Geschlecht und Gesellschaft Ulrike Lembke Hrsg. Regulierungen des Intimen Sexualität und Recht im modernen Staat Geschlecht und Gesellschaft Band 60 Herausgegeben von B. Kortendiek, Duisburg-Essen, Deutschland I. Lenz, Bochum, Deutschland H. Lutz, Frankfurt/Main, Deutschland M. Mae, Düsseldorf, Deutschland M. Meuser, Dortmund, Deutschland U. Müller, Bielefeld, Deutschland M. Oechsle, Bielefeld, Deutschland B. Riegraf, Paderborn, Deutschland K. Sabisch, Bochum, Deutschland P.-I. Villa, München, Deutschland S. Völker, Köln, Deutschland Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen Fragen der Sozial- und Kulturwissenschaften; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht & Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge aus der Frauen- und Geschlechterforschung, die Impulse für die Sozial- und Kulturwissenschaften geben. Zu den Veröffent­ lichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und t­heoretischen Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in ­dieser Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung in deutschsprachiger Übersetzung Herausgegeben von Beate Kortendiek, Universität Duisburg-Essen Mechtild Oechsle, Universität Bielefeld Ilse Lenz, Ruhr-Universität Bochum Birgit Riegraf, Universität Paderborn Helma Lutz, Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main Katja Sabisch, Ruhr-Universität Bochum Michiko Mae, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Paula-Irene Villa, Ludwig-Maximilians Universität München Michael Meuser, Technische Universität Dortmund Susanne Völker, Universität zu Köln Ursula Müller Universität Bielefeld Koordination der Buchreihe: Beate Kortendiek, Netzwerk Frauenund Geschlechterforschung NRW, Universität Duisburg-Essen Ulrike Lembke (Hrsg.) Regulierungen des Intimen Sexualität und Recht im modernen Staat Herausgeberin Ulrike Lembke ­Universität Greifswald, Deutschland Geschlecht und Gesellschaft ISBN 978-3-658-11749-8 (eBook) ISBN 978-3-658-11748-1 DOI 10.1007/978-3-658-11749-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Lektorat: Dr. Cori Mackrodt, Daniel Hawig Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX A Einführung Sexualität und Recht: eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ulrike Lembke B Die Individualrechtspositionen: Sexuelle Autonomie Sexuelle Selbstbestimmung als Individualrecht und als Rechtsgut . Überlegungen zu Regulierungen des Intimen als Einschränkung sexueller Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Elisabeth Holzleithner Sexuelle Freiheiten als LGB-Menschenrecht: Privatheitsschutz oder „öffentlicher Belang“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Katharina Bager und Sarah Elsuni Hat der Staat den Bürger*innen Sexualität zu ermöglichen? . . . . . . . . . . . . . . . 71 Julia Zinsmeister C Staatliche Regelungsinteressen: Reproduktion, Ehe und Familie „Produktive Sexualität“: Bevölkerungspolitik durch Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Ute Sacksofsky VI Inhalt Eheliche (Rechts-)Pflichten: Ein verborgener Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Bettina Heiderhoff Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Nora Markard D Regulierungsaufgaben I: Deviante Sexualitäten Sexual Citizenship. Zum Zusammenhang von Sexualsubjektivität, sexueller Devianz und Bürger*innenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Elisabeth Greif Das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare . . . . . . . . . . . 177 Ulrike Lembke Primat des Einverständnisses? Unerwünschte konsensuelle Sexualitäten . . . 197 Joachim Renzikowski Schutz durch Kontrolle? Zur Debatte über die Regulierung der Sexarbeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Maria Wersig E Regulierungsaufgaben II: Jenseits der Intimität Bienen und Blumen im Dreieck. Sexualkundeunterricht zwischen Elternrechten, Kinderrechten und staatlichem Erziehungsauftrag . . . . . . . . . 237 Ulrike A. C. Müller Das Ansehen des Staates. Sexualbezogene Handlungen als Dienstpflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Christoph Goos Sexualität in der Öffentlichkeit. Zwischen Konfrontationsschutz und Teilhabe am öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Ulrike Lembke Inhalt F VII Regulierungsgrenzen: Medienwandel und sexuelle Skripte Exponierte Intimität. Rechtliche Grenzen ungewollter Offenbarung . . . . . . . 295 Karl-Nikolaus Peifer Sex sells!? Rechtliche Grenzen sexualisierter Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Berit Völzmann Pornographie: Verbot – Regulierung – Freigabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Anja Schmidt Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a .A . a .F . ABl . Abs . AG AIDS allg . Art . AufenthG AufenthV Aufl . Az . BayEUG BayVGH BBG BbgSchulG BDG BDSM BeamtStG begr . BGB BGBl . BGH BMAS BMFSFJ BR-Drs . BremSchulG BSG andere Ansicht alte Fassung Amtsblatt Absatz Amtsgericht Acquired Immune Deficiency Syndrome (erworbene Immunschwäche) allgemein Artikel Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) Aufenthaltsverordnung Auflage Aktenzeichen Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Bundesbeamtengesetz Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg Bundesdisziplinargesetz Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism Beamtenstatusgesetz begründet von Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesrats-Drucksache Bremisches Schulgesetz Bundessozialgericht X BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfG-K BVerwG BVerwGE BZgA C.D. Cal CDU CEDAW d.h. dies. Distr. Court DJB DSM ebd. EGMR EGStGB EheschlRG EKD EL EMRK ESchG EStG et al. EuGH e.V. f. ff. FamFG FamRL FKK GG GKV GVG Abkürzungsverzeichnis Bundestag-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Central District of California Christlich Demokratische Union Deutschlands Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) das heißt dieselbe District Court (Bezirksgericht) Deutscher Juristinnenbund Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) ebenda Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Eheschließungsrechtsgesetz Evangelische Kirche in Deutschland Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Embryonenschutzgesetz Einkommensteuergesetz et alii / et aliae / et alia (und andere) Europäischer Gerichtshof eingetragener Verein folgende fortfolgende Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Familiennachzugsrichtlinie Freikörperkultur Grundgesetz Gesetzliche Krankenversicherung Gerichtverfassungsgesetz Abkürzungsverzeichnis HansOLG Herv. d. Verf. HessVGH HIV HmbgSG Hrsg. hrsg. HSchG i.d.F. i.S.d. i.V.m. ibid. ICD ICERD insb. Intim-OPs i.V.m. JMStV JuSchG KassH KG KMK KOK e.V. krit. LG LGB LGBTI* LGBTIQ* LPartG LPG Ls. LSG m.w.N. Nr. NRW NS XI Hanseatisches Oberlandesgericht Hervorhebung durch Verfasser*in Hessischer Verwaltungsgerichtshof Human Immunodeficiency Virus (Humanes Immundefizienz-Virus) Hamburgisches Schulgesetz Herausgeber*in herausgegeben von Hessisches Schulgesetz in der Fassung im Sinne der*des in Verbindung mit ebenda International Classification of Diseases International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung) insbesondere Operationen im Intimbereich in Verbindung mit Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Jugendschutzgesetz Oberster Gerichts- und Kassationshof (Österreich) Kammergericht (Berlin) Kultusministerkonferenz Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. kritisch Landgericht Lesbian, Gay, Bisexual Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter* Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer Lebenspartnerschaftsgesetz Landespressegesetz Leitsatz Landessozialgericht mit weiteren Nachweisen Nummer Nordrhein-Westfalen Nationalsozialismus XII NSchG o.ä. OGH OLG ÖPNV OVG OWiG Pacs ProstG ProstSchG RBEG RG RGBl. RL Rn. Rs. RStGB RStV S. s.a. SbStG SchG BaWü SchlHolst SchulG SchoG Saar SchulG Bln SchulG LSA SchulG M-V SchulG NRW SchulG Rhpf SEA SG SGB SoFFI sog. SPD SperrgebietsVO StG Abkürzungsverzeichnis Niedersächsisches Schulgesetz oder ähnliche/s Oberster Gerichtshof (Österreich) Oberlandesgericht Öffentlicher Personennahverkehr Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten pacte civil de solidarité (französischer Zivilpakt) Prostitutionsgesetz Prostitutiertenschutzgesetz Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Reichsgericht Reichsgesetzblatt Richtlinie Randnummer Rechtssache Reichsstrafgesetzbuch Rundfunkstaatsvertrag Seite siehe auch Selbstbestimmungsstärkungsgesetz Schulgesetz für Baden-Württemberg Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Saarland Schulgesetz für das Land Berlin Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt Schulgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen Schulgesetz für das Land Rheinland-Pfalz systematische Verzeichnisse der Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte Sozialgericht Sozialgesetzbuch (Bücher I bis XII) Sozialwissenschaftliches FrauenForschungsInstitut sogenannte*r/s Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sperrgebietsverordnung Strafgesetz (Österreich bis 1974) Abkürzungsverzeichnis StGB StGBl StRG ThürSchulG TSchG TSG Tz. UN CESCR UN-BRK USA usw. UWG v. VG VGH VGH BaWü vgl. WHO WRV WTG z.B. z.T. XIII Strafgesetzbuch Staatsgesetzblatt (Deutschösterreich und Republik Österreich 1918-1920) Gesetz zur Reform des Strafrechts Thüringer Schulgesetz Tierschutzgesetz Transsexuellengesetz Teilziffer UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights (UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen United States of America und so weiter Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb versus (gegen) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vergleiche Welthandelsorganisation Weimarer Reichsverfassung Wohn- und Teilhabegesetz zum Beispiel zum Teil A Einführung Sexualität und Recht: eine Einführung Ulrike Lembke Zusammenfassung Im Rechtsdiskurs wird der Umstand, dass rechtliche Normen erheblichen Einfluss auch auf konsensuale Sexualitäten haben, weithin ignoriert . Seit dem Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz gilt das Dogma der staatsfreien Intimsphäre, wonach der moderne Rechtsstaat sich aus den sexuellen Beziehungen seiner Bürger*innen herauszuhalten habe, sofern diese nur einverständlich sind . Hintergrund ist ein reduzierter Liberalismus, der nicht nach den Bedingungen sexueller Autonomie fragt, aber auch ein herrschaftsstabilisierendes Verständnis von Privatheit . Tatsächlich gibt es vielfältige rechtliche Regelungen konsensualer Sexualitäten unter Erwachsenen, die sich auf Öffentlichkeiten, Konfrontationsschutz, Bevölkerungspolitiken, Zuwanderung, Staatsdienst, Jugendschutz, Kommerzialisierung oder Moralvorstellungen beziehen . Ihre Legitimität ist differenziert zu bewerten . Auff ällig ist, dass auch der Rechtsdiskurs keine Definition von Sexualitäten als Regelungsgegenstand gibt, ungeachtet aller Freiheitsrhetorik aber wesentlich an der Aufrechterhaltung und Verbreitung eines reduzierten Sexualitätsverständnisses, vergeschlechtlichter Sexualitätsmythen und entsprechender Geschlechterstereotype beteiligt ist . Jurist*innen sind stolz darauf, dass ihnen nichts Menschliches fremd ist . Geht es allerdings um die Relevanz von Recht für den Bereich einverständlicher Sexualitäten, schneidet eine große Liberalisierungserzählung weitere Annäherungen an das Thema ab . Danach haben die Entfaltung sexueller Selbstbestimmung und das Recht doch nichts mehr miteinander zu tun, die Staatsfreiheit der Intimsphäre gilt manchen gar als Lackmustest moderner Gesellschaftsformen und Rechtssysteme . © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 U. Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, Geschlecht und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-11749-8_1 4 Ulrike Lembke Diese Coverstory eines reduzierten Liberalismus, der überdies rechtlich akzeptiertes Einverständnis einem elaborierteren Konzept sexueller Autonomie1 vorzieht, ist nicht uncharmant, aber unzutreffend. In diversen Rechtsgebieten wird Sexualität adressiert. Zwar zeigen Gesetzestexte zunehmend Zurückhaltung, der juristische Diskurs als Gesamtheit der Verständigungen über die geltende Rechtslage bleibt jedoch eine wesentliche Quelle von Sexualitätsverständnissen und angesichts vielfältiger Regulierung ein Ort des gesellschaftlichen Kampfes um gute bzw. richtige Sexualität, auch wenn die Thematisierung oft indirekt und auf Umwegen erfolgt. Der vorliegende Band will rechtliche Zugriffe auf (einverständliche) Sexualität und die ihnen zugrunde liegenden Verständnisse beleuchten, indem juristische Diskurse zur Regulierung von Sexualität identifiziert und kritisch analysiert werden. Der ungeordnete – und vielfach nur rhetorische – Rückzug des modernen Rechtsstaates aus der Intimsphäre hat zu einer Gemengelage von sexualbezogenen Regelungen, Motivationen, Konzepten, Legitimationen und rechtlichen wie faktischen Regelungsgrenzen geführt, welche hier nicht in übergreifende Modelle aufgelöst werden können. Die Wiederkehr von Diskursmustern ist jedoch zu beobachten. Dabei bleibt ein wesentliches Element rechtlicher Zugriffe auf Sexualität die Entfaltung von Geschlechterstereotypen. Im Sprechen über die rechtliche Regulierung von Intimität offenbart sich daher auch die Modernität juristischer Diskurse aus ganz anderer Perspektive. 1 Regulierungsmodelle Rechtliche Regulierung von Intimität kann verschiedenen Leitgedanken folgen. Die Widersprüche und Fallen eines reduzierten liberalen Paradigmas, welches Privatheit essentialisiert oder unter den Vorbehalt einer spezifischen Rationalität stellt und Herrschaftsverhältnisse stabilisiert, sind von Cohen (2002) ebenso überzeugend analysiert worden wie die Gefahren eines interventionistischen wohlfahrtstaatlichen Paradigmas, und ihre Konzeption von Privatheit in einem reflexiven Modell verspricht keine pauschale Freiheit vom Staat, sondern ermöglicht verantwortete Freiheit. Allerdings ist der von ihr betonte Antagonismus von liberalem und wohlfahrtstaatlichem Ansatz nicht zwingend, lässt sich doch gerade aus Perspektive eines feministischen Liberalismus die Forderung nach einem Rückzug des bevormundenden Staates aus dem Feld autonomer Intimität verbinden mit der Forderung, 1 Ausführlich Holzleithner, in diesem Band, S. 31-50. Sexualität und Recht: eine Einführung 5 die Mindestbedingungen dieser Autonomie wie Abwesenheit von Zwang staatlich durchzusetzen (Nussbaum 2010). Der radikale Flügel der ersten Frauenbewegung forderte eine grundlegende Änderung des Eherechts, um den Subjektstatus von Frauen nach der Eheschließung zu garantieren, und zugleich Zurückhaltung des Staates in Fragen der Sexualmoral: „Welch finsteres Mittelalter liegt doch alleine darin, daß man sich überhaupt noch erlaubt, in das privateste Privatleben, das Liebesleben, von Staats wegen einzugreifen, daß man sich vorzuschreiben erdreistet, in welcher Art und Form sich dieses Leben abzuspielen hat?“ (Stöcker 1911). Die notwendige Differenzierungsleistung zwischen Intimität und sexualisierter Gewalt fiel einigen Jurist*innen auch sechs Jahrzehnte später noch schwer: männliche Homosexualität blieb strafbar, während eine Vergewaltigung keine war, wenn sie innerhalb einer Ehe erfolgte. Solche ins Auge springenden Widersprüche sind zwar weitgehend behoben. Die Regulierung von Sexualität in Deutschland bleibt aber ein unübersichtliches Feld der Stärkung sexueller Autonomie, der Reste rechtlich bewehrter Sexualmoral, der Konsequenzen entgrenzter Liberalisierung, feministischer Interventionen und verschiedener Privatheitsverständnisse. Von Regelungsmodellen kann daher eigentlich nicht gesprochen werden und es seien im Folgenden nur die Schlagworte vorgestellt, auf welche der juristische Diskurs bei der expliziten Thematisierung von Sexualität fokussiert: Rechtsgüterschutz, Einverständnis, Staatsfreiheit. 1.1 Von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz Der juristische Diskurs muss sich schon deshalb mit der Identifikation eines Regelungsmodells schwertun, weil sein Zugriff auf die Regulierung von Sexualität gerade im (rhetorischen) Verzicht besteht. Rechtswissenschaftliche Debattenbeiträge beziehen sich weit überwiegend auf das Jahr 1974 zurück: Damals vollzog der bundesdeutsche Gesetzgeber die Wende vom Schutz der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz,2 der das freie Einverständnis zum Prüfstein sexualbezogener Regulierungsnotwendigkeit wie Regulierungsbefugnis erhebt. Die Verabschiedung von Sittlichkeit und Moral als Legitimation von Rechtserzeugung stellte einen Paradigmenwechsel dar. Schließlich wurde die grundsätzliche Aufrechterhaltung von Ordnung, Sitte und Moral lange (auch in der Neuzeit) als öffentliche Angelegenheit und staatliche Aufgabe betrachtet. Vollwertiges Mitglied der Gesellschaft konnte nur sein, wer sich an bestimmte Sexualnormen halten konnte und wollte (etliche Sittlichkeitsvergehen zogen die Aberkennung der bürgerlichen 2 Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (335ff.). 6 Ulrike Lembke Ehrenrechte nach sich) und wer durch „produktive“ Sexualität einen Beitrag zum Bevölkerungswachstum und damit für das Gemeinwesen leistete.3 Die explizite Abkehr von staatlichen Sittlichkeitsregimen artikulierte das Fanny-Hill-Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22. Juli 1969: „Das Strafgesetz hat nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen […]“ Forderungen zur Reduktion staatlicher Intervention hatte es schon mehr als ein halbes Jahrhundert früher gegeben: „[D]er Staat [kann] nicht die Kompetenz haben, etwas zu bestrafen, deshalb, weil es die eigene Gesundheit gefährdet oder unmoralisch ist, sondern nur wenn ein Rechtsgut verletzt wird.“ (Jellinek 1905, zu Abtreibung). Doch erst 1974 folgte die große Reform des Sexualstrafrechts, welche aus Delikten wider die Sittlichkeit die „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ machte. Damit wurde einverständliche Sexualität unter Erwachsenen grundsätzlich zur Privatsache. Die Anrufung eines Paradigmenwechsels von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz verdeckt zugleich Widersprüche wie Folgen dieses Prozesses. Zum einen war die Verabschiedung von Sittlichkeitsvorstellungen unvollkommen, blieb männliche Homosexualität doch weiterhin strafbar und einem Sonderregime unterworfen und werden bestimmte Formen einverständlicher Sexualität bis heute durch Moralstrafrecht4 begrenzt. So unvollkommen der staatliche Rückzug aus der Sexualmoral gelang, so überschießend stellt er sich im Bereich sexualisierter Gewalt dar, ist das fehlende Einverständnis doch keineswegs hinreichend, um staatlichen Schutz des Rechtsguts „sexuelle Selbstbestimmung“ zu begründen (kritisch Lembke 2014). Zum anderen förderte die Privatisierung von Sexualität nicht nur individuelle Freiheit, sondern auch den sog. freien Wettbewerb. Kommerzialisierte Sexualität ist ausgesprochen lukrativ und pauschale Liberalisierung ohne Folgenabschätzung unterstützt entfesselte Märkte, die zu gesellschaftlicher Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit erfahrungsgemäß eher wenig beitragen (siehe in Bezug auf Pornographie die Beiträge in Dane und Schmidt 1990). In Bezug auf Sexualität konnte aus dem Paradigmenwechsel von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz überdies kein Regelungsmodell erwachsen, weil Intimität zur Privatsache und die Privatsphäre zum Ort des Naturzustandes erklärt wurden, aus welcher der Staat sich zwingend zurückzuziehen habe, womit höchstens ein Modell der Nicht-Regulierung5 begründet werden kann. Zum unbedingten Frei3 Zum Verlust der bürgerlichen Rechte Greif, in diesem Band, S. 161 (163ff.) zu staatlichen Bevölkerungspolitiken Sacksofsky, in diesem Band, S. 97-116. 4 Dazu Renzikowski, in diesem Band, S. 197-213. 5 Nach Foucault (1977) handelt es sich um eine neue Regelungstechnik, aus juristischer Perspektive um einen Regulierungsverzicht. Sexualität und Recht: eine Einführung 7 heitsgewinn konnte diese Konstruktion nur durch einen spezifisch reduzierten Liberalismus gedeutet werden. 1.2 Reduzierter Liberalismus: Staatsfreiheit der Intimsphäre Zumindest der deutsche juristische Diskurs kennt eine bemerkenswerte Erzählung der rechtlichen Dimension sexueller Liberalisierung, in welcher Modernität vom Rückzug des Rechts abhängig gemacht und spätere wohlfahrtstaatliche Interventionen zur Stärkung von Autonomie dann als Freiheitsgefährdung diskutiert werden konnten. Dass Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 zu einem Straftatbestand wurde, hatte unter anderem mit diesen Diskursmustern zu tun, welche auch die Zurückhaltung juristischer Akteur*innen bei der Bewertung sexueller und sexualbezogener Sachverhalte insgesamt erklären. In dieser Lesart des Paradigmenwechsels von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz geht es aus Sicht der Rechtswissenschaft auch um Fragen von moderner Staatlichkeit an sich. Eine wesentliche Grundannahme des modernen Staates ist die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre.6 Der liberale Rechtsstaat macht gar sein Selbstverständnis – bspw. in Abgrenzung zu totalitären oder nicht-säkularisierten Staaten – davon abhängig, wie weit er sich aus den „privaten“ Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger heraushält. Dabei gilt die Faustformel, dass die Zurückhaltung des Staates umso größer sein muss, umso privater oder gar intimer der betroffene Lebensbereich sich darstellt. Ungeachtet ihrer sozialen oder kulturellen Bedeutung gelten sexuelle Begehren und Praktiken zunächst als Inbegriff der Intimität. Auf dieser Grundlage entfaltet sich ein reduzierter Liberalismus, der sich auf die apodiktische Feststellung einer staatsfreien Privatsphäre als Inbegriff von Freiheitlichkeit beschränkt, ohne eine Definition von Privatheit zu geben oder gar in eine machtpolitische Reflektion eintreten zu wollen.7 Seine wesentliche Funktion ist vielmehr die Entlastung des juristischen Diskurses von vertiefter Thematisierung inkonsistenter Regulierungen von Intimität und ihrer Hintergründe. Zugleich schlägt das liberale Freiheitsversprechen um in das Vorenthalten von Schutz und Teilhabe. Dreißig Jahre lang wurde die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe damit abgewehrt, man wolle „nicht den Staatsanwalt 6 Die feministische Dekonstruktion der öffentlich-privat-Dichotomie ist bis heute kaum im juristischen Diskurs angekommen, vgl. nur die Klassikerin Pateman (1988) zum sexual contract als unsichtbare Grundlage des social contract. 7 Ausführlich zu Chancen und Fallen des Privatheitsschutzes Bager und Elsuni, in diesem Band, S. 51-69. 8 Ulrike Lembke im ehelichen Schlafzimmer“ haben. Erst 1997 setzten sich diejenigen durch, die sexualisierte Gewalt im ehelichen Schlafzimmer weitaus beunruhigender fanden. Die exklusive Verortung von Sexualität in einer staatsfreien Privatsphäre leugnet auch die eminent politische (Hark und Genschel 2003) Bedeutung von Intimität für den bürgerlichen Status und weist jedes Begehren nach Teilhabe oder gleicher rechtlicher Anerkennung als „privat“ zurück.8 1.3 Diskurslücke: sexuelle Autonomie Wird Intimität einer staatsfreien Privatsphäre zugeordnet, erstaunt wenig, dass die Konturierung des Individualrechts auf sexuelle Selbstbestimmung unscharf bleibt. Meist tritt es nur als Grund einer staatlichen Schutzpflicht in Erscheinung, welche das Sexualstrafrecht rechtfertigt, soweit es sich auf die Abwehr unerwünschter Übergriffe Dritter beschränkt. Dies entspricht dem Modell des Rechtsgüterschutzes, wobei der zentrale Begriff des Einverständnisses eine über pragmatische Erfordernisse hinausgehend unterkomplexe Ausprägung sexueller Autonomie (grundlegend dagegen Holzleithner 2002) darstellt. Ferner bleibt recht unklar, was die Rechtsunterworfenen über den Schutz vor sexualisierter Gewalt hinaus vom Staat erwarten können und wie sich ihre sexuelle Autonomie auf dessen Regelungskonzepte auswirkt. Manche Fragen werden auf dem Feld des Antidiskriminierungsrechts verhandelt (sexuelle Minderheiten); über mögliche Dimensionen von Leistung (Sexualassistenz, Sexualkundeunterricht, reproduktive Rechte) oder Teilhabe (sexual citizenship) des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung wird kaum jemals nachgedacht.9 Auch wird die Frage nach der Bedeutung sexueller Autonomie für bestehendes Moralstrafrecht und im Bereich der Kommerzialisierung von Sexualität ebenso wenig beantwortet wie die nach dem Einfluss internationaler Regelungen, welche öffentliche Moral und Gesundheit zu möglichen Grenzen von Intimität erklären,10 auf den legitimationsbegrenzenden Rechtsgüterschutz im nationalen Recht. 8Zur sexual citizenship ausführlich Greif, in diesem Band, S. 161-175, zur Teilhabe Zinsmeister, in diesem Band, S. 71-93, zur rechtlichen Anerkennung Lembke, in diesem Band, S. 177-196. 9 Anders in diesem Band, siehe Zinsmeister, S. 71-93, Greif, S. 161-175, Müller, S. 237-253. 10 Dazu Bager und Elsuni, in diesem Band, S. 51 (57ff.). Sexualität und Recht: eine Einführung 9 2Regulierungsmotive Der Sammelband spürt den Regulierungen des Intimen dort nach, wo staatliche Interventionen zunächst nicht zu vermuten sind, weil das Versprechen sexueller Freiheit zu einem Verzicht auf rechtliche Regulierung führen müsste. Die vorzufindenden Regulierungen sind nicht etwa per se illegitim, sondern bieten ein vielfältiges Bild in Motiven, Konzeptionen, Vernetzungen und Folgen. Der vorliegende Band fragt nach Regelungsbedürftigkeit, Regelungsmöglichkeiten und Regelungsgrenzen einverständlicher Sexualität als bedeutsamer sozialer Praxis. 2.1Bevölkerungspolitiken Auch wenn der Staat sich als Antwort auf die Pluralisierung der Gesellschaft jeglicher sittlicher, moralischer oder religiöser Bewertung von einverständlicher Sexualität enthalten will, so bleibt doch ein handfestes staatliches Interesse am Sexualleben seiner Bürgerinnen und Bürger bestehen: eine gelingende Bevölkerungspolitik.11 Aktuell werden rechtspolitische Maßnahmen meist unter dem Begriff des „demographischen Wandels“ (dazu Baer 2010) verhandelt. In der juristischen Diskussion um die rechtliche Anerkennung alternativer Lebensformen wird aber auch explizit auf die Fortpflanzungsfähigkeit von verschiedengeschlechtlichen Ehen und deren „unverzichtbaren Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft“ hingewiesen und damit die besondere staatliche Förderung der Ehe legitimiert. Die daraus resultierende ungleiche Bewertung von Sexualitäten und Lebensformen schlägt auch auf die rechtliche Rahmung des Sexualkundeunterrichts durch.12 Das Modell funktional auf die Familiengründung bezogener Sexualität als Leitbild staatlicher Regulierung bleibt dabei ebenso zu diskutieren wie der Zusammenhang von Sexualitätsregulierung und reproduktiven Rechten. Zudem ist Bevölkerungspolitik längst nicht nur als Frage unmittelbarer biologischer Reproduktion zu verstehen, sondern schließt u. a. Zuwanderungspolitiken mit ein. Der besondere Schutz von Ehe und Familie fördert auch Bevölkerungszuwachs über den Nachzug von Ehegatt*innen und Familienangehörigen. Zum Zweck der Zuwanderungsbegrenzung wird in diesem Kontext plötzlich ein materialer Ehebegriff bemüht und geprüft, ob eine „echte“ Ehe oder eine sog. Scheinehe vorliegt, wobei 11 Grundlegend Sacksofsky, in diesem Band, S. 97-116. 12 Dazu Müller, in diesem Band, S. 237-253. 10 Ulrike Lembke profunde Mythen und Stereotype über vergeschlechtlichte Intimitäten zugrunde gelegt werden, welche überdies kulturalistisch geprägt sind.13 2.2 Öffentlichkeit und Staatsbezug Wenn der wesentliche Grund der staatlichen Zurückhaltung die „privateste Privatheit“ von Sexualität14 ist, bildet die Herstellung eines Öffentlichkeitsbezuges grundsätzlich einen Regelungsanlass (dazu Holzleithner 2002, S. 50ff.). Zum einen entfällt die auf Privatheit beruhende Schutzbedürftigkeit zumindest partiell, wenn Menschen mit ihrer Sexualität nach außen treten. Dies gilt insbesondere für Beamt*innen, welche durch nach außen tretende sexuelle Aktivitäten das Ansehen des Staates oder des Berufsbeamtentums schädigen können und mit disziplinarrechtlichen Sanktionen zu rechnen haben, wenn ihre sexuelle Aktivität nicht mehr als reine Privatangelegenheit zu bewerten ist.15 Zum anderen können Dritte durch Sexualitäten außerhalb der Privatheit unzumutbar belästigt werden, weil sie in öffentlichen (realen, medialen oder virtuellen) Räumen nicht mit sexuellen Sachverhalten rechnen müssen. Ein Konfrontationsschutz ist – außer in Bezug auf Pornographie16 – gesetzlich nicht vorgesehen, wird aber in verschiedenen juristischen Zusammenhängen diskutiert und rechtlich begründet.17 Geht es nicht um die unerwünschte Konfrontation mit fremder Intimität, sondern die unerwünschte Herstellung von Öffentlichkeit in Bezug auf eigene intime Haltungen, Erfahrungen oder Handlungen, ist das Medienrecht einschlägig, welches von den Betroffenen selbst mobilisiert werden muss.18 In allen diesen Konstellationen spielen Geschlechterverhältnisse, vergeschlechtlichte Sexualitäten und Geschlechterstereotype der juristischen Akteur*innen eine oft wesentliche Rolle. 13 Ausführlich Markard, in diesem Band, S. 139-158. 14 In kaum auflösbarem Widerspruch hierzu steht die Vorstellung von Geschlechtsverkehr als ehelicher Pflicht, ob sie nun als Erwartung oder Rechtspflicht formuliert wird, zu den Verwerfungen ausführlich Heiderhoff, in diesem Band, S. 117-137. 15 Hierzu Goos, in diesem Band, S. 255-269. Zur Einschränkung sexueller Autonomie im Bereich des Militärs vgl. Bager und Elsuni, in diesem Band, S. 51 (59f.). 16 Siehe Schmidt, in diesem Band, S. 333-351. 17 Hierzu Lembke, in diesem Band, S. 271 (280ff.); Völzmann, in diesem Band, S. 311 (322ff.). 18 Ausführlich Peifer, in diesem Band, S. 295-310. Sexualität und Recht: eine Einführung 11 2.3Kommerzialisierung Eine Unterform der Öffentlichkeit stellt die Kommerzialisierung von Sexualität dar, da neben Staat und Politik auch das Wirtschaftsleben als öffentlich gilt. Hieraus erklären sich teilweise Regelungsansätze in Bezug auf sexuelle Dienstleistungen, sexualbezogene Werbung und Pornographie.19 Äußerungen von Gerichten ist allerdings zu entnehmen, dass sie kommerzielle sexuelle Dienstleistungen gar nicht unter Sexualität fassen wollen: „Das Argument, die Akzeptanz von Sexualität, Erotik und Freizügigkeit habe sich in den letzten 30 Jahren wesentlich verändert, […] verfängt jedoch im vorliegenden Fall nicht, da es nicht um die Abbildung von Nacktheit oder um Erotik und Freizügigkeit beziehungsweise partnerschaftliche Sexualität, sondern schlichtweg um sexuelle Befriedigung als Ware geht.“ (HansOLG vom 9.10.2008). Das Amtsgericht Lichtenberg (vom 26.10.2011) hält eine „Kommerzialisierung von Höchstpersönlichem“ für grundsätzlich unzulässig, da mit der Menschenwürde unvereinbar. Im Bereich der kommerzialisierten Sexualität führte die Wende von der Sittlichkeit zum Rechtsgüterschutz zu nicht unerheblichen Problemen. Die Dynamik der Kommerzialisierung wurde ebenso unterschätzt wie technische Entwicklungen (dazu Dane und Schmidt 1990) und als anerkannte Grenze funktioniert nach wie vor eigentlich nur der Jugendschutz. Geschlechtergerechtigkeit als mögliches Rechtsgut sowie deren Verhältnis zu Autonomie sind ausgesprochen ungeklärt. Radikal-feministische Positionen rutschen leicht in eine „vormoderne“ Moralität ab, liberal-feministische drohen in die Falle eines neoliberal reduzierten Verständnisses von Freiwilligkeit zu tappen. Der Kampf um den „richtigen“ Umgang mit kommerzialisierter Sexualität ist weder im Wettstreit nationaler Regelungsmodelle noch innerhalb feministischer Bewegungen entschieden.20 2.4Jugendschutz Schließlich stellt der Jugendschutz ein Rechtsgut mit hoher Legitimationskraft dar, welches sich nicht im Schutz vor Übergriffen erschöpft, sondern eine Vielzahl von Regelungen zur Einschränkung der Publizität oder Kommerzialisierung von Sexualität bedingt. Die dabei anvisierte „ungestörte sexuelle Entwicklung“ von Kindern und Jugendlichen wirft allerdings nicht wenige Fragen auf (zur sexuellen 19 Wersig, in diesem Band, S. 215-234; Völzmann, in diesem Band, S. 311-332; Schmidt, in diesem Band, S. 333-351. 20 Ausführlich Wersig, in diesem Band, S. 215-234. 12 Ulrike Lembke Sozialisation Lautmann 2005, S. 69). Zwar ist intuitiv verständlich, was gemeint sein mag, zugleich wird aber das Bild einer „natürlichen“ Sexualität heraufbeschworen, die sich von allein in wünschenswerter Weise entwickelt, wenn dieser Prozess nur gegen Medien und sonstige Einflussnahmen abgeschirmt ist.21 Dies hat Rückwirkungen auf die Legitimität von Sexualaufklärung und reiht sich zwanglos in andere Re-Naturalisierungen ein, die im Diskursfeld von Sexualität, Geschlecht und sexueller Identität zu beobachten sind. 2.5 Moral und Menschenwürde Entgegen allen Beteuerungen der Zeitenwende 1974 enthält das Strafrecht durchaus noch sexualbezogene Regelungen, die nur moralisch legitimierbar sind. Das prominenteste Beispiel ist die Strafbarkeit des Inzests unter erwachsenen Geschwistern, deren Aufrechterhaltung durch das Bundesverfassungsgericht (vom 26.2.2008) lebhafter juristischer Kritik ausgesetzt war.22 Der – nur für Männer strafbare – Exhibitionismus stellt dagegen ungeachtet all seiner sonstigen problematischen Implikationen kein Moralstrafrecht dar, weil es letztlich um den Bedrohungsgehalt der Handlung angesichts der Aktualisierbarkeit sexualisierter Gewalt in heteronormativ geprägten Räumen geht.23 In Bezug auf andere „Veröffentlichungen“ von Sexualität verdeckt der angerufene Schutz vor unerwünschter Konfrontation konkrete Begründungsmuster. Gegen die Kommerzialisierung von Sexualität wird die Menschenwürde in einem paternalistischen Verständnis bemüht, welches den Betroffenen die Entscheidungsfreiheit teils gänzlich abspricht. Bei der disziplinarrechtlichen Sanktionierung von sexualbezogenem Verhalten von Beamt*innen betonen die Gerichte zwar, dass eine moralische Bewertung nicht angebracht sei, und legen eine konkrete Beeinträchtigung des Dienstes dar, doch gibt es weiterhin auch Berufungen auf die „Würde des Staates“ oder das „Ansehen des Berufsbeamtentums“, soweit es um „sittliche Verfehlungen“ geht.24 Diese Phänomene lassen sich allerdings nicht pauschal als Überreste eines Moralstrafrechts oder vormoderner wohlfahrtsstaatlicher Paternalismus aus kritischen juristischen Diskursen ausgrenzen. Vielmehr sind sie zumindest teilweise der Beleg dafür, dass die Legitimation durch Rechtsgüterschutz den Kontext des Strafrechts überschritten hat und dass dieser Konzeption ein Verständnis individueller Rechte 21 22 23 24 Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (337ff.). Hierzu Renzikowski, in diesem Band, S. 197 (202ff.). Dazu Lembke, in diesem Band, S. 271 (276). Kritisch Goos, in diesem Band, S. 255-269. Sexualität und Recht: eine Einführung 13 zugrunde liegt, welches schmaler ist als die Legitimationsdiskurse aktueller Politiken. Immer wieder sind Überlegungen zur Regulierung von Intimität daher auf die Frage zurückgeworfen, ob individuelle Freiheit als Dreh- und Angelpunkt genügt und wessen Freiheit konkret gemeint ist. 3Regulierungsgegenstand Eine weitere entscheidende Frage ist bisher ausgespart worden: Was ist eigentlich Sexualität als Gegenstand rechtlicher Regulierung? Es scheint möglich, darüber zu schreiben, ohne eine Definition anzubieten, was gerade im juristischen Diskurs als ungewöhnlich bezeichnet werden darf. 3.1 Sexualität im juristischen Diskurs Der Rechtsdiskurs hält sich hierzu im Wesentlichen bedeckt. Das Reichsgericht sprach von Unzüchtigkeit, Unzuchtsbetrieb, Geschlechtsleben, geschlechtlichem Verkehr oder Umgang25; das Bundesverfassungsgericht machte sich mit seinen Ausführungen zu männlicher und weiblicher Sexualität im Homosexuellen-Urteil von 1957 (dazu unter 3.4) ebenso unsterblich wie der Bundesgerichtshof in der Frage der ehelichen Pflichten noch 196626. Der amerikanische Supreme Court Justice Potter Stewart versuchte die Peinlichkeiten näherer Definition mit einem berühmt 25 Eine Erweiterung des Geschlechtsverkehrs auf „den gesamten natürlichen und naturwidrigen Geschlechtsverkehr, also außer dem Beischlaf auch alle geschlechtlichen Betätigungen mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts, die nach der Art ihrer Vornahme bestimmt sind, anstelle des Beischlafs der Befriedigung des Geschlechtstriebs zumindest des einen Teils zu dienen“, erfolgte erst in der interpretatorischen Erweiterung der Strafbarkeit der sog. Rassenschande durch den Großen Strafsenat des Reichsgerichts (vom 9.12.1936), wobei unklar blieb, welche unzüchtigen Handlungen nun nicht mehr erfasst waren. 26„Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft […] [Die Grundlage der ehelichen Gemeinschaft wird] in aller Regel vollends zerstört, wenn der innerlich nicht beteiligte Ehegatte den anderen durch eine zynische Behandlung des Geschlechtsverkehrs vor sich selbst erniedrigt, indem er ihm unverhüllt zumutet, seinen Partner als bloßes Objekt 14 Ulrike Lembke gewordenen Zitat zu umgehen. „I know it when I see it“, sagte er auf die Frage, ob ein Film pornographisch sei oder nicht.27 Dies eben hatte das Reichsgericht bezweifelt und resigniert festgestellt: „daß es kaum eine Handlung geben wird, die um ihrer äußeren Beschaffenheit willen immer und notwendig unzüchtig ist, daß vielmehr jede Handlung – zum mindesten von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – diese Eigenschaft erst durch den Beweggrund und durch den Zweck erhält, um derentwillen sie vorgenommen wird“ (RG vom 7.1.1929). Die Unsicherheit, was „Sex“ eigentlich ist, dürfte die meisten Menschen befallen, die sich ernsthaft an einer Definition versuchen (vgl. Christina 2013). Allerdings arbeitet Rechtswissenschaft ganz wesentlich mit Definitionen. Das Gesetz hilft hier nicht weiter, da es nur von sexueller Handlung spricht. Interpretiert wird diese als „Handlung, die das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand hat, und zwar unter Einsatz des eigenen oder eines fremden Körpers“ (Fischer 2009, § 184g, Rn. 2). Das ist vielleicht auch eine Art zu sagen: I know it when I see it. Und leicht verengt ein solches Verständnis, welches Geschlechtlichkeit und Körper zentral stellt, Sexualität auf einen physischen Vorgang. Umfassendere Definitionen bieten die Chance, ein auf Triebe und Geschlechtsorgane fokussiertes Sexualitätsverständnis abzulösen: „Sexualität ist ein existentielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfasst sowohl biologische als auch psycho-soziale und emotionale Tatbestände und Vorgänge.“ (BZgA 1994).28 Doch der juristische Diskurs braucht vor allem eine Arbeitsdefinition, kämpfen Gerichte doch ohnehin mit der scheinbar ubiquitären Präsenz und Natürlichkeit von Sexualität: „Sexuelle Betätigung an sich – in ihren vielfältigsten Formen – gehört zu (fast) jedem Menschenleben – gerade ungeachtet von Grad und Umfang der Bildung oder Talente – dazu.“ (VG Bremen vom 30.6.2010) Dass viele Menschen (in Altenheimen, Gefängnissen oder unter Betreuung29) keine sexuellen Erlebnisse haben sollen und dass manche Menschen keine sexuellen Erlebnisse haben wollen (Asexuelle), wird unterschlagen. seiner Triebe zu gebrauchen.“ (BGH vom 2.11.1966) Zu aktuellen Diskursen um sexuelle Pflichten in der Ehe siehe Heiderhoff, in diesem Band, S. 117-137. 27„I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description [hard-core pornography]; and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that.“ (Stewart in: Supreme Court 1964). 28 Diese ambitionierte Definition hat zwar den Vorteil, rein biologisch-physische Verständnisse abzulösen, ihr überschießender Gehalt schafft aber andere problematische Normierungen, so wenn von sexueller Identität die Rede ist. 29 Dazu Zinsmeister, in diesem Band, S. 71 (76ff.). Sexualität und Recht: eine Einführung 3.2 15 Sexualwissenschaften und Heteronormativität Es liegt nun nahe, der Rechtswissenschaft wie Jurisprudenz anzuraten, sie möge sich doch nur einmal mit der einschlägigen Fachliteratur befassen, um zu Erkenntnissen zu kommen. Letztere blieben auch gewiss nicht aus; eine handhabbare Definition ist schon wesentlich unwahrscheinlicher. Zunächst stellt sich die Frage, welche Fachliteratur überhaupt zu konsultieren ist: die medizinisch-sexualwissenschaftliche, biologische, neurologische, evolutionspsychologische, psychoanalytische, psychologische, empirisch-soziologische, kultursoziologische oder vielleicht die Gender und Queer Studies? Und wer die Meister*innen konsultiert, stellt fest, dass sie es auch nicht wissen oder vielmehr: dass sie es nicht wissen wollen. Denn Sexualität ist trotz (oder wegen?) ihres Körperbezuges letztlich ein gesellschaftlicher, kontingenter Begriff (Sigusch 2013, S. 24). Dann aber wäre doch eine vorläufige, zeitlich wie räumlich begrenzte Definition von Sexualität möglich – und auch wünschenswert: „Wenn alle spüren, wie sexuelles Begehren sich regt, dann wird vielleicht keine Definition benötigt. Aber verspüren denn alle dasselbe? Nein.“ (Lautmann 2002, S. 20) Die Sexualwissenschaften legen allerdings in der Definition ihres Gegenstandes eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag: „Im Fachdiskurs scheint das, was unter Sexualität zu verstehen ist, so evident zu sein, dass auf eine Definition vielfach völlig verzichtet wird.“ (Lenz und Funk 2005, S. 16). Mit hoch problematischen Konsequenzen: „Der weitgehende Verzicht auf eine Definition hat aber zur Folge, dass vielleicht unbeabsichtigt, gewissermaßen hinter dem Rücken der Autor/innen, ein verengtes Verständnis von Sexualität zum Vorschein kommt oder unreflektiert fortgeschrieben wird. Eine dieser Verengungen besteht darin, dass Sexualität mit Koitus gleichgesetzt wird. Dies ist keineswegs nur auf das Alltagsverständnis von Sexualität beschränkt, sondern findet sich im starken Maße auch in der Sexualforschung und Sexualwissenschaft wieder.“ (Lenz und Funk 2005, S. 16). Ob solche Verengungen wirklich Unfälle im Forschungsbetrieb sind, sei einmal dahingestellt. Sexualwissenschaftliche Ansätze sind immer auch politische Entscheidungen (dazu Seeck 1998). Gerade medizinische, evolutionspsychologische und psychoanalytische Ansätze haben einen starken Zug hin zur „Normalisierung“, übernehmen überkommene heteronormative Muster und stellen Pluralisierungen von Sexualität unter Pathologieverdacht. Der Koitus als geheimes Zentrum der Sexualwissenschaften meint Heterosexualität als Normalfall, impliziert den Wunsch nach Fortpflanzung, geht von zwei Geschlechtern aus, die einander sexuell doch so gut ergänzen etc., ist also der Inbegriff heteronormativen Denkens. Recht absurd wird es, wenn den Gender Studies eine „Überpolitisierung des Diskurses“ um Sexualität und eine „Marginalisierung der alltäglichen Sexualkommunikation“ vorgeworfen wird, um eigene empirische Forschung zu rechtfertigen (so Benkel und Akalin 2010, 16 Ulrike Lembke S. 10). Hier bietet sich wohl eher eine Chance für sexualwissenschaftliche Forschung, auch im 21. Jahrhundert anzukommen: „Entscheidend ist der Bedeutungskern, den eine Kultur im Sexuellen sieht. Heute verweist dieser auf die lustvolle Begegnung von Körpern, während das noch vor einhundertfünfzig Jahren der Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau gewesen wäre.“ (Lautmann 2002, S. 25) 3.3 Sexuelle Skripte und sexuelles Wissen Foucault (1977) weist zu Recht darauf hin, dass die unermüdliche Beschäftigung mit Fragen der Legitimität, Normalität und Repression von Sexualität zu einer besonderen kulturellen Bedeutsamkeit geführt hat, die sich nicht zuletzt im Sprechen über sexuelle Orientierungen und Identitäten äußert – auch der Rechtsdiskurs setzt die Selbstkategorisierung vor die Anerkennung. Die mediale Repräsentation stellt auf den Normalfall des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs ab und handlungsleitende sexuelle Skripte speisen sich wesentlich aus medialen Darstellungen. Sexuelle Skripte sind „kognitive Repräsentationen prototypischer Handlungsabläufe in sexuellen Interaktionen“, sie sind „stark kulturell geprägt und spiegeln konsensuell akzeptierte Geschlechterstereotype und Verhaltenserwartungen wider“ (Krahé, Bieneck und Scheinberger-Olwig 2004, S. 242). Umso billiger der Porno, umso stumpfer die Geschlechterrollen und umso beschränkter das Handlungsrepertoire. Aber auch juristische Texte und Konzepte repräsentieren bestimmte Sexualitätsvorstellungen und verbreiten sexuelles Wissen. Zwischen medialen Repräsentationen und sexuellen Aktivitäten bestehen Korrelationen, die wie so oft in der Medienwirkungsforschung kaum eindeutig zu identifizieren sind.30 Welche Rolle hier das Recht überhaupt spielen kann, wird zu diskutieren sein. Interessant sind Analysen von Ratgeberliteratur, die zeigen, wie bestimmte Grundannahmen und Themen ihre je eigene Epoche haben, von der vollkommenen Ehe über die Vielfalt von Praktiken, die notwendige Beziehungsarbeit und die Leistungssteigerung bis zur Selbstoptimierung (Iris Osswald-Rinner 2011). Die Allgegenwärtigkeit von Sexualität in Populärkultur, Medien und kommerzieller Werbung führt zu heterosexuellem Overscripting und Leistungsdruck. Sexuelle Skripte sind pluraler geworden, weisen aber weiterhin eine klare Vergeschlechtlichung auf (Lenz 2005). 30 Dazu Schmidt, in diesem Band, S. 333 (338ff.). Sexualität und Recht: eine Einführung 3.4 17 Vergeschlechtlichte Sexualitäten Sexualität ist zutiefst vergeschlechtlicht und Ort gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Normierte Sexualitäten und hierarchisches Geschlechterverhältnis bedingen einander (aktuell Lewandowski und Koppetsch 2015; grundlegend Butler 1991; Rich 1989). Unzählig sind die kulturellen Bilder, die belegen, dass „Männer“ und „Frauen“ einander nirgends so perfekt ergänzen wie beim Geschlechtsverkehr, und es muss „Männer“ und „Frauen“ geben, um die Homosexualität31 von der überdies den Bestand der Art sichernden Heterosexualität zu unterscheiden. Paradigmatisch äußert sich dieses heteronormative Gesamtkunstwerk 32 aus Zweigeschlechtlichkeit und normierter Sexualität im Begriff der „Sexualorgane“ bzw. „Geschlechtsorgane“, mit denen Körperteile gemeint sind, die in einem sehr engen Zusammenhang zur Fortpflanzung stehen und außerdem den Körper eines Menschen mühelos als „männlich“ oder „weiblich“ markieren sollen (zum Normbruch durch und normierender Gewalt gegen Intersex*: Dietze 2003).33 Aus koitusfixierten Sexualitätsvorstellungen werden Geschlechterrollen abgeleitet und wieder auf die Sexualität rückprojiziert, und eine biologistische Grundhaltung versieht heterosexuellen Geschlechtsverkehr, Sexualorgane und komplementäre Geschlechterrollen mit dem gleichen leuchtenden Schein der Natürlichkeit.34 Unnachahmlich zusammengefasst wurde dieses Konzept vergeschlechtlichter Sexualitäten vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Strafbarkeit männlicher Homosexualität aus dem Jahr 1957: „Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin. Dieser Unterschied der physiologischen Funktion läßt sich aus dem Zusammenhang des geschlechtlichen Seins nicht ausgliedern, er ist mit konstituierend für Mann und Frau als Geschlechtswesen. […] Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten verbunden ist. Damit mag es zusammenhängen, daß bei der Frau körperliche Begierde (Sexualität) und zärtliche Empfindungsfähigkeit (Erotik) fast immer miteinander verschmolzen 31 Das Veränderungspotential von gleichgeschlechtlicher Sexualität wird entschärft, indem diese als das Andere der Heterosexualität vereinnahmt und als sexuelle Identität entpolitisiert wird (siehe auch Hark und Genschel 2003). 32 Zur profunden Vergeschlechtlichung von Sexualitäten insbesondere Holzleithner, S. 31 (40ff.); Greif, S. 161 (168ff.); Völzmann, S. 311 (319ff.); alle in diesem Band. 33 Für viele Menschen sind Mund, Finger und Hände wesentliche „Sexualorgane“, was eine geschlechtliche Zuordnung durchaus erschwert. 34 Zu den Herausforderungen und Chancen eines poststrukturalistischen Zugriffs aus feministisch-juristischer Sicht dagegen schon Smart (1994). 18 Ulrike Lembke sind, während beim Manne, und zwar gerade beim Homosexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt bleiben.“ Die Frau kann auch eher sexuelle Enthaltsamkeit leisten, während der Mann zur Verführung Jugendlicher neigt. Im Ganzen ist die Sexualität des Mannes aktiv, lustorientiert und tendenziell gefährlich, während fraglich bleibt, ob eine ernsthafte „Sexualität“ der Frau überhaupt existiert. Letztere Frage ist trotz revolutionärer Veränderungen im Geschlechterverhältnis wie im Bereich der Sexualitäten bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet. Die Forderungen der ersten Frauenbewegung nach sexuellen und reproduktiven Rechten sowie Anerkennung weiblicher Sexualsubjektivität (siehe Janssen-Jurreit 1986) blieben lange ungehört. Frühe feministische Sexualwissenschaftlerinnen deuteten weibliche Frigidität als Protest gegen männliche Dominanz und Unterwerfung in der Sexualität (Rühle-Gerstel 1932). Während einige Frauen die sexuelle Revolution der 1968er auch als persönliche sexuelle Befreiung erlebten (Heider 2014), problematisierten radikale Feministinnen gerade das Feld der – angeblich befreiten35 – Sexualität als Herrschaftsverhältnis und Grundlage des Patriarchats: „Men fuck women. Subject verb object.“ (MacKinnon 1989, S. 124). Der Kampf gegen den „Mythos vom vaginalen Orgasmus“ machte die Klitoris zum neuen Sexualorgan und entzog Männern das „Sexmonopol“ (Schwarzer 1975). Lesbische Beziehungen wurden innerhalb kürzester Zeit (und mit Hilfe nur teilweise korrekt übersetzter amerikanischer Schriften) von einer sexuellen Verirrung zur feministischen Avantgarde (Hark 1996). Doch auch homosexuelle Emanzipationsbewegungen blieben vom hierarchischen Geschlechterverhältnis geprägt (Kuckuc 1977). Die Pille stärkte die reproduktive und damit auch sexuelle Autonomie von Frauen durch die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung, erhöhte aber auch den Druck zur sexuellen Bereitschaft. Immer wieder wird Frauen entweder nur eine von männlichen Bedürfnissen abgeleitete und durch männlichen Blick (Penz 2015) zugerichtete Sexualität zugestanden oder ihre Angleichung an männliche Sexualitäten (Orgasmusfixierung, Abgrenzbarkeit, Leistung) als emanzipatorisch gefeiert. Trotzdem bleibt es das wesentliche Verdienst insbesondere der Frauen- und Schwulenbewegungen, den Weg zu einer neuen Verhandlungsmoral und damit Pluralisierung und Demokratisierung von Sexualitäten gebahnt zu haben (Giddens 1993). Die Versprechen autonomer weiblicher Sexualitäten und einer wirkmächtigen Vielfalt männlicher Sexualitäten jenseits hegemonialer Männlichkeit bleiben jedoch vielfach uneingelöst, Bisexualität weitgehend unerforscht (Kemler, Löw und Ritter 2012) und queere Sexualitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit kulturell 35 „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ wurde weitaus berühmter als „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“