Pädagogik Anonym Kinder als Humankapital und gesellschaftliche Ressource Die Elementarpädagogik als Adressat gesellschaftspolitischer Forderungen Masterarbeit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar. Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsschutz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Auswertungen durch Datenbanken und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. 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Besuchen Sie uns im Internet: http://www.grin.com/ http://www.facebook.com/grincom http://www.twitter.com/grin_com Universität Bielefeld Fakultät für Erziehungswissenschaft Wintersemester 2014/15 Kinder als „Humankapital“ und gesellschaftliche Ressource Die Elementarpädagogik als Adressat gesellschaftspolitischer Forderungen Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Arts“ im Fach Erziehungswissenschaft Abgabedatum: 13.02.2015 INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung ............................................................................................................... 3 2. Sozialpolitik im Zeitalter von Neoliberalismus .................................................... 8 2.1 Die neoliberale Ideologie und ihr Menschenbild ............................................................ 9 2.2 Familien im aktivierenden Sozialstaat: Fördern und Fordern ....................................... 15 2.3 Die Produktion sozialer Ungleichheit ........................................................................... 21 3. Die gesellschaftliche Bedeutung der (frühen) Kindheit: Kinder als gesellschaftliche Ressource ................................................................ 23 3.1 Kinder als Humankapital: Der ökonomische Nutzen von Kindern ................................ 25 3.1.1 Die Umdeutung frühkindlicher Bildung.................................................................. 34 3.1.2 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und förderliche Fähigkeiten als Grundstein für lebenslanges Lernen ........................................................................ 37 3.2 Die Optimierung (früher) Kindheit ................................................................................ 43 3.3 Der Befähigungsansatz ............................................................................................... 46 4. Die Bildungseinrichtung Kindertagesstätte als Adressat gesellschaftspolitischer Forderungen ............................................ 49 4.1 Strukturwandel in der Elementarpädagogik nach PISA ............................................... 51 4.1.1 Kinder unter Beobachtung: Diagnostik und Fördermaßnahmen ........................... 61 4.1.2 Die Kompensation von (Entwicklungs-)Risiken ..................................................... 69 4.1.3 Die Förderung kognitiver Fähigkeiten und nicht-kognitiver Fähigkeiten am Beispiel naturwissenschaftlich-technischer Bildung ................................................. 78 5. Fazit und Ausblick ............................................................................................... 81 LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................................... 89 ANHANG ................................................................................................................. 104 1. Einleitung Seit einigen Jahren finden in der Bundesrepublik Deutschland und anderen entwickelten Ländern des Westens neue wohlfahrtspolitische Konzepte und Leitbilder Eingang in sozialpolitische Entscheidungen der jeweiligen Regierungen. Sozialpolitische Umstrukturierungen werden seitdem anhand der Begriffe „aktivierender Staat“ und „Sozialinvestitionsstaat“ vorangetrieben, die maßgeblich auf die neoliberale Entwicklung des Sozialstaats zurückzuführen sind. Im Zuge dessen kommt es zur Unterwanderung von Sozialpolitik durch Neoliberalismus (vgl. Olk 2007, S. 43). Ein aktivierender Sozialstaat investiert auf effiziente Weise in das „Humankapital“ von Menschen, mit dem Ziel, soziale Renditen in Form von ökonomischen Erträgen zu erwirtschaften sowie in der Zukunft liegende gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. Die Situation von Kindern, alleinerziehenden Eltern und Familien bleibt davon nicht unbeeinflusst. Da frühzeitige Investitionen in das „Humankapital“ am wirksamsten sind, erhält insbesondere die frühe Kindheit einen Bedeutungszuwachs (vgl. ebd., S. 44f.). Kinder sind in Deutschland mit einer niedrigen Geburtenrate von 1,34% ein rares Gut und Prognosen zur demographischen Entwicklung in Deutschland zeigen, dass sie immer seltener werden. Dadurch steigt der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wert von Kindern an und sie werden zur wichtigsten Zielgruppe sozialpolitischen Handelns erhoben (vgl. BMFSFJ 2012, S. 47; Netzler 2002, S. 24; OECD 2004a, S. 10f.; Rothgang & Preuss 2008, S. 39). Aus ökonomischer Sicht gelten Kinder aufgrund ihres „Humankapitals“ als gesellschaftliche Ressource, in das es sich zu investieren lohnt. Dabei gilt es die Fähigkeiten und Kompetenzen, die für ein „erfolgreiches“ Leben als zukünftige qualifizierte Arbeitskraft in der globalisierten Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts erforderlich sind sowie die damit verbundene Notwendigkeit lebenslangen Lernens, voranzutreiben (vgl. Witsch 2008, S. 1). „In einer Wissensgesellschaft ist eine abgeschlossene berufliche Ausbildung die Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt“ (Funcke & Menne 2012, S. 29), d.h. hohe Qualifikation und spezialisiertes Wissen gewinnen an Bedeutung. Bildung1 entwickelt sich zum Gegenstand ökonomischer Theorien und soll Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichen Wohlstand sichern und steigern (vgl. Hentig 1996, 130). Wird frühkindliche Bildung allerdings auf wirtschaftliche Perspektiven reduziert, tritt der ursprüngliche Bildungsgedanke, der Bildung als Selbstzweck versteht, in den Hintergrund. Bildung wird unter dieser Perspektive gewissermaßen umgedeutet, da es sich nur in Fähigkeiten zu investieren lohnt, die nach wirtschaftlicher Herangehensweise einen ökonomischen Nutzen versprechen. ϭ Die Definitionsmacht was unter Bildung zu verstehen ist, haben die Gebildeten (vgl. Hentig 1996, S. 10). 3 In der Politik wird dieser Zusammenhang aber in der Regel nicht explizit gemacht. Vielmehr gilt Bildung unter politischen Gesichtspunkten als Sozialleistung anstatt als wirtschaftliche Investition und wird somit unter dem Deckmantel sozialer Gerechtigkeit, nämlich allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Bildungschancen und -rechte zu eröffnen, legitimiert (vgl. Meier-Gräwe 2010, S. 46). Die Tatsache jedoch, dass wirtschaftliche Überlegungen zunehmend an politischem Gewicht gewinnen und Kosten-Nutzenkalküle sozialpolitische Maßnahmen beanspruchen, zeigen Berechnungen ökonomisch motivierter Interessenvertreter_innen. So kalkuliert z.B. das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), im Auftrag der Politik, die Wirksamkeit frühkindlicher Bildungsinvestitionen und deren Erträge. Auch haben Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft zeigen können, dass Kinder in den ersten Lebensjahren am schnellsten und nachhaltigsten lernen. Im Zuge dessen erhalten die frühe Kindheitsphase und die Zweckmäßigkeit von Kindertageseinrichtungen einen Bedeutungszuwachs (vgl. Pauen 2004, S. 522; Peukert 2010, S. 200). Es ist daher nicht zufällig, dass wirtschaftliche Interessenvertreter_innen ein Interesse an früher Kindheit bekunden. Damit die Investitionen möglichst frühzeitig ihre Wirkungen entfalten können, benötigt der Staat einen effizienten Zugang zu Kindern. Denn die Förderung aller Kinder hat in der Wissensgesellschaft eine hohe Priorität. Ökonom_innen und wirtschaftsorientierte Politiker_innen warnen davor, Deutschland könne es sich nicht leisten, dass bei einer so niedrigen Geburtenrate wichtige Potenziale unausgeschöpft bzw. unentdeckt bleiben. Dies gilt gleichermaßen für die arbeitsfähigen Eltern(teile). Denn diese werden auf dem Arbeitsmarkt gebraucht. Deshalb unterstützt der Staat die Erwerbsarbeit beider Eltern, indem er den Ausbau der U3 Betreuung vorantreibt und den gesetzlichen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz implementiert. Durch derartige Gesetzesänderungen sichert sich der Staat über die Institution Kindertagesstätte Einflussmöglichkeiten auf die Ressource Kind. Mithilfe verpflichtender Bildungspläne, Erziehungsziele und einer Fülle von Förderprogrammen, die darauf abzielen die frühkindliche Entwicklung sicherzustellen, soll mittels sozialer Investitionen ein direkter Einfluss auf die Entwicklung von Kindern realisiert werden (vgl. Joos 2002, S. 236f.; Olk 2007, S. 49f.). Seit den internationalen Vergleichsstudien PISA2 und IGLU3, die Anfang der Jahrtausendwende in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden und in Deutschland auf den engen 2 PISA steht für die Abkürzung „Programme for International Student Assessment“ der OECD Mitgliedsstaaten. 3 IGLU steht im deutschen für Abkürzung „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“. Im internationalen Kontext wird die Bezeichnung PIRLS „Progress in International Reading Literacy Study“, verwendet. 4 Zusammenhang von Herkunft und Chancengleichheit aufmerksam gemacht haben, ist die Relevanz frühkindlicher Bildung und Förderung in den Mittelpunkt des bildungspolitischen Diskurses gerückt (vgl. Diehm 2012, S. 50). An Kindertagesstätten werden seitdem neue Anforderungen gestellt: Die Implementierung verpflichtender Bildungspläne sind als Hinweis dafür zu verstehen, dass sich die Elementarpädagogik immer mehr der Schule annähert und als Vorbereitung auf Schul- und Berufsleben gilt. Außerdem sollen neue Verfahren die Arbeit der Erzieher_innen standardisieren und überprüfbarer machen. In Anlehnung an die Ergebnisse der PISA Studie werden die Veränderungen mit der Beförderung sozialer Chancengleichheit begründet. Die Elementarpädagogik wird somit als Instrument eingesetzt, um soziale Veränderungen zu bewirken. Als frühe Bildungseinrichtung soll sie mithilfe früher Bildung und Förderung, Entwicklungschancen, insbesondere kognitive und nicht-kognitive Kompetenzen, die als Schlüssel für Wirtschaftswachstum gelten, nachhaltig stärken (vgl. Fölling-Albers 2013, S. 44; Joos 2002, S. 231f.; OECD 2004b, S. 37) und die frühkindliche Entwicklung sicherstellen sowie befördern. Im Zuge dessen wird im institutionellen Kontext mithilfe von Beobachtungs-, Dokumentations- und Testverfahren Präventionsarbeit geleistet, damit mögliche Entwicklungshemmnisse erst gar nicht entstehen oder Risiken kindlicher Entwicklung erkannt werden, damit ihnen mit Förderung begegnet werden kann (vgl. KiBiz4 2007, S. 11). Zusätzlich sollen Kindertagesstätten frühe (Entwicklungs-)Risiken, die auf elterliches Versagen zurückzuführen sind, kompensieren. Sozialinvestive Politik verfolgt somit das Ziel, Risiken, die von der Familie als primäre Sozialisationsinstanz ausgehen, anhand von institutioneller Kleinkinderziehung zu vermeiden oder zu kompensieren (vgl. Mierendorff 2013, S. 48f.; dies. 2010, S. 152; dies. & Olk 2003, S. 443; Olk 2007, S. 49). Gesetzliche Neubestimmungen regulieren damit nicht nur Bildungsinhalte und das Aufwachsen von Kindern in Kindertageseinrichtungen, sondern stellen elterliches Erziehungsverhalten gewissermaßen in Frage. Die übertragene Verantwortung für frühkindliche Bildungsprozesse auf Kindertagesstätten lässt das Aufwachsen von Kindern im öffentlichen Raum zur Normalität werden und transformiert die Elementarpädagogik in produktive Bildungsstätten, in denen Kinder früher, besser und effektiver (aus-)gebildet werden sollen (vgl. Mierendorff 2013, S. 38; dies. 2010, S. 152). Zusammengefasst wird in der vorliegenden Masterarbeit davon ausgegangen, dass die neoliberale Ausrichtung des Sozialstaats einen hohen Einfluss auf die Gestaltung des Sozialen hat. Es soll untersucht werden, wie neoliberale Paradigmen Sozialpolitik gestalten und wie wirtschaftlich orientierte Interessenvertreter_innen dies begründen. So ist es eine Aufgabe 4 KiBiz steht als Abkürzung für das „Gesetz zur frühen Bildung und Förderung von Kindern (Kinderbildungsgesetz) in Nordrhein-Westfalen und ist das vierte Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII)“ (vgl. KiBiz 2007). 5 der Erziehungswissenschaft, wirtschaftspolitisch orientierte Darstellungen, die Kinder als „Humankapital“ sowie als gesellschaftliche Ressource propagieren und damit Einfluss auf die pädagogischen Bildungs- und Erziehungsziele in der Elementarpädagogik nehmen, zum Gegenstand der Analyse zu machen. Diese Masterarbeit versteht sich als Analyseinstrument des gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Diskurses über die frühe Kindheit bzw. frühkindliche Bildung. Bedeutende Fragen, Probleme und Kontroversen werden analysiert, können aber nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Historische Entstehungsbedingungen werden daher nur benannt, werden aber aus Platzgründen nicht in ihrer Komplexität erörtert. Die Masterarbeit versteht sich nicht als Dokument, das Kosten-Nutzenkalküle reproduzieren will, die im Zuge sozialinvestiver Maßnahmen veranschlagt werden. Auf die Darstellung empirischer Berechnungen wird daher weitläufig verzichtet. Vielmehr soll anhand der Argumentationslinien, die den Berechnungen und den resultierenden Schlussfolgerungen voraus gehen, analysiert werden, inwiefern Sozialpolitik unter dem Zwang der Ökonomie praktiziert wird. Im Zentrum der Masterarbeit steht folgende These: Der neoliberale sozialpolitische Kurs geht mit einer Ökonomisierung früher Kindheit einher und erhebt Kinder und frühe Bildung zu einer gesellschaftlichen Ressource. Die Aufmerksamkeit bezieht sich allerdings nicht auf den Eigenwert von Bildung, sondern von Interesse sind ökonomisch verwertbare Fähigkeiten, die das Humankapital von Kindern erhöhen. In Folge dessen werden gesellschaftspolitische Forderungen an die Elementarpädagogik adressiert, die den Alltag grundlegend verändern und frühkindliche Bildung für das Ziel der Humankapitalbildung instrumentalisieren. Vorgehen Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Nach der vorangegangenen hinführenden Darstellung widmet sich das zweite Kapitel der veränderten Sozialpolitik im Zeitalter des neoliberalen Paradigmas, das inzwischen Teil eines gesellschaftlichen Grundkonsenses geworden ist und viele Bereiche des Sozialen unterwandert. So gewinnen ökonomische Argumentationslinien entlang der Leitlinie „Fördern und Fordern“ auch in der Familienpolitik an Bedeutung und gehen für Eltern und Kinder mit Veränderungen einher. Kinderbetreuung außerhalb der Familie ermöglicht insofern nicht nur eine adäquate frühkindliche Förderung sondern gleichsam die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sodass sich durch das „Humankapital“ von Eltern (volks-)wirtschaftliche Erträge sichern lassen. Im Zentrum der Analyse stehen die neoliberale Ideologie und ihr Menschenbild sowie die damit verbundenen sozialpolitischen Ver6