Brüchige These

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KULTUR
Literatur
Brüchige These
Rudolf Augstein über einen weiteren Versuch, Shakespeare zu enttarnen
lle dreißig Jahre wieder (SPIEGEL
dem aber auch zweifelhaft ist, ob er sie
verdient. Looney glaubte schon damals,
17/1964) wird William Shakemit Edward de Vere den Dichter dingspeare, der Welt größter Dramatifest gemacht zu haben.
ker, vom Thron gestoßen. Unter dem
bezeichnenden Titel „Das ShakespeareInzwischen gibt es nicht weniger als 57
Komplott“ hat sich dieses Mal der in
Personen, die als geheimer oder doppelInnsbruck lebende Literaturkritiker und
ter Shakespeare figurieren. 50 davon geÜbersetzer Walter Klier, 38, darangehören in den Karneval, unter ihnen Fimacht, den „tollsten Literaturkrimi der
guren wie Maria Stuart und Elizabeth
Welt“ zu entschlüsseln*. Die Frankfurselbst. Mit den verbleibenden 7 lohnt
ter Allgemeine ließ Klier sogar in einer
die Beschäftigung.
ihrer Wochenendbeilagen in
Tiefdruck und ausführlich zu
Wort kommen.
Klier begnügt sich nicht damit, aufzuzeigen, daß Shakespeare allenfalls Kaufmann in
Stratford oder Schauspieler in
London, nicht aber der Verfasser der ihm von der Anglistik
zugeschriebenen Dramen gewesen sein könne. Er sieht „erdrückende“ Beweise, daß ein
speziell anderer die Stücke wie
im übrigen auch die Sonette geschrieben habe, der 17. Graf
von Oxford, Edward de Vere,
erblicher Großkämmerer des
Reiches, angeblicher Favorit
(„eine Zeitlang“) der Königin
Elizabeth I., Schwiegersohn des
mächtigsten Mannes nach der
Königin, des William Cecil,
Lord Burghley. Von de Vere
gibt es wenige erhaltene Gedichte, die Klier aber mühelos
als jugendliche Vorübungen auf
dessen spätere ShakespeareSPIEGEL-Titel 17/1964
Rolle erkennt.
Nun beschäftigt man sich seit Geheime oder doppelte Figur
Beginn des 19. Jahrhunderts
ausführlich und immer wieder mit
Ganz vorn steht da Francis Bacon. Von
Shakespeares realer Person, weil das,
Beweisen für den wahren Shakespeare alwas er geschrieben hat, in keinem belerdings kann auch hier keine Rede sein.
weisbaren Kontext zu stehen scheint zu
Erst an vierter oder fünfter Stelle, so bedem, was von ihm als Privatmann und
zifferte es jüngst der Anglist Herbert MaiStaatsbürger bekannt ist. Namentlich
nusch aus Münster, taucht der 17. Earl of
die Sonette hatten es der Philologie anOxford auf, den der Kritiker Francis
getan, und das mit einigem Recht.
Meres 1598 einen Komödienschreiber
Es hat aber kaum einer je gewagt, den
„among the best“ nennt. Er nennt kein
wirklichen Shakespeare in Gestalt einer
Werk, und wir wissen auch keinen Titel,
absolut verbürgten Person kenntlich zu
aus dem sich dieses Lob ergeben könnte.
machen, keiner außer 1920 J. Thomas
Im selben Buch äußert sich aber derselbe
Looney, dem ernsthafte philologische
Kritiker nahezu hymnisch über den daBetrachtung nicht zuteil wurde, von
mals 34jährigen Shakespeare, und er beruft sich auf eine Reihe von Titeln:
A
* Walter Klier: „Das Shakespeare-Komplott“. Essay. Steidl Verlag, Göttingen; 160 Seiten; 20
Mark.
Wie Plautus und Seneca bei den Römern
als die besten Lustspiel- und TragödienDER SPIEGEL 8/1994
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KULTUR
dichter galten, so ist Shakespeare bei
den Engländern der hervorragendste
Vertreter beider dramatischer Gattungen. Hiervon zeugen für das Lustspiel
„Die beiden Veroneser“, „Die Komödie
der Irrungen“, „Verlorene Liebesmüh¯“,
„Ende gut, alles gut“, „Ein Sommernachtstraum“ und „Der Kaufmann von
Venedig“, für die Tragödie „Richard II.“,
„Richard III.“, „Heinrich IV.“, „König Johann“, „Titus Andronicus“ und „Romeo
und Julia“.
Man sollte meinen, hier werde die
These Kliers schon brüchig, ja, sie sei
schon zusammengebrochen. Aber Klier,
den Scholaren nicht hold, will seine Argumente „populärwissenschaftlich“ zusammenfassen.
Es scheint, als befinde er sich gar
nicht auf dem neuesten Stand. Vermutlich hat er die 1992 in England und
Amerika erschienene Shakespeare-Biographie des Oxforder Dozenten Dennis
Kay gar nie gelesen*. Kay argumentiert
so dicht, daß der Gedanke, ein anderer
habe Shakespeares Stücke geschrieben,
gar nicht erst widerlegt wird, der Autor
hielt abweichende Thesen wohl für endgültig ausgeräumt. Man darf auf einen
Vergleich der wissenschaftlichen Ergebnisse von Dennis Kay mit der Populärwissenschaft von Walter Klier wahrhaft
gespannt sein.
Wann Shakespeare gestorben ist, wissen wir: im Jahre 1616. Aber, was Wunder, wir wissen auch, wann der Earl of
Oxford, Edward de Vere, gestorben ist:
im Juni 1604.
So müssen wir uns fragen, wer den
„Macbeth“ geschrieben hat, der auf das
Jahr 1606 angesetzt wird, wer die Tragödie „Antonius und Cleopatra“, der man
die Entstehungsjahre 1607 und 1608 zu-
Wer hat
den „Macbeth“
geschrieben?
teilt? Wer den „Coriolanus“ aus den
Jahren 1607 bis 1610? Wer den „Perikles“ 1606, wer „Cymbeline“ 1609 oder
1610? Wer das „Wintermärchen“
1610/11? Wer den „Sturm“ 1611? Wer
„King Henry VIII.“, ein Stück, an dem
das Schreibtalent John Fletcher beteiligt
gewesen sein soll.
Walter Klier berühmt sich ja der
Schlüssigkeit seiner These, Shakespeare
sei ein Pseudonym für Edward de Vere
gewesen.
Eine plausible Antwort auf diese Fragen bleibt er uns schuldig. In seinem
Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen
* Dennis Kay: „Shakespeare. His Life, Work and
Era“. Sidgwick & Jackson, London; 368 Seiten;
20 Pfund.
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DER SPIEGEL 8/1994
lesen wir: „Die Evidenz für de Veres
Verfasserschaft ist erdrückend. Unerheblich hierfür bleibt die Frage, wieweit es Mitarbeiter an den Dramentexten gegeben hat oder unvollendet gebliebene Manuskripte nach de Veres
Tod 1604 in die Form gebracht wurden, in der sie 1623 erschienen.“ So
macht man Leute neugierig und bleibt
Beweise schuldig.
BESTSELLER
BELLETRISTIK
1
Grisham: Die Akte
Hoffmann und Campe;
44 Mark
(1)
2
Pilcher: Wilder Thymian
Wunderlich; 42 Mark
(2)
3
Gordon: Der Schamane
Droemer; 44 Mark
(3)
4
Zimmer Bradley: Die
Wälder von Albion
W. Krüger; 49,80 Mark
(4)
5
Gaarder: Sofies Welt
Hanser; 39,80 Mark
(8)
6
Clavell: Gai-Jin
C. Bertelsmann; 49,80 Mark
(5)
7
Pilcher: Die
Muschelsucher
Wunderlich; 45 Mark
(6)
8
Pirinçci: Francis – Felidae II (7)
Goldmann; 38 Mark
9
Nooteboom: Rituale
Suhrkamp; 28 Mark
(9)
10
Morrison: Jazz
Rowohlt; 36 Mark
(10)
11
Atwood: Die Räuberbraut
S. Fischer; 48 Mark
(14)
12
Grisham: Die Firma
Hoffmann und Campe;
44 Mark
(12)
13
le Carré: Der
Nacht-Manager
Kiepenheuer & Witsch;
48 Mark
(11)
14
George: Denn bitter
ist der Tod
Blanvalet; 39,80 Mark
(13)
15
Kinkel: Die Puppenspieler
Blanvalet; 44 Mark
Daß Shakespeare nirgendwo abgeschrieben habe, kann nicht behauptet
werden. Die Autoren des ShakespeareHandbuchs vermuten in der Trilogie
„Henry VI.“ und in den frühen Komödien eine „teilweise Verfasserschaft
Shakespeares“ und folgern, daß „der
Dramatiker zu Beginn seiner Laufbahn
die Stücke anderer Autoren bearbeitete
und adaptierte“. Noch mehr aber ist
SACHBÜCHER
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15
Ogger: Nieten in
Nadelstreifen
Droemer; 38 Mark
Wickert: Und Gott
schuf Paris
Hoffmann und Campe;
42 Mark
Carnegie: Sorge dich
nicht, lebe!
Scherz; 42 Mark
Falin: Politische
Erinnerungen
Droemer; 48 Mark
Hawking: Einsteins Traum
Rowohlt; 36 Mark
Filipović: Ich bin ein
Mädchen aus Sarajevo
Lübbe; 29,80 Mark
Zachert/Zachert: Wir
treffen uns wieder in
meinem Paradies
Lübbe; 29,80 Mark
Schmidt: Handeln
für Deutschland
Rowohlt Berlin; 34 Mark
Sasson: Ich, Prinzessin
Sultana, und meine Töchter
C. Bertelsmann; 38 Mark
Scholl-Latour: Eine Welt
in Auflösung
Siedler; 44 Mark
Kelder: Die Fünf „Tibeter“
Integral; 19 Mark
Gore: Wege zum
Gleichgewicht
S. Fischer; 39,80 Mark
Hacke: Der kleine
Erziehungsberater
Kunstmann; 19,80 Mark
von Arnim: Staat
ohne Diener
Kindler; 38 Mark
Janosch: Mutter sag,
wer macht die Kinder?
Mosaik; 22 Mark
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(5)
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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Fachmagazin Buchreport
Shakespeare von seinen Kollegen geplündert worden. John Lyly (etwa 1554
bis 1606) aus Kent zum Beispiel benutzte als Vorlage für seine Komödie „The
Maid’s Metamorphosis“ (falls er denn,
was nicht sicher ist, deren Autor war)
Shakespeares „Sommernachtstraum“.
Daß William Shakespeare nicht nur
Dichter, sondern auch Schauspieler
war, steht außer Zweifel.
Maria Stuarts Sohn Jakob, König von
Schottland und nach dem Tode Elizabeths auch König von England, suchte
sich naturgemäß von seiner großen Vor-
Shakespeare wurde
von seinen
Kollegen geplündert
gängerin zu unterscheiden, und das geschah auch zugunsten des Theaters.
Schon zehn Tage nach seiner Ankunft
in London 1604 befahl Jakob Lord Cecil,
die Truppe des Lord Chamberlain zu seiner eigenen Truppe („the King’s own
troup of players“) zu ernennen. Der Erlaß erwähnt namentlich neun Schauspieler, unter ihnen William Shakespeare,
und bald wird Shakespeares Name an der
Spitze stehen.
In seinen letzten zehn aktiven Jahren
wird Shakespeares Truppe an die zwölfmal im Jahr bei Hofe spielen, wo Elizabeth sich vorher auch mit dreimal begnügt hatte. Sein Name als Verfasser
steht auf den Stücken. Shakespeare bekommt den Titel eines königlichen Kammerdieners („Groom of the chamber“),
eine Anerkennung seiner Arbeit.
Konnte schon Elizabeth schwerlich
Zweifel daran haben, wer die Stücke, die
bei Hofe aufgeführt wurden, geschrieben
hatte, so gilt das erst recht für ihren Nachfolger Jakob. Der Gedanke, es hätte Edward de Vere den „Othello“ oder „Den
Kaufmann von Venedig“ oder auch nur
„Die lustigen Weiber von Windsor“ verfaßt, scheint Elizabeth nie gekommen zu
sein, und noch weniger kann sie von solchen Ideen gewußt haben. Es sei denn,
sie wäre selbst an einem Komplott beteiligt gewesen.
Dann aber wäre ihr ohne Zweifel Jakob I. auf die Schliche gekommen, der
selbst ein Poet war. Unvorstellbar, daß er
und seine Leute einen solchen Betrug
nicht erkannt hätten. Dem 17. Earl of Oxford, der ein Jahr nach Jakobs Thronbesteigung starb, scheint er nie begegnet zu
sein.
So bleibt das Rätsel Shakespeare, das
allenfalls mit dem Buch von Dennis Kay
gelöst ist. Es bleibt ebenso die Gewißheit,
daß nicht Edward de Vere, 17. Earl of
Oxford, der Verfasser dieser Meisterwerke gewesen ist. Dafür wenigstens hat
Walter Klier mit seinem Komplott-Buch
gesorgt.
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DER SPIEGEL 8/1994
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