Strahlenarten und Strahlenbiologie

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29
Strahlenarten
und Strahlenbiologie
T. Hartmann, I. Offenhäusser, C. Vockelmann
2.1
Radioaktivität und deren Wechselwirkungen – 31
2.1.1
2.1.2
2.1.3
Historischer Hintergrund – 31
Physikalische Grundlagen – 32
Physikalische Wechselwirkungsprozesse
elektromagnetischer Strahlung mit Materie – 35
2.2
Röntgenstrahlung – 39
2.3
Dosisbegriffe – 41
2.3.1
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.3.5
2.3.6
2.3.7
2.3.8
2.3.9
2.3.10
2.3.11
2.3.12
2.3.13
Kerma = Kinetic energy released in matter – 41
Ionendosis – 41
Energiedosis – 41
Äquivalentdosis – 42
Einfalldosis – 42
Oberflächendosis – 42
Tiefendosis – 43
Dosisflächenprodukt – 43
Dosislängenprodukt – 43
Organdosis – 44
Effektive Dosis (auch effektive Äquivalentdosis) – 44
Personendosis und Körperdosis – 44
Dosimetrische Verfahren in der klinischen Praxis – 45
2.4
Wirkung ionisierender Strahlung auf den Organismus – 48
2.4.1
2.4.2
2.4.3
Zellaufbau – 49
Strahlenwirkungen – 49
Phasen der Strahlenwirkung – 52
2.5
Gesetze, Verordnungen und Richtlinien – 55
2.5.1
2.5.2
Gesetze – 55
Röntgenverordnung – 56
T. Hartmann, M. Kahl-Scholz, C. Vockelmann (Hrsg.), Fachwissen MTRA, Springer-Lehrbuch,
DOI 10.1007/978-3-662-43713-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
2
2.5.3
2.5.4
2.5.5
Strahlenschutzverordnung – 56
Strahlenschutzbereiche – 56
Beruflich strahlenexponierte Personen – 58
Literatur – 61
31
2.1 • Radioaktivität und deren Wechselwirkungen
Die 19-jährige Lisa schaut sich zusammen mit ihrer
fünf Jahre jüngeren Schwester Johanna die Nachrichten an. Eigentlich nur, weil sie auf die Anschlusssendung warten. Die aktuellen Nachrichten werden
beherrscht vom Gedenktag an die Atomkatastrophe
in Fukushima am 11. März 2011. Damals kam es zu einem Reaktorunfall in dem japanischen Atomkraftwerk,
bei dem radioaktive Stoffe freigesetzt wurden. In diesem Zusammenhang wurden zwischen 100.000 und
150.000 Menschen evakuiert.
„Sag´ mal,“ meint plötzlich Johanna, „du lernst doch
MTRA. Da habt ihr doch auch mit Strahlen zu tun. Hast
du da keine Angst? Guck mal, die berichten immer von
Krebserkrankungen und Strahlenkrankheit. Was ist das
überhaupt?“
„Wir müssen da keine Angst haben“, beschwichtigt
Lisa, „zum einen arbeiten wir mit anderen Strahlenarten und zum anderen sind wir in der medizinischen
Anwendung als Personal richtig gut geschützt. Das ist
Teil der Ausbildung – was man tun muss, um nicht zu
viel Strahlung abzubekommen. Aber natürlich lernen
wir auch, was Strahlung im Körper macht. Das wird
schließlich in der Strahlentherapie angewendet.“
2.1
Radioaktivität und deren
Wechselwirkungen
I. Offenhäusser
2.1.1
Historischer Hintergrund
Wir schreiben das Jahr 1895. Im physikalischen
Institut der Universität Würzburg arbeitet Wilhelm
Conrad Röntgen in seinem Labor. Mit einem Funkenindikator erzeugt er eine Hochspannung, die er
auf zwei Metallelektroden in einer luftleeren Röhre
leitet. Die Röhre leuchtet, neben ihr auch ein mit
Bariumplatincyanür beschichteter Schirm. Röntgen
umwickelt die Röhre mit schwarzem Papier, der
Schirm leuchtet weiter. Der Physiker nennt die ihm
unbekannten Strahlen, die dichtes Material durchdringen und fluoreszierende Eigenschaften haben,
„X-Strahlen “.
Als Neujahrsgruß schickt er Sonderdrucke
an Kollegen seines Fachbereiches. Unter ihnen
ist auch der Mathematiker und Astronom Henri
Poincaré, der das Phänomen in der Akademie
2
der Wissenschaften in Paris vorträgt. Akademiemitglied Antoine-Henri Becquerel untersucht den
Zusammenhang zwischen den X-Strahlen und der
Fluoreszenz: Eine in schwarzes Papier gehüllte Photoplatte wird ohne Sonneneinstrahlung von Kaliumuranylsulfat geschwärzt. Anders als ursprünglich
vermutet, kann Becquerel ausschließen, dass die
X-Strahlung durch Sonneneinstrahlung ausgelöst
wird, denn das Kaliumuranylsulfat strahlt ohne äußere Einwirkung. Er nennt die gefundene Strahlung
„Uran“.
Niemand, außer der aus Polen stammenden
Wissenschaftlerin Marie Skłodowska (ab 1895
verheiratet mit Pierre Curie), schenkt dieser Entdeckung Beachtung. Sie stellt fest, dass die Aktivität
von Uran von der Anzahl der enthaltenen Uran­
atome abhängt, nicht aber zur Anzahl der enthaltenen Verbindungen in Beziehung steht.
Marie Curie isoliert die in Pechblende enthaltenen Stoffe, gewinnt ein schwarzes strahlendes Pulver – Polonium, nach ihrer Heimat benannt – und
bezeichnet das Verhalten des Poloniums als radioaktiv. Sie entdeckt außerdem das in Pechblende
enthaltene Radium. Ihre Tochter Irene liegt im
Kinderwagen neben der Versuchsanordnung, die
schädigende Wirkung der radioaktiven Strahlung
ist noch völlig unbekannt.
1903 erhalten Antoine-Henri Becquerel, Marie
Curie und ihr Mann (. Abb. 2.1), der französische
Physiker Pierre Curie, den Nobelpreis für Physik.
1911, Marie Curie für die Entdeckung des chemischen Verhaltens des Radiums ebenfalls den Nobelpreis für Chemie. Sie stirbt 1934 nahezu erblindet
an Leukämie, als Folge des täglichen ungeschützten
Umgangs mit radioaktiven Substanzen.
Ein Jahr nach Maries Tod nimmt ihre Tochter
Irène Joliot-Curie, gemeinsam mit ihrem Ehemann
Frédéric Joliot den Nobelpreis für Chemie als Auszeichnung für die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität in Empfang.
Auch Iréne verstirbt 1956 an Leukämie.
Anekdote für den Rand
Marie Curie ließ im 1. Weltkrieg Autos zu fahrbaren Röntgenstationen umbauen und bildete junge Frauen in der Durchführung
radiologischer Untersuchungen aus. So konnten verwundete
Soldaten in unmittelbarer Nähe der Front medizinisch versorgt
werden.
32
Kapitel 2 • Strahlenarten und Strahlenbiologie
außen mit K,L,M,N,O … bezeichnet und mit
n = 1,2,3,4,5 … durchnummeriert. Eine Schale
kann mit maximal 2n2 Elektronen besetzt werden.
Die Elektronen und Protonen ziehen einander
an. Diese Anziehungskraft nimmt mit steigender
Protonenzahl zu, mit größer werdendem Abstand
der Elektronen vom Kern jedoch ab. Im elektrisch
neutralen Zustand eines Elementes entspricht die
Elektronen- der Protonenzahl.
Zwischen den im Kern vorhandenen Protonen
befinden sich die Neutronen. Bei leichten Atomen entspricht die Neutronen- der Protonenzahl,
schwere Atomkerne haben einen Neutronenüberschuss von bis zu 1:1,5. Ist das Protonen-Neutronen-Verhältnis gestört, so ist ein Kern instabil.
Instabile Kerne wandeln sich ohne äußere Einwirkung unter Aussendung von Strahlung um.
Dabei verändert sich die Protonen- bzw. Neutronenzahl.
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Definition .. Abb. 2.1 Marie und Pierre Curie bei der Arbeit im Labor
11
2.1.2
12
Das Atom
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14
15
16
17
18
19
20
Physikalische Grundlagen
Materie setzt sich aus extrem kleinen Teilchen, den
Atomen, zusammen (. Abb. 2.2).
Atome bestehen aus Atomkern und Atomhülle.
Der Atomkern ist etwa um den Faktor 105 kleiner
als die Atomhülle. Dies entspricht dem Verhältnis
eines Sandkornes zu einem Fußballfeld. Er enthält
Kernteilchen, die sog. Nukleonen. Sie bestimmen
die Masse des Atoms, ihre Anzahl entspricht der
Massenzahl A.
Nukleonen setzen sich aus den positiv geladenen Protonen P und den elektrisch neutralen Neutronen N zusammen. Die Protonenzahl bestimmt die
Kernladung. Sie entspricht der Ordnungszahl Z, die
eine Einordnung des entsprechenden Elementes in
das Periodensystem ermöglicht.
Um den Atomkern kreisen negativ geladene Elektronen e–. Alle Elektronen, deren
Bahn den gleichen Radius haben, bilden eine
Schale. Ein Atom kann eine oder mehrere dieser Schalen besitzen. Sie werden von innen nach
Die Eigenschaft der spontanen Kernumwandlung unter Aussendung von Strahlung wird
als Radioaktivität bezeichnet. Die Einheit der
Radioaktivität ist das Becquerel (Bq). Ein Becquerel ist definiert als 1 Zerfall pro Sekunde.
Radioaktive Zerfallsarten
Radionuklide gehen unter Abgabe von Energie von
einem instabilen in einen stabilen Zustand über.
Dieser Übergang ereignet sich spontan, also ohne
Einwirkung von außen. Die beim Zerfall freiwerdende Energie wird je nach Zerfallsart in Form von
Teilchen- oder elektromagnetischer Strahlung abgegeben.
>> Die Art und Energie der ausgesandten Strah-
lung ist charakteristisch für jedes Radionuklid.
Alpha-Zerfall (α-Zerfall)
Der α-Zerfall findet nur bei schweren Nukliden
statt. Ein α-Teilchen, bestehend aus zwei Protonen
und zwei Neutronen, wird ausgesandt (. Abb. 2.3).
Die Ordnungszahl Z sinkt um 2, die Massenzahl A
um 4. Zwei Elektronen verlassen den Atomverband.
Die frei werdende Energie bekommt das α-Teilchen als Bewegungsenergie (kinetische Energie)
2
33
2.1 • Radioaktivität und deren Wechselwirkungen
+
+
+
+
+–
+
–
+
+
–
+
+
– +
+
+ +– +
–
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+
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–
+
+
+
+
+
+
–
+
+
– +
+
+
–
–
+
– +
.. Abb. 2.3 Alpha-Zerfall
benigner und maligner Schilddrüsenerkrankungen
(131J). In der Diagnostik spielen β–-Strahler wegen
ihrer geringen Reichweite keine Rolle.
.. Abb. 2.2 Aufbau eines Atoms
mit, deren Betrag bei jedem α-Teilchen gleich ist.
α-Strahlung ist also monoenergetisch.
Da α-Teilchen eine große Masse besitzen, werden sie von Materie schnell abgebremst. Sie geben
ihre Energie an das Gewebe ab und haben eine hohe
biologische Wirksamkeit, wirken also stark zerstörend auf die Zelle.
α-Strahlung ist schon durch ein einfaches Blatt
Papier von der Umgebung abschirmbar. Wegen der
stark zerstörenden Wirkung findet sie in der Medizin kaum noch Anwendung.
Beta-Minus-Zerfall (β–-Zerfall)
Bei Atomkernen mit hohem Neutronenüberschuss wandelt sich ein Neutron in ein Proton, ein
Elektron (β–-Teilchen) und ein Antineutrino um
(. Abb. 2.4). Die Ordnungszahl Z steigt um 1, da
nun der Kern ein Proton mehr besitzt. Die Massenzahl A bleibt gleich. β–-Teilchen und Antineutrino
verlassen den Kern. Die frei werdende kinetische
Energie wird auf das β–-Teilchen und das Antineutrino verteilt. Das β–-Teilchen kann also Energiewerte zwischen 0 und Maximalenergie haben. Es
entsteht eine kontinuierliche Energieverteilung, ein
sog. Energiespektrum. Das Antineutrino hat eine
äußerst geringe Wechselwirkung mit Materie, muss
aber bei der Energiebilanz des β–-Zerfalls berücksichtigt werden.
β–-Strahler werden in der nuklearmedizinischen
Therapie eingesetzt, am häufigsten in der Therapie
Beta-Plus-Zerfall (β+-Zerfall)
Bei Atomkernen mit Protonenüberschuss wandelt sich ein Proton in ein Neutron, ein Positron
(β+-Teilchen) und ein Neutrino um (. Abb. 2.5).
Die Ordnungszahl Z sinkt um 1, da nun der Kern
ein Proton weniger besitzt, die Massenzahl A bleibt
gleich. β+-Teilchen und Neutrino verlassen den
Kern. Auch hier wird die frei werdende kinetische
Energie auf das β+-Teilchen und das Neutrino ungleich verteilt, es entsteht ebenfalls ein kontinuierliches Spektrum. Das Neutrino tritt in vernachlässigbare Wechselwirkung mit Materie, muss aber
bei der Energiebilanz des β+-Zerfalls berücksichtigt
werden.
Das Positron hat als Antiteilchen nur eine kurze
Lebensdauer und vereinigt sich innerhalb von Mikrosekunden mit einem freien Elektron der Umgebung. In Kernnähe wird die Masse beider Teilchen
in zwei Photonen umgewandelt, die in einem Winkel von 180° und mit einer Energie von 511 keV
je Quant auseinanderfliegen (Vernichtungsstrahlung).
Der β+- Zerfall kann sich also nur ereignen,
wenn die Energiedifferenz zwischen Mutter und
Tochter 1022 keV beträgt. Positronenstrahler werden in der Positronen-Emissions-Tomographie
(PET) zur Darstellung unterschiedlicher Stoffwechseleigenschaften oder molekularer Prozesse im
Körper verwendet. Das regionale Verteilungsmuster
wird bildlich sichtbar gemacht. Ein häufig verwendeter Positronenstrahler ist das 18Fluor.
Kapitel 2 • Strahlenarten und Strahlenbiologie
34
1
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3
4
+
+
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– +
–
+
+
+
+
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+
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+
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+
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+
+
+
+
+
+
–
–
+
–
+antineutrino
–
5
.. Abb. 2.4 Beta-Minus-Zerfall
6
Elektroneneinfang (Electron Capture)
16
Der zum β+-Zerfall konkurrierende Zerfallsprozess
ist der sog. Elektronen-Einfang (. Abb. 2.6). Ist die
Zerfallsenergie bei Protonenüberschuss kleiner als
1022 keV, so tritt ausschließlich dieser auf. Ein Elektron aus der kernnahen Hülle wandert in den Kern
und verbindet sich mit einem Proton. Es entsteht
ein Neutron und ein Neutrino, das den Kern verlässt. Die Ordnungszahl Z sinkt um 1, da nun der
Kern ein Proton weniger besitzt.
Die Massenzahl A bleibt gleich. Die Elektronenlücke wird durch ein Elektron einer äußeren,
energiereicheren Schale aufgefüllt und die Energiedifferenz beider Schalen in charakteristischer
Röntgenstrahlung abgegeben. Einige in der nuklearmedizinischen Diagnostik verwendeten Nuklide
entstehen durch EC z. B. 201Thallium oder auch alternativ zum β+-Zerfall 18 Fluor.
Neben der Entstehung von Röntgenstrahlung
wird die Energie auch direkt auf Elektronen übertragen. Diese sogenannten Auger-Elektronen verlassen den Atomverband. Die Aussendung charakteristischer Röntgenstrahlung erfolgt bei Nukliden
mit einer Ordnungszahl über 30, unter 30 dominiert
die Emission von Auger-Elektronen.
17
Innere Konversion/γ–Strahlung
7
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9
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13
14
15
18
19
20
+
+
+
Nach Kernumwandlung verbleibt nicht selten eine
Restenergie für kurze Zeit im Tochterkern. Man
bezeichnet diesen Nuklidzustand als angeregt oder
metastabil. Diese Restenergie kann über zwei miteinander konkurrierende Prozesse abgegeben werden.
Der Kern kann die Anregungsenergie direkt auf
ein Elektron der Hülle übertragen. Dieses verlässt
seinen Platz dann, wenn die Anregungsenergie
+
–
+
+
+
+
+
+
+
+
+
–
–
–
+
+
+
+
+
+
+
–
+neutrino
+
+
+
+
–
–
+
–
.. Abb. 2.5 Beta-plus-Zerfall
größer als die Bindungsenergie des Elektrons ist.
Die entstehende Lücke wird auch hier mit einem
Elektron einer höheren, energiereicheren Schale
aufgefüllt, es kommt zur Emission charakteristischer Röntgenstrahlung bzw. zur Aussendung von
Auger-Elektronen in Abhängigkeit der Ordnungszahl des Elementes.
Die bei Anregung des Kerns frei werdende
Energie kann aber auch als elektromagnetische
Strahlung in Form von Gammaquanten gleicher
bzw. unterschiedlicher Energie ausgesandt werden
(. Abb. 2.7).
Ein häufig in der nuklearmedizinischen Diagnostik angewandter Gammastrahler ist das 99mTc.
Die physikalische Halbwertszeit
Eine weitere charakteristische Größe einer radioaktiven Substanz ist die sog. physikalische Halbwertszeit. Sie bezeichnet die Zeitspanne, in der die Hälfte
der ursprünglich vorhandenen Atome zerfallen ist.
Die physikalische Halbwertszeit kann Bruchteile
von Sekunden bis Milliarden von Jahren betragen.
vv Das von Marie Curie entdeckte 210Polonium zer-
fällt über einen α-Zerfall, also unter Aussendung
eines Heliumkerns zu Blei.
210
84 Po
4
! 206
82 Pb C2 He
Die physikalische HWZ des 210Poloniums beträgt
138,4 Jahre.
2
35
2.1 • Radioaktivität und deren Wechselwirkungen
+
+
– +
+
+
–
+
+
+–
+
+
+
+
+
–
+
+
–
+
+
+
+
+
+
–
+
+–
+
+
neutrino
–
.. Abb. 2.6 Elektroneneinfang
In Kürze
˛WA
Z Mutternuklid !
A4
Z2 Tochternuklid
ˇ W A
Z Mutternuklid !
A
ZC1 Tochternuklid
C e C Antineutrino
ˇC W A
Z Mutternuklid !
A
Z1 Tochternuklid
C eC C Neutrino
EC W A
Z Mutternuklid !
A
Z1 Tochternuklid
C eC C Neutrino
2.1.3Physikalische
Wechselwirkungsprozesse
elektromagnetischer Strahlung
mit Materie
Bernd, 20 Jahre, sieht auf seiner Spur auf der Autobahn
A1 vor sich einen liegengebliebenen PKW. Er tritt auf
die Bremse und kommt wenige Zentimeter vor dem
Hindernis zum Stand. Sein Hintermann ist nicht so
reaktionsstark und fährt auf. Bernd wird in den Sicherheitsgurt gedrückt, berührt mit dem Kopf die Frontscheibe und prallt dann hart zurück in den Autositz.
Er wird vorsorglich in ein nahegelegenes Krankenhaus
gebracht. Ein Arzt mit entsprechender Fachkunde im
Strahlenschutz ordnet umgehend eine Computertomographie der Kopf-Hals-Region an. Die MTRA legt
Bernd vor Verlassen des Raumes eine Bleischürze um,
die er als unbequem empfindet.
?? Bernd, der noch geschockt vom Unfallereignis
ist und die Schürze unbedingt loswerden will,
möchte wissen, warum er dieses „Monstrum“
nun tragen muss, obwohl ihm sowieso alles
wehtut?
Wechselwirkung
von Photonenstrahlung mit Materie
Bei der Wechselwirkung von Photonen mit Materie wird die Strahlungsintensität proportional zur
Materialdicke d und dem Schwächungskoeffizienten µ abgeschwächt. Dies wird durch das Lambert-Beersche Gesetz gemäß I(d) = I(0) exp(-µd)
beschrieben. Der Schwächunqskoeffizient µ hängt
dabei vom Material (genauer gesagt von dessen
Kernladungszahl Z) und auch von der Energie E der
Photonen ab. Die Schwächung von Strahlung beim
Durchgang durch Materie erfolgt durch Absorption
(Photoeffekt, Paarbildung) und durch Streuung
(Comptoneffekt).
36
Kapitel 2 • Strahlenarten und Strahlenbiologie
1
2
+
3
+
– +
+
+
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+
Ionisation
+–
+
+
+
+
+
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–
+
+
+
γ
+
–
5
Anregung
6
7
.. Abb. 2.7 Innere Konversion
8
>> Schwächung = Absorption + Streuung
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20
Die Wechselwirkung, die Photonenstrahlung mit
Materie eingeht, lässt sich im Wesentlichen in drei
Effekten beschreiben:
Photoeffekt
Trifft Photonenstrahlung auf Materie, so kann die
gesamte Energie auf ein Elektron der Atomhülle
übertragen werden (Photoabsorption, . Abb. 2.8).
Das Hüllenelektron wird entweder auf eine Schale
höherer Energie angehoben (Anregung) oder aus
der Atomhülle herausgeschlagen (Ionisation). Letzteres ereignet sich dann, wenn die Energie des Photons die Bindungsenergie des Elektrons an den Kern
übersteigt. Die vorhandene Restenergie gibt es dem
durch Photoeffekt herausgelösten Elektron (Photoelektron) als kinetische Energie mit auf den Weg.
>> Je höher die Restenergie ist, desto mehr
werden die Photoelektronen in Richtung des
primären Strahls emittiert.
Der freie Platz der Atomhülle wird durch ein Elektron aus einer energetisch höheren Schale aufgefüllt,
die frei werdende Energie in Form von charakteristischer Röntgenstrahlung abgegeben.
Warum interessiert mich der Photoeffekt? Der Pho-
toeffekt ist Grundlage der Bildgebung in der diagnostischen Radiologie, die vorwiegend im Energiebe-
.. Abb. 2.8 Photoeffekt
reich bis 100 keV arbeitet. Die von der Röntgenröhre
ausgesandte Strahlung wird durch verschieden dichte
Gewebe, wie z. B. Knochen, Weichteil-, Fett-oder
Bindegewebe unterschiedlich geschwächt, sodass das
entstehende Strahlenbild entsprechend der Schwächung unterschiedliche Graustufen aufweist.
>> Der Kontrast wird umso schwächer je ener-
giereicher die Photonenstrahlung ist, weil die
Schwächung mit zunehmender Strahlenenergie abnimmt.
Da Hohlorgane und Gefäße sich im nativen Röntgenbild nicht darstellen lassen, appliziert man dem
Patienten sog. Kontrastmittel hoher Ordnungszahl
(J: Z = 53; Ba Z = 56…), die Röntgenstrahlung stärker absorbieren, als das umliegende Gewebe, und
damit Hohlräume sichtbar machen (▶ Kap. 8).
Mit den ungestreut aus dem Körper austretenden Photonen können in der nuklearmedizinischen
Diagnostik aussagekräftige szintigrafische Abbildungen gewonnen werden.
Durch Photoeffekt angeregte Elektronen können die Energie wieder abgeben, indem sie auf
ihre ursprüngliche Umlaufbahn zurückspringen
(Klassische Streuung). Die dabei ausgesandte Photonenstrahlung hat die gleiche Energie und damit
auch die gleiche Frequenz, wie die Ausgangsstrahlung. Wenn die Frequenz im Bereich des sichtbaren
Lichtes liegt, so bezeichnet man die Abgabe dieser
Lichtquanten als Lumineszens. Die Lumineszenz ist
37
2.1 • Radioaktivität und deren Wechselwirkungen
2
Grundlage der sog. Speicherfolientechnik. Diese
Technik basiert darauf, dass z. B. Bariumhalogenide
über einen Photoeffekt angeregt werden. Unter Einwirkung eines Lasers in der Ausleseeinheit fallen die
vorher gehaltenen Elektronen in den Ursprungszustand zurück und die Speicherfolie leuchtet.
Comptonstreuung
Beim sog. Comptoneffekt (. Abb. 2.9) gibt das
Photon nur einen Teil seiner Energie an das Hüllenelektron einer äußeren Schale ab und wird mit
seiner Restenergie in veränderter Richtung gestreut.
Sekundärelektronen niederer Energie werden in
Seitrichtung emittiert, solche höherer stärker in
Vorwärtsrichtung.
.. Abb. 2.9 Comptoneffekt
Muss ich das wissen? Ja! Gestreute Photonen füh-
Sonstige Wechselwirkungsprozesse
ren in der radiologisch, diagnostischen und in der
nuklearmedizinischen Aufnahmetechnik zur Bildverschlechterung. Technische Hilfsmittel, wie ein
aus Bleilamellen bestehendes Streustrahlenraster in
der radiologischen Diagnostik oder der Ausschluss
niederenergetischer Streuphotonen durch Legen eines entsprechenden Energiefensters in der Nuklearmedizin, können die Auswirkung der Streueffekte
minimieren.
Paarbildung
Bei hohen Photonenenergien ab 1022 keV kommt
es zum sog. Paarbildungseffekt (. Abb. 2.10). Hier
findet die Wechselwirkung nicht in der Hülle,
sondern im starken elektrischen Feld des Atomkerns statt. In Kernnähe kann aus dem Photon ein
Elektronen-Positronen-Paar, bestehend aus einem
negativ geladenen Elektron und einem positiv geladenen Positron, entstehen. Der Atomkern bleibt
dabei unverändert. Hier wird also im Gegensatz zur
Paarvernichtung (▶ Abschn. 2.1) ein Paar gebildet,
das allerdings mit einem Elektron des Absorbers zu
zwei Vernichtungsquanten zu je 511 keV zerstrahlt.
Paarbildung in der täglichen Routine Die Energieab-
gabe über den Paarbildungseffekt spielt in der Strahlentherapie bei Anwendung ultraharter Photonen
eine wesentliche Rolle.
Kernphotoeffekt Wenn die Energie des einfallen-
den Quants größer ist, als die Bindungsenergie der
Nukleonen im Kern (6–20 MeV), kann das Photon
absorbiert und ein Neutron oder ein Proton aus
dem Kern geschlagen werden (. Abb. 2.11). Da
das Neutronen-Protonen-Gleichgewicht gestört ist,
wird der Atomkern in der Regel radioaktiv.
Kern-Fluoreszenz Wenn die Energie des einfallen-
den Quants kleiner ist, als die Bindungsenergie der
Nukleonen, kann der Kern angeregt werden und
durch Emission von Gamma-Strahlung in seinen
Grundzustand übergehen.
Wechselwirkung von Teilchenstrahlung
mit Materie
Die Wechselwirkung von Teilchenstrahlen und Materie ist abhängig von Masse und Ladung der Teilchen. Die Masse eines Teilchens wird bestimmt von
seiner Ruhemasse und von seiner Geschwindigkeit.
Elektrisch negativ geladene Teilchen können ihre
Energie an Materie durch Anregung, Ionisation und
Erzeugung von Bremsstrahlung abgeben. Elektronen
geben proportional zur Dichte der Materie kontinuierlich ihre Energie ab und haben im Gegensatz zu
Photonenstrahlung eine endliche Reichweite.
>> Als Faustregel gilt, die Hälfte der Energie in
MeV entspricht der Reichweite der Elektronen in Zentimetern in gewebeäquivalenter
Materie (Wasser).
38
Kapitel 2 • Strahlenarten und Strahlenbiologie
.. Abb. 2.10 Paarbildung
1
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>> Die Schwächung ist abhängig von der Dichte
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20
.. Abb. 2.11 Kernphotoeffekt
Elektronen werden in der Strahlentherapie oberflächlich gelegener Tumoren eingesetzt. Die Elektronenenergie ist wählbar, sodass Tumorgewebe homogen bestrahlt, und das dahinterliegende gesunde
Gewebe optimal geschont werden kann.
Neutronen und Protonen sind für tiefer gelegene
Tumoren besonders geeignet. Sie geben ihre Energie
bei einer bestimmten Resonanzenergie des Gewebes
ab. Liegt ihre Ausgangsenergie über der Resonanzenergie, so dringen sie zunächst unter geringer Energieabgabe ein. Bei Näherung an die Resonanzstelle
erhöht sich diese, sodass sich bei entsprechender
Ausgangsenergie die tumorzerstörende Konzentration an das krankhafte Gewebe anpassen lässt.
Allerdings ist diese Technik so aufwendig, dass
die Protonen- und Neutronentherapie nur an wenigen Zentren angeboten werden.
der durchstrahlten Materie, je höher die Anzahl
der vorhandenen Atome ist desto höher ist
auch die Anzahl der Wechselwirkungsprozesse.
Die Wahrscheinlichkeit einer eintretenden
Photoabsorption hängt von der Ordnungszahl
der durchstrahlten Materie und damit auch
von der Anzahl der zur Verfügung stehenden
Elektronen ab.
Eine weitere Rolle spielt die Dicke der zu
durchdringenden Schicht.
Hochenergetische Strahlung durchdringt Materie ohne wesentliche Photoabsorption.
vv Die Gonaden sind strahlensensibel und bedür-
fen bei jungen Menschen eines Strahlenschutzes. Die außerhalb des Nutzstrahlenbündels
durch Comptoneffekt entstandene Streu­
strahlung muss weitestgehend vom Patienten
ferngehalten werden.
Eine entsprechende Abschirmung erfolgt durch
Materialien hoher Ordnungszahl, wie z. B. metallisches Blei (Z = 82) oder durch in gummiähnlichen Materialien integrierte Bleiverbindungen.
Die Bleischürze wird Bernd also von der MTRA
aus Strahlenschutzgründen umgelegt und kann
http://www.springer.com/978-3-662-43712-4
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