Reformierte Kirchgemeinde Oftringen, Predigt vom 23. April 2017 Pfarrer Dominique Baumann: „Das Bahnbrechende der Reformation und was heute davon übrig ist.“ Liebe Gemeinde Stellen Sie sich vor, Sie und einige Ihrer Freunde haben zusammen Lotto gespielt und die „EuroMillionen“ gewonnen. Der Gewinn ist riesig, Ihre Freude auch. Sie lassen sich das Geld bar auszahlen, horten es unter der Matratze und kaufen sich und jedem, der es braucht, regelmässig etwas Schönes. Die anderen Gewinner machen es Ihnen gleich. Mit der Zeit überkommt sie alle ein mulmiges Gefühl, so viel Geld zu Hause zu haben. Doch statt es zu irgendeiner Bank zu bringen, gründen sie eine eigene Bank, die nach ehrlichen, ethischen Grundsätzen arbeitet. Mit der Zeit spricht sich herum, was für eine gute Bank das ist und was für vorbildliche Leute sie gegründet haben. Andere, die ebenfalls viel Geld gewonnen haben, bringen ihr Geld auch dorthin. Ihre Bank wächst. Sie muss mehr und mehr Angestellte einstellen und neue Filialen eröffnen. Doch mit der Zeit verändert sich das Klima in der Bank Schritt für Schritt. Die neuen Direktoren beschliessen, dass nur noch fix definierte kleine Beträge abgehoben werden dürfen und auch nur zu den Zeiten, welche die Bank festlegt. Neu muss regelmässig Geld einbezahlt werden, die Kontoführung kostet und selbst wenn jemand Geld abheben will, schreiben die Bankangestellten vor, wofür man es brauchen darf. „Es ist alles zu Ihrer Sicherheit“, sagt die Bank. „Wir verwalten Ihr Geld und möchten sicherstellen, dass Ihr Geld bei uns in guten, sicheren Händen ist.“ Eines Nachts wachen Sie auf und es fällt Ihnen wie Schuppen von den Augen: Das ist nicht mehr die Bank, die Sie und Ihre Freunde damals gegründet haben. Sie haben den Eindruck, das Geld, das Sie gewonnen haben, gehört mehr der Bank und ihren Angestellten als Ihnen selber. Sie beschliessen, dass sich etwas ändern muss… Ich habe mir diesen Vergleich ausgedacht, weil er recht gut zeigt, was der springende Punkt war, worum es vor 500 Jahren zur kirchlichen Reformation in Mitteleuropa kam und was das mit uns heute zu tun hat. Die Euromillionen stehen für das Reich Gottes, das in Jesus Christus zu uns kam. Es war nichts anderes als ein Geschenk, ein Riesengewinn, als Gott damals in Bethlehem von sich aus Mensch wurde. Als er sich nicht zu schade war, in Jesus Christus unter uns zu leben, die Kranken zu heilen und neue Hoffnung zu verbreiten. Die Menschen, die ihm nachfolgten, erlebten die Kraft Gottes. Sie tat ihnen ausgesprochen gut. Sie erlebten, dass Jesus nach dem Tod am Kreuz wieder zurück ins Leben kam und den Tod besiegte. Sie freuten sich, dass auch sie einmal wie er von den Toten auferstehen würden. Sie versammelten sich in ihren Häusern und lebten gemeinsam in dieser Erfahrung. Das war die Geburt der frühen Kirche - zahlenmässig eine bescheidene Sache, aber von grosser Intensität. Mit den Jahren verflachte diese Intensität. Die ersten Augenzeugen, die Jesus noch sahen und kannten, wurden alt und starben. Nun ging es darum, die Gotteserfahrung mit Jesus, die Liebe und das Heil, irgendwie festzuhalten oder wenigstens zu bewahren. Ich erspare Ihnen die Details der Geschichte und vereinfache stark: Es bildete sich mit der Zeit ein Kirchenapparat, der das zu bewahrende Heil wie einen Schatz verwaltete. Die Profiverwalter, sprich Priester, hatten das Monopol, diesen Schatz wohldosiert an die Gläubigen zu verteilen: Durch die Eucharistiefeiern und durch besondere Aufgaben, die die Gläubigen zu erfüllen hatten (Teilnahme an den Sakramenten, Pilgerfahrten, Bussübungen etc.). Immer stand zwischen Gott und den Menschen ein Vermittler. Die Gläubigen wurden so entmündigt, die Kirche stieg empor zu einem Machtapparat. Das Fass zum Überlaufen brauchte, als die Kirche anfing, das Heil gegen Geld zu verkaufen. Der Vergleich mit der Bank ist übrigens nicht gewagt. Die mittelalterliche Kirche in Mitteleuropa und es gab ja nur eine - verstand sich selber als Heilsanstalt, die den Schatz des Heils sicher verwaltete. Und nun kamen vor 500 Jahren die Reformatoren wie Luther, Zwingli und Calvin und sagten: Das geht überhaupt nicht. Die Liebe Gottes zu uns Menschen, das Evangelium, kann weder verwaltet noch gekauft oder verkauft werden. Es braucht auch keine Vermittler, keinen Papst, keine Heiligen, keine Priester. Es braucht nicht einmal fromme Leistungen. Die alles verändernde Liebe Gottes, das Heil, steht jedem Menschen offen, der darauf vertraut, dass Jesus Christus sie ihm schenkt. So wie damals vor 2000 Jahren, als Gott sich in Jesus Christus uns Menschen verschenkte, ohne dass jemand dafür etwas getan hatte. So wurde auch die Bibelübersetzung ins Deutsche so wichtig: Jede und jeder kann Gottes Wort selber lesen ohne „Filter“ der Kirche. Wir Reformierten heute gehen selbstverständlich davon aus, dass Gott jedem von uns direkt begegnen kann, ohne dass es dafür eine Person braucht, die vermittelt. Zur Zeit der Reformation war das revolutionär, man nannte es das „allgemeine Priestertum.“ Gemeint ist jedoch nicht, dass jede und jeder die Aufgaben eines Priesters oder Pfarrers übernehmen kann, sondern dass alle Gläubigen einen direkten Zugang zu Gott haben können, was bis dahin dem Priester vorbehalten war. So weit so gut, ein schöner Gedanke, nicht wahr? Doch was heisst das heute praktisch? Es heisst zum Beispiel, dass wir Kinder segnen, wie heute Morgen Alexander (Sascha) und Elias und nun darauf vertrauen, dass Gott sie und ihre Eltern, Götti und Gotte tatsächlich begleitet. Wenn wir im Gottesdienst in Jesu Namen zusammen kommen oder in einem Hauskreis, in einer Kleingruppe, dann vertrauen wir, dass irgendetwas Heilsames geschieht, weil Gottes Geist unter uns ist. Wir können es nicht selber bewirken, wir sind einfach offen und glauben. „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“, hat Jesus gesagt (Mt 18,20). Ist Ihnen aufgefallen, dass Jesus nicht sagt, dass diese zwei-drei oder wenigstens einer von ihnen etwas Bestimmtes tun oder sagen muss, sondern dass einfach das Zusammensein schon reicht? Sind Sie sich bewusst, liebe Gemeinde, wie wichtig Sie sind mit Ihren Gaben und Talenten, aber vor allem schon mit Ihrem einfachen Dasein? Das spürt man! Wenn ich eine Beerdigung habe und fast niemanden kenne, der hier in der Kirche sitzt, spüre ich trotzdem, ob hier einige Menschen sind, die mit Gott verbunden sind oder nicht. Die Atmosphäre ist anders. Paulus schrieb, dass diejenigen, die mit Christus verbunden sind, der Tempel Gottes, sein Wohnort, sind. (1 Kor 3,16) Man muss ihn also nicht an bestimmten, heiligen Orten suchen, sondern er lebt in den Gläubigen. Jesus sagte, ihr seid „das Salz der Erde“ und das „Licht der Welt“ (Matthäus 5,13;15). Er sagte nicht, reisst euch zusammen, damit durch euch die Welt besser wird. Er meint, allein durch euer Vertrauen in mich, wirke ich durch euch heilend in diese Welt. Ihr seid nicht Helden und werdet es nie sein, aber ich brauche euch trotzdem, um in diese Welt hineinzuwirken. Und mit der Zeit entwickeln wir ein Gespür dafür, was dem Geist Gottes Raum gibt und was ihn einengt. Für diejenigen, die daran zweifeln, und oft das Gefühl haben, alle andern kann Gott brauchen, aber mich nicht, möchte ich ein Beispiel geben, wie allein das Dasein, allein das Grundvertrauen in das Wirken Jesu Christi, eine ausreichende Basis sein kann: Vor einigen Jahren kam ich viel zu früh in den Konfirmandenunterricht. Auf der Fahrt zur Kirche kam mir in den Sinn, dass ich die Fotokopien ja schon gestern gemacht hatte. Das ist schon mal komisch, denn so etwas passiert mir eigentlich nie. Als ich bei der Kirche ankam, sass eine Schülerin beim Eingang, über eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn. Sie stand sofort auf, kam auf mich zu und sagte: "Herr Baumann, ich komme heute zum letzten Mal in den Unterricht. Ich wohne bald nicht mehr in Oftringen." Und dann erzählte sie mir ihr trauriges Schicksal: All die Gründe, weshalb sie fremdplatziert, also von zu Hause fort genommen wird. Es berührte mich sehr. Ich wusste vorher nichts von ihrem Schicksal, habe sie aber immer als starkes, reifes Mädchen erlebt. Gegen Schluss sagte sie: "Mein Nachbar hat mich immer wieder in die Kirche eingeladen und dann bin halt ab und zu mit. Dort war ein etwas älteres Mädchen, mit der ich mich gut verstanden habe und die mich immer wieder ermutigt hat. Und wissen Sie, was das Schöne war? Sie war einfach immer da, wenn ich kam. Jedes Mal war sie da!" Diese Bemerkung hat mich nicht mehr losgelassen: "Sie war einfach immer da, wenn ich kam." Mehr brauchte dieses andere Mädchen gar nicht zu tun, um meiner Konfirmandin Hoffnung und Stütze zu sein. Gott wirkte durch sie. Kirche – das ist die Gemeinschaft von Menschen, die auf Christus vertrauen und die offen sind, so etwas zu erleben. Immer wieder neu, immer wieder anders. Ich freue mich, dass ich ein Teil dieser Gemeinschaft sein darf. Amen.