz überdies kein Regelungsmodell erwachsen, weil Intimität
zur Privatsache und die Privatsphäre zum Ort des Naturzustandes erklärt wurden,
aus welcher der Staat sich zwingend zurückzuziehen habe, womit höchstens ein
Modell der Nicht-Regulierung5 begründet werden kann. Zum unbedingten Frei3
Zum Verlust der bürgerlichen Rechte Greif, in diesem Band, S. 161 (163ff.) zu staatlichen
Bevölkerungspolitiken Sacksofsky, in diesem Band, S. 97-116.
4 Dazu Renzikowski, in diesem Band, S. 197-213.
5 Nach Foucault (1977) handelt es sich um eine neue Regelungstechnik, aus juristischer
Perspektive um einen Regulierungsverzicht.
Sexualität und Recht: eine Einführung
7
heitsgewinn konnte diese Konstruktion nur durch einen spezifisch reduzierten
Liberalismus gedeutet werden.
1.2
Reduzierter Liberalismus: Staatsfreiheit der Intimsphäre
Zumindest der deutsche juristische Diskurs kennt eine bemerkenswerte Erzählung
der rechtlichen Dimension sexueller Liberalisierung, in welcher Modernität vom
Rückzug des Rechts abhängig gemacht und spätere wohlfahrtstaatliche Interventionen zur Stärkung von Autonomie dann als Freiheitsgefährdung diskutiert
werden konnten. Dass Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 zu einem Straftatbestand
wurde, hatte unter anderem mit diesen Diskursmustern zu tun, welche auch die
Zurückhaltung juristischer Akteur*innen bei der Bewertung sexueller und sexualbezogener Sachverhalte insgesamt erklären.
In dieser Lesart des Paradigmenwechsels von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz geht es aus Sicht der Rechtswissenschaft auch um Fragen von moderner
Staatlichkeit an sich. Eine wesentliche Grundannahme des modernen Staates ist
die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre.6 Der liberale Rechtsstaat macht
gar sein Selbstverständnis – bspw. in Abgrenzung zu totalitären oder nicht-säkularisierten Staaten – davon abhängig, wie weit er sich aus den „privaten“ Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger heraushält. Dabei gilt die Faustformel,
dass die Zurückhaltung des Staates umso größer sein muss, umso privater oder gar
intimer der betroffene Lebensbereich sich darstellt. Ungeachtet ihrer sozialen oder
kulturellen Bedeutung gelten sexuelle Begehren und Praktiken zunächst als Inbegriff
der Intimität. Auf dieser Grundlage entfaltet sich ein reduzierter Liberalismus, der
sich auf die apodiktische Feststellung einer staatsfreien Privatsphäre als Inbegriff
von Freiheitlichkeit beschränkt, ohne eine Definition von Privatheit zu geben oder
gar in eine machtpolitische Reflektion eintreten zu wollen.7
Seine wesentliche Funktion ist vielmehr die Entlastung des juristischen Diskurses von vertiefter Thematisierung inkonsistenter Regulierungen von Intimität und
ihrer Hintergründe. Zugleich schlägt das liberale Freiheitsversprechen um in das
Vorenthalten von Schutz und Teilhabe. Dreißig Jahre lang wurde die Strafbarkeit
der Vergewaltigung in der Ehe damit abgewehrt, man wolle „nicht den Staatsanwalt
6 Die feministische Dekonstruktion der öffentlich-privat-Dichotomie ist bis heute kaum
im juristischen Diskurs angekommen, vgl. nur die Klassikerin Pateman (1988) zum
sexual contract als unsichtbare Grundlage des social contract.
7 Ausführlich zu Chancen und Fallen des Privatheitsschutzes Bager und Elsuni, in diesem
Band, S. 51-69.
8
Ulrike Lembke
im ehelichen Schlafzimmer“ haben. Erst 1997 setzten sich diejenigen durch, die
sexualisierte Gewalt im ehelichen Schlafzimmer weitaus beunruhigender fanden.
Die exklusive Verortung von Sexualität in einer staatsfreien Privatsphäre leugnet
auch die eminent politische (Hark und Genschel 2003) Bedeutung von Intimität
für den bürgerlichen Status und weist jedes Begehren nach Teilhabe oder gleicher
rechtlicher Anerkennung als „privat“ zurück.8
1.3
Diskurslücke: sexuelle Autonomie
Wird Intimität einer staatsfreien Privatsphäre zugeordnet, erstaunt wenig, dass
die Konturierung des Individualrechts auf sexuelle Selbstbestimmung unscharf
bleibt. Meist tritt es nur als Grund einer staatlichen Schutzpflicht in Erscheinung, welche das Sexualstrafrecht rechtfertigt, soweit es sich auf die Abwehr
unerwünschter Übergriffe Dritter beschränkt. Dies entspricht dem Modell des
Rechtsgüterschutzes, wobei der zentrale Begriff des Einverständnisses eine über
pragmatische Erfordernisse hinausgehend unterkomplexe Ausprägung sexueller
Autonomie (grundlegend dagegen Holzleithner 2002) darstellt. Ferner bleibt recht
unklar, was die Rechtsunterworfenen über den Schutz vor sexualisierter Gewalt
hinaus vom Staat erwarten können und wie sich ihre sexuelle Autonomie auf dessen
Regelungskonzepte auswirkt. Manche Fragen werden auf dem Feld des Antidiskriminierungsrechts verhandelt (sexuelle Minderheiten); über mögliche Dimensionen
von Leistung (Sexualassistenz, Sexualkundeunterricht, reproduktive Rechte) oder
Teilhabe (sexual citizenship) des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung wird kaum
jemals nachgedacht.9 Auch wird die Frage nach der Bedeutung sexueller Autonomie für bestehendes Moralstrafrecht und im Bereich der Kommerzialisierung von
Sexualität ebenso wenig beantwortet wie die nach dem Einfluss internationaler
Regelungen, welche öffentliche Moral und Gesundheit zu möglichen Grenzen
von Intimität erklären,10 auf den legitimationsbegrenzenden Rechtsgüterschutz
im nationalen Recht.
8Zur sexual citizenship ausführlich Greif, in diesem Band, S. 161-175, zur Teilhabe Zinsmeister, in diesem Band, S. 71-93, zur rechtlichen Anerkennung Lembke, in diesem
Band, S. 177-196.
9 Anders in diesem Band, siehe Zinsmeister, S. 71-93, Greif, S. 161-175, Müller, S. 237-253.
10 Dazu Bager und Elsuni, in diesem Band, S. 51 (57ff.).
Sexualität und Recht: eine Einführung
9
2Regulierungsmotive
Der Sammelband spürt den Regulierungen des Intimen dort nach, wo staatliche
Interventionen zunächst nicht zu vermuten sind, weil das Versprechen sexueller
Freiheit zu einem Verzicht auf rechtliche Regulierung führen müsste. Die vorzufindenden Regulierungen sind nicht etwa per se illegitim, sondern bieten ein vielfältiges
Bild in Motiven, Konzeptionen, Vernetzungen und Folgen. Der vorliegende Band
fragt nach Regelungsbedürftigkeit, Regelungsmöglichkeiten und Regelungsgrenzen
einverständlicher Sexualität als bedeutsamer sozialer Praxis.
2.1Bevölkerungspolitiken
Auch wenn der Staat sich als Antwort auf die Pluralisierung der Gesellschaft jeglicher
sittlicher, moralischer oder religiöser Bewertung von einverständlicher Sexualität
enthalten will, so bleibt doch ein handfestes staatliches Interesse am Sexualleben
seiner Bürgerinnen und Bürger bestehen: eine gelingende Bevölkerungspolitik.11
Aktuell werden rechtspolitische Maßnahmen meist unter dem Begriff des „demographischen Wandels“ (dazu Baer 2010) verhandelt. In der juristischen Diskussion
um die rechtliche Anerkennung alternativer Lebensformen wird aber auch explizit
auf die Fortpflanzungsfähigkeit von verschiedengeschlechtlichen Ehen und deren
„unverzichtbaren Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft“ hingewiesen und damit die besondere staatliche Förderung der Ehe legitimiert. Die
daraus resultierende ungleiche Bewertung von Sexualitäten und Lebensformen
schlägt auch auf die rechtliche Rahmung des Sexualkundeunterrichts durch.12
Das Modell funktional auf die Familiengründung bezogener Sexualität als
Leitbild staatlicher Regulierung bleibt dabei ebenso zu diskutieren wie der Zusammenhang von Sexualitätsregulierung und reproduktiven Rechten. Zudem ist
Bevölkerungspolitik längst nicht nur als Frage unmittelbarer biologischer Reproduktion zu verstehen, sondern schließt u. a. Zuwanderungspolitiken mit ein. Der
besondere Schutz von Ehe und Familie fördert auch Bevölkerungszuwachs über
den Nachzug von Ehegatt*innen und Familienangehörigen. Zum Zweck der Zuwanderungsbegrenzung wird in diesem Kontext plötzlich ein materialer Ehebegriff
bemüht und geprüft, ob eine „echte“ Ehe oder eine sog. Scheinehe vorliegt, wobei
11 Grundlegend Sacksofsky, in diesem Band, S. 97-116.
12 Dazu Müller, in diesem Band, S. 237-253.
10
Ulrike Lembke
profunde Mythen und Stereotype über vergeschlechtlichte Intimitäten zugrunde
gelegt werden, welche überdies kulturalistisch geprägt sind.13
2.2
Öffentlichkeit und Staatsbezug
Wenn der wesentliche Grund der staatlichen Zurückhaltung die „privateste Privatheit“ von Sexualität14 ist, bildet die Herstellung eines Öffentlichkeitsbezuges
grundsätzlich einen Regelungsanlass (dazu Holzleithner 2002, S. 50ff.). Zum einen
entfällt die auf Privatheit beruhende Schutzbedürftigkeit zumindest partiell, wenn
Menschen mit ihrer Sexualität nach außen treten. Dies gilt insbesondere für Beamt*innen, welche durch nach außen tretende sexuelle Aktivitäten das Ansehen
des Staates oder des Berufsbeamtentums schädigen können und mit disziplinarrechtlichen Sanktionen zu rechnen haben, wenn ihre sexuelle Aktivität nicht
mehr als reine Privatangelegenheit zu bewerten ist.15 Zum anderen können Dritte
durch Sexualitäten außerhalb der Privatheit unzumutbar belästigt werden, weil
sie in öffentlichen (realen, medialen oder virtuellen) Räumen nicht mit sexuellen
Sachverhalten rechnen müssen. Ein Konfrontationsschutz ist – außer in Bezug auf
Pornographie16 – gesetzlich nicht vorgesehen, wird aber in verschiedenen juristischen Zusammenhängen diskutiert und rechtlich begründet.17 Geht es nicht um
die unerwünschte Konfrontation mit fremder Intimität, sondern die unerwünschte
Herstellung von Öffentlichkeit in Bezug auf eigene intime Haltungen, Erfahrungen
oder Handlungen, ist das Medienrecht einschlägig, welches von den Betroffenen
selbst mobilisiert werden muss.18 In allen diesen Konstellationen spielen Geschlechterverhältnisse, vergeschlechtlichte Sexualitäten und Geschlechterstereotype der
juristischen Akteur*innen eine oft wesentliche Rolle.
13 Ausführlich Markard, in diesem Band, S. 139-158.
14 In kaum auflösbarem Widerspruch hierzu steht die Vorstellung von Geschlechtsverkehr
als ehelicher Pflicht, ob sie nun als Erwartung oder Rechtspflicht formuliert wird, zu
den Verwerfungen ausführlich Heiderhoff, in diesem Band, S. 117-137.
15 Hierzu Goos, in diesem Band, S. 255-269. Zur Einschränkung sexueller Autonomie im
Bereich des Militärs vgl. Bager und Elsuni, in diesem Band, S. 51 (59f.).
16 Siehe Schmidt, in diesem Band, S. 333-351.
17 Hierzu Lembke, in diesem Band, S. 271 (280ff.); Völzmann, in diesem Band, S. 311
(322ff.).
18 Ausführlich Peifer, in diesem Band, S. 295-310.
Sexualität und Recht: eine Einführung
11
2.3Kommerzialisierung
Eine Unterform der Öffentlichkeit stellt die Kommerzialisierung von Sexualität dar,
da neben Staat und Politik auch das Wirtschaftsleben als öffentlich gilt. Hieraus
erklären sich teilweise Regelungsansätze in Bezug auf sexuelle Dienstleistungen,
sexualbezogene Werbung und Pornographie.19 Äußerungen von Gerichten ist allerdings zu entnehmen, dass sie kommerzielle sexuelle Dienstleistungen gar nicht unter
Sexualität fassen wollen: „Das Argument, die Akzeptanz von Sexualität, Erotik und
Freizügigkeit habe sich in den letzten 30 Jahren wesentlich verändert, […] verfängt
jedoch im vorliegenden Fall nicht, da es nicht um die Abbildung von Nacktheit oder
um Erotik und Freizügigkeit beziehungsweise partnerschaftliche Sexualität, sondern
schlichtweg um sexuelle Befriedigung als Ware geht.“ (HansOLG vom 9.10.2008).
Das Amtsgericht Lichtenberg (vom 26.10.2011) hält eine „Kommerzialisierung von
Höchstpersönlichem“ für grundsätzlich unzulässig, da mit der Menschenwürde
unvereinbar.
Im Bereich der kommerzialisierten Sexualität führte die Wende von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz zu nicht unerheblichen Problemen. Die Dynamik
der Kommerzialisierung wurde ebenso unterschätzt wie technische Entwicklungen (dazu Dane und Schmidt 1990) und als anerkannte Grenze funktioniert nach
wie vor eigentlich nur der Jugendschutz. Geschlechtergerechtigkeit als mögliches
Rechtsgut sowie deren Verhältnis zu Autonomie sind ausgesprochen ungeklärt.
Radikal-feministische Positionen rutschen leicht in eine „vormoderne“ Moralität
ab, liberal-feministische drohen in die Falle eines neoliberal reduzierten Verständnisses von Freiwilligkeit zu tappen. Der Kampf um den „richtigen“ Umgang mit
kommerzialisierter Sexualität ist weder im Wettstreit nationaler Regelungsmodelle
noch innerhalb feministischer Bewegungen entschieden.20
2.4Jugendschutz
Schließlich stellt der Jugendschutz ein Rechtsgut mit hoher Legitimationskraft
dar, welches sich nicht im Schutz vor Übergriffen erschöpft, sondern eine Vielzahl
von Regelungen zur Einschränkung der Publizität oder Kommerzialisierung von
Sexualität bedingt. Die dabei anvisierte „ungestörte sexuelle Entwicklung“ von
Kindern und Jugendlichen wirft allerdings nicht wenige Fragen auf (zur sexuellen
19 Wersig, in diesem Band, S. 215-234; Völzmann, in diesem Band, S. 311-332; Schmidt,
in diesem Band, S. 333-351.
20 Ausführlich Wersig, in diesem Band, S. 215-234.
12
Ulrike Lembke
Sozialisation Lautmann 2005, S. 69). Zwar ist intuitiv verständlich, was gemeint
sein mag, zugleich wird aber das Bild einer „natürlichen“ Sexualität heraufbeschworen, die sich von allein in wünschenswerter Weise entwickelt, wenn dieser
Prozess nur gegen Medien und sonstige Einflussnahmen abgeschirmt ist.21 Dies hat
Rückwirkungen auf die Legitimität von Sexualaufklärung und reiht sich zwanglos
in andere Re-Naturalisierungen ein, die im Diskursfeld von Sexualität, Geschlecht
und sexueller Identität zu beobachten sind.
2.5
Moral und Menschenwürde
Entgegen allen Beteuerungen der Zeitenwende 1974 enthält das Strafrecht durchaus
noch sexualbezogene Regelungen, die nur moralisch legitimierbar sind. Das prominenteste Beispiel ist die Strafbarkeit des Inzests unter erwachsenen Geschwistern,
deren Aufrechterhaltung durch das Bundesverfassungsgericht (vom 26.2.2008)
lebhafter juristischer Kritik ausgesetzt war.22 Der – nur für Männer strafbare –
Exhibitionismus stellt dagegen ungeachtet all seiner sonstigen problematischen
Implikationen kein Moralstrafrecht dar, weil es letztlich um den Bedrohungsgehalt
der Handlung angesichts der Aktualisierbarkeit sexualisierter Gewalt in heteronormativ geprägten Räumen geht.23 In Bezug auf andere „Veröffentlichungen“
von Sexualität verdeckt der angerufene Schutz vor unerwünschter Konfrontation
konkrete Begründungsmuster. Gegen die Kommerzialisierung von Sexualität wird
die Menschenwürde in einem paternalistischen Verständnis bemüht, welches den
Betroffenen die Entscheidungsfreiheit teils gänzlich abspricht. Bei der disziplinarrechtlichen Sanktionierung von sexualbezogenem Verhalten von Beamt*innen
betonen die Gerichte zwar, dass eine moralische Bewertung nicht angebracht sei,
und legen eine konkrete Beeinträchtigung des Dienstes dar, doch gibt es weiterhin
auch Berufungen auf die „Würde des Staates“ oder das „Ansehen des Berufsbeamtentums“, soweit es um „sittliche Verfehlungen“ geht.24
Diese Phänomene lassen sich allerdings nicht pauschal als Überreste eines Moralstrafrechts oder vormoderner wohlfahrtsstaatlicher Paternalismus aus kritischen
juristischen Diskursen ausgrenzen. Vielmehr sind sie zumindest teilweise der Beleg
dafür, dass die Legitimation durch Rechtsgüterschutz den Kontext des Strafrechts
überschritten hat und dass dieser Konzeption ein Verständnis individueller Rechte
21
22
23
24
Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (337ff.).
Hierzu Renzikowski, in diesem Band, S. 197 (202ff.).
Dazu Lembke, in diesem Band, S. 271 (276).
Kritisch Goos, in diesem Band, S. 255-269.
Sexualität und Recht: eine Einführung
13
zugrunde liegt, welches schmaler ist als die Legitimationsdiskurse aktueller Politiken. Immer wieder sind Überlegungen zur Regulierung von Intimität daher auf die
Frage zurückgeworfen, ob individuelle Freiheit als Dreh- und Angelpunkt genügt
und wessen Freiheit konkret gemeint ist.
3Regulierungsgegenstand
Eine weitere entscheidende Frage ist bisher ausgespart worden: Was ist eigentlich
Sexualität als Gegenstand rechtlicher Regulierung? Es scheint möglich, darüber
zu schreiben, ohne eine Definition anzubieten, was gerade im juristischen Diskurs
als ungewöhnlich bezeichnet werden darf.
3.1
Sexualität im juristischen Diskurs
Der Rechtsdiskurs hält sich hierzu im Wesentlichen bedeckt. Das Reichsgericht
sprach von Unzüchtigkeit, Unzuchtsbetrieb, Geschlechtsleben, geschlechtlichem
Verkehr oder Umgang25; das Bundesverfassungsgericht machte sich mit seinen
Ausführungen zu männlicher und weiblicher Sexualität im Homosexuellen-Urteil
von 1957 (dazu unter 3.4) ebenso unsterblich wie der Bundesgerichtshof in der Frage
der ehelichen Pflichten noch 196626. Der amerikanische Supreme Court Justice
Potter Stewart versuchte die Peinlichkeiten näherer Definition mit einem berühmt
25 Eine Erweiterung des Geschlechtsverkehrs auf „den gesamten natürlichen und naturwidrigen Geschlechtsverkehr, also außer dem Beischlaf auch alle geschlechtlichen
Betätigungen mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts, die nach der Art ihrer
Vornahme bestimmt sind, anstelle des Beischlafs der Befriedigung des Geschlechtstriebs
zumindest des einen Teils zu dienen“, erfolgte erst in der interpretatorischen Erweiterung
der Strafbarkeit der sog. Rassenschande durch den Großen Strafsenat des Reichsgerichts
(vom 9.12.1936), wobei unklar blieb, welche unzüchtigen Handlungen nun nicht mehr
erfasst waren.
26„Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung
teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen
Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im
ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft […] [Die Grundlage der ehelichen
Gemeinschaft wird] in aller Regel vollends zerstört, wenn der innerlich nicht beteiligte
Ehegatte den anderen durch eine zynische Behandlung des Geschlechtsverkehrs vor sich
selbst erniedrigt, indem er ihm unverhüllt zumutet, seinen Partner als bloßes Objekt
14
Ulrike Lembke
gewordenen Zitat zu umgehen. „I know it when I see it“, sagte er auf die Frage, ob ein
Film pornographisch sei oder nicht.27 Dies eben hatte das Reichsgericht bezweifelt
und resigniert festgestellt: „daß es kaum eine Handlung geben wird, die um ihrer
äußeren Beschaffenheit willen immer und notwendig unzüchtig ist, daß vielmehr
jede Handlung – zum mindesten von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – diese
Eigenschaft erst durch den Beweggrund und durch den Zweck erhält, um derentwillen
sie vorgenommen wird“ (RG vom 7.1.1929).
Die Unsicherheit, was „Sex“ eigentlich ist, dürfte die meisten Menschen befallen,
die sich ernsthaft an einer Definition versuchen (vgl. Christina 2013). Allerdings
arbeitet Rechtswissenschaft ganz wesentlich mit Definitionen. Das Gesetz hilft hier
nicht weiter, da es nur von sexueller Handlung spricht. Interpretiert wird diese als
„Handlung, die das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand
hat, und zwar unter Einsatz des eigenen oder eines fremden Körpers“ (Fischer 2009,
§ 184g, Rn. 2). Das ist vielleicht auch eine Art zu sagen: I know it when I see it. Und
leicht verengt ein solches Verständnis, welches Geschlechtlichkeit und Körper zentral
stellt, Sexualität auf einen physischen Vorgang. Umfassendere Definitionen bieten die
Chance, ein auf Triebe und Geschlechtsorgane fokussiertes Sexualitätsverständnis
abzulösen: „Sexualität ist ein existentielles Grundbedürfnis des Menschen und ein
zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität
umfasst sowohl biologische als auch psycho-soziale und emotionale Tatbestände
und Vorgänge.“ (BZgA 1994).28 Doch der juristische Diskurs braucht vor allem eine
Arbeitsdefinition, kämpfen Gerichte doch ohnehin mit der scheinbar ubiquitären
Präsenz und Natürlichkeit von Sexualität: „Sexuelle Betätigung an sich – in ihren
vielfältigsten Formen – gehört zu (fast) jedem Menschenleben – gerade ungeachtet von
Grad und Umfang der Bildung oder Talente – dazu.“ (VG Bremen vom 30.6.2010)
Dass viele Menschen (in Altenheimen, Gefängnissen oder unter Betreuung29) keine sexuellen Erlebnisse haben sollen und dass manche Menschen keine sexuellen
Erlebnisse haben wollen (Asexuelle), wird unterschlagen.
seiner Triebe zu gebrauchen.“ (BGH vom 2.11.1966) Zu aktuellen Diskursen um sexuelle
Pflichten in der Ehe siehe Heiderhoff, in diesem Band, S. 117-137.
27„I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description [hard-core pornography]; and perhaps I could
never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture
involved in this case is not that.“ (Stewart in: Supreme Court 1964).
28 Diese ambitionierte Definition hat zwar den Vorteil, rein biologisch-physische Verständnisse abzulösen, ihr überschießender Gehalt schafft aber andere problematische
Normierungen, so wenn von sexueller Identität die Rede ist.
29 Dazu Zinsmeister, in diesem Band, S. 71 (76ff.).
Sexualität und Recht: eine Einführung
3.2
15
Sexualwissenschaften und Heteronormativität
Es liegt nun nahe, der Rechtswissenschaft wie Jurisprudenz anzuraten, sie möge sich
doch nur einmal mit der einschlägigen Fachliteratur befassen, um zu Erkenntnissen
zu kommen. Letztere blieben auch gewiss nicht aus; eine handhabbare Definition ist
schon wesentlich unwahrscheinlicher. Zunächst stellt sich die Frage, welche Fachliteratur überhaupt zu konsultieren ist: die medizinisch-sexualwissenschaftliche,
biologische, neurologische, evolutionspsychologische, psychoanalytische, psychologische, empirisch-soziologische, kultursoziologische oder vielleicht die Gender
und Queer Studies? Und wer die Meister*innen konsultiert, stellt fest, dass sie es
auch nicht wissen oder vielmehr: dass sie es nicht wissen wollen. Denn Sexualität ist
trotz (oder wegen?) ihres Körperbezuges letztlich ein gesellschaftlicher, kontingenter Begriff (Sigusch 2013, S. 24). Dann aber wäre doch eine vorläufige, zeitlich wie
räumlich begrenzte Definition von Sexualität möglich – und auch wünschenswert:
„Wenn alle spüren, wie sexuelles Begehren sich regt, dann wird vielleicht keine Definition benötigt. Aber verspüren denn alle dasselbe? Nein.“ (Lautmann 2002, S. 20)
Die Sexualwissenschaften legen allerdings in der Definition ihres Gegenstandes
eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag: „Im Fachdiskurs scheint das, was
unter Sexualität zu verstehen ist, so evident zu sein, dass auf eine Definition vielfach
völlig verzichtet wird.“ (Lenz und Funk 2005, S. 16). Mit hoch problematischen
Konsequenzen: „Der weitgehende Verzicht auf eine Definition hat aber zur Folge,
dass vielleicht unbeabsichtigt, gewissermaßen hinter dem Rücken der Autor/innen,
ein verengtes Verständnis von Sexualität zum Vorschein kommt oder unreflektiert
fortgeschrieben wird. Eine dieser Verengungen besteht darin, dass Sexualität mit Koitus
gleichgesetzt wird. Dies ist keineswegs nur auf das Alltagsverständnis von Sexualität
beschränkt, sondern findet sich im starken Maße auch in der Sexualforschung und
Sexualwissenschaft wieder.“ (Lenz und Funk 2005, S. 16).
Ob solche Verengungen wirklich Unfälle im Forschungsbetrieb sind, sei einmal
dahingestellt. Sexualwissenschaftliche Ansätze sind immer auch politische Entscheidungen (dazu Seeck 1998). Gerade medizinische, evolutionspsychologische
und psychoanalytische Ansätze haben einen starken Zug hin zur „Normalisierung“,
übernehmen überkommene heteronormative Muster und stellen Pluralisierungen
von Sexualität unter Pathologieverdacht. Der Koitus als geheimes Zentrum der Sexualwissenschaften meint Heterosexualität als Normalfall, impliziert den Wunsch
nach Fortpflanzung, geht von zwei Geschlechtern aus, die einander sexuell doch so
gut ergänzen etc., ist also der Inbegriff heteronormativen Denkens. Recht absurd wird
es, wenn den Gender Studies eine „Überpolitisierung des Diskurses“ um Sexualität
und eine „Marginalisierung der alltäglichen Sexualkommunikation“ vorgeworfen
wird, um eigene empirische Forschung zu rechtfertigen (so Benkel und Akalin 2010,
16
Ulrike Lembke
S. 10). Hier bietet sich wohl eher eine Chance für sexualwissenschaftliche Forschung,
auch im 21. Jahrhundert anzukommen: „Entscheidend ist der Bedeutungskern, den
eine Kultur im Sexuellen sieht. Heute verweist dieser auf die lustvolle Begegnung von
Körpern, während das noch vor einhundertfünfzig Jahren der Geschlechtsverkehr
zwischen Mann und Frau gewesen wäre.“ (Lautmann 2002, S. 25)
3.3
Sexuelle Skripte und sexuelles Wissen
Foucault (1977) weist zu Recht darauf hin, dass die unermüdliche Beschäftigung mit
Fragen der Legitimität, Normalität und Repression von Sexualität zu einer besonderen kulturellen Bedeutsamkeit geführt hat, die sich nicht zuletzt im Sprechen über
sexuelle Orientierungen und Identitäten äußert – auch der Rechtsdiskurs setzt die
Selbstkategorisierung vor die Anerkennung. Die mediale Repräsentation stellt auf
den Normalfall des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs ab und handlungsleitende
sexuelle Skripte speisen sich wesentlich aus medialen Darstellungen. Sexuelle Skripte
sind „kognitive Repräsentationen prototypischer Handlungsabläufe in sexuellen
Interaktionen“, sie sind „stark kulturell geprägt und spiegeln konsensuell akzeptierte
Geschlechterstereotype und Verhaltenserwartungen wider“ (Krahé, Bieneck und
Scheinberger-Olwig 2004, S. 242). Umso billiger der Porno, umso stumpfer die
Geschlechterrollen und umso beschränkter das Handlungsrepertoire. Aber auch
juristische Texte und Konzepte repräsentieren bestimmte Sexualitätsvorstellungen
und verbreiten sexuelles Wissen.
Zwischen medialen Repräsentationen und sexuellen Aktivitäten bestehen
Korrelationen, die wie so oft in der Medienwirkungsforschung kaum eindeutig zu
identifizieren sind.30 Welche Rolle hier das Recht überhaupt spielen kann, wird zu
diskutieren sein. Interessant sind Analysen von Ratgeberliteratur, die zeigen, wie
bestimmte Grundannahmen und Themen ihre je eigene Epoche haben, von der
vollkommenen Ehe über die Vielfalt von Praktiken, die notwendige Beziehungsarbeit
und die Leistungssteigerung bis zur Selbstoptimierung (Iris Osswald-Rinner 2011).
Die Allgegenwärtigkeit von Sexualität in Populärkultur, Medien und kommerzieller
Werbung führt zu heterosexuellem Overscripting und Leistungsdruck. Sexuelle
Skripte sind pluraler geworden, weisen aber weiterhin eine klare Vergeschlechtlichung auf (Lenz 2005).
30 Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (338ff.).
Sexualität und Recht: eine Einführung
3.4
17
Vergeschlechtlichte Sexualitäten
Sexualität ist zutiefst vergeschlechtlicht und Ort gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Normierte Sexualitäten und hierarchisches Geschlechterverhältnis bedingen
einander (aktuell Lewandowski und Koppetsch 2015; grundlegend Butler 1991;
Rich 1989). Unzählig sind die kulturellen Bilder, die belegen, dass „Männer“ und
„Frauen“ einander nirgends so perfekt ergänzen wie beim Geschlechtsverkehr, und
es muss „Männer“ und „Frauen“ geben, um die Homosexualität31 von der überdies
den Bestand der Art sichernden Heterosexualität zu unterscheiden. Paradigmatisch
äußert sich dieses heteronormative Gesamtkunstwerk 32 aus Zweigeschlechtlichkeit
und normierter Sexualität im Begriff der „Sexualorgane“ bzw. „Geschlechtsorgane“, mit denen Körperteile gemeint sind, die in einem sehr engen Zusammenhang
zur Fortpflanzung stehen und außerdem den Körper eines Menschen mühelos als
„männlich“ oder „weiblich“ markieren sollen (zum Normbruch durch und normierender Gewalt gegen Intersex*: Dietze 2003).33 Aus koitusfixierten Sexualitätsvorstellungen werden Geschlechterrollen abgeleitet und wieder auf die Sexualität
rückprojiziert, und eine biologistische Grundhaltung versieht heterosexuellen
Geschlechtsverkehr, Sexualorgane und komplementäre Geschlechterrollen mit
dem gleichen leuchtenden Schein der Natürlichkeit.34
Unnachahmlich zusammengefasst wurde dieses Konzept vergeschlechtlichter
Sexualitäten vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Strafbarkeit
männlicher Homosexualität aus dem Jahr 1957: „Schon die körperliche Bildung der
Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für
die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin. Dieser
Unterschied der physiologischen Funktion läßt sich aus dem Zusammenhang des
geschlechtlichen Seins nicht ausgliedern, er ist mit konstituierend für Mann und Frau
als Geschlechtswesen. […] Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon
durch ihren Körper daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten verbunden ist.
Damit mag es zusammenhängen, daß bei der Frau körperliche Begierde (Sexualität)
und zärtliche Empfindungsfähigkeit (Erotik) fast immer miteinander verschmolzen
31 Das Veränderungspotential von gleichgeschlechtlicher Sexualität wird entschärft, indem diese als das Andere der Heterosexualität vereinnahmt und als sexuelle Identität
entpolitisiert wird (siehe auch Hark und Genschel 2003).
32 Zur profunden Vergeschlechtlichung von Sexualitäten insbesondere Holzleithner, S. 31
(40ff.); Greif, S. 161 (168ff.); Völzmann, S. 311 (319ff.); alle in diesem Band.
33 Für viele Menschen sind Mund, Finger und Hände wesentliche „Sexualorgane“, was
eine geschlechtliche Zuordnung durchaus erschwert.
34 Zu den Herausforderungen und Chancen eines poststrukturalistischen Zugriffs aus
feministisch-juristischer Sicht dagegen schon Smart (1994).
18
Ulrike Lembke
sind, während beim Manne, und zwar gerade beim Homosexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt bleiben.“ Die Frau kann auch eher sexuelle Enthaltsamkeit
leisten, während der Mann zur Verführung Jugendlicher neigt. Im Ganzen ist die
Sexualität des Mannes aktiv, lustorientiert und tendenziell gefährlich, während
fraglich bleibt, ob eine ernsthafte „Sexualität“ der Frau überhaupt existiert.
Letztere Frage ist trotz revolutionärer Veränderungen im Geschlechterverhältnis
wie im Bereich der Sexualitäten bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet. Die
Forderungen der ersten Frauenbewegung nach sexuellen und reproduktiven Rechten sowie Anerkennung weiblicher Sexualsubjektivität (siehe Janssen-Jurreit 1986)
blieben lange ungehört. Frühe feministische Sexualwissenschaftlerinnen deuteten
weibliche Frigidität als Protest gegen männliche Dominanz und Unterwerfung in
der Sexualität (Rühle-Gerstel 1932). Während einige Frauen die sexuelle Revolution der 1968er auch als persönliche sexuelle Befreiung erlebten (Heider 2014),
problematisierten radikale Feministinnen gerade das Feld der – angeblich befreiten35 – Sexualität als Herrschaftsverhältnis und Grundlage des Patriarchats: „Men
fuck women. Subject verb object.“ (MacKinnon 1989, S. 124). Der Kampf gegen den
„Mythos vom vaginalen Orgasmus“ machte die Klitoris zum neuen Sexualorgan
und entzog Männern das „Sexmonopol“ (Schwarzer 1975). Lesbische Beziehungen
wurden innerhalb kürzester Zeit (und mit Hilfe nur teilweise korrekt übersetzter
amerikanischer Schriften) von einer sexuellen Verirrung zur feministischen
Avantgarde (Hark 1996). Doch auch homosexuelle Emanzipationsbewegungen
blieben vom hierarchischen Geschlechterverhältnis geprägt (Kuckuc 1977). Die
Pille stärkte die reproduktive und damit auch sexuelle Autonomie von Frauen
durch die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung, erhöhte aber auch den
Druck zur sexuellen Bereitschaft. Immer wieder wird Frauen entweder nur eine
von männlichen Bedürfnissen abgeleitete und durch männlichen Blick (Penz 2015)
zugerichtete Sexualität zugestanden oder ihre Angleichung an männliche Sexualitäten (Orgasmusfixierung, Abgrenzbarkeit, Leistung) als emanzipatorisch gefeiert.
Trotzdem bleibt es das wesentliche Verdienst insbesondere der Frauen- und
Schwulenbewegungen, den Weg zu einer neuen Verhandlungsmoral und damit
Pluralisierung und Demokratisierung von Sexualitäten gebahnt zu haben (Giddens
1993). Die Versprechen autonomer weiblicher Sexualitäten und einer wirkmächtigen Vielfalt männlicher Sexualitäten jenseits hegemonialer Männlichkeit bleiben
jedoch vielfach uneingelöst, Bisexualität weitgehend unerforscht (Kemler, Löw und
Ritter 2012) und queere Sexualitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit kulturell
35 „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ wurde weitaus
berühmter als „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“
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