1 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Kirche in WDR 2 – 5 27.11. – 02.12. 2006 Ohnmächtig mächtig Montag, 27. November Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer, vor einem Jahr hatte ich in Verbindung mit einem Aufgabenwechsel ein Forschungssemester in den USA. Eine unbeschwerte Zeit, ohne die Last der Verantwortung, ohne Termindruck und ständiges Hetzen von Sitzung zu Sitzung. Es tut gut, Abstand zu haben. Notwendige Distanz ist aber schwer auszuhalten, wenn Zuhause etwas passiert. So bekam ich aus heiterem Himmel die Nachricht, dass ein guter Freund im Himalaja vermisst werde. Am letzten Tag seiner Exkursion, so die spärlichen Informationen, sei er vom Weg abgekommen. Wohin er geraten, was dann passiert sein könnte, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen. Zurück blieben Ratlosigkeit, Sorge und Entsetzen. Suchtrupps wurden zusammengestellt, ein Krisenstab gebildet, Suchhunde aus Deutschland eingeflogen. Aber die Chance, ihn zu finden, war mehr als gering. Zu unwegsam das Gelände, der Urwald dicht bewachsen, undurchdringbar. Und bei all dem das lähmende Gefühl der Ohnmacht, tausende Kilometer entfernt zu sein vom Unglücksort. Wachen und Beten – und die belastende Erfahrung, nicht handeln, nicht eingreifen zu können. In jenen Tagen der Ungewissheit hat mir eine Bibelstelle Kraft gegeben, in der von David die Rede ist, der um das Leben seines kleinen Sohnes bangt, der auf den Tod erkrankt ist. David, von Gott auserwählt und König seines Volkes, muss ohnmächtig mit ansehen, wie der Knabe mit dem Tod ringt. David bedrängt Gott, das Schicksal abzuwenden. Er „fastete streng; und wenn er heimkam, legte er sich bei Nacht auf 1 2 die bloße Erde.“ 1 Nach sieben Tagen stirbt das Kind. Keiner wagt, dem von Gram gebeugten Herrscher die Unglücksbotschaft zu überbringen. Aber David errät, dass das Kind tot ist. „Da erhob sich David von der Erde, wusch sich, salbte sich und legte andere Kleider an. Dann ging er in das Haus Jahwes und betete an.“ 2 Ohnmächtig daneben zu stehen, wenn jemand leidet, den man liebt; hilflos mitanzusehen, wenn ein Unglück geschieht, und nichts tun zu können: das sind bedrängende Erfahrungen. Als die Suche nach meinem Freund noch andauerte, war ich unruhig, aufgewühlt, habe ich Gott bedrängt, um einen Ausweg gebeten, das Schreckliche nicht geschehen zu lassen. Aber als dann die Nachricht kam, dass keine Hoffnung mehr bestand und die Suche eingestellt wurde, hatte ich denselben Wunsch wie einst König David: Gott anzubeten. An der Schwelle des Todes, an der Grenze unserer Ohnmacht, berühren wir den Allmächtigen. Den, der auch jenseits der Schwelle des Todes Herr des Lebens ist. Ich bin gewiss, er wird auch meinem Freund entgegengehen und ihm zurufen: „Nimm teil an der Freude deines Herrn!“ Bilder kommen mir in den Sinn. Ferienerinnerungen. Gletschertouren in den Walliser Alpen, miteinander am Seil, durchgekämpft, endlich am Gipfel. Wir waren nach dem Studium zusammen in Italien zu einem Spiritualitätsjahr. Ich denke an gemeinsame Erfolge und durchlittene Niederlagen. An seine inneren Kämpfe und seine große Sehnsucht, seinen unbedingten Glauben an Gott, für den er gelebt hat und den er so manchem nahe bringen konnte. Und jetzt? Was ist mit ihm, Wo sollen meine Gedanken ihn suchen? „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren. In den Augen der Toren sind sie gestorben, ihr Heimgang gilt als Unglück. … Sie aber sind in Frieden. … Ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit.“ (Weish 3,1-4) Worte der Bibel, die mich berühren. Worte der Hoffnung, mit denen ich glaube. Ahnungen, die in mir zur Gewissheit geworden sind: Ja, er wird leben. Er ist im Frieden. Und darin finde auch ich meinen Frieden, mit mir selbst. Mit Gott. Auch auf Distanz. 1 2 2 Sam 12, 16 2 Sam 12,20. Jerusalemer Übersetzung 2 3 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Requiem für einen Freund Dienstag, 28. November Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer. Requiem. Beerdigung. Abschiedsfeier. – Termine, auf die man gut verzichten könnte. Wer fühlt sich schon wohl im schwarzen Anzug, und wer trägt gerne Trauerkleidung? Und doch ist es eine innere Verpflichtung für den, der dem Verstorbenen nahe stand. Abschied nehmen, letzte Worte am offenen Grab, eine Schaufel Erde. Was erschreckt und verwirrt, ist die Endgültigkeit. Es gibt kein Zurück. Es wird nie wieder so sein. In manchen Fällen, nach schwerer Krankheit oder langem Siechtum, mag es ja auch gut sein, dass Gott ein Einsehen hat und ihn oder sie zu sich nimmt. Aber oft bleibt das schale Gefühl, dass allzu vieles ungesagt bleibt, die großen Pläne unerfüllt und große Träume nicht gelebt worden sind. Der Tod, nicht immer erscheint er als Vollendung; oft genug ist er Abbruch. Als Priester, als Pastor stehen wir oft auf dem Friedhof, sprechen mit Trauernden, trösten die Angehörigen, bezeugen unseren Glauben gerade da, wo er am meisten angefochten ist. Das geht nur aus einer gewissen Distanz heraus. Was für die Trauernden oft mit großer Anspannung und psychischer Belastung verbunden ist, ist für den Seelsorger beruflicher Alltag. Doch was geschieht, wenn ein persönlicher Freund, ein enger Verwandter von uns zu Grabe getragen wird: Requiem für einen Freund. Da rettet einen nicht berufliche Professionalität. Da steht man auch als Seelsorger ungeschützt am Abgrund, was doch in Gottes Augen bereits Übergang, Anfang neuen Lebens ist. Da ist unser eigener Glaube auf dem Prüfstand, und es muss sich zeigen, ob all die Worte des Trostes und der Hoffnung angelernt sind, oder ob unser persönlicher Glaube „angewachsen“, gewissermaßen „eingefleischt“ ist: der Glaube, dass Gott, unsere Lieben, uns selbst einmal an der Schwelle des Todes mit seiner Liebe umfängt und begleitet. 3 4 Ich denke an das Requiem für einen Freund. Wir waren im Studium nur wenige Jahre auseinander. Einer, der mit Leib und Seele Priester war, der sich mit all seinen Kräften und wohl auch über seine Kräfte eingesetzt hat für seinen Glauben, auch in den Momenten des Scheiterns, schließlich auch seines eigenen Sterbens. Ich musste an eine Szene im Evangelium denken: die Rückkehr der Jünger, die Jesus vorausgeschickt hatte, wohin er selbst gelangen wollte. In ihnen war er überall dort angekommen, präsent in seinen Jüngern. Als diese nun voller Freude wieder bei ihm eintreffen und begeistert von ihren pastoralen Erfolgen erzählen, von den Wundern, die Gott durch sie gewirkt hat, freut er sich mit ihnen. Doch seine Worte weisen noch in eine tiefere Dimension ihrer Sendung. „Freut euch nicht darüber, dass euch die Geister gehorchen, sondern freut euch darüber, dass eure Namen im Himmel verzeichnet sind.“ (Lk 10,20) Das ist, was bleibt. Das ist, was gilt, auch über den Tod hinaus. All unsere Erfolgsmeldungen und Etappensiege, unsere mehr oder weniger bedeutsamen Taten verblassen und landen bestenfalls auf dem Friedhof der Geschichte. Die Welt geht weiter, auch ohne uns. Requiem für einen Freund: „Gott ist auf unserer Seite“, so hatte er oft und oft gesagt. Und im Namen dieses Gottes hat er sich wahrhaft ins Zeug gelegt. Wie sollte er im Tod nicht auf Gottes Seite sein. Eingeschrieben in den Himmel, mit bleibendem Wohnrecht - für immer. 4 5 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Loslassen lernen - Frieden finden Mittwoch, 29. November Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer. Vor einigen Jahren stieß ich auf ein bemerkenswertes Buch: „The gift of peace“ – „das Geschenk des Friedens“. Ein sehr persönliches Buch, in dem Kardinal Bernardin, damals Erzbischof von Chicago, mit entwaffnender Offenheit sein Leiden und Lernen der letzten Lebensjahre beschreibt. Wirklichen Frieden und innere Freiheit, so Bernardin, kann man nicht dem Leben abtrotzen; man muss sie sich schenken lassen. Wie viel Lebensenergie setzt man nicht ein, sich groß zu machen, sich wichtig zu nehmen! Aber all das bleibt nicht. Die eigentliche Lebensaufgabe, so Bernardin, heißt loslassen, was man doch nicht bis in den Tod festhalten kann. Loslassen, „letting go“, keine leichte Übung, selbst nicht für einen Kardinal. Die eigentliche Herausforderung kam für ihn aus heiterem Himmel. Man hatte ihn des sexuellen Missbrauchs bezichtigt. Die Vorwürfe waren aus der Luft gegriffen. Bernardin hatte Steven, den jungen Mann, der ihn verklagte, noch nie bewusst gesehen. Doch für die Medien war der Fall klar. Monatelang beherrschte der „Fall Bernardin“ die Schlagzeilen. Auf allen Fernsehkanälen und in aller Öffentlichkeit wurde diskutiert, kommentiert, vorverurteilt. Mich erinnert das Ganze an eine Kreuzwegwegstation: Jesus wird seiner Kleider beraubt, Bild für den geschundenen Menschen, beschämt, gedemütigt, der eigenen Integrität und Würde beraubt. Ohnmächtig mit ansehen müssen, wie die eigene Person Zug um Zug in der Öffentlichkeit demontiert, ja lächerlich gemacht wird. Loslassen müssen, wo man nicht gefragt wird noch herschenken kann. Einübung ins Sterben, da einem zuletzt alles genommen wird. Nach gut drei Monaten war der Spuk vorbei, die Anklage wurde zurückgezogen. In einem persönlichen Gespräch bat Steven den Kardinal um Entschuldigung, und der erzählte ihm, dass er jeden Tag für ihn gebetet habe und weiter für seine Gesundheit 5 6 und seinen inneren Frieden beten werde. „In meinem gesamten priesterlichen Dienst“, so Bernardin, „habe ich nie einer tieferen Versöhnung beigewohnt. Die Worte, mit denen ich davon erzähle, können nicht ansatzweise wiedergeben, was die Kraft Gottes an diesem Nachmittag bewirkt hat. Es war ein unvergessliches Offenbarwerden der Liebe Gottes, seiner Vergebung und heilenden Versöhnung.“ Zum Abschluss der Krankensalbung, die der Kardinal seinem Ankläger, schon von der AIDS-Krankheit gezeichnet, spendete, kam es zu einer bewegenden Geste: der brüderlichen Umarmung– mehr als ein Schlussstrich oder „Schwamm drüber“. Ausdruck seines Friedens, den Bernardin in Gott gefunden hatte, und den er dann weiterschenken konnte, sogar seinem Ankläger. Wenige Wochen später starb Steven, ausgesöhnt mit sich, seiner Kirche, mit Gott. Das Geschenk des Friedens, Frucht des Loslassens und der Versöhnung, war angekommen. Wenige Wochen später wurde bei Kardinal Bernardin ein bösartiger Tumor festgestellt, ein besonders aggressiver Krebs. Ein letztes Loslassen. Am 1. November 1996, 14 Tage vor seinem Tod, lud er in einem offenen Brief dazu ein, die letzten Meilen seines Lebensweges mit ihm zu gehen. „Wenn wir am Tor ankommen“, so schreibt er, „ muss ich zuerst eintreten; offenbar ist das die Regel: einer nach dem anderen, so wie es bestimmt ist. Aber ihr sollt wissen, dass ich jeden von euch im Herzen mitnehme. Einmal werden wir alle zusammen sein, innigst vereint mit Jesus, unserem Herrn, den wir so sehr lieben.“. Loslassen lernen, nicht um am Ende allein und bloß dazustehen, sondern einmal ganz von Gottes Liebe umfangen zu sein. Darin liegt jener letzte Friede, der bereits hier beginnt und der hinüberwächst in die Ewigkeit. 6 7 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Im Zwischenraum der Vergebung Donnerstag, 30. November Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer, „The five people, you meet in heaven“ – fünf Leute, die Sie im Himmel wiedersehen werden, so der Titel eines Buches, in den USA über Monate auf den BestsellerListen. Es handelt von Eddie, einem Kriegsveteran. Auf seine alten Tage arbeitet er als Mechaniker in einem Vergnügungspark. Er ist verbittert und vom Leben enttäuscht. Seine Tage sind angefüllt mit gleich bleibender Routine. Da, an seinem 83. Geburtstag, kommt es auf der Achterbahn zu einem tragischen Unfall. Eddie versucht, ein kleines Mädchen noch rechtzeitig vor dem heranbrausenden Wagen in Sicherheit zu bringen. Mit letzter Kraftanstrengung spürt er ihre kleinen Hände in den Seinen. Dann spürt er nichts mehr. Verehrte Hörerinnen und Hörer, wir wissen nicht, wie es jenseits der Grenze des Todes weitergeht. Mein Glaube sagt mir, dass es ein Leben nach dem Tod geben wird. Und ich glaube dem, der mir das sagt, Jesus, der davon spricht, dass mein Leben, das ich hier lebe, eine Bedeutung hat, noch über den Tod hinaus. Dass es nicht belanglos ist, ob ich versucht habe, gut zu sein, hilfsbereit, liebevoll, ob ich geliebt, für jemanden gelebt, mich für andere eingesetzt habe. Davon handelt auch jener Roman, in dem Eddie noch einmal an zentrale Orte seines Lebens geführt wird; an Momente, die sein Leben entscheidend geprägt haben; an Menschen, die seinen Lebensweg gekreuzt haben. Da ist seine Verwundung in Vietnam. Sein ganzes Leben hat er mit einem steifen Bein gehadert. Hinken müssen, nie mehr tanzen können. Hier nun erfährt er, dass sein eigener Kamerad ihn ins Knie geschossen hat. Hat Eddie die Kraft, ihm zu vergeben? Durch eine Glasscheibe sieht er seinen Vater. Erinnerungen an eine qualvolle Kindheit werden wach. Alkohol, Gewalt, Strafe durch Nichtbeachtung. Und trotz allem Schuldgefühle gegenüber dem Mann, der ihn mit schweigender Verachtung gestraft 7 8 hat. Hier nun erfährt Eddie die andere Seite, die Härten im Leben seines Vaters, sein Wollen und Nicht-Können, sein Kämpfen, seine Verzweiflung. Ist Mitleid nicht auch eine Form zu vergeben? Und da ist Marguerite, Eddies Frau, die einzige, die er je geliebt hat, und die doch viel zu früh von ihm gegangen ist, ihn allein gelassen hat. Jetzt, in jenem Zwischenraum zwischen Leben und Tod, kommt ihm über die Lippen, was er sein ganzes Leben mit sich herumgeschleppt hat, mit schuld zu sein am Tod von Menschen, damals im Krieg. Wer könnte ihm jemals vergeben? Da ist die tief sitzende Enttäuschung über sich selbst, die unendliche Traurigkeit über sein nicht gelebtes Leben. Eine fiktive Geschichte, und doch zugleich anrührend. Sie rührt an Wunden auch im eigenen Leben, an Verhärtetes, Erstarrtes, an Ungelöstes, was darauf wartet, erlöst zu werden. Sie ruft Erinnerungen wach an Ungesagtes, das ausgesprochen, Schuld, die gebeichtet, Liebe, die bekannt werden will. Denn wir leben noch diesseits der Schwelle des Todes. So sind Eddies jenseitige Entdeckungen eine Einladung zum Leben. Eine Einladung, dem eigenen Leben eine Wende zu geben. Zum Guten, zum Wahren, zur Liebe – und in all dem zu Gott. Die Schlussszene des Romans führt Eddie noch einmal an seine alte Wirkungsstätte. Tausende Kinder vergnügen sich dort. Seine Wartung hat verhindert, dass es zu Unfällen kam. Endlich erfährt Eddie, dass er auch mit seinem letzten Einsatz auf der Achterbahn das kleine Mädchen hat retten können. Sein Leben und auch sein Sterben haben einen Sinn gehabt. Ein tiefes Glücksgefühl überkommt Eddie, und ein Friede, wie er ihn noch nie erlebt hat. Und er weiß im Tiefsten: Er ist endlich Zuhause. 8 9 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Im Angesicht des Todes leben lernen Freitag, 1. Dezember Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer! Meine Gedanken wandern zurück. Wie war mein Leben? Es gab eine Zeit, da hielt ich alle, die reich waren, für Spießer. Hemd und Krawatte waren mir zu eng. Ich wollte Freiheit. Mit allen Höhen und Tiefen . Der Klang des Motorrads, die Brise im Gesicht, unterwegs auf den Straßen von Paris, in den Bergen von Tibet. Ich habe mein Leben gelebt. In vollen Zügen.- Dann kamen die 80er, die 90er Jahre, erste Begegnungen mit Krankheit, mit Tod. Der Bauchansatz. Die Glatze … Wie viele Träume habe ich für einen Verrechnungsscheck verraten, ohne mir dessen bewusst zu sein. Immer unterwegs, immer im Stress. Meine Arbeit war mein Leben und mein Leben war Arbeit. Eine Szene aus dem Buch „Tuesday with Morrie“, wo Mitch, ein bekannter Sportreporter, erfolgreich, rastlos, immer aktiv, seinem alten College-Professor, Morrie, gegenüber sitzt. Per Zufall hatte er ihn nach Jahren im Fernsehen wieder entdeckt, jener damals schon im Rollstuhl, im Wissen um seine tödliche Krankheit: Muskelschwund, unheilbar. Aber er wollte sich nicht schon zu Lebzeiten aus dem Leben verabschieden und sich dem Selbstmitleid ergeben. Er hatte beschlossen, das Leben zu leben, so wie es ihm möglich war: mit Würde, mit Mut, mit Humor. Und wenn er doch einmal traurig war, dann sagte er sich: Heute will ich leben. Verehrte Hörerinnen und Hörer, mich hat diese Geschichte sehr berührt. Vielleicht weil ich darin auch manche Züge von Mitch wieder erkenne: der Siegertyp mit dem manchmal angestrengten Lächeln, der von Termin zu Termin hetzt und gar nicht merkt, wie sehr er von seinem Beruf gelebt wird, dabei innerlich leer und ausgebrannt. Vielleicht ist es aber auch die Faszination, die von einem Menschen wie Morrie ausgeht, der mit sich selbst, wie es scheint, im Frieden ist. Der es gelernt hat, zu akzeptieren, was er kann und was er nicht kann; und der einfach nicht mehr 9 10 genug Zeit – Lebenszeit - hat, um sich mit Unwesentlichem, mit banalen Dingen abzulenken. Leben lernen, ausgerechnet im Kontakt mit Menschen, die dem Tod schon nahe sind. Die vielleicht gerade deswegen mit sich selbst, dem eigenen Leben im Reinen sind. Die nichts mehr nach außen darstellen, im Leben nichts mehr erreichen müssen, deren Fragen vielleicht gerade deswegen nicht so einfach abzuschütteln sind: „Bist du mit dir im Frieden?“ - „Wofür rennst du?“ – „Was gibt deinem Leben Sinn?“ Fragen, die verunsichern mögen, die aber auch die Kraft haben, dem eigenen Leben neue Tiefe, vielleicht auch eine neue Richtung zu geben: himmelwärts. „Mensch, werde wesentlich“, heißt es bei Angelus Silesius. Wenn das Ende des Lebensweges – vielleicht unerwartet - in den Blick kommt, wenn die eigenen Lebensmöglichkeiten begrenzt, die letzte große Herausforderung des Lebens absehbar ist, da kann man in der Tat verzweifeln, verbittern, verzagen. Oder man kann bewusst die verbleibende Wegstrecke in Angriff nehmen, vielleicht mit dem Wort aus den Psalmen: „Meine Tage zu zählen lehre mich, damit ich ein weises Herz gewinne.“ Vom Ende her das Leben gewinnen. „Was mache ich eigentlich?“ – „Wie läuft mein Leben?“ – „Wo will ich hin?“ Leben lernen, vielleicht auch von Menschen wie Morrie. Dem Leben einen Sinn geben, besser: ihm den Sinn ablauschen. Lernen, worauf es ankommt. Was wirklich gilt. Was bleibt. Nicht auszuschließen, dass wir dabei erkennen, dass das ewige Leben nicht erst im Jenseits beginnt. Dass wir dieses neue Leben bereits in uns tragen. Uns geschenkt, damit wir es weiterschenken – und es so behalten für die Ewigkeit. 10 11 Prälat Peter Klasvogt Dortmund Und die Seele singt mitten in der Nacht Samstag, 2. Dezember Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer, „Wie schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit vor dem Herrn, uns herrlich aufgegangen“ Ein Kirchenlied, passend für diese dunkle Jahreszeit, das uns den Einstieg in den neuen Tag erleichtern mag. Ein Lied, das an die Dunkelheiten des Lebens anknüpft und von dem Licht spricht, das der Glaube in unser Leben bringt. Dabei klingt das Lied aus einer Zeit zu uns herüber, da der Schatten des Todes sich wie Blei auf die ganze Welt gelegt hatte. Wir schreiben das Jahr 1596. Zwischen den noch jungen Kirchen der Reformation war ein heftiger Streit um das Abendmahl entbrannt. Auch in Unna unweit von Dortmund wogt der Streit hin und her. So ist es pikanterweise der katholische Landesherr, der Herzog von Jülich-Kleve, der Philipp Nicolai, einen bekannt scharfzüngigen Prediger und begnadeten Agitator zum lutherischen Stadtprediger bestellt, um die Gläubigen auf die rechte Lehre zu verpflichten. Doch dann passiert etwas, das alle theologischen Streitigkeiten und konfessionellen Grenzen mit einem Mal in den Hintergrund treten lässt. Der neue Prediger hatte sich gerade erst häuslich niedergelassen, da bricht in Unna die Pest aus. Der schwarze Tod geht um, und mit ihm die Angst. Das Grauen. Jeder kann der nächste sein. Der Tod ragt in die Häuser hinein, die eigene Familie wird nicht verschont, niemand weiß, wie man sich dagegen schützen soll. Verzweiflung und Klage, Flehen und Ergebenheit prägen das Lebensgefühl der Menschen. Innerhalb kurzer Zeit wird ein Drittel der Bevölkerung hinweggerafft, und Philipp Nicolai, Meister des geschliffenen Worts und stadtbekannter Lebemann, hat über Nacht die Kirche mit dem Friedhof vertauscht. Morgen für Morgen werden vor seinem Haus die Toten der Nacht zusammengekarrt und aufgebahrt. An ihm ist es, ihnen das letzte Geleit zu geben. 11 12 Der Tod, ein Meister in Deutschland - und Philipp Nicolai, der Meister des Wortes, lernt die Lektion seines Lebens. Mitten in der Nacht des Todes, der Angst, der Verzweiflung, fängt sein Glaube an zu singen. „Von Gott kommt mir ein Freudenschein, wenn Du mich mit den Augen dein gar freundlich tust anblicken. … Nimm mich freundlich in dein Arme und erbarme dich in Gnaden. Auf dein Wort komm ich geladen.“ Es gibt Situationen im Leben, da stehen wir mit dem Rücken zur Wand, da kommt es so knüppeldick, dass wir den Realitäten ins Auge schauen müssen. Gott kommt uns entgegen, nicht nur an den heiteren Tagen unseres Lebens, wo wir uns gern ein wenig Frömmigkeit gefallen lassen. Nein, er ist dort, wo wir vielleicht nicht einen frommen Gedanken herausbringen, wo uns das Beten schwer fällt und der Glaube an Gott fragwürdig erscheint. Die geistliche Erfahrung nicht nur eines Philipp Nicolai ist, dass in all dem Schrecklichen, Bedrängenden, Bedrückenden der auf uns zukommt, der in unsere Nacht, unsere Angst, unser Versagen hineingestiegen ist. Die unter dem Eindruck des grassierenden Todes entstandenen Lieder Philipp Nicolais atmen etwas von dieser Gelassenheit vertrauensvoller Gottzugewandtheit, geprägt von der letzten Gewissheit, dass noch der Tod vom Leben selbst umfangen ist. Begegnung mit dem, der den Tod besiegt und alle Tränen trocknen wird. So singt denn die Seele auch mitten in der Nacht. „Wie bin ich doch so herzlich froh, dass mein nun ist das A und O, der Anfang und das Ende. Er wird mich doch zu seinem Preis aufnehmen in das Paradeis, des schlag ich in die Hände. Amen. Amen. Komm, du schöne Freudenkrone, säum nicht lange. Deiner wart ich mit Verlangen.“ 12