Violetta Parisini Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild. Eine bruchstückhafte Annäherung. Gilles Deleuze (1925-1995) ist aus heutiger Sicht wahrscheinlich einer der bedeutendsten Philosophen des 20.Jh., auf jeden Fall einer der ungewöhnlichsten. Er hat 2 Bücher über das Kino geschrieben, Das Bewegungsbild (KinoI) und Das Zeitbild (KinoII). Ich werde hier nur das Bewegungsbild, bzw. nur einige Ausschnitte daraus behandeln, denn beide Bücher sind unglaublich reich, vielseitig, vielschichtig, und es bräuchte mehrere Referate dieses Ausmaßes um auf alle interessanten Thesen einzugehen. Ich beschränke mich also auf jene Thesen im Bewegungsbild, die mir am Wesentlichsten scheinen. Meine Darstellung wird und kann nur bruchstückhaft bleiben, ich hoffe aber trotzdem, dass sie es schafft, einen kleinen Einblick in das Deleuzsche Kino-Denken zu gewähren. Deleuze geht hier auf unterschiedliche Phänomene des Films ein und verbindet sie mit Philosophie. Behandelt sie auch als Philosophie. Philosophie ist für ihn das kreative Erfinden und Gestalten von Begriffen (er beleuchtet dies in seinem Werk "Was ist Philosophie", Suhrkamp Verlag 1996) Aber: nicht nur in der Philosophie wird gedacht. "Statt in Begriffen" denken die großen Autoren des Films "in Bewegungs- und Zeitbildern". (S11) Diese Abhandlung ist keine Analyse von Film oder von Filmen, es ist Philosophie, FilmPhilosophie, Denken über den, durch den und im Film. Deleuze bezieht sich in erster Linie auf 2 Autoren: auf den amerikanischen Logiker Pierce (1839-1914), der eine einzigartige Klassifizierung von Bildern und Zeichen erstellt hat; und auf den französischen Philosophen Henri Bergson, bzw. auf dessen Werk Matière et mémoire aus dem Jahr 1896, das Deleuze als "Diagnose einer Krise der Psychologie" beschreibt: diese Krise der Psychologie bestand darin, dass man die Vorstellung von Bewegung als physikalische Realität in der Außenwelt und dem Bild als psychische Realität im Bewusstsein nicht mehr als Gegensätze auffassen konnte (Bilder ohne Ausdehnung nur im Bewusstsein und ausgedehnte Bewegungen nur im Raum). Man musste also weiterdenken, und so "entdeckte" Bergson das Bewegungsbild und das Zeitbild. Deleuze bezieht sich auch auf andere Theoretiker, und manchmal verschmelzen deren mit seinen Theorien, so dass man nicht immer weiß, bis wohin der Gedanke von xy stammt und ab wo Deleuze ihn weitergesponnen hat, ohne Rücksicht auf xy's Absichten, die vielleicht in eine ganz andere Richtung deuten. [Dies scheint jedoch nicht mehr wichtig, wenn es nur mehr um den Gedanken geht und nicht mehr darum, aus wessen Kopf er stammt (was für manche Menschen eine größere Bedeutung zu haben scheint als der Gedanke selbst - das mag manchmal berechtigt sein, aber in diesem Fall ist es das nicht, denn es geht um das Weiterspinnen und Fruchtbarmachen von Gedankengängen, nicht um eine Wahrheitsgarantie). Für Deleuze ist die Philosophie nicht eine Geschichte (von Ph.) sondern ein Werden, der Gedanke des Werdens durchzieht sein ganzes Schaffen und Denken.] Begriff der Bewegung bei Bergson/Deleuze. Bergson hat drei Thesen zur Bewegung: 1. Die Bewegung ist der Akt des Durchlaufens des Raumes. Der Raum ist unendlich teilbar, die Bewegung hingegen lässt sich nicht teilen, ohne durch diese Teilung ihre Beschaffenheit zu ändern. Jeder Raum gehört immer zu dem einen homogenen Raum; Die Bewegung ist wesentlich heterogen. 2. Bewegung lässt sich nicht mit Punkten in Raum und Zeit rekonstruieren: man müsste die Punkte mit einer Abfolge verknüpfen, aber die Bewegung passiert ja immer dazwischen. 3. Der Moment ist ein unbewegter Schnitt in der Bewegung, und die Bewegung selbst ist ein Bewegungsschnitt der Dauer, d.h. des Ganzen bzw. eines Ganzen. Die Bewegung ist immer Ausdruck eines Wandels in der Dauer, einer Veränderung des Ganzen. Das Ganze (die Dauer) kann als ein sich ständig Veränderndes, als unablässiges Werden verstanden werden. (Die Begriffe der Dauer und des Ganzen sind nicht klar voneinander abgegrenzt.) Es ist durch die Relationen zwischen Objekten oder Teilen bestimmt, bleibt dabei aber immer offen. Das Ganze ist wesensmäßig offen, ein Offenes, das sich dauernd verändert. Man kann das Ganze nicht bestimmen, indem man von den Teilen ausgeht, im Gegenteil: man kann die Teile nur bestimmen, indem man vom Ganzen ausgeht. Das Ganze darf nicht mit Ensembles verwechselt werden; Ensembles sind geschlossen, und alles was geschlossen ist, ist künstlich geschlossen. Die Bewegung hat 2 Aspekte: a. Bewegung zwischen Objekten oder Teilen b. Bewegung, die die Dauer/das Ganze wiedergibt. Die Bewegung ist also ein Verhältnis von Teilen, und sie ist Affektion des Ganzen. Was für Bergson/Deleuze ein Bild ist: Bild=Bewegung. (S86) (Bild und Bewegung, die vorher als Gegensätze aufgefasst wurden (s.o.), nimmt Bergson jetzt zusammen) Bild=die Menge dessen, was erscheint. (S86) Alle Dinge, d.h. alle Bilder, fallen mit ihren Aktionen und Reaktionen zusammen. (S86) Ein Bild ist ein Ensemble von Aktionen und Reaktionen. Jedes Bild wirkt auf andere und reagiert auf andere. (S87) Alles ist ein Bild, die unendliche Menge von Bildern wäre dann die Ebene der Immanenz, auf der die Bilder an sich existieren, die Bilder wären dann nicht mehr Bilder von etwas, sondern Materie selbst, Bewegung. Das Bewegungsbild und der Materiestrom sind genau dasselbe. (S87) Bedeutend sind auch die Intervalle, die Abstände zwischen den Bewegungen: über die Intervalle werden die Lebensbilder, bzw. die lebende Materie definiert. Die lebendigen Bilder erfahren Einwirkungen nur über gewisse Teile und reagieren mit anderen: Einwirkung und Reaktion sind nicht direkt miteinander verknüpft, denn im Intervall, in der Dauer des Intervalls wird (der Einfluss) analysiert und (wenn der Einfluss eine wert ist: die Reaktion) ausgewählt. Das Gehirn lässt sich so fassen: als Intervall zwischen Aktion und Reaktion. Wahrnehmung im Film: Die natürliche Wahrnehmung kann für den Film nicht das Modell sein, denn die Kamera ist beweglicher als das Auge, im Film sind Schnitte und Montage möglich, Zeitlupe, Zeitraffer, Mehrfachbelichtung, etc.. Im Film gibt es also eine andere, offenere, totale, diffuse Wahrnehmung. Der Film ist nicht einfach Kamera, er ist Montage. Vom Standpunkt des menschlichen Auges aus ist die Montage zweifellos eine Konstruktion; unter dem Gesichtspunkt eines anderen Auges [...] (ist sie) die reine Sicht eines nichtmenschlichen Auges, eines Auges, das in den Dingen wäre. (S115) Die drei Ausformungen, Spielarten des Bewegungsbildes (Ich stelle diese jetzt aus Platzgründen sehr vereinfacht dar.): Das Wahrnehmungsbild: Das Wahrnehmungsbild hat einen doppelten Charakter, einen doppelten Bezug: es kann (1.) objektiv sein oder (2.) subjektiv: diese Unterscheidung ist allerdings eine rein theoretische, denn in der Praxis kann dann das eine in das andere übergehen. 1. objektiv: eine Sache oder eine Gesamtheit wird von außerhalb gesehen 2. subjektiv: die Gesamtheit wird von jemandem gesehen, der selbst Teil dieser Gesamtheit ist Die Wahrnehmung ist aber nur die eine Seite eines Abstandes, dessen andere die Aktion ist: Das Aktionsbild: Die Reaktion auf die Wahrnehmung wird Aktion. So wie die Wahrnehmung die Bewegung mit Körpern in Verbindung bringt, setzt die Aktion die Bewegung zu Handlungen in Beziehung. Es gibt zwei Formen des Aktionsbildes: - große Form: am Anfang besteht eine Situation (S), durch die es zur Handlung/Aktion (A) kommt, die wiederum eine neue Situation (S') hervorbringt. - kleine Form: es gibt eine Aktion (A), welche zu einer Situation führt (S), die wiederum zu einer neuen Aktion (A') Anlass gibt. Das Affektbild: Der Affekt ist das, was das Intervall (zwischen Wahrnehmung und Aktion) in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen. (S96) Das Affektbild entspricht der Großaufnahme, diese wiederum entspricht dem Gesicht. Jede Großaufnahme ist ein Gesicht (auch z.B. die Aufnahme einer Standuhr). Es gibt 2 Aspekte des Gesichts: - reflexives Gesicht (staunendes Gesicht) drückt eine Qualität aus - intensives Gesicht (verlangendes Gesicht) drückt ein Potential aus Das Affektbild ist losgelöst vom Raum. Der Ausdruck einer Großaufnahme hat keine räumliche Beziehung, er ist Ausdruck für ein Gefühl oder für eine Sache, er ist nicht mehr Gegenstand im Raum. alle Zitate aus: Deleuze, Gilles: "Das Bewegungsbild. Kino I", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989