Das ethisch Erlaubte - Content

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Einleitung
Das ethisch Erlaubte ist nach der geläufigsten negativen Definition das Handeln,
welches in moralischer Hinsicht weder von einem Verbot noch von einem Gebot
bestimmt wird. Es stellt eine mittlere deontologische Kategorie dar.
Die ethische Tradition kennt außer dem Begriff des Erlaubten eine weitere
Bezeichnung dessen, was in der Mitte zwischen dem Guten und dem Bösen liegt:
die Mitteldinge bzw. den griechischen Terminus Adiaphora. Hiermit sind, wie
noch näher darzulegen sein wird, seit der stoischen Philosophie zunächst Gegenstände des menschlichen Handelns, dann aber auch Handlungen selbst gemeint,
die nicht unter die moralische Differenz gut/böse fallen, also ethisch indifferent
sind.
Die sachliche Verwandtschaft beider mittlerer ethischer Kategorien – Erlaubnis und Adiaphorie – führte in der Geschichte der Ethik oftmals zu ihrer Identifizierung. Das ethisch erlaubte Handeln wurde dann als das ethisch Indifferente
aufgefasst. Als in Grenzen erlaubt galten die Tätigkeiten, die nicht zum ‚Ernst des
Lebens‘ gehörten und daher als ethisch weniger bedeutsam angesehen wurden.
Klassische Beispiele für das Erlaubte sind in dieser Sicht das Spiel, die Freizeit
und Erholung oder auch die Kunst.
Neben der erwähnten Auffassung des Begriffs des Erlaubten im Sinne ethisch
indifferenten Handelns gibt es eine zweite, die sich in der Ethikgeschichte durchgängig belegen lässt. Als ethisch erlaubt kann auch eine Handlung bezeichnet
werden, die – weit entfernt von ethischer Irrelevanz – einen Ausweg aus einer
Konfliktsituation kollidierender Pflichten bietet und als das zu wählende geringere Übel oder als Kompromiss gelten soll. Ein typisches Beispiel ist die Bewertung der ‚Notlüge‘ als unter Umständen ethisch erlaubt. Diese zweite Bedeutungsseite soll neben der ersten in der vorliegenden Arbeit beachtet werden. Auf
diese Weise wird die Identifizierung von Erlaubnis und Adiaphorie historisch
und systematisch in Frage gestellt.
Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgang darin, dass in der modernen
evangelischen Ethik stellenweise die Legitimität der Erlaubniskategorie insgesamt, d.h. in beiden Auffassungen, grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
Der prominenteste Vertreter dieser Kritik war der evangelische Theologe und
Philosoph Friedrich Schleiermacher. Eine Analyse seiner ethischen Konzeption
in Bezug auf das Erlaubnisproblem bildet daher das sachliche Zentrum dieser
Arbeit (Kapitel 2). Die Untersuchung ist überhaupt im Schwerpunkt ethikgeschichtlich angelegt. Dem Schleiermacher-Kapitel vorangestellt ist ein Überblick
über ältere, auch nicht-theologische Ethikkonzeptionen mit Bezug auf das Erlaubnisproblem (Kapitel 1). Die späteren historischen Kapitel behandeln in Aus11
wahl verschiedene Versuche aus der theologischen Ethik des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts, die durch Schleiermacher in die Defensive geratene Erlaubniskategorie zu rehabilitieren (Kapitel 3 bis 5). Hierdurch wird der zum Schluss durchgeführte Versuch des Verfassers vorbereitet, unter Rückgriff auf neuere Tendenzen der Ethik eine eigene Position zu dem Thema vorzustellen, dessen Diskussion
seit längerem nahezu abgebrochen oder mindestens stark in den Hintergrund
getreten ist (Kapitel 6).
Das Interesse an systematischen Begründungszusammenhängen steht im Mittelpunkt. Im Laufe von deren Untersuchung entstand dem Verfasser jedoch der
Eindruck, dass neben individueller gelehrter Arbeit auch überkommene, kulturell tradierte, präreflexive Ideale von sittlicher Lebensführung einen Anteil daran
hatten, wie die verschiedenen Theologen sich zu dem Problem des ethisch Erlaubten stellten. Daher wurde für die vorliegende Arbeit auch ein mentalitätsgeschichtliches Interesse leitend, dem in den historischen Kapiteln begleitend und
im Schlusskapitel noch einmal rückblickend und auswertend nachgegangen
wird.1
Das am Ende stehende systematische Ergebnis ist zugleich der Versuch, die
beiden genannten Auffassungen des Erlaubten, die ethikgeschichtlich oft unverbunden nebeneinander standen, in ihrer Zusammengehörigkeit zu sehen.
1
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Für das Programm einer um mentalitätsgeschichtliche Selbstreflexion erweiterten theologischethischen Forschung vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Akzeptierte Endlichkeit. Protestantische Ethik
in einer Kultur der Widersprüche, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, VWGTh
8, Gütersloh 1995, 115–125, hier bes. 115–118.
1. Kapitel
Erlaubnis und ethische Indifferenz in der Geschichte
der Ethik vor Schleiermacher
Um die grundsätzliche Kritik am Begriff des Erlaubten bei Schleiermacher und
die durch ihn angestoßene intensive Diskussion in späteren philosophisch- und
theologisch-ethischen Entwürfen des 19. und des 20. Jahrhunderts historisch
einordnen, sachlich verstehen und beurteilen zu können, sollen in diesem ersten
Kapitel wichtige Stationen der älteren Geschichte des Problems von der Antike
bis hin zur Zeit unmittelbar vor Schleiermacher vergegenwärtigt werden. Hierbei
geht es nicht um eine vollständige ethikgeschichtliche Darstellung der Thematik,
sondern vor allem darum, verschiedene Kontexte und Bedeutungsebenen des
Begriffs des Erlaubten kennenzulernen sowie Typen der Argumentation zu identifizieren und systematisch zu unterscheiden. Die sich so ergebende Typologie
der Positionen und Argumente zum Thema soll dann in den späteren Kapiteln
für die Auswahl der ausführlicher zu behandelnden theologisch-ethischen Entwürfe und zu ihrem gründlicheren Verständnis verwertet werden. Der Blick soll
dabei möglichst ausgeweitet werden, d.h. es wird nicht ausschließlich wörtlich
nach Angehörigen der Wortfamilie „erlauben“ gesucht, sondern auch nach
solchen Begriffen, die immer wieder im Kontext des Begriffs des Erlaubten
gebraucht, diesem zur Seite gestellt oder sogar gleichgesetzt werden. Die Aufmerksamkeit ist also auch auf die Termini „Adiaphora“, „Mitteldinge“, „sittliche/
ethische/moralische Indifferenz“, „gleichgültige Handlungen“, „freigestellte Handlungen“ usw. zu lenken sowie dabei auch auf vorliegende Ansätze zur Unterscheidung dieser Begriffe in ihrer Bedeutung.
Die Auswahl der im Folgenden behandelten Ethikmodelle kommt insgesamt
dadurch zustande, dass sie von besonderer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung
sind und bestimmte ethische Grundansätze repräsentieren. Bei einigen kommt
hinzu, dass sie mit dem Thema oder einem der genannten Leitbegriffe in besonderer Verbindung stehen (z.B. die stoische Philosophie mit dem Thema der
Adiaphora). Außerdem wurde darauf geachtet, solche ethischen Konzeptionen
zu berücksichtigen, in denen der Pflichtbegriff, der sich komplementär zum Begriff des Erlaubten verhält, der Sache nach eine tragende Rolle spielt. Anstatt sich
diesbezüglich mit der – von einem bestimmten Vorverständnis aus richtigen –
Auskunft zu begnügen, dass von einer Pflichtethik im strengen Sinne erst mit
Kant gesprochen werden könne, während alle frühere Ethik eudämonistisch angelegt sei1, sollen frühere Ansätze zur Profilierung des Pflichtbegriffs und seine
1
Vgl. Günther Keil, Art. „Pflicht, I. Philosophisch“, in: TRE 26, Berlin/New York 1996, 438–445, 440f.
13
allmähliche Entwicklung zu einem Leitbegriff ethischer Theoriebildung2 beachtet
sowie ein besonderes Augenmerk darauf gelenkt werden, wie sein jeweiliges Profil die Bedeutung und das Recht des Begriffs des Erlaubten mitbestimmt.
Es werden nicht an alle vorgestellten Entwürfe dieselben Fragen gerichtet. Wo
die genannten Leitbegriffe (bzw. ihre lateinischen oder griechischen Synonyme)
nicht wörtlich vorkommen, muss mehr sinngemäß nach einer sachlichen Bezugnahme auf das Problem gefragt werden. Oder es wird (in Abschnitt 4) ganz gezielt ein speziell hier neu auftretender Aspekt in den Mittelpunkt gestellt, der in
der später zu behandelnden Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts eine Rolle
spielen wird und dessen ursprünglicher Entdeckungszusammenhang daher
wichtig erscheint.
1. Antike Ethik
1.1. Stoa: Das Problem der Adiaphora
In der stoischen Philosophie ist unter dem Titel Adiaphora das sittlich Indifferente ein zentrales Thema der ethischen Kategorienlehre. Wo heute die Thematik der Adiaphora mit der des Erlaubten identifiziert wird3, liegt es nahe, letzteren Begriff für ein ursprünglich stoisches Konzept auszugeben. Demgegenüber
ist es wichtig zu sehen, dass die stoische Philosophie gerade für eine später oft
unterbliebene Unterscheidung der Phänomene von Adiaphorie und Erlaubnis
Ansatzpunkte bietet. Dabei erweist sich, dass die Stoa eher der Kritik als der Begründung des Begriffs des Erlaubten vorgearbeitet hat. Dies gilt allerdings in
einem mehr indirekten und begrenzten Sinn. Denn ein griechisches oder lateinisches Synonym von festem terminologischen Rang begegnet nicht. Es ist daher
zu fragen, ob das stoische Denken ein sittlich weder gebotenes noch verbotenes,
ethisch indifferentes Handeln4 der Sache nach kennt.
Zunächst zur Definition: Die Adiaphora sind in der stoischen Philosophie natürliche Dinge, die als solche die Tugend weder fördern noch gefährden und daher keinen ethischen Wert, d.h. keinen Wert zur Erreichung des höchsten Gutes
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Vgl. Wolfgang Kersting, Art. „Pflichtenlehre“, in: HWP 7, Basel 1989, 456–458. Zu berücksichtigen ist bei dieser Frage der Unterschied, ob in einer Ethik eine Pflichtenlehre enthalten ist oder
ob sie insgesamt als Pflichtethik angelegt ist. Vgl. daher auch ders., Art. „Pflichtethik/deontologische Ethik“, in: HWP 7, Basel 1989, 458–460.
Vgl. diese lexikographische Üblichkeit bei Franz Lau, Art. „Adiaphora“, in: RGG3 1, Tübingen
1957, 93–96; Eilert Herms, Art. „Adiaphora“, in: RGG4 1, Tübingen 1998, 115–119, hier 115f.; Alf
Christophersen, Art. „Adiaphora“, in: Der Glaube der Christen, Bd. 2: Ein ökumenisches Wörterbuch, hg. v. E. Biser/F. Hahn/M. Langer, München/Stuttgart 1999, 8.
So kann der Begriff des Erlaubten vorläufig umschrieben werden, ohne dass damit schon eine
endgültige Definition gegeben werden soll.
(der sittlichen Vollkommenheit, des Glücks)5 haben. Sie sind für die natürliche
Existenz des Menschen notwendig, aber als äußere Naturgegebenheiten (wie
Nahrung, materieller Wohlstand) letztlich unverfügbar und kein eigentlicher
Gegenstand sittlichen Strebens. Die Qualifizierung als ethisch indifferent bezieht
sich also zunächst auf Dinge, nicht auf Handlungen. Sobald das menschliche
Handeln, der Umgang mit den Dingen in den Blick gerät, kann von Unverfügbarkeit nicht mehr die Rede sein. Denn wie jemand mit den Naturvorgaben umgeht, steht – anders als diese selbst – sehr wohl in seiner Macht. In dieser Sichtweise wird daher indirekt einigen Adiaphora ein – außersittlicher, aber das sittliche Leben betreffender − relativer Wert zuerkannt, indem das zu Wählende
(aber nicht zu Erstrebende) vom Abzulehnenden (aber nicht zu Fliehenden) unterschieden wird.6
Der naturgemäße Umgang mit den Adiaphora (kaqh,kon) untersteht vollständig der binären moralischen Differenz, indem er − so sehr sein Inhalt oder Gegenstand rein natürlich und außermoralisch ist − beim Weisen Betätigung der
Tugend (kaqh,kon) und beim Nichtweisen Betätigung der Untugend oder des
Lasters (a`ma,rthma) ist.7 Die Handlung kann äußerlich betrachtet in beiden Fällen
identisch und gleich nützlich sein, entscheidend ist gemäß der verinnerlichenden
Tendenz der stoischen Ethik die innere Disposition (e[xij) des Handelnden, die
stets eindeutig gut oder schlecht ist und alles Handeln entsprechend qualifiziert.8
Der Weise bleibt aufgrund seines Wissens um die Unverfügbarkeit der Adiaphora9 diesen gegenüber trotz ihrer natürlichen Notwendigkeit distanziert, der
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Das vom Stoiker erstrebte Glück ist kein Zustand, sondern Tätigkeit, nämlich vollkommene
Betätigung der Tugend. Dies ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass äußere Dinge und
Zustände, ob angenehm oder unangenehm, als solche ethisch bedeutungslos sind. Vgl. Maximilian Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, 23f.: „Wenn schließlich das Ziel des menschlichen Lebens in eine Form der Praxis gesetzt wird, die auch alles dem menschlichen Handeln
Voraufliegende und Widerfahrende durch die gedankliche und willentliche Identifikation mit
dem göttlichen Willen der Allnatur in diese Praxis hineinnimmt und seines bloßen Widerfahrnischarakters entledigen will, dann wird auch hier der Zusammenhang mit einer Prinzipienlehre
deutlich, die das aktiv tätige Prinzip mit dem Prädikat des Göttlichen belegt. Darin besteht auch
der fundamentale Unterschied zur Ethik Epikurs, die nicht Tätigkeit, sondern einen Zustand der
Seele (die katastematische Lust/Freude) zum summum bonum des Lebens macht.“
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 165–171, zu dieser Unterscheidung zwischen prohgme,na und
a`poprohgme,na bes. 169; außerdem Gregor Maurach, Art. „Adiaphora I.“, in: HWP 1, Basel 1971,
83–85, 83.
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 199.
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 197f. und 199f. mit Anm. 94.
Die Adiaphora sind für den Weisen auch deshalb keine Gegenstände des Strebens oder aktiven
Abwehrens, weil sie als natürliche Gegebenheiten sowieso nicht in der Macht des Menschen stehen. Vgl. die Entsprechung der Lehre von den Adiaphora in der Unterscheidung des in unserer
Macht Stehenden (ta, evf’ hvmi/n) von dem nicht in unserer Macht Stehenden (ta, ouvk evf’ h`mi/n)
beim späten Stoiker Epiktet, Ench. 1; 32 u.ö.
15
Nichtweise dagegen hält sie für in sich gut oder schlecht, so dass ihm die innere
Unabhängigkeit fehlt.
Obwohl die naturgemäßen Handlungen (kaqh,konta) äußerlich etwas „bloß
Erlaubtes“ zu sein scheinen, kennt die stoische Ethik daher kein sittlich indifferentes Handeln und in diesem Sinne keinen Begriff des Erlaubten von systematischem Rang. Der entscheidend auf die innere Haltung des Handelnden gerichtete Blick ihres Urteils qualifiziert sie (in Aufnahme der von Max Weber geprägten Terminologie) als eine eudämonistisch fundierte Gesinnungsethik und stellt
im Kontext unserer Untersuchung das erste Beispiel eines gesinnungsethischen
Typs der − hier mehr impliziten als expliziten − Problematisierung der Rede vom
Erlaubten dar. Der problemgeschichtliche Überblick in diesem Kapitel wird noch
weitere Varianten dieses Typs vorstellen. Um im Spektrum der gesinnungsethischen Argumentationen die stoische besonders zu profilieren, kann hier näherhin von einer eudämonistischen Tugendgesinnung als dem entscheidenden Drehund Angelpunkt dieser Infragestellung des Erlaubten gesprochen werden.10
Mit Vorsicht lässt sich von in der stoischen Ethik erlaubten Handlungen im
Blick auf ganz andere Sachverhalte sprechen, die nicht direkt mit dem Problem
der sittlichen Indifferenz im Handeln verbunden sind, sondern das Handeln in
Extremsituationen betreffen:
Zum einen kennt die Stoa die Notwendigkeit, unter außerordentlichen Umständen naturwidrig zu handeln, um auf diese Weise einen höheren naturgemäßen Zweck zu verwirklichen. Dies kann z.B. die Aufopferung des eigenen Lebens
für das Vaterland bedeuten. Die Stoiker nennen auch eine solche an sich naturwidrige Handlung kaqh,kon, jedoch ein kaqh,kon peristatiko,n, um darauf hinzuweisen, dass ein an sich naturwidriges, verbotenes Tun nur durch besondere
Umstände notwendig wird.11 Sinngemäß kann man unter Vorbehalt an diesen
Sachverhalt den Begriff des Erlaubten herantragen.
Dies lässt sich auch auf die Situation übertragen, in der ein Mensch, ein Weiser, aufgrund extremer Umstände wie etwa einer unheilbaren Krankheit gar
keine Möglichkeit zum naturgemäßen Leben, welches das selbstbestimmte Streben einschließt, mehr hat. Einem solchen Menschen erkennen die Stoiker das
Recht zum selbstgewählten Freitod zu. Die Selbsttötung wird hier als letzte Möglichkeit eines tugendhaften Handelns (kato,rqwma) in einer Situation angesehen,
in der naturgemäße Handlungen (kaqh,konta) gar nicht mehr vollzogen werden
können.12 D.h. anders als in dem vorher genannten Beispiel kann hier noch nicht
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Hiermit ist sowohl die „Nähe der stoischen Ethik zur kantischen Position […] in der Theorie der
avdia,fora“ (Forschner, Die stoische Ethik, 117 Anm. 27) als auch der entscheidende Unterschied
zwischen beiden (vgl. ebd., 172f.) benannt. Beides ist im Rahmen der von uns gesuchten Typologie genau zu beachten.
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 192f.
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 193f. und 200f.
einmal ein höherer naturgemäßer Zweck zur Rechtfertigung einer Naturwidrigkeit angeführt werden; es geht nur noch darum, dem Weisen das Leben nicht
zum bloß erlittenen Widerfahrnis werden zu lassen und die Tugend unter widrigsten Bedingungen zu bewähren.
Da die stoische Morallehre nicht entscheidend von deontologischen Kategorien bestimmt ist, kann man sich nun darüber streiten, ob die beiden genannten
Fälle es tatsächlich mit einer Erlaubnis oder nicht doch eher mit einem exzeptionellen Gesolltsein des unter normalen Umständen Verbotenen zu tun haben.
Deshalb ist die Erwägung, dass die stoische Philosophie hier sinngemäß einen
Begriff des Erlaubten kennt, mit Vorsicht anzustellen und muss letztlich unentschieden bleiben. Dass die Qualifizierung solcher Handlungen als „erlaubt“ sich
hier nahe legt, kann als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, dass eine
deontologische Kategorie zwischen Sollen und Nichtsollen nicht nur in Verbindung mit dem Problem sittlich indifferenten Handelns, sondern stattdessen auch
im Umkreis der Thematik kompromisshafter und ausnahmsweise zugestandener
Handlungsweisen zu suchen ist.
Der Begriff des Erlaubten kann höchstens in dieser zuletzt beschriebenen
Weise an die stoische Ethik herangetragen werden. Im Grunde bleibt er ihr
fremd, da er einem am Pflichtbegriff orientierten Denken entstammt, dem die
stoische Philosophie nicht zugeordnet werden kann.13 Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die stoische Ethik insofern eine Kritik des Begriffs des Erlaubten enthält,
als dieser für sittlich indifferentes Handeln steht. Der Typ dieser Kritik wurde
bereits näher klassifiziert. Für einen engeren oder ganz anderen Sinn von Erlaubnis bietet das stoische Denken – abgesehen von dem eben genannten vagen,
indirekt-positiven Ansatz – aufgrund seiner eudämonistischen Anlage weder
eine direkte Begründung noch eine Widerlegung.
1.2. Cicero: Abstufung der moralischen Verbindlichkeit
Der römische Redner und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.)
bewertet das stoische Prinzip, im Blick auf natürliche Gegebenheiten, die nicht
oder nicht ganz in der Macht des von ihnen betroffenen Menschen stehen, nicht
von Gütern und Übeln, sondern nur von Vorgezogenem bzw. zu Wählendem
und Abgeratenem bzw. Abzulehnendem zu sprechen, als eine verwirrende und
sachlich unangemessene Redeweise, will aber zugleich die stoische Wertehierarchie aufrechterhalten. So enthält seine Moralphilosophie anstelle jener Diastase
eine Abstufung von Gütern und Übeln. Schmerz soll als Übel bezeichnet werden,
13
Vgl. Forschner, Die stoische Ethik, 173.
17
jedoch als untergeordnetes und durch Tugend erträgliches Übel. Die Tugend ist
nicht das einzige Gut überhaupt, aber eindeutig das höchste.14
Der Entdualisierung und Gradualisierung in der Güterlehre, die für Cicero
mehr eine terminologische denn eine sachliche Korrektur am stoischen System
darstellt, entspricht es, dass in der Handlungstheorie aus dem Dual
kaqh,kon/kato,rqwma ein gemeinsamer Oberbegriff wird, dessen Grade durch Adjektive bestimmt werden: Cicero unterscheidet zwischen officia media und officia
perfecta.15 Diese Unterscheidung betrifft nicht verschiedene Handlungen oder
Handlungsarten desselben Menschen, sondern die Handlungsweisen verschiedener Menschengruppen: Die vollkommenen Pflichten können nur mit Tugend,
also nur von sittlich vollkommenen Menschen ausgeübt werden, die mittleren
oder auch gemeinen (communia) Pflichten sind auch ohne Tugend von vielen
erreichbar.16
Es ist daher besser, von vollkommener und mittlerer Pflichterfüllung zu sprechen.17 Im Vergleich zur stoischen Ethik tritt bei Cicero die innere Gesinnung als
Maßstab der Bewertung von Handlungen etwas zurück, so dass er in der Tat ein
Mittleres im Handeln kennt (während für die Stoa im Vollzug auch die
kaqh,konta sämtlich entweder a`marth,mata oder katorqw,mata waren, s.o.); es handelt sich dabei aber nicht um etwas sittlich Indifferentes oder um einen neutralen
Bereich zwischen Gebotenem und Verbotenem, sondern um ein wegen seines
geringen Anspruchs mit um so allgemeinerer Verbindlichkeit Gefordertes. Die
ciceronische Stufenfolge der Pflichterfüllung lautet also nicht: pflichtwidrig –
erlaubt – geboten, sondern: pflichtwidrig – für alle geboten – für die Vollkommenen geboten. Ein bloß Erlaubtes ist bei Cicero zwar nicht explizit ausgeschlossen;
da es für ihn aber nicht auf die Unterscheidung von Handlungsarten, -bereichen
und -gegenständen, sondern auf die von Weisen der Pflichterfüllung ankam, ist
kein systematischer Ort, kein Begriff dafür vorgesehen.
1.3. Paulus: Erweiterung moralischer Verbindlichkeiten in einer
religiösen Gemeinschaftsethik
Der Apostel Paulus hat sich – insbesondere im ersten Brief an die Korinther – die
Themen seiner ethischen Reflexion oft durch die bei seinen Adressaten, den
frühchristlichen Gemeinden, aktuell vorliegenden Probleme vorgeben lassen.
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Vgl. Marcus Tullius Cicero, De fin. V, 86–96.
Vgl. Marcus Tullius Cicero, De off. I, 8; III, 14–16.
Vgl. Cicero, De off. III, 13–15.
Vgl. Wolfgang Kersting, Art. „Pflichten, unvollkommene/vollkommene“, in: HWP 7, Basel 1989,
433–439, 434.
Hierin hat die paulinische Ethik in Stil und Inhalten ihr besonderes Profil: Dadurch, dass es eine religiöse Gemeinschaft ist, in deren Zusammenleben Probleme entstehen und Lösungen gesucht werden, kommt Paulus dazu, gerade aus der
Situation der Sozialität heraus und auf deren Gelingen hin seine ethischen Kriterien zu entwickeln, die den Rahmen der in der stoischen oder auch in der epikureischen Ethik im Mittelpunkt stehenden Selbstvervollkommnung des Einzelnen
überschreiten. Diese geschichtlich-soziale Konkretheit kommt besonders bei der
Frage nach dem Erlaubten zur Geltung, indem das Zusammenleben in der Gemeinde es erforderlich macht, dem für die paulinische Theologie zentralen
Wertbegriff der Freiheit eine nähere Bestimmung, Konturen und Begrenzungen
zu geben. Aus demselben Grund ist allerdings vorab zu betonen, dass eine begrifflich ausgearbeitete und theoretisch interessierte Position des Paulus zum
Problem des Erlaubten nicht vorliegt. Es können allerdings die – in der späteren
theologisch-ethischen Diskussion höchst wirksamen – ethischen Motive aufgezeigt werden, die eine Rekonstruktion seiner impliziten Stellungnahme und die
spätere systematische Anknüpfung an sie erlauben.
In Korinth gab es eine Gruppe von Gemeindemitgliedern, die aus ihrer besonders weit entwickelten Glaubenserkenntnis (gnw/sij), dem Wissen um die Nichtigkeit und Nichtexistenz der heidnischen Götter als Götzen, die Freiheit und das
Recht ableiteten, Fleisch von Tieren zu essen, die zuvor im heidnischen Kult
Gottheiten als Opfer dargebracht worden waren.18 Hieran hatten einzelne als
„schwach“ bezeichnete Glieder der Gemeinde Anstoß genommen, die jeglichen
Kontakt mit dem heidnischen Kult für gefährlich und sich sowie alle Christen
daher für verpflichtet hielten, sich davon gänzlich fernzuhalten; der (demonstrativ) freizügige, bedenkenlose Umgang jener Gruppe damit hatte sie tief verunsichert. Die Anderen, die „Starken“19, hatten sich brieflich an Paulus gewandt und
eine Bestätigung ihrer freiheitsbetonten Position erwartet. Ihre Argumente sind
für den Leser des ersten Korintherbriefes in mehreren von Paulus zitierten (aber
stets umgehend differenzierten und relativierten) rechtfertigenden Leitsätzen im
Umriss erkennbar.20 Eines dieser Schlagworte lautet: „Alles ist erlaubt“.21 Solch
18
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Vgl. hierzu und zum Folgenden den gesamten auf dieses Problem bezogenen Abschnitt 1. Kor
8,1–11,1. Ein vergleichbares Problem wird in Röm 14,1–15,13 verhandelt, wo es aber nicht um
das Essen von Götzenopferfleisch, sondern um gänzlichen Fleisch- und Weinverzicht, das Begehen bestimmter heiliger Tage sowie um die Frage nach der Freiheit von all diesen Regeln geht.
Zu allen Fragen der Verschiedenheit und Vergleichbarkeit der beiden Texte und zur Gesamtinterpretation vgl. Volker Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom. Zu
Herkunft und Funktion der Antithese in 1Kor 8,1–11,1 und in Röm 14,1–15,13, WUNT II/200,
Tübingen 2005.
Diese Bezeichnung taucht nur in der genannten Parallele im Römerbrief auf, ist aber sinngemäß
auch auf die korinthische Situation übertragbar. Vgl. Gäckle, Die Starken und die Schwachen,
185.
Zitate liegen nach Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 37–43, vor in 1. Kor 8, 1b.4b+c.8a
und 10, 23a+c sowie ein Traditionsstück in 8, 6ab–d.
19
eine unbegrenzte Inanspruchnahme von Freiheit und eine Okkupation aller
Handlungsmöglichkeiten durch den Begriff des Erlaubten entsprechen jedoch
nicht dem Verständnis des Apostels von christlicher Freiheit. Er entwickelt für
den in Korinth herrschenden Streit eine Problemlösung, die in einem qualifizierten (nicht in einem faulen) Sinn als „Kompromiss“ bezeichnet werden
kann.22
Dem „Alles ist erlaubt“ setzt Paulus entgegen: „Aber nicht alles ist förderlich“
und: „Aber nicht alles baut auf“.23 In diesen Entgegnungen, die schon den
Schlussabschnitt der langen Antwort des Apostels einleiten, kommt eine Entgrenzung des individualistisch-solipsistischen Interesses der Anfrage der korinthischen „Starken“ zugunsten der Formulierung gemeinsamer Zwecke zum Ausdruck, indem Paulus eine Lösung nicht bloß im Blick auf die Unabhängigkeit des
Einzelnen gesucht und gefunden hat, sondern das Zusammenleben einer Gemeinschaft von Menschen mit einem unterschiedlich ausgeprägten Freiheitsbewusstsein und einer unterschiedlichen Vorstellung von christlicher Identität
ermöglichen wollte. Paulus geht von der Irreduzibilität und auch von der Legitimität einer derartigen innerchristlichen Pluralität aus24 und fordert von allen
Gemeindegliedern Respekt vor den Wertvorstellungen der Anderen sowie ein
Verhalten, das diese nicht in Gewissensnöte bringt. Für die „Starken“ bedeutet
dies die Zumutung einer Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit. In der Sache
selbst freilich teilt Paulus deren Position25: Auch für ihn ist das Götzenopferfleisch für sich genommen ein Adiaphoron und könnte bedenkenlos verzehrt
werden, sofern die Mahlzeit nicht selbst Bestandteil einer heidnischen Kulthandlung ist.
Jedoch verliert der Vorgang seine Unbedenklichkeit, wenn die „Starken“ beim
Essen von den „Schwachen“ gesehen werden und diesen hierdurch ein Grund
des Anstoßes oder der Verunsicherung gegeben wird. Nicht wegen der ontischen
Qualität des Fleisches, sondern aufgrund bestimmter Situationen und Relationen
und nur, wenn diese aktuell gegeben sind, muss solches Essen daher als unzulässig angesehen und aus Rücksichtnahme vermieden werden.26 Eine an sich zu
21
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1. Kor 10, 23a+c, zuvor schon zitiert in 1. Kor 6, 12a+c.
Vgl. den Aufsatz von Michael Wolter, Der Kompromiß bei Paulus, in: G. Bader/U. Eibach/H.
Kreß (Hgg.), Im Labyrinth der Ethik. Glauben – Handeln – Pluralismus, FS Martin Honecker,
Rheinbach 2004, 66–78.
1. Kor 10, 23b+d.
Vgl. Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 213–215, 242–248.
Vgl. Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 239f.; Thomas Söding, Starke und Schwache. Der
Götzenopferstreit in 1. Kor 8–10 als Paradigma paulinischer Ethik, in: ders., Das Wort vom
Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, WUNT 93, Tübingen 1997, 346–369, 354.
Vgl. 1. Kor 8, 9–13. Zu den verschiedenen von Paulus bedachten Konstellationen vgl. bes. Dietrich-Alex Koch, „Seid unanstößig für Juden und für Griechen und für die Gemeinde Gottes“ (1
Kor 10,32). Christliche Identität im makellon in Korinth und bei Privateinladungen, in: M. Tro-
Zugehörige Unterlagen
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