Pubertät und psychosoziale Anpassung Pubertät und psychosoziale Anpassung Rainer K. Silbereisen & Karina Weichold Friedrich-Schiller-Universität Jena In M. Hasselhorn & R. K. Silbereisen (Hrsg.), Enzyklopädie Psychologie, Serie V (Entwicklung), II Grundlegende Veränderungen während des Jugendalters. 1 Pubertät und psychosoziale Anpassung 2 Gliederung 0 Einleitung 1 Wachstum und Veränderungen in körperlichen Proportionen und verschiedenen Organsystemen in der Adoleszenz 1.1 Längenwachstum, Körperproportionen, Körperkraft und motorische Entwicklung 1.2 Herz-Kreislauf-System, Atmung und Stoffwechsel 1.3 Strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns 1.4 Entwicklung der sekundären Geschlechtscharakteristika 1.5 Ursachen für Unterschiede im Zeitpunkt der Geschlechtsreife 2 Hormonelle Regulation in Pubertät und Adoleszenz 2.1 Endokrine Veränderungen 2.2 Auslöser endokriner Veränderungen 3 Psychosoziale Aspekte körperlicher Veränderungen in der Pubertät und Adoleszenz 3.1 Psychologische Aspekte 3.2 Soziale Aspekte 4 Konsequenzen von Variationen im Tempo der körperlichen Entwicklung in der Pubertät 4.1 Theoretische Modellvorstellungen 4.2 Konsequenzen von Unterschieden im Entwicklungstempo während der Adoleszenz 4.3 Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Erwachsenenalter 5 Ausblick: Schlußfolgerungen für zukünftige Forschung 6 Literaturverzeichnis Entwicklungstempo im Pubertät und psychosoziale Anpassung 0 3 Einleitung Die Pubertät wird meist als das Signal biologischer Entwicklung bei Jugendlichen gesehen, im engeren Sinne jedoch bezeichnet Pubertät (lat. „Zeit der eintretenden Geschlechtsreife“) das Erreichen sexueller Reife. Die Adoleszenz hingegen, ein Lebensabschnitt bis zum Erreichen des sozialen Erwachsenenstatus (Petersen, Silbereisen, & Sörensen, 1996), umfasst eine Reihe von Ereignissen, die den schrittweisen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter beschreiben. Die Pubertät stellt somit einen der für die Adoleszenz typischen Meilensteine dar. Zu den hauptsächlichen körperlichen Anzeichen der Pubertät zählen die Akzeleration der Körperhöhe verbunden mit der Zunahme an Körpergewicht, die Veränderung der Körpersilhouette, weiterhin Veränderungen im Blutkreislauf und dem respiratorischen System sowie die Entwicklung der Keimdrüsen (in den Ovarien bzw. den Hoden) sowie der sekundären Geschlechtsmerkmale (Marshall, 1978). Darüber hinaus kommt es zu erheblichen Veränderungen im Zentralen Nervensystem (Spear, 2000). Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf diesen vielfältigen biologischen Veränderungen in der Adoleszenz und deren Zusammenhang mit für Jugendlichen typischen Verhaltensweisen und sozialen Geschehnissen. Dabei sollen weiterhin Ursachen für interindividuelle Variationen im Zeitpunkt der körperlichen Reife und deren Konsequenzen diskutiert werden. Es geht jedoch hier ausdrücklich nicht um klinisch auffällige beschleunigte oder verzögerte Reife sondern um normale Variationen (vgl. Largo, 1991). Aus einer historischen Perspektive ist die Forschung zu psychosozialen Aspekten pubertärer körperlicher Veränderungen als ein relativ junges Gebiet der Entwicklungspsychologie zu bewerten (vgl. Ewert, 1984). Das Jugendalter wurde erstmals 1927 von Bühler anhand der Analyse von Tagebuchaufzeichnungen thematisiert, danach meist im Rahmen von Abhandlungen nur angerissen. In den 1955-60er Jahren veröffentlichten Mussen und Jones erste längsschnittliche Befunde zu Unterschieden in Persönlichkeit und psychosozialer Anpassung zwischen Früh- und Spätreifenden (z.B. Mussen & Jones, 1958). Mit den Arbeiten von John Hill (z.B. Hill & Palmquist, 1978; Hill et al., 1985) zur Beziehung zwischen interpersonalen Beziehungen und Pubertät begann man Ende der 1970er Jahre, die Folgen physischer Veränderungen während der Adoleszenz systematisch zu untersuchen. Zeitgleich wurden von Tanner Befunde zur körperlichen Entwicklung während des Jugendalters publiziert (z.B. Tanner, 1972) und Skalen zur Einschätzung des körperlichen Entwicklungsstandes entwickelt, die noch heute maßgebend sind. Danach begannen einige amerikanische Forschungsgruppen, sich explizit mit dem Pubertät und psychosoziale Anpassung 4 Thema Pubertät zu beschäftigen, vorrangig bezogen auf die psychosozialen Konsequenzen von individuellen Variationen im körperlichen Entwicklungstempo (z.B. Petersen & Crockett, 1985) oder endokrine Veränderungen im Jugendalter und deren Korrelate auf Verhaltensebene (z.B. Nottelmann, Susman, Inoff-Germain, Cutler, Loriaux & Chrousos, 1987). In Deutschland hingegen blieb die Arbeit von Ewert in dieser Zeit eine der wenigen Ausnahmen (z.B. Ewert, 1984). Insgesamt sind von 1980 bis 1990 mehr Arbeiten zum Thema Pubertät publiziert worden, als zwischen 1927 und 1980 (vgl. Psychinfo). Der „Boom“ der Pubertätsforschung scheint bis heute ungebrochen, über 200 Veröffentlichungen sind seit 1990 in elektronischen Datenbanken zum Thema Pubertät unter Entwicklungsperspektive zu finden (vgl. Psychinfo). In den 1990er Jahren wurde inhaltlich an der Entwicklung von Modellen zur Erklärung der vielfältigen Konsequenzen von Unterschieden im körperlichen Entwicklungstempo gearbeitet (z.B. Brooks-Gunn, Graber & Paikoff, 1994) sowie Erklärungen für Ursachen von unterschiedlichem Entwicklungstempo gesucht (z.B. Belsky, Steinberg & Draper, 1991). Erste biopsychosozial angelegte Studien wurden veröffentlicht, die endokrine/somatische, soziale/interpersonale und psychologische Daten nutzten, um längsschnittlich Verhaltensunterschiede als Konsequenzen bzw. Ursachen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo zu untersuchen (z.B. Susman et al., 1996). Erst in den letzten Jahren wurde Pubertät unter einer neuropsychologischen Perspektive (vorrangig unter der Nutzung von Tiermodellen) betrachtet und Hypothesen zum Zusammenspiel zwischen zentralnervösen, endokrinen und psychosozialen Aspekten abgeleitet. Dies wird in der Zukunft ermöglichen, umfassend die Mechanismen zu untersuchen, durch die körperliche Veränderungen und deren Variationen mit alterstypischen Verhaltensweisen in Beziehung stehen. 1 Wachstum und Veränderungen in körperlichen Proportionen und verschiedenen Organsystemen in der Adoleszenz 1.1 Längenwachstum, Körperproportionen, Körperkraft und motorische Entwicklung Insbesondere die frühe Adoleszenz ist mit raschem körperlichem Wandel verbunden. Deutlich sichtbar sind die Akzeleration des Körperwachstums und Veränderungen des Anteils des Körperfetts sowie ein Zuwachs in der Körperkraft und den motorischen Fähigkeiten. Zu Beginn der Pubertät findet der Wachstumsschub statt, angezeigt durch eine Zunahme der Wachstumsgeschwindigkeit bzgl. der Körperhöhe (bis zu 9,5 cm/Jahr bei Pubertät und psychosoziale Anpassung 5 Jungen und 8,0 cm/Jahr bei Mädchen, sog. peak height velocity). Danach verlangsamt sich das Körperwachstum und erreicht seinen Abschluss (Tanner, Whitehouse & Takaishi, 1966). Bei Mädchen erfolgt der Wachstumsschub im Mittel zwischen dem 10. und 14., bei Jungen zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr. Der Zuwachs des Torsos verglichen mit den Gliedmaßen ist dabei bei beiden Geschlechtern stärker ausgeprägt. Praktisch jeder muskuläre und skeletale Teil des Körpers unterliegt dem Wachstumsschub während der Adoleszenz. Das Wachstum in der Körperhöhe ist bei Mädchen im Mittel mit 16/17 Jahren, bei Jungen mit 17 bis 19 Jahren beendet (Remschmidt, 1992). Ein ähnlicher Verlauf wie für den Zuwachs in der Körperhöhe wird für die Veränderungen des Körpergewichts beschrieben, die eine Folge tiefgreifender morphologischer Veränderungen mit hohen Zuwachsraten für Skelett, innere Organe und Fettgewebe darstellen (Remschmidt, 1992). Dem gegenüber sinkt der Anteil lymphatischen Gewebes und des subkutanen Fettgewebes (Tanner, 1975). Bei den meisten Jungen kommt es zu einem absoluten oder relativen Abfall des Zuwachses an subkutanem Körperfett zu Beginn der Pubertät, was insbesondere den Fettanteil an den Gliedmaßen betrifft und weniger den des übrigen Körpers (Tanner, 1965; Tanner & Whitehouse, 1975). Bei Mädchen kommt es dem gegenüber meist zu einem Zuwachs im Anteil des Körperfetts, besonders eingangs der Pubertät. Gegen Ende der Pubertät wird für Jungen ein Verhältnis von Muskeln zu Fettgewebe von 3:1, für Mädchen von 5:4 angegeben (Steinberg, 1993). Die Veränderungen in Körperhöhe und Anteil des Fettanteils begleitend verändern sich die Körperproportionen entsprechend einem geschlechtstypischen Ablauf (dem sog. Gestaltwandel) folgend. Bei Mädchen kommt es zur Anlagerung von Fett an Hüfte, Oberschenkeln und Bauch, bei Jungen findet sich ein vermehrter Zuwachs im Brustumfang verglichen mit der Hüfte. Parallel zum Wachstum des Skeletts und der Muskulatur nimmt die Körperkraft der Jugendlichen zu. Bei Jungen kommt es im Alter zwischen 11 und 16 Jahren zu einer Verdopplung vorhandener Muskelzellen. Bei abgeschlossener Muskelentwicklung in der Mitte der Pubertät haben Jungen im Mittel 30% mehr Muskelgewebe als Mädchen (Cheek, 1968). Weiterhin zeigen sich Veränderungen in der Motorik, welche die Grob- und Feinmotorik sowie deren Koordination betreffen. Hierdurch kann es zu zeitlich begrenzten Unsicherheiten in der Motorik kommen, besonders dann, wenn die Wachstumsschübe unterschiedlicher Körperregionen nicht gleichzeitig verlaufen. Solche Veränderungen, die sich beispielsweise in einem schlacksigen Gang äußern, sind meist in wenigen Jahren ausgeglichen (Steinberg, 1993). Pubertät und psychosoziale Anpassung 6 Die Konstitution und genetische Einflüsse determinieren die Veränderungen der Körperform während der Pubertät und bestimmen mutmaßlich den Endpunkt der Akzeleration in Körperhöhe und –gewicht (Remschmidt, 1992). Interindividuelle Unterschiede im Höhenund Skelettwachstum sowie der Gewichtszunahme in der Adoleszenz werden hingegen insbesondere durch umweltbedingte, in geringerem Maße durch genetische Faktoren erklärt. Bespielweise konnte gezeigt werden, dass Heranwachsende aus Familien mit geringem sozioökonomischem Status (schlechtere Ernährung und Gesundheitsvorsorge) weniger in der Pubertät an Körperhöhe und –gewicht zunehmen als solche aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status (Tanner, 1961). 1.2 Herz-Kreislauf-System, Atmung und Stoffwechsel Verschiedene Organsysteme wachsen und verändern ihre Funktionsweise während der Pubertät und Adoleszenz, um angesichts der erheblichen Veränderungen des Körperbaus die Leistungsfähigkeit zu sichern. Innerhalb des Herz-Kreislauf-Systems unterliegt das Herz einem ähnlichen Wachstumsschub wie andere muskuläre Organe des Menschen. Entsprechend der Konstitution verdoppelt sich das Gewicht des Herzens über die Pubertät (Remschmidt, 1992), die Herzfrequenz sinkt, der systolische Blutdruck steigt an (bei Jungen höher als bei Mädchen; Mansfeld & Mansfeld, 1963). Weiterhin verändert sich die Zusammensetzung des Blutes (Blutvolumen, Hämoglobin, rote Blutkörperchen; bei Jungen ausgeprägter; Remschmidt, 1992). Strukturelle und funktionale Veränderungen der Atmung und des Stoffwechsels stehen ebenfalls in Interaktion mit dem allgemeinen Körperwachstum während der frühen Adoleszenz: Die Größe und Vitalkapazität der Lungen sowie die Effizienz des Sauerstoffaustausches nehmen zu (Andersen & Ghesquiere, 1972). Die Körpertemperatur sowie die Stoffwechselintensität sinken zeitgleich mit Eintreten des Wachstumsschubs (Katchadourian, 1977). Insgesamt fördern diese Veränderungen die Leistungsfähigkeit des Körpers bei Jugendlichen. 1.3 Strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns Während der Pubertät und Adoleszenz kommt es zu umfassenden strukturellen und funktionellen Veränderungen verschiedener neuronaler Systeme im Gehirn, die das Zentrale Nervensystem Jugendlicher von dem Erwachsener oder Kinder stark unterscheidet. Pubertät und psychosoziale Anpassung 7 Hinsichtlich der Struktur des Gehirns zeigt sich eine Vergrößerung des Zellkörpervolumens im Neokortex bei gleichzeitiger Abnahme der Neuronendichte durch den Verlust von Synapsen. Dabei werden ca. 30.000 Synapsen (d.h. die Hälfte der Synapsen jedes Neurons) pro Sekunde eliminiert. Dieser Prozess dauert über die gesamte Adoleszenz, bis ca. zum 18. Lebensjahr, an (Huttenlocher, 1984; Remschmidt, 1992) und wird auch als Zunahme des „Grauzell-Koeffizienten“, d.h. dem Volumenverhältnis von grauer Substanz dividiert durch das Volumen der enthaltenen Nervenzellen, bezeichnet. Der Verlust der Synapsen („synaptic pruning“) soll eine Vorbedingung für die Verzweigung der Dendriten darstellen. Weiterhin erfolgt in der Pubertät die Fortsetzung der Markreifung. Bis zum 10. Lebensjahr ist die Markreifung der großen Kommissuren im Gehirn abgeschlossen. Danach setzt sich die Myelinisierung insbesondere in der Formatio Reticularis und den intrakortikalen Assoziationsfasern fort (vgl. Yakovlev & Lecours, 1967), die mutmaßlich für die Entwicklung fortgeschrittener Denkprozesse von Bedeutung sind (Remschmidt, 1992). Gleichzeitig kommt es zu einem Anstieg der fokalen Aktivierung des Gehirns während der Lösung von Aufgaben. Die separate Funktion beider Hemisphären während der Verarbeitung von Informationen (Merola & Liedermann, 1985) sowie die Komplexität des Ruhe-EEGs (Anokhin, Birbaumer, Lutzenberger, Nikolaev & Vogel, 1996) steigen an. Mit fortschreitender Adoleszenz nimmt die Amplitude höherfrequenter Wellen zu bzw. die der niederfrequenten Wellen ab, was in erster Linie charakteristisch für den frontalen Hirnanteil ist (Remschmidt, 1992). Schließlich nimmt der Glucose-Stoffwechsel ab (sichtbar im PET), was bei gleichzeitiger Erhöhung der geistigen Leistungsfähigkeit für eine gesteigerte Effektivität neuronaler Vorgänge spricht. Besonders gut nachweisbar ist dieser Prozess im Neokortex sowie in den frontalen Hirnregionen (Spear, 2000). Weiterhin reorganisieren sich verschiedene erregende neuronale Systeme, wie das dopaminerge oder serotonerge System sowie einige hemmende Systeme. Im Zuge dessen nimmt die Dichte der Rezeptoren für eine Reihe von Neurotransmittern ab. Da die meisten untergehenden Synapsen vermutlich zu erregenden Systemen zählen, soll dies zu einer Abnahme der den Cortex erreichenden Stimulation kommen. Diese Plastizität des Gehirns wiederum soll eine effektivere Anpassung an die Umwelt aufgrund gesammelter Erfahrungen unterstützen (Spear, 2000). Neuronale Modifikationen in der Adoleszenz sind besonders ausgeprägt in zwei Hirnbereichen (Präfrontaler Kortex, Limbisches System) zu beobachten. Weiterhin verkleinert sich das Volumen des präfrontalen Kortex und die Dichte pyramidaler Dendriten sowie die Anzahl erregender glutaminerger Synapsen nehmen ab, d.h. analog sinkt die Pubertät und psychosoziale Anpassung 8 präfrontale Aktivierung und die neuronale Leistungsfähigkeit steigt an. Außerdem steigert sich der Dopamin-Einfluß in der präfrontalen Region. Dem gegenüber sinkt der Einfluss von Dopamin im limbischen System, auch die Ausschüttung von Serotonin geht massiv zurück. Darüber hinaus gibt es erste Befunde zur Verringerung von Glutamatrezeptoren in der Amygdala und dem Hippocampus (Spear, 2000). Die von Veränderungen betroffenen Bereiche des Gehirns sind primär an der Verarbeitung emotionaler Reize, der Bewertung der Salienz von Reizen sowie an der Umsetzung an Informationen in motorische Aktion beteiligt. Präfrontale Regionen sind in zielgerichtetem Verhalten involviert sowie in der Verarbeitung (primär unangenehmer) Stimuli. Das Limbische System sowie damit verknüpfte mesokortikale Strukturen spielen bei der Bewertung von neuartigen Reizen eine Rolle, weiterhin bei der Wertzuweisung von Reizen (z.B. psychoaktive Substanzen) sowie der Umsetzung motorischer Aktionen. Die Amygdala ist bei emotionalen und körperlichen Reaktionen in Stresssituationen aktiv (Spear, 2000). Die Modifikationen dieser Hirnsysteme sollen funktional relevant sein und zu für die Adoleszenz typischen Verhaltensausprägungen wie Hyperresponsivität gegenüber Stressoren, negativem Affekt sowie ansteigendem Konsum von Alkohol und Drogen führen (vgl. Spear, 2000). Mesokortikale Gehirnregionen sind Bestandteil des Belohnungssystems. In abgeschwächter Form des „Reward Deficiency Syndroms“, welches als Krankheitsbild durch verringerte positive Stimuli gekennzeichnet ist und mit aktivem Suchen nach neuen Umweltreizen sowie psychoaktiven Drogen der Patienten einher geht, soll der neuronale Umbau mit dem typischen Verhalten von Jugendlichen korrelieren. So versucht man, die besondere Affinität Jugendlicher zu Drogen sowie deren ausgeprägte Suche nach neuartigen Erlebnissen biologisch zu erklären (Waters, Klintsova, & Foster, 1997). Durch während der Adoleszenz typischerweise erhöhte Aktivierung der Amygdala, die der emotionalen Reizverarbeitung zugeordnet wird, sollen riskante Erlebnisse (die meist mit Nervenkitzel verbunden sind) stark an positive Gefühlszustände gekoppelt werden (Yurgelum-Todd, 1998). Weiterhin können Veränderungen in der Amygdala mit variablen Gefühlszuständen, verminderter Aufmerksamkeit oder Reaktionen auf Stressoren korrelieren, was wiederum die erhöhte Prävalenz von depressivem Affekt oder affektiven Störungen in diesem Lebensabschnitt erklären soll (Spear, 2000). Viele Erkenntnisse zu neuronalen Veränderungen während der Adoleszenz wurden bislang im Tierversuch gewonnen. Tiermodelle zur Abbildung einzelner Aspekte der Adoleszenz zu nutzen scheint legitim angesichts der Tatsache, dass auch in einer Reihe anderer Spezies (besonders Säugetiere) adoleszente Perioden begleitet von typischen Pubertät und psychosoziale Anpassung 9 biologischen und verhaltensmäßigen Veränderungen zu beobachten sind (Spear, 2000). Wichtig jedoch erscheint für die Zukunft die Replikation der Befunde von Tierversuchen (soweit ethisch vertretbar) anhand von Humandaten. Neue Methoden wie die Fortschritte in der Entwicklung und Verbreitung nicht-invasiver bildgebender Verfahren (brain imaging) lassen erwarten, dass hier in den nächsten Jahren Fortschritte berichtet werden können, insbesondere dann, wenn in interdisziplinären Projekten spezifische Verhaltensweisen, biologische Grundlagen sowie deren Zusammenspiel bei Jugendlichen erforscht wird. 1.4 Entwicklung der sekundären Geschlechtscharakteristika In der Pubertät kommt es zur Entwicklung des geschlechtsspezifischen reproduktiven Systems bei Jungen und Mädchen. Die Entwicklung der sekundären Geschlechtsorgane umfasst bei Jungen die Entwicklung von Penis und Hoden sowie das Wachstum der Schambehaarung (Pubarche). Bei Jungen im europäischen und nordamerikanischen Raum (europäischer Abstammung) kommt es zwischen dem 11,5. und 15. Lebensjahr zum Wachstum der Hoden und der Schambehaarung (ungefähr gleichzeitig zum Wachstumsschub). Etwas später beginnt das Wachstum und die Entwicklung des Penis (12,514,5 Jahre) (Marshall & Tanner, 1970). Die Veränderungen der Genitalen folgen Stadien, die aufeinander aufbauen und fortschreitenden Pubertätsstatus indizieren. Dabei scheint besonders die Hodengröße zur Differenzierung der Stadien von Bedeutung zu sein (Remschmidt, 1992). Zuerst kommt es zur Vergrößerung der Hoden und des Hodensacks sowie zu einer Hautrötung am Hodensack (Tanner-Stadium II, ca. 11. Lebensjahr), dann vergrößert sich der Penis, zuerst primär hinsichtlich der Länge (Tanner-Stadium III), dann in der Breite. Eichel, Hoden und Hodensack vergrößern sich weiter und die Haut am Hodensack wird deutlich dunkler (Tanner-Stadium IV, ca. 14.-15. Lebensjahr), bis das Aussehen dem von Erwachsenen gleicht (Tanner-Stadium V). Die Schamhaarentwicklung folgt ebenfalls einem spezifischen Ablauf: Zunächst wächst das Schamhaar spärlich, in meist glatter Form mit geringem Pigmentanteil an der Basis des Penis (Tanner-Stadium II, ca. 12. Lebensjahr), dann wird es dunkler und lockiger (Tanner-Stadium III). In den folgenden Stadien verbreitet sich das Haarwachstum über den Unterleib des Jungen, zuerst in horizontale, dann in vertikale Richtung, bis es sich auf die Oberschenkel ausdehnt (Tanner-Stadium V, etwa 14.-15. Lebensjahr) (vgl. Beschreibung und Abbildungen der Stadien bei Tanner, 1975). Etwa zwei Jahre nach Beginn des Schamhaarwachstums beginnt die Entwicklung des Achselhaars (zeitgleich mit Tanner-Stadium IV) und das Wachstum der Barthaare bei Jungen, welches Pubertät und psychosoziale Anpassung 10 zuerst an den Außenseiten der Oberlippe beginnt und sich dann über Lippe und obere Wangen hin zu unterer Wange und dem Kinn fortsetzt. Als relativ spätes Ereignis während der Pubertät kommt es zum Stimmbruch, der auf der Zunahme der Zelldichte in der Schilddrüse und einer Vergrößerung des Kehlkopfes beruht (Tanner, 1975). Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr kommt es schließlich bei 90% der Jungen zur ersten Ejakulation (Spermarche), die meist willkürlich durch Masturbation hervorgerufen wird und nur bei ca. 13% in Form einer nächtlichen Pollution auftritt (Remschmidt, 1992). Die Veränderungen der sekundären Geschlechtsmerkmale umfassen bei Mädchen (Europa, Nordamerika mit europäischer Abstammung) die Entwicklung der Brüste (Thelarche) und der Schamhaare (Pubarche) als erste äußere Anzeichen des Wachstums des reproduktiven Systems (vgl. Largo & Prader, 1987), sowie das erstmalige Eintreten der monatlichen Regelblutung (Menarche) gegen Ende der pubertären Entwicklung. Hinsichtlich der Brustentwicklung kommt es zu Fettanlagerungen (sog. breast budding) verbunden mit der Vergrößerung des Brustumfangs und Vorwölbung der Brustdrüse (Knospung) (TannerStadium II, ca. 11. Lebensjahr). Dann bilden sich die beiden typischen Rundungen der Brust und die Warzen sowie der Vorhof heben sich von der übrigen Drüse ab (Tanner-Stadium IV). Im Mittel im Alter von 14 bis 15 Jahren erscheint die weibliche Brust voll ausgereift, charakterisiert durch den Abschluss der Fetteinlagerungen entsprechend der Konstitution, der vollständigen Separierung der Brüste und Ausdifferenzierung der Brustwarzen und Warzenvorhöfe, die sich nun von der allgemeinen Brustdrüse nicht abheben (Tanner-Stadium V). Die Schamhaarentwicklung erfolgt analog zu den für Jungen berichteten Stadien, d.h. sie ist gekennzeichnet durch eine zunehmend von Haaren bedeckte Fläche im Genitalbereich (zuerst horizontale, dann vertikale Ausdehnung), zuerst glatte primär an den Schamlippen befindliche weiche Behaarung, dann gekräuselt sowie eine Veränderung der Pigmentierung der Schamhaare hin zu dunklerem Haar. Das Wachstum der Schambehaarung erfolgt bei Mädchen im Mittel im Alter zwischen 11 und 14 Jahren (Tanner, 1975). Der weibliche Schambehaarungstyp gleicht eher einer umgekehrten Pyramide, wogegen der männliche eher einer aufrechten Pyramide ähnelt (Pinel, 1992). Als relativ spätes Ereignis kommt es bei Mädchen im Durchschnitt um das 12. Lebensjahr zur ersten Menstruation (Rosenfield, 1991). Die inneren Genitalien der Mädchen durchlaufen besonders zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr einen Wachstumsschub. Hierbei kommt es zu einer Vergrößerung des Uterus, wobei sich die Muskulatur verstärkt und sich das Endometrium ausbildet. Auch die Vagina nimmt an Größe zu. Die Ovarien wachsen dem gegenüber relativ wenig, weil ihre Struktur schon vor der Pubertät angelegt wird. Die gesamte Pubertät und psychosoziale Anpassung 11 Anzahl der Ovula ist bereits vorhanden, deren Ausreifung beginnt mit Eintreten der Menstruation (Remschmidt, 1992). Die Menarche signalisiert jedoch nicht eindeutig die Reproduktionsfähigkeit: Im ersten gynäkologischen Jahr weisen lediglich 14% der Mädchen einen ovulatorischen Zyklus auf, fünf Jahre später sind es ca. 87% (Apter & Vikko, 1977). Der Stand der körperlichen Entwicklung bei Jugendlichen (sog. Pubertätsstatus) wird häufig basierend auf dem Entwicklungsstand der sekundären Geschlechtscharakteristika angegeben. Für Messungen werden bei Mädchen häufig Brust- und Schamhaarstatus, bei Jungen Penis/Hoden- und Schamhaarstatus in Form von Stadien angegeben. Datenerhebungen am Jugendlichen selbst, Eltern oder klinisch geschulten Beurteilern werden oft anhand der Tannerschen Kriterien erhoben unter Verwendung von schematischen Darstellungen (Fotos, Zeichnungen; Tanner, 1974) oder darauf basierender verbaler Ratingskalen (z.B. Duke et al., 1980; Morris & Udry, 1980). Weiterhin haben sich Selbstberichte der Jugendlichen zu einer Reihe von typischen Brustentwicklung, somatischen Schambehaarung, Veränderungen (Mädchen: Hautveränderungen, Wachstumsspurt, Menarche; Jungen: Wachstumsspurt, Schambehaarung, Penis/Hodenentwicklung, Stimmbruch) anhand der Pubertal Development Scale (PDS; Petersen et al., 1988) in der Forschung etabliert. Vergleichende Studien zur Validität zeigen jedoch, dass die Einschätzung des Pubertätsstatus anhand der Tanner Skalen durch Kliniker die akkurateste Methode ist, den körperlichen Entwicklungsstand bei Jugendlichen zu erheben, während die Selbsteinschätzungen der PDS am ungenauesten den Pubertätsstatus bei Jugendlichen misst (trotzdem aber ausreichend genau den allgemeinen Entwicklungsstand in großen Stichproben misst; vgl. Coleman & Coleman, 2002). Andere Methoden der somatischen Messung des Pubertätsstatus sind anthropologische Methoden wie die Bestimmung von Größe, Gewicht und Körperfettanteil oder das Röntgen der Handgelenke für Rückschlüsse auf den Fortschritt des Knochenwachstums. Diese Meßmethode sowie endokrinologische Methoden zur Bestimmung des Pubertätsstatus sind jedoch mit einem zu großen Aufwand verbunden, als dass sie in größeren Stichproben genutzt werden (Susman, 1997). 1.5 Ursachen für Unterschiede im Zeitpunkt der Geschlechtsreife Die Sequenz der Veränderungen sekundärer Geschlechtsmerkmale kann bei Jungen und Mädchen interindividuell variieren, scheint aber insgesamt weniger variabel zu sein als das Alter, zu dem die Veränderungen stattfinden (Tanner, 1975). Der Beginn der Veränderungen in der Pubertät unterliegt erheblichen (nicht klinisch auffälligen) interindividuellen Pubertät und psychosoziale Anpassung 12 Schwankungen. Die große Variabilität betrifft praktisch jedes Pubertätsmerkmal und ist mit einer Streubreite von fünf bis sechs Jahre ausgesprochen groß. So kann es im normalen Rahmen bei Mädchen im frühen Alter von 8 Jahren bzw. bei Jungen mit 9,5 Jahren zu den physischen Veränderungen kommen, aber auch erst mit 13 bis 15 Jahren. Weiterhin kann die Zeitpanne, in der sich die Veränderungen (insbesondere der Reife der sekundären Geschlechtsmerkmale) vollziehen, zwischen einem und sechs Jahren variieren (Tanner, 1972). Für Mädchen beispielsweise beträgt die Zeitspanne zwischen dem Auftreten erster Pubertätsmerkmale (Schamhaar- und Brustwachstum) und Menarche im Mittel 2,2-2,7 Jahre, kann jedoch interindividuelle zwischen weniger als einem Jahr und mehr als sechs Jahren schwanken (Largo, 2000). Das pubertäre Entwicklungstempo reflektiert interindividuelle Unterschiede im Zeitpunkt der körperlichen Reife, indem der individuelle Entwicklungsstand (meist basierend auf der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale nach Tanner-Kriterien oder PDS) am Alter relativiert wird. In den meisten Studien werden Jugendliche anhand von Populationsnormen oder der Verteilung des Pubertätsstatus innerhalb einer Stichprobe in Gruppen mit früher, normativer oder später Reife eingeteilt, wobei häufig eine Standardabweichung über bzw. unter dem Mittelwert als Grenzen angegeben werden (vgl. Alsaker, 1995). Weiterhin wird der Zeitpunkt diskreter pubertärer Ereignisse genutzt, um individuelles Entwicklungstempo relativ zu Altersgleichen zu ermitteln wie Menarche oder Spermarche. Besonders der Zeitpunkt der Menarche wird auch noch Jahrzehnte nach der Pubertät von Frauen akkurat erinnert und ist deshalb ein Maß, das in vielen Studien zur Einschätzung des pubertären Entwicklungstempos genutzt wird (vgl. Coleman & Coleman, 2002). Alternativ wurden in verschiedenen Studien subjektive Ratings des pubertären Entwicklungstempos erhoben (z.B. nach Dubas, Graber, & Petersen, 1991), die insgesamt eine hohe Korrelation mit objektiveren Methoden aufweisen (Silbereisen & Kracke, 1997). Im folgenden wird erläutert, welche Ursachen für interindividuelle Unterschiede im pubertären Entwicklungstempo diskutiert werden. Differenziert werden hierbei Unterschiede zwischen Populationsgruppen und individuelle Unterschiede, die den Zeitpunkt pubertärer Reife bedingen sollen. Man hat das Menarchealter zwischen verschiedenen Regionen verglichen. Hierbei wurde deutlich, dass Unterschiede im Reifealter zwischen Populationsgruppen primär das Resultat von Umweltbedingungen, spezifisch ihrer Ernährungsmuster, sanitärer und medizinische Bedingungen, sind. So zeigte sich beispielsweise, dass in Europa und den USA das Menarchealter zwischen 12,5 und 13,5 Jahren liegt, in Afrika zwischen 14 und 17 Jahren. Empirische Befunde belegen weiterhin Pubertät und psychosoziale Anpassung 13 ethnische Unterschiede innerhalb der USA, insofern, dass amerikanische Mädchen afrikanischer Abstammung früher als solche europäischer Abstammung pubertieren (HermanGiddens et al., 1997). Besonders der sozioökonomische Status scheint in diesem Zusammenhang bedeutsam zu sein, denn Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status reifen im Durchschnitt früher und schneller (Eveleth & Tanner, 1975). Ein weiterer Indikator für den Einfluss umweltbezogener Faktoren auf den Reifezeitpunkt in der Pubertät sind die Befunde des Vergleichs des Menarchealters über die letzten zwei Jahrhunderte. In den Ländern der gemäßigten Zone hat es in den letzten 150 Jahren eine beträchtliche Akzeleration des Zeitpunkts körperlicher Reife gegeben: Das Menarchealter bei Mädchen sank von ca. 17 Jahren im Jahr 1840 zu 12/13 Jahren heute (vgl. Tanner, 1962). Auch hier werden die allgemeinen Veränderungen in Lebens- und Ernährungsweisen als Gründe angegeben. In den letzten 25 Jahren stagnierte jedoch dieser Trend. So konnte für Norwegen und Großbritannien gezeigt werden, dass das mittlere Menarchealter in den letzten Jahrzehnten nicht weiter sank (Steinberg, 1993). Bezogen auf individuelle Faktoren, die Akzeleration oder Retardation im pubertären Entwicklungstempo bedingen, werden zum einen genetische Ursachen angenommen. Man weiß, dass innerhalb definierter homogener Populationen ein starker Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der körperlichen Reife von Müttern und Töchtern besteht (BrooksGunn & Warren, 1988). Darüber hinaus zeigen Befunde von Zwillingsstudien, dass Variationen im Zeitpunkt körperlicher Reife zum größten Teil durch genetische Variationen erklärbar sind (Pickles et al., 1998; Do et al., 1998) und dass ein minimaler Einfluss geteilter Umwelt besteht (Rowe, 2000). In den letzten Jahren fokussierte die Forschung zu individuellen Ursachen für Unterschiede im Entwicklungstempo auf psychosoziale Charakteristika des Umfelds der Jugendlichen. In der Theorie von Belsky (Belsky et al., 1991) wird angenommen, dass eine frühe Reife (zumindest teilweise) durch ein belastendes Familienumfeld ausgelöst wird. Dabei soll kontextueller Stress wie Eheprobleme, Abwesenheit eines Elternteils oder finanzielle Probleme ein ungünstiges Erziehungsverhalten der Eltern bedingen, was dazu führt, dass das Kind unsicher gebunden ist. So soll es zu erhöhter depressiver Verstimmung und Problemverhalten des Kindes kommen und vermittelt über vermehrte Fetteinlagerungen zu früher pubertärer Reife. Im Jugend- und Erwachsenenalter soll dieser aversive Entwicklungspfad mit einer sog. „quantitativen Reproduktionsstrategie“ verbunden sein, gekennzeichnet durch häufige wechselnde sexuelle Beziehungen mit kurzer Dauer. Die Theorie nach Belsky und Mitarbeitern wurde zum Teil für Mädchen durch empirische Pubertät und psychosoziale Anpassung 14 Forschung bestätigt. Studien u.a. von Surbey (1990), Nolen-Hoeksema (1994), Malo und Tremblay (1997) oder Ellis (Ellis & Graber, 2000; Ellis, McFadyen-Ketchum, Dodge, Pettit & Bates, 1999) bestätigten anhand von längsschnittlichen Daten einen Zusammenhang zwischen frühen familiären Problemen (Aufwachsen ohne biologischen Vater, geringe Investition des Vaters in die Familie, Streit) in der Kindheit, depressiver Verstimmung und akzelerierter pubertärer Reife. Diskutiert wird, dass Cortisol (bei depressiver Verstimmung erhöht) und stresssensitive neuronale Systeme (Surbey, 1998) die Aktivität der Hypothalamus-Hypophyse-Achse, welche die Ausschüttung von Gonadenhormonen steuert, beeinflusst. Eine Reihe von z.T. längsschnittlicher Untersuchungen konnten zwar einen Effekt der Abwesenheit des Vaters auf das Entwicklungstempo der Töchter bestätigen, jedoch war dieser nicht über Verhaltensprobleme (bes. Depression) der Töchter vermittelt (Moffitt et al., 1992; Huss et al., 2000), vielmehr wurde gezeigt, dass Mädchen, die ohne Vater aufwuchsen, Schul- und Verhaltensprobleme haben (Huss, McMurray, Johnson, Lehmkuhl & Comings, 2000). Vor diesem Hintergrund sowie Befunden zum geringen Einfluss geteilter Umwelteinflüsse auf den Zeitpunkt pubertärer Reife (Rowe, 2000) wurde jüngst eine Alternative zu Belsky’s Theorie formuliert. Hier wird davon ausgegangen, dass das Rückzugsverhalten des Vaters aus der Familie, häufig wechselnde sexuelle Beziehungen sowie impulsives, aggressives und Konflikte förderndes Verhalten des Vaters auf ein Gen, dass die Ausschüttung und postsynaptische Aufnahme von Androgenen moduliert und sich auf dem X-Chromosom befindet, zurückzuführen ist. Diese genetische Vulnerabilität wird auf die Töchter weitergegeben, die wiederum Verhaltensauffälligkeiten zeigen verbunden mit einer Vorverlagerung der körperlichen Reife in der Pubertät, früher sexueller Aktivität und instabilen Beziehungsmustern (Comings et al., 2002). Erste empirische Befunde unterstützen dieses Modell. Comings und Mitarbeiter haben männliche und weibliche Patienten mit dieser genetischen Besonderheit mit einer Kontrollgruppe hinsichtlich Impulsivität, ausagierendem und feindlichen Verhalten, Anzahl sexueller Partner (Männer), Informationen zur Abwesenheit des Vaters und Menarchealter (Frauen) verglichen. Gezeigt werden konnte, dass Männer mit einem veränderten Androgen-Rezeptor-Gen feindlicher und impulsiver waren sowie häufig wechselnde sexuelle Kontakte berichteten bzw. genetisch belastete Frauen häufiger ohne leiblichen Vater aufwuchsen und einen früheren Zeitpunkt der Menarche berichteten. Die Autoren gehen davon aus, dass die genetischen Gemeinsamkeiten zwischen Vätern und Töchtern die Mehrheit der Varianz der Beziehung zwischen Abwesenheit des Vaters und früher pubertärer Reife der Tochter erklärt. Bislang wurden die Modellannahmen Pubertät und psychosoziale Anpassung 15 des psychosozialen evolutionstheoretischen Modells und des genetischen Modells zu den Effekten der Abwesenheit des Vaters auf das Menarchealter der Tochter jedoch nicht miteinander konkurrierend empirisch anhand von längsschnittlichen Daten auf ihre Gültigkeit getestet. 2 Hormonelle Regulation in Pubertät und Adoleszenz Endokrine Prozesse sind die proximalen Auslöser der körperlichen Veränderungen in der Pubertät und stehen in Wechselwirkung mit der Funktion zentralnervöser Strukturen. Fokus der folgenden Darstellung soll sein, endokrine Veränderungen und deren Wirkungen zu beschreiben sowie ihre Folgen im Zusammenspiel mit neuronalen Modifikationen für körperliche Veränderung und jugendtypische Verhaltensweisen zu erörtern. 2.1 Endokrine Veränderungen Besonders die Hormone der Keimdrüsen (Gonadenhormone) bedingen, dass körperliche Merkmale entsprechend des Geschlechtsdismorphismus beim Menschen ausgebildet werden. Durch einen neuroendokrinen Regulationsmechanismus wird die Ausschüttung der Gonadenhormone im Hypothalamus durch das Gonadotrophin-Releasing-Hormon gesteuert, welches im Hypophysenvorderlappen die Ausschüttung von Gonadotrophinen in das Kreislaufsystem stimuliert. In den Gonaden (Keimdrüsen: Ovarien bzw. Hoden) werden als Reaktion besonders Androgene und Östrogene freigesetzt, die die geschlechtstypische körperliche Entwicklung stimulieren und ihrerseits über Feedback-Schleifen die folgende Ausschüttung von Hormonen in Hypothalamus und Hypophyse modulieren (vgl. Pinel, 1992; siehe Abb. 1). Konzentrationen der Gonadenhormone verändern sich im menschlichen Körper schon vor dem Eintreten sichtbarer geschlechtstypischer Reifeindizes (Petersen & Taylor, 1980). Erste massive endokrine Veränderungen, die die Geschlechterdifferenzierung beeinflussen, finden schon in utero statt. Während der sog. „Organisationsphase“ werden große Mengen an Androgenen (primär Testosteron) im Körper des Fetus ausgeschüttet, die Anlage und Entwicklung der inneren und äußeren Genitalen steuern sowie die cerebrale Entwicklung (Gehirndifferenzierung, Ausbildung geschlechtstypischer Unterschiede im Gehirn) beeinflussen. Darüber hinaus hat die perinatale Ausschüttung von Gonadenhormonen maskulinisierende bzw. feminisierende Effekte auf Verhaltensebene (Collaer & Hines, 1995). Pubertät und psychosoziale Anpassung 16 Gehirn Hypothalamus (GRH) Hypophysenhormone Hypophyse (STH, TSH, Prolactin), (Gonadotropine LH, FSH) NebennierenrindenH. (stimuliert durch ACTH) Verhaltensbeeinflussung durch im Gehirn wirksame Gonadenhormone pos./neg. Rückkopplung reguliert nachfolgende Hormonausschüttung Gonaden (Gonadenhormone Ö, T) Körpergewebe Abb.1: Endokrine Veränderungen in der Pubertät und Regulation der Gonadenhormone (vgl. Pinel, 1992; Mayer et al., 1994) Während der Kindheit ist die Ausschüttung von Gonadenhormonen gehemmt, Jungen und Mädchen unterscheiden sich wenig hinsichtlich ihres Körpers und die Geschlechtsmerkmale sind unreif ausgeprägt. Diese Ruhephase der hormonellen Entwicklung endet abrupt mit Beginn der Pubertät (sog. „Aktivierungsphase“). Hier kommt es zu einer Aktivierung des neuroendokrinen Kreislaufs stimuliert durch die Ausschüttung von Gonadotrophin-ReleasingHormonen im Hypothalamus, die einen Anstieg der Hormonausschüttung (Gonadotrophine: follikel-stimulierendes Hormon – FSH und luteinisierendes Hormon – LH) im Hypophysenvorderlappen bedingt. FSH steht mit dem Wachstum der Schambehaarung in Beziehung und stimuliert die Reifung der Follikel in den Eierstöcken der Frau bzw. die Reifung der Samenzellen in den Hoden des Mannes. LH stimuliert die Produktion von Gonadenhormonen und Wachstumshormonen (Maier, Ambühl-Caesar & Schandry, 1994). Die vermehrte Aktivierung der Hypophyse ist zum einen mit Anstiegen in der Produktion von Androgenen in den Nebennierenrinden („Adrenarache“; stimuliert durch adrenocorticotrophes Hormon - ACTH) verbunden (beginnt ca. im 6.-8. Lebensjahr). Adrenerge Hormone sind mit dem Wachstum der Scham- und Achselbehaarung sowie der Akzeleration des Knochen- und Muskelswachstums verbunden (Spear, 2000). Die Andernarche begleitend ist der „Midgrowth Spurt“ zu beobachten (vgl. Sheehy, Gasser, Molinari, & Largo, 1999). Weiterhin werden im Hypophysenvorderlappen verstärkt Wachstums- und Schilddrüsenhormone sowie Prolactin Pubertät und psychosoziale Anpassung 17 ausgeschüttet. Hohe Konzentrationen der Wachstumshormone (somatotrophes Hormon – STH) fördern bei Jungen und Mädchen das Skelettwachstum sowie Zunahmen im Muskelgewebe (bedingen damit direkt den pubertären Wachstumsschub; Pinel, 1992) und in der Stoffwechselaktivität (Tanner, 1975). Schilddrüsenhormone (Thyreoidea-stimulierendes Hormon - TSH) sinken in ihrer Konzentration stetig von der Geburt bis zu Erwachsenenalter, während der Pubertät kommt es jedoch zu einem kurzzeitigen Konzentrationsanstieg (besonders bei Mädchen; Lamburg, Kantero, Saarinen & Widholm, 1973). Sie greifen in den Stoffwechsel durch seine Wirkung auf den Energie-Grundumsatz ein (Remschmidt, 1992). Prolactin beeinflusst die Brustentwicklung und die Entwicklung der Gonaden (Birbaumer & Schmidt, 1991). Zum anderen bewirkt die vermehrte Konzentration von Gonadotrophinen (bes. LH) eine Erhöhung der Hormonausschüttungen in den Gonaden („Gonadarche“). Gonadenhormone wirken an verschiedenen Stellen des sich entwickelnden Körpers. Östrogen und Testosteron beeinflussen Knochen- und Muskelwachstum. Östrogen steuert die Entwicklung der Brust, das Wachstum des Uterus, Veränderungen in Körperproportionen und Anlagerung von Körperfett sowie die Reifung der weiblichen Genitalen. Testosteron stimuliert das Wachstum der Gesichts-, Scham- und Körperbehaarung, beeinflusst die Stimmlage, verändert den Haaransatz, stimuliert die muskuläre Entwicklung und bedingt die Entwicklung männlicher Genitalien (Carlson, 1998). Obwohl prinzipiell gilt, dass bei Jungen höhere Testosteron- als Östrogenkonzentrationen Maskulinisierung bedingen bzw. bei Mädchen der ausgeprägte Östrogenspiegel Feminisierung während der Pubertät bewirkt, sind auch Androgene für die körperliche Entwicklung bei Mädchen bedeutsam (z.B. Androstendion beeinflusst das Wachstum von Scham- und Körperbehaarung bei Mädchen; Pinel, 1992). Zusammenfassend ergibt sich, dass ein komplexes Zusammenspiel endokriner Veränderungen mit zentralnervöser Steuerung die für die Pubertät charakteristischen somatischen und morphologischen Veränderungen bedingen. Besonders bedeutsam sind die Hormone des Hypophysenvorderlappens (Wachstums- und Schilddrüsenhormone, Prolactin sowie Gonadotrophine), die auf die gesamten Körperzellen Einfluss nehmen (Umbau der Körperproportionen, Funktion einzelner Organsysteme) bzw. die Funktion und Entwicklung der Gonaden steuern und somit die körperliche Geschlechtsreife bedingen (vgl. Tab. 1). Weiterhin befördern Androgene der Nebennierenrinde körperliche pubertäre Veränderungen. Durch Rückkoppelung zur Hormonproduktion in den Hirnstrukturen (Hypophysen und Hypothalamus) werden die Konzentrationsveränderungen gesteuert. Pubertät und psychosoziale Anpassung 18 Klasse Primäres Hormon (Entstehungsort) Androgene Testosteron T (Gonaden) Adrenocorticotrophes Hormon ACTH (Hypophyse, wirkt über Nebennierenrinde) Östrogene Östrogen Ö (Gonaden) Hypothalamische Gonadotrophin-Releasing-Hormon Hormone GRH (Hypothalamus) Gonadotrophine Follikel-stimulierendes Hormon FSH (Hypophysenvorderlappen) Luteinisierendes Hormon LH (Hypophysenvorderlappen) Andere Hormone Somatotrophes Hormon STH (Hypophysenvorderlappen) Thyreoidea-stimulierendes Hormon TSH (Hypophysenvorderlappen, wirkt über Schilddrüse) Prolactin (Hypophysenhinterlappen) Tab. 1: Einflussreiche primäre Hormone während der Effekte Körper-, Schambehaarung, Muskeln, Kehlkopf, Hemmung Knochenwachstum Körper-, Schambehaarung, Knochen-, Skelettwachstum, regt Hormonproduktion in Nebennierenrinde an (Stresshormone) Brust, Uterus, Fetteinlagerung, weibliche Genitalien, Hemmung Knochenwachstum, fördert Einweißstoffwechsel Ausschüttung von Gonadotrophinen Schambehaarung, Reifung Follikel in Ovarien bzw. Samenzellen in Hoden Ausschüttung Gonadenhormone und Wachstumshormone, Ovulation Körper-, Muskelwachstum, Organwachstum, Stoffwechsel Stoffwechsel, Energieumsatz, kognitive Entwicklung, Wachstum Brust, Gonaden Pubertät und deren Effekte (vgl. Carlson, 1998) In der jüngeren Forschung wird der Einfluss gesteigerter Konzentrationen der Gonadenhormone auf das Verhalten Jugendlicher diskutiert. Während der Aktivierungsphase in der frühen Adoleszenz sollen ansteigende Hormone Verhalten modulieren (Spear, 2000; Buchanan, Eccles & Becker, 1992). Bei den empirischen Studien scheinen die Beziehungen zwischen Hormonen und Verhalten zwar vorzuliegen, doch sind die direkten Effekte insgesamt als schwach zu bezeichnen. Neben einer Vielzahl von Arbeiten, die keine Beziehung zwischen Gonadenhormonen-Konzentrationen und Verhalten bei Jugendlichen fanden (vgl. Spear, 2000; Buchanan et al., 1992), zeigten andere Beziehungen zu depressivem Affekt (Susman, Dorn, & Chrousous, 1991), gesteigertem Interesse in sexuellen Aktivitäten (Udry, Billy, Morris, Groff & Raj, 1985) oder aggressivem Verhalten auf (Susman, InoffGermain, Nottelmann, Loriaux, Cutler & Chrousos, 1987). Die Beeinflussung des Verhaltens von Jugendlichen durch gesteigerte Hormonkonzentrationen kann jedoch auch durch Pubertät und psychosoziale Anpassung 19 vielfältige Variablen vermittelt werden (vgl. Susman, 1997). Verhalten kann auch seinerseits endokrine Prozesse modulieren, beispielsweise verändert Stress oder ausagierendes Verhalten die Produktion von Gonadenhormonen (z.B. Testosteron; Schaal et al., 1996), oder aber eine Interaktion vorliegen. Anstiege im Testosteron manifestieren sich z.B. in selbstsicherem, dominantem Verhalten, welche ihrerseits einen weiteren Anstieg der Testosteronausschüttung befördern. Darüber hinaus scheinen Kontexteinflüsse und psychologische Variablen vor und während der Pubertät die Beziehung zwischen Hormonen und Verhalten zu vermitteln. Beispielsweise, wurde gezeigt, dass steigende Testosteronkonzentrationen vermittelt über soziale Integration in deviante Kontexte und externaliserten Problemen in der Kindheit mit Delinquenz im Jugendalter in Zusammenhang stehen (Booth & Osgood, 1993). Die pubertären biologischen Abläufe scheinen demnach nicht direkt mit Verhalten verbunden, sondern über ein komplexes Zusammenspiel biopsychosozialer Variablen vor und während der Pubertät vermittelt zu sein (Susman, 1997). Prinzipiell soll die Aktivierung des neuroendokrinen Systems zur Produktion der Gonadenhormone die Expression von Genen stimulieren, die in die Entwicklung des Gehirns involviert sind (Walker & Walker, 2002). Besonders der Östrogenanstieg wirkt sich auf kognitive Funktionen bei Jugendlichen aus, was besonders die Herausbildung zerebraler Hemisphärenasymmetrie und geschlechtsspezifischer kognitiver Leistungen (sprachliche oder räumlich-visuelle Fähigkeiten; Maier et al., 1994) betrifft. Hier mögen jedoch außerdem psychologische oder Sozialisationsfaktoren wirken. Jüngste Befunde zeigen beispielsweise, dass sich bei Jugendlichen unter der Gabe von Gonadenhormonen typische Geschlechtsunterschiede in räumlich-visuellen Fähigkeiten über die Zeit ausbilden, jedoch stand dies nicht im Zusammenhang mit dem Gonadenhormonspiegel (Liben et a., 2002). 2.2 Auslöser endokriner Veränderungen in der Pubertät Welcher spezifische Wirkmechanismus löst die intraindividuellen endokrinen Veränderungen in der frühen Adoleszenz aus und stößt damit die Aktivierung der Gonadenhormone an? Seit einigen Jahren wird Leptin, ein in den Fettzellen produziertes Protein, als „primäres metabolisches Signal“ gesehen, welches die Ausschüttung von Gonadenhormonen aktiviert (Friedman & Halaas, 1998). Das Hormon Leptin zeigt den Anteil des Fettgewebes im Körper, steuert die Energiebalance und das Hungergefühl vermutlich mittels eines Feedback-Systems über den Hypothalamus. Beim Vorliegen eines bestimmten Anteils an Körperfett (diskutiert wird mind. 17% des Körpergewichts; Frisch, 1983) soll Leptin im Hypothalamus ein Signal Pubertät und psychosoziale Anpassung 20 für die Reproduktionsbereitschaft des Körpers geben (Friedman & Halaas, 1998), welches wiederum die Produktion von Geschlechtshormonen beeinflusst (vgl. Pralong & Gaillard, 2001). Die Konzentrationen von Leptin verändern sich in systematischer Weise vor und während der Pubertät. Für präpubertäre Jugendliche wurden geringe Leptin-Konzentrationen nachgewiesen, welche die Aufnahme und Anlagerung von Fett stimuliert (Mantzoros, Flier, & Rogol, 1997). Empirische Befunde unterstützen die Annahme, dass Leptin mit dem Anteil adipösen Gewebes (Larmore et el., 2000) sowie dem reproduktiven System (insbes. Zeitpunkt der Aktivierung) verbunden ist. Bei jugendlichen Leistungssportlern konnte beispielsweise gezeigt werden, dass durch exzessives Training und kalorienarmer Ernährung der Leptinspiegel besonders bei Mädchen verringert ist, was wiederum mit einem geringem Östrogenspiegel, geringem BMI und verzögerter körperlicher Reife korrelierte (Weimann, 2002). Durch welchen spezifischen Mechanismus der Körperfettanteil (reflektiert durch Leptin) auf den Beginn der Produktion von Gonadenhormonen wirkt, ist jedoch bislang noch unklar (Moschos, Chan, & Mantoros, 2002). Anhand von Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass Leptin die Gonadenhormone vermittelt über eine gesteigerte Produktion von Gonadotrophinen beeinflußt (Tezuka et al., 2002). Wurde im Rahmen von Humanexperimenten 9-jährigen Mädchen mit Leptin-Defiziten Hormongaben (Leptin) verabreicht, war ein Anstieg der Gonadotrophine (LH, FSH) zu beobachten (Chan & Mantzoros, 2001). Beide Befunde sprechen für einen direkten Einfluss von Leptin auf die Regulation der Gonadenhormone im Bildungsort von Leptin, der Hypophyse (vgl. Abb. 1). Bislang ist allerdings noch nicht bewiesen, inwieweit Leptin die Funktion als Aktivator der Hypothalamus-Gonaden-Achse innehat oder aber das Aufrechterhalten seiner Funktion steuert (Pralong & Gaillard, 2001). Auch weiß man nicht, ob Leptin allein als Signal den Beginn der endokrinen Veränderungen in der Pubertät auslöst oder innerhalb einer Konstellation verschiedener Signale im Sinne eines komplexen hormonellen und neuronalen Zusammenspiels die Pubertät mitinitiiert (Foster & Nagatani, 1999). Dabei dürften auch andere, möglicherweise psychosoziale Faktoren auf die Aktivierung der neuroendokrinen Veränderungen Einfluss nehmen (vgl. Bsp. Jugendliche Leistungssportler). Fest steht, dass nicht jedes präpubertäre Kind mit Übergewicht auch eine frühe pubertäre Reife erlebt, obwohl es einen höheren Leptinspiegel als altersgleiche Jugendliche mit extrem früher pubertärer Reife hat (Larmore et al., 2002), d.h. Leptin kann nicht der alleinige Auslöser der Pubertät sein. Der Fettanteil, angezeigt im Leptinspiegel, mag insofern eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung sein, die den Beginn der Pubertät auslöst. Pubertät und psychosoziale Anpassung 21 Andere Hypothesen fokussieren auf den Einfluss neuronaler Systeme, um den Beginn der endokrinen Aktivierung zu erklären. Dabei soll sich die Aktivität hemmender (Schwächung der aktiven Hemmung; Genazzani et al., 1997) und erregender Systeme (Anstieg erregender Systemaktivierung; Ojeda, Ma, & Rage, 1997) an der HypothalamusHypophysen-Achse zu Beginn der Pubertät derart verändern, dass es zu einer gesteigerten Funktion des Systems und damit der Produktion von Geschlechtshormonen kommt. Besonders der präfrontale Kortex und das Limbische System, und hier besonders die Amygdala, scheinen durch ihre Wirkung verbunden mit den alterstypischen neurologischen Veränderungen auf den Hypothalamus den Zeitpunkt des Beginns der Pubertät zu variieren (vgl. Spear, 2000). Zusammenfassend scheint ein komplexes Wechselspiel zwischen Leptinkonzentrationen (reflektiert Anteil des Körperfetts) und Veränderungen erregender und hemmender endokriner Systeme, welche die an der Produktion von Gonadenhormonen beteiligten Hirnstrukturen (Hypothalamus, Hypophyse) direkt oder indirekt beeinflussen, endokrine Veränderungen auslösen. Darüber hinaus spielen interpersonale psychosoziale und genetische Faktoren sowie deren biologische Korrelate (z.B. Cortisol infolge Stress) vor der Pubertät eine Rolle für den Zeitpunkt der Aktivierung der Gonadenhormone. 3 3.1 Psychosoziale Aspekte körperlicher Veränderungen in der Pubertät und Adoleszenz Psychologische Aspekte Angesichts der erheblichen körperlichen, zentralnervösen und hormonellen Veränderung stellt sich die Frage, wie Jugendliche auf psychischer Ebene die Adoleszenz bewältigen. Empirische Befunde zeigen, dass die Mehrzahl der Jugendlichen (ca. 80%; Offer & Boxer, 1991) in dieser Entwicklungsphase gut angepasst ist. Nur ein vergleichsweise kleiner Anteil erlebt Unzufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild, emotionale Verstimmungen oder andere zeitweise Irritationen (vgl. z.B. Kracke & Silbereisen, 1994; Graber, Lewinsohn, Seeley & Brooks-Gunn, 1997). Diese Probleme sollen nach der Stressful Change Hypothese (Dubas & Petersen, 1993) aus Anpassungsstress erwachsen. Die Cumulative Change Hypothese (Simmons & Blyth, 1987) betont dem gegenüber den Einfluss einer zeitlichen Kumulation biologischer, schulbedingter und sozialer Veränderungen, die zu psychosozialen Anpassungsproblemen bei Pubertierenden führen. Pubertät und psychosoziale Anpassung 22 Körperliche Veränderungen, die in der Pubertät durch die Zunahme selbstbezogener Kognitionen (Peterson & Roscoe, 1991) fokussiert wahrgenommen werden, müssen von Jugendlichen akzeptiert und in das Selbstbild eingefügt werden. Bei Mädchen scheint die körperliche Entwicklung in der Pubertät im allgemeinen negativer belegt und die Adaptation an den reifen Körper problematischer zu sein als bei Jungen (Dorn, Crockett & Petersen, 1988; Dornbusch et al., 1985; Brooks-Gunn & Warren, 1988), was oft durch eine wahrgenommene Diskrepanz des eigenen Körpers mit dem über die Medien vermittelten Schönheitsideal westlicher Industrie-Kulturen erklärt wird (z.B. Lawrence & Thelen, 1995). Für Mädchen ist die Menarche meist verbunden mit höherem Prestige in der Peergruppe und Steigerungen des Selbstwerts (Simmons, Blyth, & McKinney, 1983). Ebenso scheint die Entwicklung der Brüste (weniger der Schambehaarung) bei Mädchen mit eher positiven als negativen Gefühlen einher zu gehen (Brooks-Gunn & Warren, 1988). Dem gegenüber lösen die weiblicheren Körperproportionen bei Mädchen eher negative Gefühle und Unzufriedenheit aus. Obwohl nur 10% der weiblichen Jugendlichen unter klinischen Essstörungen leidet, versucht mindestens jede Zweite, ihr Gewicht durch Diäten oder exzessive sportliche Betätigungen zu reduzieren (Davies & Furnham, 1986), um so eher dem kulturell präferierten Körperideal für Frauen zu entsprechen. Besonders dann, wenn Freunde und Bekannte Schlankheit eine große Bedeutung beimessen oder die Mädchen wegen ihres Gewichts gehänselt werden, kommt es während der Pubertät zu exzessiven Sorgen über das eigene Körpergewicht (Taylor et al., 1998). Mit dem eigenen Körper unzufrieden zu sein, stellt wiederum einen Risikofaktor für die Ausbildung eines negativen Selbstbilds sowie internalisierter Probleme wie depressivem Affekt, dessen Prävalenz besonders bei Mädchen in der Pubertät ansteigt, dar (Cairns, McWhiter, Duffy & Barry, 1990). In diesem Prozess scheinen die zentralnervösen Veränderungen der Pubertät eine bedeutende Rolle zu spielen, denn die neuronalen und hormonellen Systeme sind sensitiver gegenüber Stress, den beispielsweise Hänseleien induzieren können (Spear, 2000). Weiterhin scheint die Aufmerksamkeit während der Pubertät gegenüber relevanten Themen (Pubertät, Sexualität, Körper) erhöht zu sein und Informationsverarbeitungsprozesse zu beeinflussen (Miltner, Vorwerk, Weichold & Silbereisen, 2001). Bei den psychischen Wahrnehmungen körperlicher Veränderungen wurde die ethnische Zugehörigkeit als ein Moderator herausgestellt. Hierzu liegt eine Reihe von Studien aus dem US-amerikanischen Raum vor, die multi-ethnische (meist repräsentative) Stichproben untersuchten. Besonders bei weißen Mädchen korreliert ein fortschreitender Pubertätsstatus mit negativen Emotionen wie Depressionen, geringem Selbstwert oder Pubertät und psychosoziale Anpassung 23 somatischen Problemen (Hayward et al., 1999; Ge, Conger & Elder Jr., 2001). Dem gegenüber haben afro-amerikanische Jugendliche während der Pubertät das positivste Körperbild, unabhängig von höherem Selbstwert oder geringerer depressiver Verstimmung (Siegel et al., 1999). Darüber hinaus prädizierte bei weißen Mädchen eine geringe Körperhöhe bzw. bei asiatische Mädchen eine große Körperhöhe Unzufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild während der Pubertät (Robinson et al., 1996). In diesem Sinne scheinen die Konsequenzen körperlicher pubertärer Reife für Körperzufriedenheit und andere internalisierte Probleme dem Schönheitsideal, welches in der jeweiligen Herkunftskultur favorisiert wird, zu entsprechen (Schlankheit in westlichen Kulturen; Cash & Henry, 1995, geringe Körperhöhe bei asiatischer Herkunft; Robinson et al., 1996). Über psychologische Reaktionen von Jungen auf die physischen Veränderungen in der Pubertät weiß man wenig. Angenommen wird, das die Spermarche eine ebenso große Bedeutung für Jungen wie die Menarche für Mädchen besitzt und insgesamt die positiven emotionalen Reaktionen auf dieses Ereignis überwiegen (Brooks-Gunn & Reiter, 1990). Körperliche Reife und männlichere Proportionen, besonders der Zuwachs in Körperhöhe und Muskelmasse, erweckt bei Jungen insgesamt positive Reaktionen (Blyth, Simmons, Bulcroft, Felt, Van Claeve & Bush, 1982; Petersen & Taylor, 1980), begründet in den Vorteilen im Sport und bei sozialen Beziehungen (Silbereisen & Kracke, 1997). Besonders afroamerikanische Jungen berichten während der Pubertät das positivste Körperbild (Siegel et al., 1999). Jugendliche in der Pubertät zeigen vermehrt externalisierende Verhaltensauffälligkeiten. Mittlerweile werden in diesem Zusammenhang Verhaltensweisen wie der Konsum von Alkohol und Drogen oder anderes deviantes, risikoreiches und erlebnisorientiertes Verhalten als typische Verhaltensstile Jugendlicher angesehen (vgl. Moffitt, 1993). Die Besonderheiten in der Struktur und Funktion des Gehirns von Jugendlichen (z.B. Amygdala, Siehe neuronale Veränderungen) und hormoneller Systeme (z.B. das Belohnungssystem betreffend) scheinen zum einen Anstiege in den Prävalenzen externalisierter Verhaltensauffälligkeiten zu begründen (vgl. Spear, 2000). Zum anderen wird externalisiertes Verhalten bei der Mehrheit der Jugendlichen funktional, um einen sozialen Erwachsenenstatus anzuzeigen (Moffitt, 1993), der angesichts immer früherer biologischer Reife und immer später einsetzender sozialer Reife eine sog. Reifelücke überbrücken soll. Substanzkonsum und delinquentes Verhalten sind hier ein Mittel, um sich erwachsen zu fühlen und ist oft verbunden mit der Demonstration eines erwachsenentypischen Lebensstils (z.B. rauchen und trinken) an typischen Freizeitorten wie Diskotheken, Clubs oder Bars Pubertät und psychosoziale Anpassung 24 (Weichold, 2002). Eine Minderheit der Jugendlichen, die schon in der Kindheit massive Anpassungsprobleme (Verhaltens- und Schulprobleme, Delinquenz basierend auf frühen dysfunktionalen Persönlichkeitsmerkmalen) aufweist, wird durch ihr abweichendes Verhalten, das Aufmerksamkeit erregt, zum Rollenmodell (Moffitt, 1993). Bei der Mehrheit der Jugendlichen werden Irritationen und Verhaltensauffälligkeiten während der Pubertät ohne längerfristige Folgen bleiben, weil externalisiertes Verhalten bei Übernahme realer Erwachsenenrollen seine Funktion verliert („maturing out“; Labouvie, 1996). Bei schon früh Auffälligen hingegen treten Problemverhaltensweisen akzentuiert zutage und bestimmen mit einer hohen Kontinuität zukünftiges Verhalten (Caspi & Moffitt, 1991). Zusammenfassend scheinen Jugendliche zumindest kurzfristig einem höheren Risiko für internalisierte und externalisierte Probleme ausgesetzt zu sein. Diese können als Folgen typischer Veränderungen neuronaler und endokriner Systeme während der Pubertät angesehen werden. Darüber hinaus mediieren bzw. moderieren individuelle Persönlichkeitsfaktoren sowie kontextuelle und ethnische/kulturelle Faktoren die psychologischen Folgen körperlicher Entwicklung. Die komplexe Interaktion, die hier mutmaßlich vorliegt, muss jedoch in der empirischen Forschung noch weiter untersucht werden, besonders unter der Integration biologischer Befunde. 3.2 Soziale Aspekte Die Reife des Körpers in der Pubertät ist nicht nur ein privates, sondern auch ein soziales Ereignis, welches vom Jugendlichen eine Neubestimmung der eigenen Rolle in der Gesellschaft erfordert (Alsaker, 1995). Personen in der Umwelt von Pubertierenden (Eltern, Peers, andere Erwachsene) verändern ihr Verhalten und erwarten auch ihrerseits von reifer aussehenden Jugendlichen reiferes Verhalten und übertragen ihnen mehr Verantwortung (Steinberg, 1987). Die fortschreitende körperliche Entwicklung in der Pubertät soll die Umstrukturierung der Eltern-Kind-Beziehung in der Herkunftsfamilie massiv voran treiben (vgl. Steinberg, 1993). Darüber hinaus sollen Entwicklungsfortschritte im kognitiven Bereich (z.B. Perspektivenübernahme; Collins, 1990) sowie Veränderungen in sozialen Rollen hin zu selbstständigem Handeln und der Übernahme von Verantwortung (Steinberg, 1993) Veränderungen in der Beziehung zwischen Eltern und Adoleszenten beeinflussen. Intensivere und häufigere Konflikte in der Familie werden funktional für die Individuation des Jugendlichen (Laursen & Collins, 1994). Der Prozess der Individuation zeichnet sich durch Pubertät und psychosoziale Anpassung 25 wachsende Abgrenzung bzw. Autonomie des Jugendlichen und größeren Einfluss in der Familie aus verbunden mit der Entwicklung eines eigenen Selbstkonzepts. Weiterhin wird die Individuation durch eine gleichbleibende emotionale Nähe zu den Eltern charakterisiert (Youniss & Smollar, 1985). Neue Studien bestätigen jedoch den Anstieg von familiären Konflikten nicht (Laursen, Coy, & Collins, 1998), vielmehr wird davon ausgegangen, dass Familien generell ein höheres Konfliktpotential besitzen, welches nicht exklusiv durch die Pubertät eines oder mehrerer jugendlicher Kinder zu erklären ist. Hinsichtlich qualitativer Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung über die Pubertät bestätigen Befunde den Zuwachs an individuierten Verhaltensweisen seitens der Jugendlichen. Die Eltern haben mit zunehmender Reife des Kindes weniger Einfluss auf deren Verhalten und Meinungen und üben in geringerem Maße Kontrolle aus (z.B. Paikoff & Brooks-Gunn, 1992; Flannery, Rowe & Gulley, 1993; Hofer, Pikowsky, Fleischmann & Spranz-Fogasy, 1993). Die Peergruppe wird im Ablösungsprozeß von der Familie zu einer wichtigen Sozialisationsinstanz (Alsaker, 1995). Freundschaften bieten die Möglichkeit, sich in der anderen Person zu spiegeln und Unterstützung bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben wie der Veränderung des Körpers zu erfahren. Peers spielen eine Rolle in der Normierung der eigenen körperlichen Entwicklung an Altersgleichen: Akzeptanz oder Ablehnung können sich beispielsweise in Hänseleien oder dem individuellen Status in der Peergruppe spiegeln. Generell tendieren Jugendliche eher dazu, sich mit Peers zu umgeben, die ihrem eigenen körperlichen Entwicklungsstand entsprechen (Brooks-Gunn et al., 1986). Besonders bei Mädchen kommt es dann verstärkt dazu, dass körperliche Veränderungen oder Ereignisse der Pubertät (wie die Menarche) unter Freundinnen diskutiert werden (BrooksGunn & Ruble, 1987). Bei Jungen hingegen wird beispielsweise das Eintreten der ersten Ejakulation im Freundeskreis nur sehr selten diskutiert (Gaddis & Brooks-Gunn, 1985). Darüber hinaus evozieren pubertäre biologische Veränderungen ein gesteigertes Interesse in Peers des anderen Geschlechts, in romantische Beziehungen sowie sexuellen Aktivitäten. Inwieweit jedoch eine gesteigerte Produktion von Gonadenhormonen sich auf die sexuelle Aktivität von Pubertierenden auswirkt, ist von sozialen Faktoren (z.B. romantische Beziehungen in der unmittelbaren Peergruppe oder religiöse Orientierung der Herkunftsfamilie) abhängig (z.B. Brooks-Gunn & Furstenberg, 1989). Folglich kann der Freundeskreis während der Pubertät erheblichen Veränderungen unterworfen sein, die zum einen Struktur, den Peerstatus und die geschlechtliche Zusammensetzung betreffen, zum anderen die Interaktionen und Gesprächsthemen unter Peers. Auf heterosexuelle Kontakte Pubertät und psychosoziale Anpassung 26 ausgerichtete Beziehungen können wiederum die sexuelle Aktivität von Jugendlichen stimulieren. 4 Konsequenzen von Variationen im Tempo der körperlichen Entwicklung in der Pubertät 4.1 Theoretische Modellvorstellungen Wie ausgeführt sind während der Pubertät bzw. eingangs der Adoleszenz zwischen Jugendlichen gleichen chronologischen Alters erhebliche Variationen im Stand der körperlichen Entwicklung zu beobachten. Einige Jugendliche entsprechen in ihrem Aussehen noch eher dem eines Kindes, andere erscheinen körperlich erwachsen, trotzdem sie gleich alt sind. Da tägliche Interaktionen durch das wahrgenommene Alter des Gegenübers beeinflusst werden, mögen Erwartungen und Verhalten gegenüber Jugendlichen oft inadäquat sein, indem Jugendliche unter- oder überfordert durch eine Behandlung als Kind bzw. als Erwachsener werden. Dies wiederum mag in altersunangemessenes Verhalten oder emotionale Probleme bei Jugendlichen münden. Wie sich interindividuelle Unterschiede im Entwicklungstempo auf die psychosoziale Anpassung Jugendlicher auswirken, ist Gegenstand vorliegender theoretischer Modelle. Empirische Befunde zu kurz- und längerfristigen Konsequenzen für Jungen und Mädchen werden im folgenden genutzt, um Aussagen über die Gültigkeit dieser Modelle zu treffen. Hinsichtlich der Konsequenzen der Abweichungen vom normativen Entwicklungstempo werden in der Forschungsliteratur verschiedene theoretische Modelle diskutiert. Diese Ansätze spezifizieren potentielle Mediatoren für die Beziehung zwischen pubertärem Entwicklungstempo und Anpassungsproblemen, die der Komplexität der Vermittlungsprozesse zwischen Entwicklungstempo und Verhalten gerecht werden. In den letzten Jahrzehnten wurden zwei Hypothesen verfolgt (vgl. Brooks-Gunn, Petersen, & Eichhorn, 1985). Die Abweichungshypothese (Deviance Hypothesis; Petersen & Crockett, 1985; Alsaker, 1995) geht davon aus, dass Jugendliche mit beschleunigter oder verzögerter Reife gleichermaßen per se als „Abweichende“ von der Mehrheit ihres sozialen Umfelds angesehen werden, was mit psychosozialen Anpassungsproblemen (z.B. negatives Körperkonzept) verbunden sein soll. In der Entwicklungsschluss-Hypothese (Stage Termination Hypothesis, Graber, Petersen & Brooks-Gunn, 1996; Petersen & Taylor, 1980) wird besonders Jugendlichen mit beschleunigter körperlicher Reife ein ausgeprägtes Risiko Pubertät und psychosoziale Anpassung 27 für psychosoziale Anpassungsprobleme zugeschrieben. Dies soll an einem noch mangelnden intellektuellen und emotionalen Entwicklungsstand (der beispielsweise aus noch nicht abgeschlossener Reife des Gehirns resultiert) liegen, der es Jugendlichen erschwert, dem von der Umwelt unterstellten Erwachsenenstatus gerecht zu werden. Damit sollen Jugendliche mit beschleunigter körperlicher Reife insgesamt schlechter vorbereitet sein als andere Gleichaltrige, um anstehende Entwicklungsaufgaben effektiv zu lösen. Beide Hypothesen scheinen jedoch nicht völlig geeignet, um die komplexen Zusammenhänge der Auswirkungen von Unterschieden im körperlichen Entwicklungstempo auf die psychosoziale Anpassung bei Jugendlichen zu reflektieren. Man weiss z. B., dass sich zwischen ethnischen Gruppen die Grenzen für Variationen akzeptabler Abweichungen unterscheiden (Lerner, 1985) oder Mädchen stärker mit normativen Erwartungen hinsichtlich ihrer psychosexuellen Entwicklung konfrontiert sind als Jungen (Zakin, Blyth, & Simmons, 1984). Beide Modellvorstellungen scheinen darüber hinaus eher für unterschiedliche Verhaltensweisen Jugendlicher zu gelten. Beispielsweise wurde bei vergleichenden Bewertungen beider Hypothesen gezeigt, dass sich Jugendliche mit beschleunigter körperlicher Reife mit älteren Peers assoziieren und in diesem Peerkontext Verhalten ausüben, das für ihr Alter inadäquat ist (z.B. Substanzkonsum; Stattin & Magnusson, 1990). Somit scheint die Entwicklungsschluß-Hypothese eher die Mechanismen zu reflektieren, die zu externalisierten Problemen führen. Silbereisen und Kracke (1997) zeigen dem gegenüber, dass die Abweichungs-Hypothese eher für die Erklärung internalisierter Probleme zutrifft. Mädchen mit früher und später Reife waren ihren Befunden zufolge emotional irritiert und wurden gehänselt, was wiederum mit negativer Gestimmtheit einhergehen kann (Silbereisen & Kracke, 1997). In den letzten Jahren haben neben diesen Hypothesen komplexere Modelle Beachtung gefunden, vor allem das von Brooks-Gunn, Graber und Paikoff (1994). Hier wird der Einfluss sozialer Erfahrungen explizit gemacht und durch verschiedene Aspekte (z.B. neuroendokrine Variablen) ergänzt. Angenommen wird ein Wechselspiel zwischen hormonellen und körperlichen Veränderungen mit sozialen Erfahrungen und Geschehnissen bzw. zentralnervösen Aspekten von Verhalten und Emotionen zur Erklärung von Problemverhalten postuliert. Brooks-Gunn und Mitarbeiter nehmen an, dass die Beziehung zwischen pubertären und sozialen Ereignissen sowie psychosozialer Anpassung über biologische Variablen vermittelt wird und auch diese von sozialen Geschehnissen bzw. Verhaltensweisen des Jugendlichen beeinflusst werden können. Pubertät und psychosoziale Anpassung 28 Zentralnervöse Aspekte von Verhalten/Emot. Hormonelle Veränderungen Externalisiertes/ Internalisiertes Problemverhalten Sekundäre Geschlechtscharakteristika Soziale Erfahrungen Biopychosoziales Modell der Entwicklung von Problemverhalten während der Abb.2: Pubertät (nach Brooks-Gunn, Graber, and Paikoff, 1994) Im Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (vgl. Abb. 2) werden drei Mediationsprozesse angenommen, durch welche hormonelle Veränderungen während der Pubertät Einfluss auf Emotionen und Verhalten (internalisiertes oder externalisiertes Problemverhalten) nehmen. Zum einen verbindet der Zeitpunkt der sekundären Geschlechtsreife hormonelle Veränderungen und Problemverhalten (z. B. hormonell bedingte Veränderungen der Körperproportionen resultieren in einem negativen Körperkonzept). Zum anderen sollen soziale Erfahrungen, die durch die fortschreitende Reife äußerer Geschlechtscharakteristika beeinflusst werden (z. B. Hänselei aufgrund früh eintretender Körperveränderungen), ein Vermittler zwischen Hormonen und Problemverhalten sein. Dabei wird auch ein Effekt sozialer Erfahrungen auf hormonelle Veränderungen angenommen. Als dritter Mediator zwischen Hormonen und Verhaltensproblemen werden zentralnervöse Aspekte von Verhalten und Emotionen angenommen. Auch hier wird jeweils von bidirektionalen Effekten ausgegangen (d.h. Problemverhaltensweisen können neuronale und endokrine Funktionen verändern). Das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern ist auch heute noch in der Pubertätsforschung modern und wurde in seiner Komplexität der Erklärung der Effekte von Pubertät und psychosoziale Anpassung 29 Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo von keinem anderen Modell abgelöst. Im folgenden soll das Modell als ein Referenzpunkt gelten, um die Forschungsbefunde zu Konsequenzen von Unterschieden im Entwicklungstempo und entsprechende mögliche Erklärungsmechanismen einzuordnen. 4.2 Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo während der Adoleszenz Eine Vielzahl von Studien hat sich mit den Konsequenzen abweichenden Entwicklungstempos für eine Vielzahl von Aspekten psychosozialer Anpassung bei Jugendlichen beschäftigt (für Reviews z.B.: Connolly, Paikoff, & Buchanan, 1999; Weichold, Silbereisen, & Schmitt-Rodermund, in press; Silbereisen & Kracke, 1997). Im folgenden sollen die wichtigsten Befunde unter der Berücksichtigung von Geschlechtsspezifika zusammengefasst werden. Dabei sollen die Ergebnisse von Studien auf das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern bezogen und somit dessen Gültigkeit untersucht werden. Bei Mädchen wurde frühe Reife in der Pubertät mit reiferem Verhalten in Familieninteraktionen anhand von Beobachtungsstudien wie größerem Einfluss in der Familie, mehr selbstsicherem Verhalten oder dem aktiven Aushandeln von Kompromissen (Hauser et al., 1985; Weichold, Silbereisen, Schmitt-Rodermund, Vorwerk & Miltner, in press) in Zusammenhang gebracht. Diese Verhaltensweisen indizieren Fortschritte in der Individuation verglichen mit anderen Altersgleichen. Besonders die Eltern frühreifer Mädchen begegnen den Autonomiebestrebungen ihrer Kinder jedoch mit Restriktion, d.h. die Aktivitäten der Mädchen werden stärker überwacht (Ruiselova, 1998), und Konflikte nehmen zu (Steinberg, 1988). Darüber hinaus verfügen Mädchen mit früher Reife häufiger über Kontakte zu älteren, devianten Peers (Magnusson, Stattin & Allen, 1985; Stattin & Magnusson, 1990) verglichen mit Gleichaltrigen mit normativer oder verzögerter Reife. Der Kontakt zu älteren Peers führt dazu, dass früh reifende Jugendliche verstärkt Möglichkeiten für die Altersnorm verletzende Verhaltensweisen (Alkohol- und Drogenkonsum, Delinquenz) ausgesetzt sind, beispielsweise an öffentlichen Trinkorten wie Diskotheken oder Clubs. Mädchen und Jungen mit früher pubertärer Reife konsumieren früher Alkohol oder Drogen und sind delinquenter als Altersgleiche (Magnusson et al., 1985; Aro & Taipale, 1987; Graber et al., 1997), besonders dann, wenn sie schon in der Kindheit Anpassungsprobleme hatten (Caspi & Moffitt, 1991) und einem Kontext mit entsprechenden Rollenmodellen ausgesetzt sind (z.B. gemischt- Pubertät und psychosoziale Anpassung 30 geschlechtige Schulen Caspi, 1995). Darüber hinaus berichten Mädchen mit früher pubertärer Reife häufiger romantische Beziehungen und sexuelles Interesse als andere Mädchen gleichen Alters (Silbereisen, Kracke, & Nowack, 1992). Studien haben versucht, potentielle Mediatoren der Beziehung zwischen früher körperlicher Reife und sexuellen Kontakten zu identifizieren. Hier zeigte sich, dass die Konzentrationen adrenerger Androgene und Testosteron einen Einfluss auf sexuelle Aktivität bei Mädchen mit früher Reife haben (Udry et al., 1985; Tucker-Halpern, Udry, & Suchindrian, 1997). Neben hormonellen Mechanismen sind auch soziale Erfahrungen im Peerkontext bedeutsam für die Erklärung früher sexueller Kontakte bei Mädchen mit früher körperlicher Reife (älterer Freund, sexuell erfahrene Freundinnen; Stattin & Magnusson, 1990; Billy & Udry, 1985). Jungen mit früher pubertärer Reife haben besonders zu Beginn der Adoleszenz häufigere Kontakte mit älteren bzw. devianten Peers (Silbereisen & Kracke, 1997). Auch sie berichten frühere sexuelle Kontakte verglichen mit ihren Altersgenossen (Silbereisen et al., 1992). Erklärt wird dieser Zusammenhang durch hohe Testosteron-Konzentrationen, die entweder direkt sexuell motivieren (Udry et al., 1985) oder vermittelt über die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Tucker-Halpern et al., 1993) sowie das sexuelle Verhalten der Freunde (Smith et al., 1985) zu frühem Geschlechtsverkehr führen. Mädchen mit früher Reife zeigen neben externalisierten auch verstärkt internalisierte Auffälligkeiten. Quer- und längsschnittliche Studien zeigen, dass Mädchen mit früher Reife ein negativeres Körperkonzept, geringeren Selbstwert (Williams & Currie, 2000), eher Essprobleme (Davies & Furnham, 1986; Wichstrom, 1995; Koff & Rierdan, 1993) haben und verstärkt zu negativem Affekt neigen (z.B. Petersen & Crockett, 1985; Ge, Best, Conger & Simons, 1996; Tschann et al., 1994) verglichen mit anderen Gleichaltrigen. Erklärt werden diese Zusammenhänge durch den Einfluss hormoneller Veränderungen, insofern, dass hohe Konzentrationen von Testosteron, follikelstimulierenden Hormonen und dem Stresshormon Cortisol negative Stimmungen induzieren (Susman et al., 1991; Buchanan et al., 1992). Weiterhin erklärt die Unzufriedenheit mit dem eigenen (dick erscheinendem) Körper depressive Verstimmungen bei frühreifenden Mädchen (z.B. Rosenblum & Lewis, 1999). In Studien, die sowohl Indikatoren für körperliche Entwicklung (z.B. BMI) als auch psychologische Messungen des Körpergefühls nutzen, um depressive Verstimmung bei Mädchen mit früher Reife vorher zu sagen, wurde deutlich, dass die subjektive Unzufriedenheit, nicht aber der realistische Anteil des Körperfetts, der primäre Prädiktor ist (Stice, Hayward, Cameron, Killen & Taylor, 2000). Anhand längsschnittlicher Daten wurde außerdem deutlich, dass depressive Verstimmungen besonders schwerwiegend bei den Pubertät und psychosoziale Anpassung 31 Mädchen auftreten, die früh körperlich reifen und schon vor der Pubertät internalisierende Symptome zeigten (Hayward, Killen, Wilson, & Hammer, 1997). Für Jungen zeigt sich ein anderes Bild. Hier steht eine verzögerte pubertäre Reife verglichen mit Altersgleichen in Zusammenhang mit einem negativem Körperkonzept (Silbereisen & Kracke, 1997). Jungen mit später körperlicher Reife haben im Peerkontext negative Erlebnisse (werden gehänselt), sind mit sich wenig zufrieden und hoffen auf bald eintretendes Wachstum (Kracke, 1993). Überraschenderweise zeigen Forschungsbefunde jedoch, dass nicht Jungen mit verzögerter sondern die mit früher Reife trotz eines positiven Körperkonzepts (Blyth et al., 1982; Silbereisen & Kracke, 1997; o`Dea & Abraham, 1999) zu depressiven Verstimmungen (Nottelmann et al., 1987; Ge et al., 2001) neigen. Dies wird erklärt durch eine durch die frühen und schnellen hormonellen Veränderungen bedingte Vulnerabilität für Probleme im Umgang mit stressreichen Lebensereignissen. Längsschnittliche Befunde zeigen, dass sowohl frühere depressive Gestimmtheit als auch stressreiche Lebensereignisse negativen Affekt bei frühpubertierenden Jungen vorher sagt (Ge et al., 2001). Außerdem sind Jungen mit früher Reife, analog zu den Mädchen, in ältere Peergruppen involviert (Silbereisen & Kracke, 1997) und haben früher romantische Beziehungen (Susman et al., 1987; Udry et al., 1985), was ein darüber hinaus erhöhtes Risiko für externalisiertes Problemverhalten (Alkohol, Drogen, Delinquenz; Tschann et al., 1994; Kracke, 1993) erklärt. Bei Jungen, im Gegensatz zu Mädchen, konnte anhand längsschnittlicher Untersuchungen nur geringe Effekte des pubertären Entwicklungstempos auf die psychosoziale Anpassung im Erwachsenenalter gezeigt werden, die sich auf Substanzkonsum begrenzen. Männer, die während der Pubertät spät reiften, konsumieren exzessiver Alkohol und berichten größere alkoholbezogene Probleme, was als eine verfestigte Kompensationsstrategie für geringen Peerstatus interpretiert wird (Andersson & Magnusson, 1990). Bezugnehmend auf das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (Abb. 2) zeigt sich, dass die bisherige Forschung zur Erklärung von Anpassungsproblemen bei Pubertierenden auf das Zusammenspiel sexueller Geschlechtsmerkmale und sozialer Erfahrungen fokussierte (meist durch die Untersuchung bivariater Zusammenhänge bzw. Mediationsmodelle), jedoch kaum die Interaktion mit hormonellen und insbesondere zentralnervösen Prozessen berücksichtigt. Vor dem Hintergrund, dass das Gehirn während der Pubertät Veränderungen unterworfen ist, die funktionale Relevanz zur Erklärung jugendlichen Problemverhaltens besitzen (vgl. Spear, 2000), sollten zukünftige Studien untersuchen, biologische Indikatoren einzubeziehen. Bislang liegt insgesamt zu wenig empirische Evidenz Pubertät und psychosoziale Anpassung 32 für die komplexen kausalen Mechanismen vor, die die Effekte des pubertären Entwicklungstempos auf die psychosoziale Anpassung während der Adoleszenz erklären. Hormonelle Veränderungen vermittelt über zentralnervöse Besonderheiten (z.B. Verarbeitung von Informationen sowie Aktivierungen im Gehirn) können typische Verhaltensweisen von Jugendlichen mit früher und später Reife durch eine besondere Sensitivität für soziale Rollenmodelle erklären (vgl. Abb. 2). Miltner und Mitarbeiter (2001) zeigen anhand von EEG-Daten, dass Mädchen mit früher Reife und verzögerter Reife sensitiver gegenüber pubertätsrelevanten Informationen sind (reflektiert in der neuronalen Aktivierung im präfrontalen Kortex). Bei Mädchen mit früher Reife reflektierten die Aktivierungen Interesse, bei Mädchen mit verzögerter Reife hingegen Scham und Rückzug. Obwohl diese Befunde auf einer kleinen Stichprobe mit querschnittlicher Datenerhebung basieren, geben sie doch erste Hinweise für eine bestehende Beziehung zwischen sozialen Erfahrungen, der Funktion des Gehirns und Informationsverarbeitungsprozessen bei Jugendlichen mit nicht-normativem Entwicklungstempo. Weitere Beispiele für (insgesamt seltene) längsschnittliche Studien zu Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo während der Adoleszenz vor einem biopsychosozialen Forschungshintergrund sollen im folgenden genannt werden. Die erste ist eine Studie von Udry (z.B. Halpern, Udry, Campbell, & Suchindrian, 1993; Udry et al., 1985), die endokrine und psychische Messungen sowie psychosoziale Daten über drei Jahren zur Analyse der Entwicklung des Sexualverhaltens männlicher Jugendlicher nutzt. Im Rahmen dieser Studie konnte beispielsweise gezeigt werden, dass ein Anstieg in den Testosteronkonzentrationen zwar sexuelle Aktivität direkt fördert, jedoch für das Erleben des ersten Geschlechtsverkehrs soziale Variablen einen größeren Einfluß besitzen. Eine zweite Studie von Susman und Mitarbeitern (z.B. Susman et al., 1991) untersuchte (ebenfalls längsschnittlich), inwieweit hormonelle Veränderungen während der Pubertät die emotionale Befindlichkeit bei Jungen und Mädchen beeinflußt. Bemerkenswert ist an dieser Studie, daß über die primären Geschlechtshormone hinaus über mehrere Meßpunkte die Blutserumkonzentrationen vielfältiger Hormone, die mit körperlicher Entwicklung in Verbindung stehen, ermittelt wurden. Das dritte Beispiel stammt aus der kanadischen Forschungsgruppe um Tremblay. Er untersucht Entwicklungspfade zu aggressivem Verhalten im Längsschnitt über Kindheit und Jugendalter und berichtet Befunde basierend auf hormonellen und psychologischen Messungen sowie der Analyse von Interaktionen in der Peergruppe. Beispielsweise konnte hier gezeigt werden, dass Jungen, die in der Kindheit (6.12. Lebensjahr) aggressiv waren, in der Pubertät höhere Testosteron-Konzentrationen haben, Pubertät und psychosoziale Anpassung 33 jedoch nur dann, wenn sie innerhalb ihrer Peergruppe einen hohen sozialen Status innehaben. Geringere Testosteronkonzentrationen bei in der Kindheit aggressiven Jugendlichen stehen dem gegenüber mit sozialer Ablehnung in Beziehung. Diese Befunde zeigen, dass die Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Achse zur Produktion von Gonadenhormonen während der frühen Adoleszenz durch frühe Verhaltensauffälligkeiten und kontextuelle Merkmale moduliert werden kann (vgl. Tremblay, Schaal, Boulerice, Arseneault, Soussignan, & Perusse, 1997). Bei den meisten Studien zur Beziehung zwischen hormonellen Veränderungen und Verhaltensproblemen bei Pubertierenden wurden jedoch kaum Rückkoppelungen von Verhalten auf neuronale oder endokrine Prozesse einbezogen. Diese Wechselwirkungen sind klar belegt, z.B. bei Leistungssportlerinnen, werden jedoch im Rahmen interdisziplinärer Studien nur äußerst selten konkurrierend gegenüber den Effekten sozialer Beziehungen oder Erfahrungen getestet. 4.3 Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo im Erwachsenenalter Die empirische Forschung zu Konsequenzen von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo ist dominiert von Querschnittstudien bzw. nur über wenige Jahre angelegte Längsschnittstudien, die die Adoleszenz abdecken (z.B. Studien der Forschungsgruppen um Wichstrom, Ge, Hayward, oder Susman). Nur einzelne prospektive Längsschnittstudien ermöglichen, die Folgen von Unterschieden im körperlichen Entwicklungstempo während der Pubertät für das Erwachsenenalter abzuschätzen. Die bedeutendste dieser Studien von Magnusson (vgl. Stattin & Magnusson, 1990) folgte 100.000 norwegischen Schülern vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. Stattin und Magnusson konnten zeigen, dass besonders eine sehr frühe pubertäre Reife (z.B. Menarche vor dem 11. Lebensjahr) mit einer negativeren Prognose für gelungene psychosoziale Anpassung im späteren Leben verbunden ist. Frauen, die in der Pubertät sehr früh reiften, waren weniger erfolgreich im Berufsleben und formierten früher eigene Familien durch Mutterschaft oder Heirat. Diese Effekte werden erklärt durch frühe Kontakte zu älteren männlichen Peers, die ihrerseits schon arbeiten und normabweichendes Verhalten zeigen. Durch frühe romantische Beziehungen und frühe Mutterschaft haben Frühreife weniger Zeit und Motivation, in ihre Bildung zu investieren und sind somit längerfristig weniger erfolgreich im Berufsleben als andere Mädchen. Außerdem waren Frauen mit früher Reife häufiger als andere Altergleiche Pubertät und psychosoziale Anpassung 34 in offiziellen Registern zu krimineller Auffälligkeit vertreten (Stattin & Magnusson, 1990; Magnusson et al., 1985). Bei Jungen hingegen begrenzten sich die längerfristigen Effekte von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo auf exzessiven Alkoholkonsum und damit verbundene Probleme im Erwachsenenalter. Männer, die während der Adoleszenz später als die Mehrheit körperlich reiften, hatten häufiger Alkoholprobleme als andere Gleichaltrige, was eine Verfestigung von Verhaltensweisen reflektieren soll, die im Jugendalter funktional waren, um den geringen Status unter Peers zu kompensieren (Andersson & Magnusson, 1990). Eine australische Längsschnittstudie untersuchte fast 6000 weibliche Zwillinge und analysierte u.a. den Effekt von Unterschieden im pubertären Entwicklungstempo auf das Eintreten der Menopause. Ein Prädiktor für das frühe Eintreten der Menopause war eine (retrospektiv berichtete) späte Menarche, d.h. bei Frauen mit später körperlicher Reife während der Pubertät ist die reproduktive Phase im späteren Leben am kürzesten, bei ehemals Frühpubertierenden am längsten (Do et al., 1998). Weiterhin wurden die Längschnittdaten der Oakland Growh Study von Jones und Mussen genutzt, um Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen zwischen früh und spät reifenden Jugendlichen im Erwachsenenalter zu analysieren (z.B. Mussen & Jones, 1958). Das Studiendesign wurde von Livson und Peskin anhand der Reanalyse von Daten der Berkeley Guidance Study repliziert (z.B. Livson & Peskin, 1980). Peskin zeigte, dass Frauen mit einer frühen pubertären Reife im Alter von 30 Jahren verantwortungsvoll, produktiv und zielgerichtet waren verbunden mit einer emotionalen Stabilität und Integrität. Dem gegenüber zeigten Frauen mit verzögerter Reife während der Pubertät eine geringere psychologische Integrität im Erwachsenenalter, d.h. sie waren weniger frustrationstolerant bzw. weniger emotional stabil. Nach den Autoren sollen die vielfältigen Anpassungsprobleme während der Adoleszenz bei frühreifen Bewältigungsstrategien Mädchen gefördert längerfristig haben, die die Entwicklung wiederum die effektiver weitere Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflusst hat (Peskin, 1973). Für Jungen konnte gezeigt werden, dass auch im Erwachsenenalter ehemals früh Pubertierende einen hohen sozialen Status inne haben. Sie werden als verantwortungsvoll, soziabel und selbst-kontrolliert, aber auch als rigide, humorlos und konformistisch beschrieben. Männer mit einer späten Reife während der Pubertät waren dem gegenüber im Alter von 30 Jahren impulsiv, selbstsicher, emotional stabil und offen für Erfahrungen (Livson & Peskin, 1980). Ähnliche Befunde wurden 1984 von Ewert anhand einer deutschen Stichprobe berichtet. Hier waren männliche Pubertät und psychosoziale Anpassung 35 Jugendliche mit später pubertärer Reife im Alter von 18 dominanter in sozialen Interaktionen, verantwortungsvoller und sensibler als ihre Altersgenossen mit frühem Entwicklungstempo. Zusammenfassend haben Unterschiede im Tempo der körperlichen Entwicklung während der frühen Adoleszenz auch Konsequenzen für die psychosoziale Anpassung, das Familien- und Berufsleben, Reproduktion sowie die Persönlichkeitsentwicklung im Erwachsenenalter. Besonders bei Mädchen scheint eine frühe Reife den Entwicklungsweg über die Adoleszenz hinaus zu beeinflussen. Über umfassende biopsychosoziale Mechanismen der Vermittlung dieser Effekte weiß man jedoch bislang wenig. Auch beziehen sich die vorliegenden Befunde meist auf Datensätze, die vor Jahrzehnten erhoben wurden, und es liegen keine Studien vor, die Konsequenzen über die dritte Lebensdekade hinaus systematisch untersucht haben. Folglich besteht hier massiver Bedarf an entsprechenden Forschungsprojekten. 5 Ausblick: Schlussfolgerungen für zukünftige Forschung Der Ausblick konzentriert sich auf zwei Punkte: Zum einen sollen resultierend aus einem Abgleich von Modellvorstellungen und bisherigen Forschungen Schlussfolgerungen für zukünftige Unternehmungen und Ziele in der Pubertätsforschung gezogen werden. Zum anderen werden Hinweise für Prävention abgeleitet. Das Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (1994) (aus der Forschung zu sexueller Entwicklung während der Adoleszenz) bietet ein heuristisches Modell des Zusammenspiels zwischen hormonellen und zentralnervösen Veränderungen, Sozialverhalten und Persönlichkeit zur Erklärung von Problemverhalten in der Pubertät und Adoleszenz. Die Überprüfung der vollständigen Validität des komplexen Modells ist bisher nicht erfolgt, vielmehr liegt eine Sammlung an Mosaiksteinen vor, die Beziehungen und Wechselwirkungen innerhalb der Modellvorstellungen repräsentieren können. Fehlstellen finden sich beispielsweise im Einbeziehen zentral- und autonom-nervöser Aspekte von Verhalten und Emotionen, obwohl neuste Forschungsbefunde bestätigen, dass altersspezifische Veränderungen in kortikalen Strukturen und neuronalen Systemen mit für Jugendlichen typischen Verhaltensweisen (z.B. risikoreiches Handeln, wie der Missbrauch von psychoaktiven Substanzen) in Beziehung stehen. Hormonelle Veränderungen (insbesondere der Einfluss von Gonadenhormonen auf Verhalten), die in aktuelle Forschungsprojekte einbezogen wurden, zeigten dem gegenüber nur geringe Effekte auf das Verhalten Jugendlicher (vgl. Spear, 2000). Letztlich sollte im Modell eine bidirektionale Pubertät und psychosoziale Anpassung 36 Beziehung zwischen Hormonen und zentralnervösen Aspekten bei Jugendlichen angenommen werden, denn beide Systeme interagieren und modulieren z.B. motivationale Zustände. Ziel ist es, die Modellvorstellungen formuliert vor unterschiedlichen forschungstraditionellem Hintergrund und empirische Befunde zusammenzubringen. Die Integration unterschiedlicher Forschungsrichtungen scheint insbesondere bedeutsam vor dem Hintergrund der Dissoziation von somatischer, intellektueller und sozio-emotionaler Entwicklung während der Pubertät. Sekulare Akzeleration, wie sie in den letzten Jahrzehnten für die Geschlechtsreife zu beobachten war, betrifft nicht die kognitive und emotionale Entwicklung. Diese unterschiedlichen Entwicklungsstände in verschiedenen Domänen mögen insbesondere Anpassungsprobleme bedingen (z.B. basierend auf Überforderung durch die Umwelt). Hier besteht eindeutiger Forschungsbedarf für die kommenden Jahre. Modelle zu den Effekten fortschreitender körperlicher Reife oder Variationen im Entwicklungstempo fokussieren ausschließlich auf Problemverhaltensweisen, kaum aber auf normative/positive Entwicklungsergebnisse in der Pubertät (z.B. Autonomie oder Individuation), obwohl der aktuelle Trend in der Psychologie die Erforschung positiver Aspekte von Verhalten und Entwicklung anstrebt (vgl. Seligman & Csikszentmihalyi, 2000). Deshalb sollte zukünftige Forschung einerseits prüfen, inwieweit die beschrieben Modelle auch für positive Entwicklungsergebnisse gültig sind, oder aber andere Mechanismen angenommen werden sollten. Andererseits sollte untersucht werden, in welchen Entwicklungsdomänen sich Jugendliche abweichenden Entwicklungstempos sich von der Mehrheit unterscheiden und in welcher Beziehung die einzelnen Verhaltensaspekte stehen. Darüber hinaus gibt es kein umfassendes biopsychosoziales Modell, mit dem sowohl Ursachen als auch Konsequenzen von Variationen im Zeitpunkt der körperlichen Entwicklung während der Pubertät erklärt werden. Auch hier besteht dringender Bedarf zur Entwicklung und empirischen Überprüfung eines umfassenden Modells, das über die Vorstellungen von Brooks-Gunn und Mitarbeitern (1994) hinausgeht. Beispielsweise wäre es sinnvoll, psychosoziale, evolutionstheoretisch basierte (Belsky et al., 1991), genetische (Comings et al., 2002) und neuroendokrine Modellvorstellungen zur Ursachen von Unterschieden im Zeitpunkt der körperlichen Reife dem Modell von Brooks-Gunn und Mitarbeitern voran zu stellen und somit Vorstellungen über konkrete Entwicklungspfade zu sammeln. Diese sollten dann an einer längsschnittlichen Stichprobe getestet werden. Hinsichtlich der Prävention von Problemen resultierend aus den biologischem Veränderungen in der Pubertät erscheinen drei Aspekte von besonderer Bedeutung. Erstens ist es wichtig, dass die Normalität sowohl körperlicher Veränderungen im allgemeinen (z.B. Pubertät und psychosoziale Anpassung 37 verbunden mit typischen Veränderungen im Anteil des Körperfetts oder Berücksichtigung der Besonderheiten kortikaler Verarbeitungsprozesse von Reizen bei Adoleszenten) als auch der großen Variation im Zeitpunkt des Auftreten dieser Veränderungen zu betonen. Hier könnten neue Schwerpunkte in der Sexualerziehung im Schulunterricht oder wissenschaftlich fundierte medial verbreitete Informationen für Jugendliche und ihre Eltern hilfreich sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Information und Aufklärung zu einem frühen Zeitpunkt durchgeführt wird, sodass Jugendliche mit frühem Entwicklungstempo nicht unvorbereitet den körperlichen Veränderungen gegenüberstehen und ihre Entwicklung als abnormal erleben. Im übrigen hat sich bei der Implementation von Programmen zu umfassender Sexualerziehung gezeigt, dass frühes Wissen über sexuelle und körperliche Entwicklung in der Pubertät das Wissen bei Jugendlichen erhöht, ohne das Alter des ersten Geschlechtsverkehrs herabzusetzen (Hofferth & Hayes, 1987). Zweitens scheint es wichtig, dass Informationen verbreitet werden darüber, dass pubertäre Veränderungen bei einigen Jugendlichen zu psychosozialen Problemen wie depressiver Verstimmung, geringem Selbstwert oder Essproblemen führen kann. Präventiv könnten besonders für Mädchen Ernährungsberatungen stattfinden sowie generell in Familien und Schulen eine größere Screening-Awareness für schwerwiegendere Probleme aufgebaut werden, die effektive Interventionen einleiten. Interventionen scheinen besonders nützlich, wenn sie an den bekannten Einflußfaktoren ansetzen, die psychosoziale Problemen während der Pubertät bedingen. Es liegen erste Trainingsprogramme vor, die Mädchen vor der Pubertät vermitteln, mit irrationalem Denken umzugehen (Haldeman & Baker, 1992). Solche Trainings könnte besonders hilfreich sein bei der Prävention depressiver Gefühle während der Pubertät (und insbesondere bei Mädchen mit früher pubertärer Reife), indem gegen ein irrational negatives Körperkonzept (welches sich als primärer Prädiktor für Depression bei pubertierenden Mädchen herausgestellt hat; vgl. Stice et al., 2000) angegangen wird. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass auch Hormontherapien beispielsweise bei Jungen und Mädchen mit stark verzögerter körperlicher Reife, sich positiv auf das psychische Befinden auswirken (z.B. bezogen auf Selbstkonzept; Schwab et al., 2001). 6 Literaturverzeichnis Alsaker, F. (1995). Timing of puberty and reactions to pubertal changes. In M. Rutter (Hrsg.), Psychosocial disturbances in young people: Challenges for prevention (S. 37-67). Cambridge: Cambridge University Press. 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