1 Abb. Titel Bild und Bewegung – kinematographisch und digital (Vortrag Cologne Media Lectures, Köln Juni 2014) 1. Einleitung In meinem Vortrag werde ich mich mit dem Verhältnis von Bild und Bewegung zunächst im kinematographischen, also mechanischen, und dann - auch vergleichend- mit dem elektronischen und digitalen Bewegungsbild befassen. Zuvor jedoch möchte ich einige allgemeinere Bemerkungen zum Verhältnis von Bild und Bewegung machen, die dann später für das komplexe Bewegungsbild des Films, Fernsehens, Videos und Computers hilfreich sein könnten. Meine erste Feststellung ist, dass Bilder dazu da sind, Bewegung anzuhalten und in ihrer Darstellung aufzuheben. Sie sind das Gegenteil der Bewegung, die sie mit ihrer Darstellung suspendieren, wenn nicht die ‚nature morte‘ von vornherein der privilegierte Gegenstand ihrer Abbildung ist. Ich denke zum Beispiel an den Ursprungsmythos der Malerei, wo die Tochter des korinthischen Töpfers Dibutades zwar nicht ihren Geliebten, aber dessen Schattenriß bei sich behalten konnte. Sein Verschwinden hat zumindest ein (Schatten-)Bild zurückgelassen. Und in seiner BildAnthropologie1 hat Hans Belting in der Totenmaske das Urbild gesehen, mit dem Veränderungen in der Zeit aufgehalten und der Prozess des Verschwindens angehalten werden möchte (der Tod als ‚disparition‘). Und nur so können sie auch der Erinnerung an Vergangenes dienen. Andererseits verdanken sich Bilder der Bewegung ihrer Herstellung, die sich über eine längere Zeit des Malaktes zum Beispiel hinstrecken oder auf eine tausendstel Sekunde im Verschluss des Fotoapparates reduziert sein kann. In Bilder ist immer die Zeit einer Bewegung implementiert. Und Bilder wollen betrachtet werden mit Blicken, die in sakkadischen Abfolgen von Augenbewegungen ein Bild abtasten und 1 Hans Belting: Bild-Anthropologie, München 2001, bes. S143f 2 den Körper des Betrachters am Bild entlangführen2. Im Sehen von Bildern ist Zeit – auch des Erzählens - investiert. Schließlich stellen Bilder Bewegungen dar, die nicht nur in ihnen zu Ende kommen, sondern aus der Erfahrung der modernen industriellen Beschleunigung dort erst recht ihre Dynamik entfalten sollen. So rasend die dargestellte Bewegung zum Beispiel in der futuristischen Malerei auch ist, ihre malerische Darstellung ist nach wie vor unbewegt. Last but not least können Bilder selbst bewegt werden, was seit ihrer Vervielfältigung in modernen Reproduktionsverfahren zu einem schier unaufhaltsamen Bilderstrom geführt hat. Kurz: Bilder halten Bewegungen, vor allem die Bewegung des Verschwindens, an; ihr Erscheinen verdankt sich einer Bewegung ihrer Herstellung; ihre Betrachtung ist die einer konstitutiven Bewegung der Sinne; sie sind als Bilder ohne weiteres beweglich und stellen auch Bewegung dar, allerdings unbewegt. Der Damm, den jedes einzelne Bild gegen die Veränderungen in der Zeit aufrichtet, ist erst durchbrochen worden, als Bewegung nicht mehr nur unbewegt abgebildet, also im Bild angehalten, sondern im Bild selbst durch Bewegung dargestellt werden konnte. Was verschwindet kann nun in die Bilder zurückgeholt werden, der Tod hat gegenüber den lebenden Bildern sein Recht verloren. Die lebendige Wirklichkeit kehrt in die Bewegungsbilder zurück. Die kinematographischen Bewegungsbilder projizierter Filme stellen zum ersten Mal mit Bildern Bewegung durch Bewegung dar. 2. Am 4. Juli 1896 kommt es zu einer Art ‚Urszene des kinematographischen Bewegungsbildes‘. Und das ist es, was Maxim Gorkij bei seinem ersten Besuch eines Kinematographen der Brüder Lumière im russischen Nishny-Nowgorod gesehen hat. Seine berühmt gewordene Schilderung beginnt mit der Enttäuschung über ein unbewegtes Lichtbild einer Pariser Straße, „in der alles Leben erstarrt ist. (..) Doch plötzlich beginnt die Leinwand seltsam zu vibrieren und das Bild wird lebendig. Die Kutschen aus dem Hintergrund fahren direkt auf Sie zu in die Dunkelheit, in der Sie sitzen. Menschen erscheinen irgendwo aus der Ferne und werden größer, wenn sie sich Ihnen nähern. Im Vordergrund spielen Kinder mit einem Hund, Radfahrer rasen vorbei, Fußgänger überqueren die Straße, sich zwischen den Kutschen hindurchschlängelnd - alles bewegt sich, lebt, brodelt, kommt in den Vordergrund des Bildes und verschwindet aus ihm irgendwohin.“3 2 In dem interaktiven Video ‚Zerseher‘ (1991-1992 von Joachim Sauter & Dirk Lüsebrink) wird das betrachtete Gemälde durch die Augenbewegung zerstört … 3 Maxim Gorkij: Flüchtige Notizen.(Bericht über den Cinématographe Lumière in Niznij -Novgorod. In: Nizegorodskij listok .4.Juli 1896 unter dem Namen I.M.. Pacatus). In: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. 1995. 4, S. 11-16 ( Übersetzung aus dem Russischen von Jörg Bochow). 3 Abb. Lumière Gorkij hätte sich nur umzusehen brauchen, wo hinter ihm der Operateur des ‚Cinématographe Lumière‘ den Film im Licht einer Bogenlampe in die Kamera, die gleichzeitig als Projektor diente, einlegte. Zu sehen war das stehende Bild eines fotografischen Diapositivs. Bewegung wird in diesem projizierten Lichtbild erst sichtbar, als die Kurbel gedreht wird und die Mechanik des Projektors den Film am Objektiv vorbeizubewegen beginnt und ein Bild nach dem anderen, die sich geringfügig unterscheiden, auf die Leinwand projiziert wird, wo sie sich zu einem Bewegungsbild verbinden oder verdichten. Der mechanische Ursprung des projizierten Bewegungsbildes auf der Leinwand wird künftig vor den Augen und Ohren der Zuschauer verborgen sein; die Filme selbst setzen alles, vor allem in Kombination mit dem Ton, daran, die (mechanische) Bewegung ihrer Darstellung zur dargestellten Bewegung ihrer Erzählung durchsichtig werden zu lassen. 3. Für eine Erklärung der damals um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert und wohl auch heute noch erstaunlichen Tatsache, dass dargestellte Bewegung im Film aus einer Folge von Unbewegtheiten resultiert, spielten von Anfang an drei Positionen eine Rolle. Da 1. die technisch-apparativen Bedingungen der Projektion im Hintergrund des Kinos sehr schnell aus dem Blick verschwunden waren, hat man sich 2. auf diesen Blick selbst konzentriert, der irgendwie für die wahrgenommene Bewegung konstitutiv sein könnte. 3. schließlich wäre eine unmittelbare Beziehung zwischen den lebenden Bildern des Kinos und dem Leben, das sie abbilden, denkbar. Wäre die Wirklichkeit ein Kosmos aus lebendigen Bildern unserer Wahrnehmung, dann hätten Filme auf ihre besondere Weise aktiven und reflexiven Teil an diesem Bilderuniversum. In diesem dritten Fall gäbe es keinerlei Unterscheidung zwischen Bild und Bewegung, das Bild ist von vornherein ein Bewegungsbild, dem keine Bewegung mehr hinzugefügt werden müsse. Die 2. Position der konstitutiven Wahrnehmung nimmt immerhin eine Verbindung zwischen unbewegten Bildern und der schnellen Folge ihres Erscheinens im Auge des Betrachters an, wo erst der (illusionäre) Eindruck von Bewegung entsteht. Wenn schließlich wie im ersten Fall die Bewegung des projizierten Bewegungsbildes technisch-apparativ erklärt werden 4 soll, dann kann es sich nur um einen Effekt kinematografischer Konstruktion aus Mechanik, Fotochemie und Licht (Optik) handeln, der auch ohne einen Zuschauer und womöglich auch ohne eine Wirklichkeit, die er abbildet, funktioniert. 4. Dass mindestens 16 und bestenfalls 24 (aber auch mehr) Bilder pro Sekunde benötigt werden, um kinematographisch eine fließende Bewegung darzustellen, gehört zum kulturellen Wissen der Moderne. Das ist aber auch alles. Zum Beispiel wurde so gut wie nie gefragt, warum es überhaupt erforderlich ist, eine kontinuierliche Bewegung der Wirklichkeit zu zergliedern, um sie darstellen zu können. Es war selbstverständlich, dass man einen Bewegungsablauf in Phasen unterteilen musste, wenn man ihn als eine raum-zeitliche Abfolge zum Beispiel in einem frühen Comic von Rodolphe Töpffer bildlich erzählen wollte. Abb. Toepffer Tatsächlich ist es keineswegs notwendig, eine Bewegung für ihre Darstellung zu unterteilen, wenn es sich um eine einfache (geschwungene) Linie zum Beispiel handelt (vgl. entspr. Avantgarde-Filme). Erst wenn in derselben Darstellung unterschiedliche feste Punkte durch Bewegung in sich verändernde Beziehungen gebracht werden sollen, müssen zeitliche Schnitte gemacht werden, die jeweils Konstellationen dieser Veränderungen enthalten und untereinander sowie zum Ganzen der Bewegung im Verhältnis stehen. Warum das so ist, lässt sich leicht an dem Modell, das auch dem Kinematographen zugrunde liegt, erklären, dem Uhrwerk. Die Zeit ist das Maß für Bewegung, Bewegung ist raumzeitliche Veränderung. Wir leben in der Zeit so, wie wir auch in Bewegung sind. Beides, Zeit und Bewegung wird erst zum Problem, wenn wir sie kommunizieren oder darstellen sollen. Wie Zeit dargestellt wird hängt von der Bewegung ab, die sie messen soll. Die Sand- oder Wasseruhr konnte nur den kontinuierlichen Fluss der Zeit messen. Seit der frühen Neuzeit haben die Ausweitung des Handels und des Verkehrs und der Beginn der Industrie zu einer Beschleunigung der Zeit geführt, die feste Jetzt-Punkte für Gleichzeitigkeiten benötigte, um Handlungen von Akteuren erst lokal und schließlich global zu koordinieren. Zeit, das sind jetzt 24 Stunden eines Tages, 60 Minuten einer 5 Stunde, 60 Sekunden einer Minute etc. Um sie darzustellen, muss ihr stetiger Fluss unterbrochen werden, der in der Mechanik eines Uhrwerks durch ein Pendel oder die Hemmung in eine Vielzahl gleicher Zeitsegmente unterteilt wird, die durch die Zeigerbewegung dargestellt werden können (die Uhr ‚tickt‘). Die neue Uhrenzeit hat aus einer «‹Welt des Ungefähr› […] ein ‹Universum der Präzision›»4 gemacht. Das Uhrwerk wurde zum Symbol des Universums, seine Unruhe zum Motor der Neuzeit. «Die Hemmungen der Uhren […] zerhacken rollende Zahnradbewegungen in zählbare Diskontinuitäten. […] Zeit als Maschinenbewegungszeit war ab dato die kinematische Grammatik von Ruhe und Bewegung, Stop and Go, Gesperrschließung und Gesperrlösung»5 und wurde zum «Zentrum eines Systems von Maschinenbewegung und Bewegungsmaschinen»,6 zu dem am Ende des 19. Jahrhunderts auch die Kinematographie gehören wird. Bereits die Versuchsanordnung Eadweard Muybridges7, die dem Trabergang von Pferden auf die Spur kommen sollte, hat den Sekundentakt der Uhrenzeit mit der Reihenfotografie verbunden. Fotoapparate wurden in der Reihe neben der Bewegung der Pferde aufgebaut und im Sekundentakt einer Uhr ausgelöst. Die fließende Bewegung der Pferde war nun in Fotografien einzelner Phasen zerlegt – man musste sie nur wie die Sekundenschnitte der Uhr zum Fluss der Zeit wieder in den Fluss der Bewegung apparativ zurückversetzen, um sie in Bewegung darzustellen. Das macht der Kinematograph. Abb. Muybridge 5. Der Kinematograph ist eine Uhr, die statt die Zeit mit Zahlen - figurale Bewegung mit Bildern darstellt. Mit seinem zum Uhrwerk analogen Mechanismus und seinen Reihenfotografien vermag der Kinematograph die abstrakte Uhrenzeit zu illustrieren 4 Peter Berz, Uhrwerk und Zeitgetriebe, in: Georg Christoph Tholen, Michael Scholl, Martin Heller (Hg.), Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel, Zürich 1993, S. 172-173 (Berz zitiert Alexandre Koyré in Critique 28, 1948). 5 Ebd., S.173 6 Ebd., S.173 7 Eadweard Muybridge, Complete human and animal locomotion, New York, NY, 1979 6 und sie mit seinen ‹lebenden Bildern› und Geschichten in die Illusion von Lebenszeit zurück zu verwandeln.8 Beiden gemeinsam ist ein mechanischer Schalter. Abb. Hemmung/Malteserkreuz Das Malteserkreuz (1) im Kinematographen schaltet anstelle der Hemmung im Uhrwerk (2) den Film wie die Zeiger in der Uhr weiter. Auf die Präzision dieses Mechanismus haben die Brüder Lumière in ihrer Patentschrift besonderen Wert gelegt, denn sie ist die Voraussetzung dafür, dass ein gemeinsames Bewegungsbild aus der Folge der Einzelbilder in der Leinwandprojektion entstehen kann (damit die Bilderuhr ‹genau› geht). Die Filmprojektion ist nichts anderes als eine Diaprojektion 16 bis 24 (25) mal in der Sekunde (dazu die akustische Darstellung der Tonaufzeichnung). Die einzelnen Abbilder werden mit großer Präzision übereinander projiziert wie in einem Palimpsest9; ihre Transparenz macht sie untereinander füreinander durchsichtig und ihre figuralen Veränderungen lassen sie als bewegt erscheinen. Abb. Filmprojektion Es ist ihre figurale Differenz innerhalb eines codierten Spielraums, die zum ‚Bild von Bewegung‘ im filmischen Bewegungsbild wird. Die dargestellte Bewegung des Kinematographen ist die Figur (oder Spur) der Differenz zwischen den Momentschnitten der projizierten Einzelbilder (wie die Figur des Übergangs als Bewegung zwischen zwei Zahlen im Vorrücken der Zeit auf dem Zifferblatt einer Uhr). Bewegung figuriert zwischen den Bildern, weil sie als Differenz in der figuralen 8 Vgl. Joachim Paech, Die Uhren träumen vom Kino, in: Ralph Adelmann, Ulrike Bergermann (Hg.), Das Medium meiner Träume. Hartmut Winkler zum 60. Geburtstag, Berlin 2013, S.227-249 9 Man kann das Bewegungsbild auch als ‚Kompositbild‘ aus Bildern mit Familienähnlichkeit bezeichnen (z-B. durch ‚Morphing‘ übereinander kopierte unterschiedliche Gesichter, deren Abfolge als Bewegung erscheint) 7 Darstellung, zum Beispiel als Positionsveränderung im Raum, ‹erscheint›. Fehlt diese Differenz, dann wird mit dem projizierten Bewegungsbild auf der Leinwand trotz fortlaufender Projektion keine Bewegung und stattdessen ein freeze frame10 sichtbar (wie am Ende des Films von Franҁois Truffaut Les quatre cent coups, 1959), denn ausschließlich diese figurale Differenz figuriert im Bewegungsbild auf der Leinwand ‹als Bewegung›. Die im Projektor mechanisch bewegten Bilder des Filmstreifens sind im Moment ihrer Projektion – bewegungslos. Auch kinematographisch ist Bewegung keine mediale Eigenschaft von Bildern, sondern ihrer mechanisch-apparativen und codierten Beziehung untereinander. Die Fotografien des Films werden apparativ bewegt; sie stellen Bewegung dar, wenn in der Projektion ihre figurale (dargestellte) Differenz in einem gemeinsamen Bewegungsbild auf der Leinwand sichtbar wird. 6. Wenn zwischen dem Wissen um die ruckweise Projektion stehender Bilder im Projektor einerseits und der Sichtbarkeit eines Bewegungsbildes auf der Leinwand andererseits die Kenntnis ihrer technisch-apparativen Vermittlung fehlt, muss die Ursache für den Bewegungseindruck an anderem Ort, zum Beispiel am Ort seiner Wahrnehmung im Auge angenommen werden. Die Bewegung als Differenzfigur im Bewegungsbild wird zum bloßen Bewegungseindruck, der erst im Auge des Betrachters entsteht und mit dem er über die tatsächliche Folge von Bewegungslosigkeiten hinweggetäuscht wird. Zwei Wahrnehmungskonzepte wurden (und werden bis heute) dafür in Anschlag gebracht. Einerseits ging es in der Sinnesphysiologie des 19.Jahrhunderts darum, ob sich das Bewusstsein über die Sinnesdaten, die es über das Auge erhält, täuschen kann (Hermann Helmholtz 11). Unendlich viele Experimente mit stroboskopischen Bewegungsanordnungen, denen auch der Kinematograph zugerechnet wurde, haben den Empirismus der Täuschung durch äußere Sinnesreize belegen sollen. Das menschliche Auge, das lange schon in seiner Unzulänglichkeit durch Fernrohr und Mikroskop verbessert wurden musste, erweist sich als zu träge, um die einzelnen Bilder in der Projektion schneller Bildfolgen filmischer Reihenfotografien unterscheiden zu können. Es entstehen Nachbildeffekte mit Überlagerungen von Bildern auf der Retina, was zum Bewegungseindruck führt. Wenn man so will, ist das Bewegungsbild auf der Leinwand lediglich auf die Retina des Auges des Betrachters verlagert worden. Und dabei spielt das zweite Wahrnehmungskonzept eine entscheidende Rolle. Das Auge ist seit der frühen Neuzeit und besonders seit Descartes‘ ‚Dioptrik‘ in der Mitte des 10 Dieses ‹eingefrorene Bild› (freeze frame) unterscheidet sich vom arrêt sur l‘image elektronischer Bildaufzeichnung, wo tatsächlich der Bildträger angehalten und dasselbe ‹Bild› abgetastet wird. (Vgl. Raymond Bellour, The Film Stilled, in: Camera obscura 24, S. 99ff; Philippe Dubois, La photo tremblée et le cinéma suspendu, in: La recherche photographique, No 3, 1987, S. 19-29; Daniel Percheron, Arrêt sur l’image, in: Communications, No 19, 1972.) 11 Hermann Helmholtz, Ernst Mach, Ewald Hering u.a. Vgl. Michael Heidelberger, Innen und außen in der Wahrnehmung. Zwei Auffassungen des 19. Jahrhunderts (und was daraus wurde), in: Olaf Breidbach, Karl Clausberg (Hg.), Video Ergo Sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg 1999, S. 147-157 (=Interface 4). 8 17. Jahrhunderts nach dem Modell der ‚camera obscura‘ beschrieben worden, in der sich wie im Auge die äußere Wirklichkeit abbildet. Abb. Camera obscura Das Problem dieses anschaulichen Modells ist, dass in der ‚camera obscura‘ wie entsprechend im Auge ein Betrachter des Bildes angenommen werden muss, der das Bild ‚sieht‘. Da auch der Fotoapparat nach dem Modell der ‚camera obscura‘ funktioniert, kann analog das Auge wie ein Fotoapparat aufgefasst werden: Was wäre, wenn das Abbild auf der Retina fotografischer Natur wäre und im Auge ein Film abläuft, der im Kopf wie in einem Kino gesehen wird und der im Moment des Todes auf dem letzten Bild zum Stehen kommt? Die Kriminalisten des 19.Jahrhunderts waren fasziniert vom ‚Optogramm‘12, dem letzten Bild, das womöglich den Mörder eines Toten in fotografischer Treue zeigt, wenn es gelingt, die Retina entsprechend zu präparieren. So ist es denn ein (stereoskopischer) Fotoapparat, der mit dem Zuschauer im Kino auf die Leinwand gerichtet ist und in dem die Bilder auf der Leinwand zu einem Wahrnehmungsfilm im Auge werden, der mit dem Tod auf einem ‚freeze frame‘ des Optogramms endet. Abb. Optogramm 12 Vgl. zu diesem Wissenschaftsmythos Bernd Stiegler: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina, Frankfurt/M. 2011. (Hier ein Beispiel aus dem Film von Lambert Hillyer: Invisible Ray, 1936, mit Boris Karloff und Bela Lugosi). 9 Etienne Jules Marey hatte offenbar keine wissenschaftlichen Skrupel, diese These ungeprüft zu übernehmen. «Betrachten wir die physiologische Eigenthümlichkeit des menschlichen Auges, so sehn wir, dass es vom optischen Gesichtspunkt einen photographischen Apparat darstellt mit seinem Objectiv und seiner dunkelen Kammer, dessen Verschluss die Lider bilden, während die Netzhaut, auf der sich die Bilder der äusseren Gegenstände malen, die empfindliche Platte vorstellt. Und in der That besitzt diese Netzhaut bis auf einen gewissen Grad alle Eigenschaften der photographischen Platte. Denn die auf ihrer Fläche entstehenden Bilder haben, wie Boll das am Auge ebengeschlachteter Thiere nachgewiesen, eine gewisse Dauer, so dass unser Sehen hiernach als ein Gewahren von im Auge befindlichen Photographien zu fassen wäre. Flüchtig zwar und nicht dauerhaft wie die Bilder des photographischen Apparats sind die Netzhautbilder; trotzdem haben auch sie auf kurze Zeit Bestand und verlängern so scheinbar die Dauer des Licht-Phänomens, dem sie ihre Entstehung verdanken. Die Eigenschaft der Netzhaut nun soll uns Aufschluss darüber geben, wie es zugeht, dass ein photographisches Bild eine Bewegung zur Darstellung bringen kann.»13 Diese These ist heute noch populär, sie wird in Fachbüchern unhinterfragt wiederholt und zum Beispiel von Alexander Kluge zum Besten gegeben14. Die Liste ihrer Kritiker ist lang15. Hugo Münsterberg, der sich auf experimentelle Untersuchungen von Max Wertheimer (1912) und Adolf Korte bezieht, kritisiert entschieden die Theorie von der Täuschung des (trägen) Auges durch Nachbilder. Stattdessen «scheint die Bewegung, die er [der Filmzuschauer] sieht, eine tatsächliche Bewegung zu sein, und dennoch wird sie von seinem eigenen Bewusstsein erzeugt»,16 dessen «innere psychische Aktivität […] die separaten Phasen zur Vorstellung einer verbundenen Aktion vereint.»17 Rudolf Arnheim konnte sich auf die Gestalttheorie beziehen, wenn er die visuelle Bewegung «als Verlagerung zweier Systeme im Verhältnis zueinander gesehen»18 hat. «Die ‹Figur› neigt zur Bewegung, der ‹Grund› zur Ruhe», die Veränderung ihrer Beziehung durch Größenunterschiede oder Intensitäten (eine Linie ‹wächst›) induziert Bewegung, wobei der «Betrachter als Bezugssystem wirken kann.»19 Eine endgültige Klärung 13 Etienne-Jules Marey, Chronophotograph [1893], in: Kinematograph, Nr. 2, Frankfurt a.M. 1985 (Deutsches Filmmuseum Frankfurt a.M.), S. 3-4. 14 Ausführlich wird diese Tradition falscher Vorstellungen über das Zustandekommen des Bewegungseindrucks diskutiert in Joseph und Barbara Anderson, Motion Perception in Motion Pictures, in: Teresa de Lauretis, Stephen Heath (Hg.), The Cinematic Apparatus, London 1980, S. 76-95 («Even the two major classical theorists of film, Sergej Eisenstein and André Bazin, accepted and perpetuated the concept.» (S. 77)). 15 Vgl. Joachim Paech, Täuschungen, in: ders., Der Bewegung einer Linie folgen. Notizen zum Bewegungsbild, in: ders., Der Bewegung einer Linie folgen. Schriften zum Film, Berlin 2002, S. 149f 16 Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 49. 17 Ebd.S.50 18 Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin 1965, S. 328. 19 Ebd. 10 bringt erst die Einbeziehung der technisch-apparativen Konstruktion des Bewegungsbildes, die schlicht vergessen wurde.20 7. Diese Vergessenheit der apparativen Technik (oder des ‚Mediums‘) trifft auch auf die letzte große Theorie des Cinéma von Gilles Deleuze zu, die Ende der 1980er Jahre erschienen ist. Mit ihr komme ich (nach der technisch-apparativen und psychophysischen) zur dritten Position der Erklärung des kinematographischen Bewegungsbildes. Der erste Band seiner großartigen Stilgeschichte des Films ist mit ‹Bewegungs-Bild› überschrieben, das aber für Deleuze eine ästhetische Kategorie des Films und nicht eine Frage der medialen Konstitution der Kinematographie ist. Die Dominanz des ‚Bewegungs-Bildes‘ dauert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wenn es vom ‚Zeit-Bild‘ abgelöst wird. Was heißt hier ‚Bewegungs-Bild‘? Deleuze geht es um eine ästhetische Ordnung der Filme –, wie sie technischapparativ zustande kommen und wie sie im Kino von ihren Zuschauern gesehen werden, interessiert ihn (fast) gar nicht. Am Anfang des ersten Bandes ‚Das Bewegungs-Bild. Kino 1‘ formuliert Deleuze Thesen zur Bewegung, in denen er sich auf den Philosophen Henri Bergson (am Beginn des 20. Jahrhunderts) beruft. Die zentrale These von Deleuze lautet: Der „Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungsbild.“21 Was hätte Maxim Gorkij dazu gesagt, der 1896 beobachtet hat, wie ein stehendes Bild ‚in Bewegung‘ versetzt wurde? Was ist hier ein Bewegungsbild? Für Bergson ist an der Wende zum 20. Jahrhundert Bewegung das Leben an sich, das uns in Bildern bewusst und erinnerbar wird, bzw. Wahrnehmung und Erinnerung sind nur durch Bewegungsbilder möglich, die unser mentales Bewusstsein von Wirklichkeit konstituieren, weil sich uns die materielle Wirklichkeit selbst als Bewegungsbild darstellt: „Die materielle Welt besteht, wie wir gesehen haben, aus Gegenständen oder wenn man will aus Bildern, die mit allen ihren Bestandteilen in einer Wechselwirkung von Bewegung stehen.“22 In dem Bestreben, den klassischen Gegensatz von Sein und Erscheinung, den Dingen und dem Bewusstsein aufzuheben, sollte das Bild zur Vereinheitlichung des Wirklichen beitragen. Bergson, der vermutlich nie einen Film im Kino gesehen hat, hatte dennoch genaue Vorstellungen vom Kinematographen, der im Rahmen seiner Philosophie ein Modell für das (Bilder)Gedächtnis bereithalten könnte: „So ist z.B. das Gedächtnis genau wie der Kinematograph eine Folge von Bildern. Bewegen sich diese Bilder nicht, so ist das der 20 Es hat bis 1970 gedauert, als Jean-Louis Baudry erstmals die ‚Effets idéologiques produits par l’appareil de base‘ (in: Cinèthique 7-8, 1970, S.-8) in den Diskurs über die Wirkungen des Films im Kino einbezog. 21 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S.15 22 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982, S.56 (Der „Geist glaubt von Haus aus, dass die Materie so existiert, wie er sie wahrnimmt; und da er sie als Bild wahrnimmt, macht er sie zum Bild an sich.“ S.II) 11 Neutralzustand, bewegen sie sich, so leben sie.“23 Allerdings gibt der Kinematograph, indem er mechanisch Bewegung aus unbewegten Momenten konstruiert, auch das kritische Modell ab für ein alltägliches Denken, das Bewegung aus einzelnen ‚Jetzt‘Punkten unbewegter Bilder zusammensetzt. Das ist auch „der Kunstgriff des Kinematographen“24, der die Bewegung auf das Fortschreiten von Momentbild zu Momentbild reduziert hat. Und sollen „sich die Bilder beleben, so muss irgendwo Bewegung sein. Und in der Tat ist hier die Bewegung durchaus vorhanden, sie steckt im Apparat.“25 Diese apparative (mediale) Beschreibung des kinematographischen Bewegungsbildes, von Bergson als Kritik am Kinematographen gemeint, weil er das Modell für das gewöhnliche Denken abgibt, lässt Deleuze nicht gelten, statt dessen übernimmt er von Bergson die synthetisierende Funktion der Bilder und macht das filmische Bewegungsbild (von der medialen, d.h. mechanisch-apparativen Form der Kinematographie ist nie die Rede) im Kino zum analogen Modell der Realitätswahrnehmung, die im Kino’kopf‘ dieselbe ist wie im Kino unseres Kopfes: „Le cerveau, c’est l’écran“.26 Abb. Cartesianisches Kopf-Kino Hier kommen Wahrnehmungstheorien, die ihre Modelle zeitgenössisch in der Camera obscura, dem (cartesianischen) Kopf-Theater oder neuerdings dem Kino finden27, wieder zur Geltung.28 Sie sollen erklären helfen, was in der ‚black box‘ des Gehirns unsichtbar vor sich geht, wenn wir ‚etwas‘ wahrnehmen und womöglich das innere Wahrgenommene in äußeren Bildern wiedergeben. Ob sich unser Bewusstsein mit der äußeren Realität über ‚Bilder‘ austauscht, ist eine offene Frage, im Kopf sind jedenfalls noch keine Bilder entdeckt worden. Eine Wirklichkeit, die in 23 Henri Bergson: Der Wert des Kinos (1914), in: Stationen der Moderne im Film II. Texte, Manifeste, Pamphlete, Berlin (Hg. Freunde der deutschen Kinemathek), 1989, S.40 24 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S.309 25 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S.308 26 Gilles Deleuze: Le cerveau c’est l’écran, entretien, in: Cahiers du Cinéma No 380, 1986, S.25-32 27 Paul Ziche: Der Mensch als Modell des Menschen. Informative Selbstmodelle und metaphorische Selbstverdoppelung, in: Matthias Kroß, Rüdiger Zill (Hg.): Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit, Berlin 2011, S.209-232 28 Vgl. Lambert Wiesing: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, Frankfurt/M. 2002 (Einleitung: Philosophie der Wahrnehmung, S.9-64) 12 lebenden Bildern oder Bildern des Lebens wahrnehmbar und erinnerbar ist, hätte im Kino ihren exemplarischen Ort, wo diese Bilder formuliert und erinnert werden. Filmgeschichte ist die Geschichte der Art und Weise, wie sich unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit verändern, wie das ‚sensomotorische Band‘ uns solange an die Bewegung der Bilder in Melodramen oder Action-Filmen gekoppelt hat, weil wir ein ähnlich verbindliches Bild der Realität erinnert haben, bis es in der Katastrophengeschichte des vergangenen Jahrhunderts brüchig geworden und schließlich zerrissen ist (genau dieses ‚Deleuzianische Projekt‘ verfolgt auch Jean-Luc Godard seit seiner ‚Histoire(s) du Cinéma‘). Deleuze beschreibt stilgeschichtlich, wie sich der Film nach 1945 vom Bewegungsbild zum Zeitbild verändert, das in der zerrissenen sensomotorischen Kontinuität der Bildbewegung im Kino (die Bewegung rutscht ins Intervall) die (post)moderne Wirklichkeit nur noch fragmentarisch (im zerbrochenen Spiegel29) präsentiert. Weder das Bewegungsbild noch das Zeitbild bei Deleuze sind medial, sondern wahrnehmungs-ästhetisch begründet. Sie haben mit der medialen Form eines Bewegungsbildes, wie es kinematographisch begründet werden kann, wenig gemeinsam. Bild und Bewegung bilden von vornherein eine untrennbare Einheit. In Bewegungsbildern teilt sich die Wirklichkeit unserem Bewusstsein mit, in ihm wird Materie zur Form seiner Erinnerung. Das Modell des Kinos für eine ontologisch-phänomenologische Theorie des Realen muss nicht auf die vier Wände des Lichtspieltheaters begrenzt bleiben, eine anthropologische Kosmologie des Cinéma von Edgar Morin30 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel oder André Bazins Idee vom ‚Cinéma total‘31 gehen den Kino-Büchern von Deleuze auch im Geiste voran. 8. Konjunktur bekommen derart totalisierende Vorstellungen von Bilderwelten, die durch Kameras und Projektoren und über Leinwände und Monitoren rauschen, wo sie selektierend und verstärkend auf unsere Einbildungen des Realen wirken, durch die neuen elektronischen analogen und digitalen Medien. Die Frage nach dem Anteil apparativer Technik an diesem Bilderuniversum stellt sich vor dem Hintergrund des Internets nicht mehr, das wir benutzen und in der Regel nicht verstehen und um es zu benutzen auch nicht zu verstehen brauchen. Die Film-Trilogie der WachowskiBrüder ‚Matrix‘ (1999-2003) erklärt unser Alltagsleben zu einer totalen ideologischen Bilder-Täuschung und hält dieser Schein-Realität pures Action-Kino jenseits der Matrix entgegen. Wir ahnten, dass in jedem neuen Medium immer ein altes verborgen ist, wir kommen aus dem Kino des Lebens offenbar nicht mehr heraus. 29 Ein symptomatisches ‘Kristallbild’ der Zeit findet sich z.B. in der Schlusssequenz von Orson Welles: The Lady from Shanghai (1947), wenn alle zerrütteten Beziehungen der Menschen in diesem Film in einer zerschossenen Spiegelhalle zu Ende kommen. 30 Vgl. Edgar Morin: Le cinema ou l’homme imaginaire (Der Mensch und das Kino, 1958), Paris 1956 31 Vgl. André Bazin: Le Mythe du Cinéma Total, in ders.: Qu’est-ce que le cinéma, Edition définitive, Paris 1981, S.19-24 13 Die erste Frage, die ich angesichts der digitalen Bilder stellen möchte, ist, ob es sich überhaupt noch um Bilder handelt? Handwerklich und kinematographischmechanisch waren Bilder immer auch physische Objekte der Wirklichkeit, die sich von anderen Objekten dadurch unterscheiden, dass sie jene in ihren Abbildungen darstellen. Diese Bilder waren beweglich und haben Bewegung darstellen können, allerdings selbst unbewegt. Die Diaphanie des kinematographischen Bewegungsbildes als reines Kompositbild aus Licht und Schatten hat bereits eine Idee davon vermittelt, dass sich das physische Bild in seine bloße Erscheinung auflöst, wenn es zur Bewegung wird. Allerdings gab es im Hintergrund, im Projektor, immer noch den Filmstreifen mit seinen materialen fotografischen Bildern. Die neuen Medien kennen keine Bilder mehr, sondern nur noch ‚visuelle Effekte‘, die u.a. Bilder simulieren. Im analogen Videoverfahren wird eine optische Information in ein elektronisches Videosignal umgewandelt, das magnetisch aufgezeichnet oder direkt auf ein Empfangsmedium übertragen werden kann. Der visuelle Effekt aufgrund der optischen Information entsteht auf einem Monitor, auf den das Videosignal so geschrieben wird wie es in der Kamera produziert wurde. Das Bild – oder besser der ‚visuelle Effekt‘ – stellt nicht mehr nur die Bewegung seiner ursprünglichen optischen Information dar, es ist diese Bewegung seiner permanenten Entstehung selbst. Videobilder werden ‚geschrieben‘, indem die Punkt-Maske des Monitors Zeile für Zeile analog zur ursprünglichen optischen Information zum kurzen Aufleuchten gebracht wird; es entsteht und verfällt kontinuierlich an jedem Punkt seiner Oberfläche. Je größer die ‚Auflösung‘ des ‚Bildes‘ in die Anzahl seiner Bildpunkte ist, desto kohärenter ist sein ‚visueller Effekt‘. Diese Bild’auflösung‘ und eine synchronisierte elektronische Frequenz des Bildwechsels vom Ende der Zeilen des vorangehenden zum Anfang der ersten Zeile des nächsten Bildes konstituieren für die Wahrnehmung ein stabiles Bewegungsbild, dessen Bewegung die Differenz aller informierten Punkte der Bildoberfläche ist, ihr stetiger Wandel. In der Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses von Bild und Bewegung sind Video’bilder‘ nur noch Bewegung und keine Bilder mehr, bloße ‚visuelle Effekte‘. Was für das analoge Videoverfahren gilt, trifft auf die digitale Darstellung ‚visueller Effekte‘ im Computer im Besonderen zu. Digitale ‚Bilder‘ unterscheiden sich „radikal von allen bisherigen Darstellungsformen“32 Es sind im Computer errechnete ‚Bilder‘, „they have no material support at all“33. Allerdings können sie in ihrer Herstellung und Darstellung eine Reihe von Ähnlichkeiten mit traditionellen Bildverfahren aufweisen (z.B. ihr fotorealistischer Look), so dass es sich anbietet, von 32 Barbara Flückiger: Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer, Marburg 2008, S.31 Jan Simons: What’s a digital image? In: Yvonne Spielmann, Gundolf Winter (Hg.): Bild – Medium – Kunst, München 1999, S.110 33 14 diesen bemerkenswerten Gemeinsamkeiten auszugehen, wenn es darum geht, die ‚mediale Form‘ der Beziehung zwischen ‚Bild‘ und ‚Bewegung‘ digitaler ‚Bilder‘ zu beschreiben. Mit ‚medialer Form‘ meine ich an dieser Stelle die Möglichkeit, in einer medialen Darstellung ein anderes Medium als Form wiederholen, zitieren oder überhaupt nachweisen zu können. So ist zum Beispiel Bewegung keine Eigenschaft fotografischer Bilder oder Form ihres Mediums; das Schreiben eines Videosignals auf einen Monitor dagegen beruht auf der Bewegung (des Schreibens) als eine Form dieses Mediums. Digitale Bilder (oder im Computer generierte ‚visuelle Effekte‘) haben keine anderen Eigenschaften oder medialen Formen als die, die sich in den programmierten Datenkomplexen zu visuellen Darstellungen transformieren. Diese Daten können auch (fast) jedes andere Medium als Form enthalten und simulieren. Genau das trifft auch auf die Bewegung als eine mediale Form zu, die zusammen mit visuellen Effekten im Computer generiert werden kann. Im Computer haben wir es nur noch mit errechneten und programmierten Formen zu tun. Zwei unterschiedliche Verfahren der Herstellung von Formen digitaler ‚Bilder‘ sollen unterschieden werden: Das hybride bildbasierte Verfahren der Aufzeichnung (des Scannens) von Vor-Bildern und das Modellieren von im Computer generierten ‚Bildern‘. Anders gesagt, um ein digitales Bild darzustellen kann ein analoges Bild in einen Datensatz umgewandelt werden, der algorithmisch programmiert digital gespeichert und weiterverarbeitet werden kann; das Bild kann aber auch vollkommen ohne Vorlage ausschließlich im Computer entwickelt werden. In einem hybriden, bild-basierten Verfahren wird gewöhnlich Objektbewegung vor allem von Körpern regelrecht von Kameras ‚eingefangen‘ (‚motion capture‘). Die Aufgabe der Digitalisierung zur Verarbeitung der Bewegungsdaten besteht darin, die analoge ‚Bewegung‘ von den Körpern zu isolieren, um sie mit anderen Daten visueller Effekte von Körpern wieder zu verbinden. Ein ähnliches Problem hatte Etienne-Jules Marey am Ende des 19. Jahrhunderts, als er aus Reihenfotografien sich bewegender Körper Daten für die Bewegung an sich gewinnen wollte. Er hat die Körper zum Verschwinden gebracht und nur die Messpunkte an ihnen berücksichtigt. Auch das digitale ‚motion capture‘-Verfahren gewinnt Daten aus wenigen Körperpunkten, die auf die neuen Computer generierten Körperbilder übertragen werden, die sich nun analog zu ihren realen Vor-Bildern bewegen. 15 Abb. Motion Capture bei Marey und Spielberg (TinTin) Wenn analoge Bilder digitalisiert werden bedeutet das, dass riesige Mengen von Informationen (Farb- und Helligkeitsänderungen, Licht und Schatten, Figur- und Grundrelationen etc.) in das binäre Prinzip von Datensätzen transferiert werden müssen, die algorithmisch (mit errechneten Formeln) Punkt für Punkt, d.h. Pixel für Pixel in eine Netzstruktur des künftigen digitalen Bildes eingetragen werden. Damit für ein einzelnes Bild (geschweige denn für einen ganzen Film) die Rechnerkapazitäten nicht überfordert werden, kommt es zur Komplexitätsreduktion durch Quantisierung. Hier drängt sich der Vergleich zur Darstellung der Uhren-Zeit auf: Unendlich viele Zeitschritte werden durch die Uhr quantisiert auf überschaubare Stunden, Minuten, Sekunden ihrer numerischen Darstellung. Bewegung ist eine rechnerische Größe (ein Algorithmus) bei der digitalen raumzeitlichen Darstellung visueller Effekte. Ohne die Quantisierung oder Reduktion der Komplexität der durch Bewegung veränderten Koordinaten des Sichtbaren (genau das ist die Darstellung von Bewegung) wäre ihre Visualisierung kaum möglich. Bewegung und die sie darstellenden visuellen Effekte können für die Übertragung ihrer Daten getrennt werden, um durch eine Datenkompression zu einer weiteren Reduktion der Datenmengen zu gelangen, ohne die zum Beispiel eine große Zahl von HDProgrammen des Fernsehens nicht gesendet werden könnte. Auch das digitale Prinzip der binär codierten Bildpunkte (Pixel) hat scheinbar eine Entsprechung im projizierten analogen Bewegungsbild des Films. Der Filmprojektion gehen wie gesagt mechanisch bewegte, selbst aber unbewegte Einzelbilder voraus, in deren lichtempfindlicher Oberfläche unregelmäßig Körner aus Silberhalogeniden verteilt sind. Werden sie zu einem Bewegungsbild übereinander projiziert, entsteht Bewegung nicht nur aus dargestellten Differenzen, sondern auch von Bild zu Bild aus Differenzen unterschiedlicher Positionen der Silberkörner, was je nach Körnung ein charakteristisches Bildrauschen zur Folge hat.34 Im digitalen Verfahren werden die 34 Als mediale (foto-chemische) Form der Kinematographie sorgt dieses Bildrauschen für eine visuelle Atmosphäre, die gelegentlich ‚als analoge Form‘, eigentlich eine ‚Störung‘, auf digitale Filme übertragen wird, um das Kinematographische zu simulieren (vgl. Barbara Flückiger: Zur Konjunktur der analogen Störung im 16 regelmäßig angeordneten Bildpunkte (Pixel) einzeln definiert, was zu einem (0-1) Pulsieren führt, aber weitgehend aus den Bildern herausgerechnet werden kann. Hier ist es das entstehende ‚Bild‘ selbst, dessen Bildpunkte sich in der Frequenz ihrer Information verändern. Das Pulsieren als Bewegung ist ein ‚auf der Stelle treten‘. Jean-Franҁois Lyotard hat in ihm ein Charakteristikum post-moderner Dispositive beschrieben, ‚des dispositifs pulsionnels‘35, das sind (sprachliche, bildliche, libidinöse etc.) Schaltorganisationen, die die Aufnahme und Abgabe der Energie in allen Bereichen kanalisieren und regulieren. Ihre Intensitäten haben die Intentionen verdrängt; Intentionen sind mit Richtungen von Bewegung im Raum verbunden; Intensitäten dagegen können Bewegung nicht darstellen, sie sind punktuelle Bewegung am Ende der Repräsentation. Und schließlich hat die Netzstruktur, in der die Bildpunkte (Pixel) angeordnet sind, einen ihrer Vorläufer im ‚velum‘ der Perspektivkonstruktion der Renaissance, wo ebenfalls Punkte des darzustellenden Objekts mit dem Blick ‚gescannt‘, in ein Koordinatensystem eingetragen und untereinander mit Linien verbunden werden mussten (ich denke an Dürers ‚Underweysung‘, 1525) Abb. Figurale Konstruktionen mit Netzsstrukturen (Video Karl Sims: Particle Dreams, 1988) Auf diese Weise lassen sich auch im Computer ohne eine vorausgesetzte visuelle Realität ‚Abbildungen‘ modellieren, indem polygonale Netze immer enger gestrickt digitalen Bild, in: Alexander Böhnke, Jens Schröter (hg.): Analog/digital. Opposition oder Kontinuum? Beiträge zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S.407-428) 35 Jean-Franҁois Lyotard: Des dispositifs pulsionnels (teilw. In: Jean-Franҁois Lyotard: Intensitäten, Berlin (Merve) 1978) 17 werden, bis annähernd natürliche Rundungen animierter Körper entstehen, deren Bewegung wiederum auf der Berechnung der Verschiebung der dargestellten (polygonalen) im Verhältnis zur darstellenden Netzstruktur beruht. Ganze Welten sind inzwischen auf diese Wese entstanden, deren Bewegung ein Leben simuliert, das dabei ist, mit dem Leben seiner Produzenten zu verschmelzen. Bergsons Wirklichkeit der Bilder, die sich im kinematographischen Kino-Kopf nur mit Schwierigkeiten wiederholt hat, ist digital dabei, vor allem deshalb zu einer zweiten Wirklichkeit zu werden, weil sie es statt mit Bildern nur noch mit programmierten Daten ‚visueller Effekte‘ und deren extremer Anschlussfähigkeit zu tun hat. Fazit: Bilder können bewegt und in und durch Bewegung wahrgenommen werden. Was den Bildern, deren Eigenschaft es doch ist, in ihren Abbildungen Bewegung anzuhalten und aufzuheben, verwehrt ist, ist die Darstellung von Bewegung durch Bewegung. Sogar im kinematographischen Verfahren werden die Bilder des Filmstreifens zwar bewegt, aber ihre Darstellung von Bewegung bleibt unbewegt. Erst in ihrer diaphanen Auflösung als ephemere Lichtbilder ist es ihre figurale Differenz, die zwischen ihnen ein projiziertes Bewegungsbild zum Erscheinen bringt, das nur solange es erscheint, auch ein Bild und damit dem Spiegel näher als dem Bild im eigentlichen Sinne, aber auch mehr als ein bloßer ‚visueller Effekt‘ ist. Digitale Bilder sind deshalb vor allem ‚visuelle Effekte‘, weil ihre Algorithmen aus unspezifischen Daten eine visuelle Erscheinung errechnet haben, deren Bewegung wiederum aus Daten besteht, die in alle Richtungen anschlussfähig sind. Sie können als ‚Erweiterung der Realität‘ (‚augmented eality‘) die Wirklichkeit zu ihrem ‚visuellen Effekt‘ machen, dem sie sich unmittelbar verbinden: Ein Bild in Bewegung auf einem Smartphone fügt sich per GPS mit seiner dargestellten Bewegung in Echtzeit der wirklichen Umgebung ein, der es sich selbst als ein Effekt der Wirklichkeitswahrnehmung hinzufügt. Erst die neuen Medien haben die Wirklichkeit zu einem Bilderuniversum werden lassen, dem sie ihre eigenen Bilder (‚visuellen Effekte‘) einschreiben. Abb. Augmented Reality: Cinema (Film: Roger Mitchell: Notting Hill, 1999)