LIEBE LESER, im Jahr 2017 erinnern sich viele Christen zu Recht mit Freude an die vor 500 Jahren begonnene Reformation der römisch-katholischen Kirche. Die Neuausrichtung des europäischen Christentums in Verbindung mit der Übersetzung der Bibel und dem sich rasant ausbreitenden Buchdruck war ein wichtiger Baustein für den Zugang der einfachen Leute zur Bibel. Während zuvor ausschließlich die Kirchenführung die christliche Lehre diktierte, konnten sich die Menschen nun zunehmend selbst eine Meinung bilden. Die Gläubigen wurden somit wieder zu mündigen Jüngern Jesu. Doch die Reformation war nicht nur eine Befreiung. Mit den steigenden Möglichkeiten die Bibel in der eigenen Sprache zu lesen, wuchs auch die Verantwortung der einzelnen Christen, die richtigen Schlüsse aus Gottes Wort für das eigene Leben abzuleiten. Die Frage nach der Anwendung der Heiligen Schrift war nun auch für theologisch Unkundige von entscheidender Bedeutung. Dies ist bis heute keine einfache Aufgabe. Zwar offenbart Gott seine Absichten in der Bibel, doch tut er dies nicht in Form einer Bedienungsanleitung. Die Herausforderung für uns Menschen liegt vor allem darin, dass Gott seinen zeitlosen Willen in einer konkreten zeitlichen Begebenheit aufzeigt. Der Wille, den Gott in einem bestimmten Bibeltext zum Ausdruck bringt ist also unveränderlich. Die konkrete Anwendung jedoch kann in Abhängigkeit von sich ändernden äußeren Bedingungen durchaus unterschiedlich sein. Betrachten wir dazu einmal ein Beispiel aus Johannes 13, 1-17. Der Apostel berichtet uns davon, wie Christus seinen Jüngern am Abend vor seiner Kreuzigung bei einem gemeinsamen Abendessen die Füße wusch. Im Vers 14 heißt es im Bibeltext dazu: „Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen.“ Die Aussage Jesu scheint eindeutig. Das gegenseitige Füße waschen ist wohl ein ähnlich wichtiges christliches Zeichen wie das Abendmahl oder die Taufe auch. Doch betrachten wir den Text einmal etwas genauer. Der zeitlose göttliche Wille, der durch diese Begebenheit zum Ausdruck kommt, ist der des gegenseitigen Dienens. Christen sollten sich nicht übereinander erheben, sondern die Bereitschaft entwickeln den Mitmenschen demütig behilflich zu sein. Um diesen Willen Gottes zur Anwendung zu bringen konstruiert Christus nun keine abstrakte lebensfremde Situation, sondern verwirklicht Gottes Absichten im realen jüdischen Alltag seiner Zeit. Das Waschen der Füße vor einer gemeinsamen Mahlzeit war im Judentum des ersten Jahrhunderts eine ganz normale Handlung. Die unbefestigten, staubigen Wege, die überwiegend offenen Sandalen und die Art zu Tische zu liegen machten das Waschen der Füße geradewegs zu einer Notwendigkeit. In der Regel wurden solche unangenehmen Dienste von Knechten oder Sklaven erledigt. Wo es sie nicht gab kümmerte sich der Gastgeber um die Reinheit seiner Gäste. Absolut unüblich aber war es, dass eine höher gestellte Persönlichkeit wie etwa ein Lehrer seinen Schülern die Füße wusch. Jesus ging es nicht um die Fußwaschung selbst. Er benutzte vielmehr diese fassbare Handlung, um das Verborgene zu erklären. Darum fragte er die Jünger in Vers 12: „Wisst ihr, was ich euch getan habe?“ Das praktische Waschen der Füße durch Jesus ist nichts anderes als ein deutlicher Hinweis auf den wahren Dienst, den er an seinen Jüngern leisten muss. Es symbolisiert das stellvertretende Sterben Jesu für die Schuld der Menschen vor Gott, durch das sie gereinigt werden können. Dieser Dienst Jesu ist alternativlos und kann von keiner anderen Person übernommen werden. Wer ihn ablehnt dem gilt was in Vers 8 geschrieben steht: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir.“ Vom Blick auf dieses selbstlose hingebungsvolle Dienen Jesu darf nun auch unser zwischenmenschliches Miteinander bestimmt sein. Christi Aufopferung für die Menschen sollte uns zum Vorbild im Umgang mit unserem Nächsten werden. Jeder von uns darf auch nach seinen Möglichkeiten ein Diener des Anderen sein. So verändert das Wunder von Golgatha nicht nur das Verhältnis der Gläubigen zu Gott, sondern es verändert auch ihr alltägliches Zusammenleben. Für jüdische Christen vor rund 2000 Jahren konnte so ein Dienst am Nächsten das bereitwillige Waschen der Füße ihrer Tischnachbarn bedeuten. Für uns Gläubigen der Postmoderne gibt es da sicherlich ganz andere sinnvolle Betätigungsfelder. In einer Gesellschaft, in der die Wege überwiegend gepflastert, die Schuhe meistens geschlossen sind und viele Menschen täglich duschen brauchen wir niemandem vor dem Essen unbedingt die Füße zu waschen. Doch vielleicht wäre es in unserer rastlosen Umwelt angebracht, Zeit an unseren Nächsten zu verschenken. Haben wir schon einmal darüber nachgedacht welchen Dienst die Menschen in unserem Umfeld wirklich gut gebrauchen könnten? Hilfe beim Frühjahrsputz für die achtzigjährige Nachbarin, das Hüten der Kinder für die alleinerziehende Kollegin oder die entlastende Mitarbeit in der Gemeinde können solche sinnvollen Dienste heute sein. Es ist sicher nichts dagegen einzuwenden wenn Gemeinden auch heute noch die Fußwaschung im Rahmen ihrer Gottesdienste zelebrieren. Doch dort wo Menschen sich nur noch sonntags die Füße waschen und sich im wirklichen Alltag nicht zur Seite stehen haben sie den Bibeltext zwar buchstäblich erfüllt aber dennoch am eigentlichen Sinn vorbei gelebt. Wahre Bibeltreue ist mehr als nur das blinde wörtliche Erfüllen biblischer Textstellen. Sie zeigt sich im ständigen Bemühen, die tiefen Aussageabsichten Gottes zu entdecken und im eigenen Leben entsprechend anzuwenden. Dies ist ganz gewiss keine leichte Aufgabe, sondern sie stellt uns Menschen in eine große Verantwortung und erfordert unseren ganzen Verstand. Doch gerade die Übertragung von Verantwortung und die Freiheit im Umgang mit Gottes Wort ist Ausdruck der Liebe Gottes zu uns und macht uns zu mündigen ihm gleichgestalteten Geschöpfen. Es war ganz sicher auch das Ziel und der Verdienst der Reformation die Christen Europas in dieses verantwortungsvolle freiheitliche Denken hineinzuführen. Bewahren wir uns diese Frucht und bleiben wir auch zukünftig dem Willen Gottes für unser menschliches Leben treu. Mit besten Wünschen für das Jahr 2017… … grüßt Euch herzlich Andreas Semrau