Soziale Probleme, Gewalt- und Jugenddelinquenz in der Stadt

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Erschienen in: Hans-Jörg Albrecht (Hg.), Forschungen zu Kriminalität
und Kriminalitätskontrolle am Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht Freiburg i.Br., Freiburg: edition iuscrim
1999, 403-419.
Soziale Probleme, Gewalt- und
Jugenddelinquenz in der Stadt
Ansätze einer sozialökologischen Forschung
DIETRICH OBERWITTLER
Raumbezogene Analysen von abweichendem Verhalten und Kriminalität
gehören zu den ältesten Forschungsansätzen der Kriminologie überhaupt.
Die Moralstatistiker des 19. Jahrhunderts nutzten die Verfügbarkeit entsprechender nach Verwaltungsbezirken gegliederter Statistiken, um regionale Verteilungen bestimmter Verhaltensformen wie uneheliche Geburten,
Selbstmord oder Kriminalität mit sozio-ökomomischen Variablen in Beziehung zu setzen.1 Auch wenn diese Forschungstradition bis heute fortgesetzt
wird2 – nicht zuletzt wegen der leichten Verfügbarkeit und den geringen
Kosten der erforderlichen Daten – so ist die Bedeutung von Aggregatda1
MAYR, G.V.: Moralstatistik mit Einschluß der Kriminalstatistik (Statistik und Gesellschaftslehre Bd.3), Tübingen 1917.
2
FRIEDRICHS, J.: Kriminalität und sozio-ökonomische Struktur von Großstädten. Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), 50-63. KOVANDZIC, T.V.; VIERAITIS, L.M.; YEISLEY,
M.R.: The Structural Covariates of Urban Homicide: Reassessing the Impact of Income
Inequality and Poverty in the Post-Reagan Era. Criminology 36 (1998), 569. LAND,
K.C.; MCCALL, P.L.; COHEN, L.E.: Structural Covariates of Homicide Rates: Are There
Any Invariances Across Time and Space. American Journal of Sociology 95 (1990),
922-963. OHLEMACHER, T.: Eine ökologische Regressionsanalyse von Kriminalitätsziffern und Armutsraten. Fehlschluß par excellence? Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie (1995), 706-726. PFEIFFER, C.; BRETTFELD, K.; DELZER, I.: Kriminalität in Niedersachsen - 1985 bis 1996. Eine Analyse auf der Basis der Polizeilichen
Kriminalstatistik. Hannover 1997.
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DIETRICH OBERWITTLER
tenanalysen doch längst hinter die Dominanz der auf individuelle Beeinflussungsfaktoren von Delinquenz konzentrierten Umfrageforschung zurückgetreten. Das gilt eingeschränkt auch für die Analyse innerstädtischer
Kriminalitätsverteilungen, die in den 1920er Jahren von der ChicagoSchool entwickelt worden war und in Deutschland unter dem Begriff der
Kriminalgeographie vor allem in den den 60er und 70er Jahren eine gewisse Bedeutung erlangte.3 Seitdem haben sozialökologische, d.h. genuin
raumbezogene Fragestellungen und Forschungen in der Kriminologie an
Bedeutung verloren und spielten lange Zeit nur noch eine untergeordnete
Rolle.
In den letzten Jahren scheint sich dieser Trend jedoch zumindest in der
angelsächsischen Kriminologie umgekehrt zu haben, und die Versuche, die
Forschung über individuelle und sozialökologische Aspekte der Delinquenzverursachung zu integrieren, werden zahlreicher4. Gleichzeitig erhalten raumbezogene Fragestellungen in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion über die Entwicklung sozialer Probleme und gesellschaftlicher Desintegration eine besondere Aufmerksamkeit. So wird in der
Stadtsoziologie gegenwärtig über die Verschärfung von sozialer Segregation und eine nachfolgende Zunahme sozialer und ethnischer Konflikte und
3
HELLMER, J.: Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins.
Wiesbaden 1972. Opp K.-D.: Zur Erklärung delinquenten Verhaltens von Kindern und
Jugendlichen. Eine ökologische Analyse der Kinder- und Jugenddelinquenz in Köln und
eine Kritik des kriminal-ökologischen Ansatzes. München 1968. SACK, F.: Strukturen
und Prozesse in einem Delinquenzviertel Kölns: Ein Beitrag zur Kriminalsoziologie.
Köln 1969. SCHWIND, H.-D.; AHLBORN, W.; WEISS, R.: Empirische Kriminalgeographie: Bestandsaufnahme u. Weiterführung am Beisp. von Bochum; "Kriminalitätsatlas Bochum". Wiesbaden 1978.
4
BURSIK, JR. R.J.; GRASMICK H.G.: The Use of Contextual Analysis in Models of Criminal Behavior. In: Delinquency and Crime. Current Theories, hrsg. v. J.D. Hawkins.
Cambridge 1996, 236-267. FARRINGTON, D. P.; SAMPSON, R. J.; WIKSTRÖM, O. H.
(HRSG.): Integrating Individual and Ecological Aspects of Crime. Stockholm 1993.
SAMPSON, R.J.: The Embeddedness of Child and Adolescent Development: A Community-Level Perspective on Urban Violence. In: Violence and Childhood in the Inner City, hrsg. v. J. McCord. Cambridge 1997, 31-78. SAMPSON, R.J.; WILSON, W.J.: Towards
a Theory of Race, Crime, and Urban Inequality. In: Crime and Inequality, hrsg. v. J.
Hagan; R. Peterson. Stanford, CA. 1995, 37-54.
SOZIALE PROBLEME, GEWALT UND JUDENDDELINQUENZ IN DER STADT
405
die Herausbildung einer neuen "underclass" in den deutschen Großstädten
diskutiert.5
Vor diesem Hintergrund hat die Kriminologische Forschungsgruppe des
Max-Planck-Instituts ein neues Forschungsprojekt begonnen, dessen Ziel
die empirische Analyse der urbanen Gewalt- und Jugenddelinquenz und
ihrer sozialen Einflußfaktoren ist und deren zentraler methodischer Zugang
in der Einbeziehung des urbanen Raumes in die Deskription und Erklärung
von delinquentem Verhalten sowie in der Verknüpfung verschiedener Datenquellen auf individueller und kollektiver Ebene liegt. Die maßgebliche
Analyseeinheit auf der kollektiven, räumlichen Ebene ist dabei das Stadtviertel. Im Rahmen der Studie, die wir in Köln und Freiburg durchführen,
erfolgt eine auf das gesamte Stadtgebiet bezogene Analyse der registrierten
Gewalt- und 'Straßendelikte' auf der Grundlage von Polizeidaten sowie eine
Dunkelfeldbefragung von Jugendlichen in ausgewählten Stadtvierteln, die
durch eine Bewohnerbefragung zur Wahrnehmung von sozialer Desorganisation und Unordnung ergänzt wird. Die Auswahl der Stadtviertel erfolgt
auf der Grundlage von Sozialindikatoren zur Bevölkerungsstruktur und
zum Ausmaß sozialer Benachteiligungen.
Dieser Beitrag soll dazu dienen, einige grundlegende Fragestellungen
und Theorieansätze zu diskutieren, die für die sozialökologische Analyse
von innerstädtischen Delinquenzverteilungen relevant sind. Dabei sind zunächst zwei sich überlappende Perspektiven zu unterscheiden6: Erstens
werden die Verteilungen der Täterwohnsitze mit den sozialstrukturellen
Bedingungen der Stadtviertel in Beziehung gesetzt, um zu klären, welche
Faktoren zu einer erhöhten Delinquenzneigung der Bewohner führen
5
ALISCH, M.; DANGSCHAT, J. S. (HRSG.): Armut und soziale Integration: Strategien
sozialer Stadtentwicklung. Leverkusen 1998. Backes, O.; Dollase, Rainer; Heitmeyer,
Wilhelm (Hrsg.): Ethnisch-kulturelle Konflikte in der Stadt. Frankfurt/M. 1997.
HÄUSSERMANN, H.: Armut in den Großstädten. Leviathan 25 (1997), 12-27. HEITMEYER, W. (HRSG.): Die Krise der Städte. Frankfurt/M. 1998. KRONAUER, M.: "Soziale
Ausgrenzung und "Underclass": Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung.
Leviathan 25 (1997), 28-49. MINGIONE, E. (HRSG.): Urban Poverty and the Underclass.
Cambridge, MA. 1996.
6
Vgl. für Überblicke: BOTTOMS, A.E.; WILES, P.: Environmental Criminology. In: The
Oxford Handbook of Criminology, hrsg. v. M. Maguire; R. Morgan; R. Reiner. Oxford
1997, 305-360. WIKSTRÖM, P.-O.H.: Communities and Crime. In: Oxford Handbook on
Crime and Punishment, hrsg. v. M. Tonry. Oxford 1998, 241-273.
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DIETRICH OBERWITTLER
(Stadtviertel als "breeding areas"), zweitens werden die Verteilungen der
Tatorte oder der Opferwohnsitze mit verschiedenen Faktoren korreliert, um
die sozialräumlichen, geographischen und physischen Eigenschaften der
Stadtviertel zu identifizieren, die zu einer besonderen Belastung mit delinquenten Handlungen führen (Stadtviertel als "attracting areas"). Während
sich die erste Perspektive in den Traditionsstrang der klassischen ätiologischen Theorien abweichenden Verhaltens einfügt, bezieht die zweite Perspektive neuere theoretische Ansätze des routine activity approach und der
situativen Analyse insbesondere von Gewaltdelinquenz ein. Beide Perspektiven zielen letztlich auf eine Erweiterung der ausschließlich auf individuelle Ursachenfaktoren ausgerichteten ätiologischen Delinquenztheorien
um kontextuelle Faktoren ab. Auch wenn beide Perspektiven in unserem
Forschungsprojekt verfolgt werden, konzentriere ich mich im folgenden auf
die erste Perspektive der Stadtviertel als "breeding areas".
Kriminalgeographische Studien haben immer wieder die Existenz von
hochbelasteten "Delinquenzvierteln" in den Städten belegt; eine der ersten
neuzeitlichen Analysen solcher Stadtviertel findet sich in Henry Mayhews
Beschreibungen des frühindustriellen London.7 Als axiomatisch kann bis
heute die enge Verknüpfung zwischen der Häufung sozialer Benachteiligungen (niedriger SES, Einkommensarmut, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit
von staatlicher Unterstützung, Konzentration von Migrantengruppen,
schlechte Infrastruktur etc.) und (registrierter) Kriminalität der Bewohner
angesehen werden. Dies soll hier am Beispiel zweier neuerer europäischer
Studien belegt werden: Wikström8 erklärt die innerstädtische Varianz der
Kriminalitätsrate in Stockholm mit niedrigem sozialen Status, Sozialhilfebezug und unvollständigen Familien; Eisner9 errechnet deutliche Korrelationen von registrierter Gewaltkriminalität mit niedrigem sozialen Status und
"sozialer Desorganisation" (Arbeitslosen- und Ausländeranteil, residentielle
Fluktuation). Ganz ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei einer vorläufigen
Regressionsanalyse der registrierten Gewaltkriminalität in Köln, deren Varianz in den Stadtteilen zu über 70% durch lediglich zwei sozial-
7
MAYHEW, H.: London labour and the London poor: the condition and earnings of those that will work, those that cannot work,and those that will not work . London 1861.
8
WIKSTRÖM, O.H.: Urban Crime, Criminals, and Victims. New York 1991, 165f.
9
EISNER, M.: Das Ende der zivilisierten Stadt? Die Auswirkungen von Modernisierung
und urbaner Krise auf Gewaltdelinquenz . Frankfurt 1997, 187.
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strukturelle Variablen, nämlich die Anteile der Sozialhilfeempfänger und
der ausländischen Wohnbevölkerung erklärt werden kann.
Auf der Aggregatdatenebene der Stadtviertel und auf der Basis der registrierten Tatverdächtigenziffern bleibt demnach der enge Zusammenhang
zwischen Sozialstruktur und Kriminalität erhalten, den die Kriminologie
angesichts der Ergebnisse von Dunkelfeldbefragungen zur selbstberichteten
Delinquenz längst aufgegeben hat.10 Dieses Paradox erklärt sich zum Teil
aus dem statistischen Effekt, daß Korrelationen zwischen Variablen auf der
Aggregatdatenanalyse stets stärker ausfallen als auf der Individualdatenebene; zum Teil ist es möglicherweise auf die schichtspezifisch wirksamen
Selektionseffekte der staatlichen Sozialkontrolle zurückzuführen, die vom
labeling-Ansatz thematisiert worden sind. Diese Annahme wird z.B. durch
eine Studie von Simcha-Fagan u. Schwartz11 unterstützt, die auf der Stadtviertelebene deutlich geringere Korrelationen der selbstberichteten gegenüber der registrierten Jugendkriminalität mit sozialstrukturellen Faktoren
errechneten; bei schwereren Deliktformen näherten sich die Koeffizienten
jedoch an, möglicherweise schon deswegen, weil Mehrfach- und Intensivtäter ein höheres Entdeckungs- und Registrierungsrisiko tragen als Einfachtäter.12 In vielen Studien wurde zudem ein inverser Zusammenhang
von SES und selbstberichteter Delinquenz auf der Individualdatenebene
dann bestätigt, wenn die Messung der Delinquenz auf intensivere und
schwerere Formen zugespitzt und damit der Bereich der ubiquitären Bagatelldelinquenz verlassen wurde.13 Ein weiterer, sozialräumlich relevanter
Aspekt kommt hinzu: Der schwierige Nachweis der SES/DelinquenzBeziehung in Dunkelfeldstudien – insbesondere wenn diese nicht-linear
sein sollte – ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, daß in den
10
ALBRECHT, G.; HOWE, C.-W.: Soziale Schicht und Delinquenz. Verwischte Spuren
oder falsche Fährte?. In: KZfSS (1992), 697-730. TITTLE, C. R.; MEIER, R. F.: Specifying the SES/Delinquency Relationship. Criminology 28 (1990), 271-299.
11
SIMCHA-FAGAN, O.; SCHWARTZ, J.E.: Neighborhood and Delinquency: An Assessment of Contextual Effects. Criminology 24 (1986), 667-704.
12
KARSTEDT, S.: Soziale Ungleichheit und Kriminalität - Zurück in die Zukunft? In:
Kritische Kriminologie in der Diskussion : Theorien, Analysen, Positionen, hrsg. v. K.D. Bussmann ; R. Kreissl, Opladen 1996, 45-72, hier 46.
13
FARNWORTH, M.; THORNBERRY, T.P.; TERENCE, P.; KROHN, M.D.; LIZOTTE, A.J.:
Measurement in the Study of Class and Delinquency: Integrating Theory and Research.
Journal of Research in Crime and Delinquency 31 (1994), 32-61.
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DIETRICH OBERWITTLER
üblichen national oder regional repräsentativen Stichproben Menschen aus
unteren Schichten, die für die Fragestellung besonders relevant sind, kaum
oder gar nicht erreicht werden können.14 Das betrifft nicht nur Menschen
ohne eigene Wohnungen (z.B. Obdachlose, Heim- und Anstaltsbewohner)
oder mit illegalem Aufenthaltsstatus, sondern auch Angehörige marginalisierter Sozialmilieus mit einem generell distanzierten Verhalten gegenüber
staatlichen Institutionen und standardisierten Befragungsstrategien. Der
Vorteil der statistischen Repräsentativität verkehrt sich bei der Suche nach
Kausalbeziehungen dann in einen Nachteil, wenn davon auszugehen ist,
daß zahlenmäßig kleine Gruppen für die Fragestellung bedeutsam sind.
Hier bietet sich eine auf einzelne Stadtviertel konzentrierte Forschungsstrategie und ein nicht-repräsentatives Stichprobendesign an, um ein oversampling entsprechender theoretisch relevanter Bevölkerungsgruppen zu
erzielen.15
Es sind jedoch nicht nur solche methodischen Überlegungen, die stadtviertelbezogene Studien nahelegen. Der theoretische Anspruch sozialökologischer Forschungsansätze geht wesentlich weiter. Raumbezogene Analysen machen vor allem dann Sinn, wenn man annimmt, daß die sozialräumliche Umwelt das Verhalten von Menschen strukturiert und beeinflußt.
Diese Auffassung gehört zum Grundbestand soziologischer Theoriebildung
und Sozialisationsforschung, auch wenn sie in empirischen Studien nur
selten berücksichtigt wird.16 In der Kriminalsoziologie wurde diese An14
ANDRESS, H.-J.: Leben in Armut: Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte
mit Umfragedaten. Opladen 1999, 25. SUTTERER, P.; KARGER, T.: Self-reported delinquency in Mannheim, Germany. In: Delinquent Behavior Among Young People in the
Western World. First Results of the International Self-Report Delinquency Study, hrsg.
v. J. Junger-Tas; G.-J. Terlouw. Amsterdam; New York 1994, 156-185.
15
JUNGER-TAS, J.: The International Self-Report Delinquency Study: Some Methodological and Theoretical Issues. In: Delinquent Behavior Among Young People in the
Western World. First Results of the International Self-Report Delinquency Study, hrsg.
v. J. Junger-Tas; G.-J. Terlouw; M.W. Klein. Amsterdam; New York 1994, 1-13.
KARGER, T.: Vergleichende Kriminalitätsforschung: National repräsentative versus
Gemeinde-Stichproben. In: Gesellschaftliche Umwälzungen. Kriminalitätserfahrungen,
Straffälligkeit und soziale Kontrolle, hrsg. v. H. Kury. Freiburg 1992, 99-113.
16
BRONFENBRENNER, U.: The ecology of human development, Cambridge/Mass. 1979.
GIDDENS, A.: The constitution of society: outline of the theory of structuration. Cambridge 1984.
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nahme erstmals von der Chicago School formuliert und zum Kern des Theorieansatzes der "Sozialen Desorganisation" erhoben. In der bekannten
Version von Shaw u. McKay mangelt es den delinquency areas an wirksamer informeller Sozialkontrolle gegenüber Jugendlichen, weil bestimmte
sozialstrukturelle Faktoren (Armut, ethnische Heterogenität und vor allem
residentielle Instabilität) den sozialen Zusammenhalt und die Realisierung
gemeinsamer Werte im Stadtviertel behindern.17 Gleichzeitig erhöht die
Kontakthäufigkeit zu älteren delinquenten Jugendlichen die Delinquenzneigung der jeweils nachwachsenden Jugendlichen ("cultural transmission"). In dieser Perspektive stehen also nicht die individuellen Ursachenfaktoren und Motive delinquenter Handlungen von Jugendlichen im Mittelpunkt, sondern deren Beeinflussung durch äußere Faktoren.
Explizit oder implizit ist die Vorstellung sozialökologischer Kontexteffekte Bestandteil vieler klassischer kriminalsoziologischer Theorieansätze
oder verhält sich zumindest konsistent zu ihnen. In den subkultur- und
lerntheoretischen Ansätzen, die überwiegend am Phänomen der amerikanischen Jugendbanden entwickelt wurden, spielt die Existenz devianter Milieus eine – wenn auch unterschiedlich gewichtete – Schlüsselrolle. Insbesondere die Theorie der differentiellen Gelegenheiten von Cloward u. Ohlin18 erklärt Jugenddelinquenz mit der höheren Wahrscheinlichkeit des
Kontaktes zu anderen delinquenten Personen in kriminalitätsbelasteten
Stadtvierteln. Der Faktor 'delinquent peers' erzielt regelmäßig hohe Zusammenhangswerte mit selbstberichteter Delinquenz, auch wenn theoretische Bedeutung und Richtung dieser Beziehung umstritten sind.19 Den
lerntheoretischen Theorieansätzen wurde vorgeworfen, daß sie zirkulär argumentieren, indem sie delinquentes Verhalten mit der Existenz delinquenten Verhaltens erklären,20 jedoch sind sie durch ihre Betonung des In17
SHAW, C.; MCKAY, H.D.: Juvenile Delinquency and Urban Areas. Chicago 1969.
CLOWARD, R.A.; OHLIN, L.E.: Delinquency and Opportunity. New York 1960.
19
AGNEW, R.: The interactive effects of peer variables on delinquency. In: Criminology
29 (1991), 47-72. KÜHNEL, W.: Die Bedeutung von sozialen Netzwerken und Peergroup-Beziehungen für Gewalt im Jugendalter. Zeitschrift für Sozialisationsforschung
und Erziehungssoziologie 15 (1995), 122-144. THORNBERRY, T. P.; LIZOTTE, A.J.;
KROHN, M. D.; FARNWORTH, M.; JANG, S. J.: Delinquent peers, beliefs, and delinquent
behaviour: a longitudinal test of interactional theory. Criminology 32 (1993), 17-40.
20
Vgl. MERTON, R. K.: On the Evolving Synthesis of Differential Association and Anomie
Theory: A Perspective from the Sociology of Science. Criminology 35 (1997), 517-525.
18
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teraktionscharakters delinquenten Verhaltens gut geeignet, um verstärkende
Prozesse durch sozialräumliche Konzentrationen sozialer Benachteiligung
in den Blick zu nehmen.
In den letzten Jahren haben sich Soziologen v.a. in den USA intensiver
mit den Lebensbedingungen in den "Armutsghettos" und insbesondere mit
den Auswirkungen der sozialräumlichen Konzentration von sozialen Benachteiligungen beschäftigt.21 William J. Wilson sieht in der sozialen Isolation der Bewohner, ihrer Entfernung von den Normen der "mainstream society" und in einer Ausbreitung devianter Normen die zentralen Effekte
dieser Armutskonzentration an. Bei der Interpretation dieser Effekte wird
häufig auf das Konzept des "Sozialkapitals" zurückgegriffen, das die Bedeutung informeller sozialer Netzwerke als Resource zur Erreichung persönlicher Ziele hervorhebt.22 James Coleman23 hat dieses auf Bourdieu24
zurückgehende Konzept auf den Bildungserfolg von Jugendlichen bezogen.
Mangelnde Kontakte der Eltern am (fehlenden) Arbeitsplatz oder in der
Nachbarschaft zu Mitgliedern der "mainstream society" verschlechtern
demnach die Sozialisationsbedingungen der Kinder, da den Eltern wichtige
Unterstützungsnetzwerke fehlen, die für den Schulerfolg und für die Erziehung, die Vermittlung von Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen relevant sind.
In hoch segregierten Armutsvierteln droht in Sozialhilfefamilien eine "Ver21
LYNN, L. E.; MCGEARY, M. G. H. (HRSG.): Inner-City poverty in the United States.
Washington D. C. 1990. MACLEOD, J.: Ain't no making it: aspirations and attainment in
a low-income neighborhood. Boulder 1995. MASSEY, D. S.; DENTON, N. A.: American
Apartheid: Segregation and the Making of the Underclass. Cambridge/Mass. 1993.
WILSON, W. J.: The Truly Disadvantaged: The Inner City, the Underclass, and Public
Policy. Chicago 1987; WILSON, W. J.: When work disappears: the world of the new
urban poor. New York 1997.
22
COLEMAN, J.: Social Capital in the Creation of Human Capital. American Journal of
Sociology 94 (1988), 95-120. FURSTENBERG, F.; HUGHES, M.E.: Social Capital and
Successful Development Among At-Risk Youth. Journal of Marriage and the Family 57
(1995). KARSTEDT, S.: Recht und soziales Kapital im Wohlfahrtsstaat. Soziale Probleme
8 (1997), 103-137. O'REGAN, K. M.; QUIGLEY, J. M.: Where Youth Live: Economic
Effects of Urban Space on Employment Prospects. Urban Studies 35 (1998), 1187.
SAMPSON U. WILSON (1993).
23
COLEMAN (1988).
24
BOURDIEU, P.: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten, hrsg. v. R. Kreckel. Göttingen 1983, 183-198.
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411
erbung von Armut" an die nächste Generation, da weder in der eigenen
Familie noch im sozialen Nahbereich konventionelle Rollenvorbilder existieren, die Arbeits- und Leistungsnormen vermitteln können. So wie konventionelle Rollenvorbilder seltener werden, wächst die Wahrscheinlichkeit
des Kontaktes mit devianten Rollenvorbildern gemeinsam mit der Ausbreitung von Schattenökonomien, die alternative Wege zu materiellem Erfolg aufzeigen. Wenn durch Segregationsprozesse der Anteil der Bewohner
mit devianten Handlungsmustern wächst, können deviante Normen in Armutsvierteln zu dominanten Normen werden. Ethnographische Studien belegen die Existenz subkultureller und devianter "street codes" in diesen
Stadtvierteln, denen insbesondere die jugendlichen Bewohner ausgesetzt
sind25. Ebenso sind Stigmatisierungseffekte der Gesellschaft gegenüber den
Bewohnern "schlechter" Stadtviertel denkbar.26 Mit der für die betroffenen
Jugendlichen spürbaren Isolation von der "mainstream society" – deren
Werte und Ziele sie jedoch gleichzeitig durch die elektronischen Medien
ausgesetzt sind – wachsen also die Chancen subkultureller Orientierungen
und von delinquenten Kontakten, wie es im Erklärungsansatz der differentiellen Gelegenheiten beschrieben wird. Daraus resultierende Deprivationsund Exklusionserfahrungen der Jugendlichen lassen sich wiederum anomietheoretisch interpretieren.
Inwieweit dieses primär auf U.S.-amerikanische Städte bezogene Szenario der Ghettoisierung auf Deutschland übertragen werden kann, ist eine
berechtigte, angesichts der Forschungssituation jedoch nicht zu leicht zu
beantwortende Frage. Zwar nimmt die Zahl entsprechender Veröffentlichungen zur Zeit deutlich zu, jedoch enthalten diese noch relativ wenige
empirische Forschungsergebnisse zu den sozialökologischen Kontexteffekten auf die Lebenssituation und das Verhalten der Bewohner, an die die
kriminologische Forschung anschließen könnte.27 Auch wenn Einigkeit
25
ANDERSON, E.: Violence and the Inner-City Street Code. In: Violence and Childhood
in the Inner City, hrsg. v. J. McCord. Cambridge 1997, 1-30.
26
Vgl. für eine Fallstudie: BEST, P.: Die Schule im Netzwerk der Sozialkontrolle. Lokale Strukturen und Strategien. München 1979.
27
DANGSCHAT, J.S.: Sozialräumliche Aspekte der Armut im Jugendalter. In: Kinder und
Jugendliche in Armut, hrsg. v. A. Klocke; K. Hurrelmann. Opladen; Wiesbaden 1998,
112-135. FRIEDRICHS, J.: Do poor neighborhoods make their residents poorer? Context
effects of poverty neighborhoods on residents. In: Empirical Poverty Research in a
Comparative Perspective, hrsg. v. Andreß, H.-J., Aldershot 1998. MANSEL, J.;
412
DIETRICH OBERWITTLER
darüber herrscht, daß die Situation in den amerikanischen Städten nicht mit
der in Europa und insbesondere in Deutschland gleichgesetzt werden kann,
warnen doch einige Stadtsoziologen vor einer Verfestigung und Verschärfung der sozialräumlichen Segregation. Die Jugendkrawalle in den französischen Vorstädten haben Schlaglichter auf die sozialen Spannungen und
das Gewaltpotential geworfen, die sich in Räumen der sozialen Exklusion
entwickeln können.28 Unter anderen Vorzeichen kann auch die Entwicklung
der Jugendgewalt und insbesondere das Phänomen der sog. 'befreiten Zonen' in ostdeutschen Städten als Indiz für die Relevanz von sozialräumlichen Verstärkungseffekten auf die Entwicklung jugendlicher Gruppendelinquenz gewertet werden.
Angesichts einer noch unbefriedigenden Forschungssituation erscheint
es sinnvoll, zunächst intensiver über die theoretischen und methodischen
Voraussetzungen sozialökologischer Untersuchungsansätze nachzudenken.29 Einige zentrale Aspekte sollen hier angerissen werden. So stellt sich
zum Beispiel das Problem der räumlichen Definition der Untersuchungseinheiten, die fast immer entlang der Verwaltungsgrenzen erfolgt und deren
intersubjektive Gültigkeit aus der Perspektive der Bewohner fraglich ist.
Untersuchungen über "mental maps" haben gezeigt, daß die Grenzen von
Stadtvierteln in der Wahrnehmung ihrer Bewohner nicht einheitlich verlaufen. Im Zusammenhang damit steht die weitergehende Frage, in welchem
Maß soziale Kontexteffekte auf Einstellungen und Verhalten von Menschen überhaupt räumlich begrenzbar sind. Dies dürfte sowohl von den
Aktionsräumen als auch von den sozialen Netzwerken der Bewohner abhängig sein. Friedrichs expliziert die Annahmen, die in der Hypothese der
sozialen Isolation von Armutsvierteln enthalten sind: Die Gelegenheitsstruktur der Wohngegend, d.h. die Bevölkerungszusammensetzung, entscheidet über die der sozialen Kontakte ihrer Bewohner, wobei die Wahrscheinlichkeit von Kontakten zu Menschen in räumlicher Nähe größer ist
BRINKHOFF, K.-P. (HRSG.): Armut im Jugendalter. Soziale Ungleichheit, Gettoisierung
und die psychosozialen Folgen. Weinheim 1998. MARCUSE, P.; VAN KEMPEN, R.
(HRSG.): Partitioned Cities? (in Vorbereitung).
28
DUBET, F.; LAPEYRONNIE, D.: Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen
Gesellschaft. Stuttgart 1994. DUBET, F.: Die Logik der Jugendgewalt. Das Beispiel der
französischen Vorstädte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49
(Sonderheft 37) (1997), 220-234.
29
Vgl. für das folgende: BURSIK; GRASMICK (1996); FRIEDRICHS. (1998).
SOZIALE PROBLEME, GEWALT UND JUDENDDELINQUENZ IN DER STADT
413
als zu Menschen, die weiter entfernt wohnen. Soziale Kontexteffekte müßten um so stärker sein, je mehr die Aktionsräume und die sozialen Netzwerke von Bewohnern auf das eigene Stadtviertel beschränkt sind. Daß einige empirische Studien diese Annahme der räumlichen Begrenztheit von
Sozialkontakten und sozialen Netzwerken ungeprüft übernehmen, erscheint
als problematisch. So werden z.B. in einer aktuellen amerikanischen Studie
über die Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen deren soziale Netzwerke
über einen 'Exposure-Index' gemessen, der durch die Wahrscheinlichkeit
von Kontakten auf der Grundlage der Bevölkerungsstruktur eines Stadtviertels operationalisiert wird.30 Empirische Netzwerkanalysen haben jedoch ganz unterschiedliche Ergebnisse erbracht. Eine Untersuchung der
Kontakte deutscher und türkischer Familien ergab, daß die Netzwerke der
Immigrantenfamilien trotz höherer Segregation weniger auf das eigene
Stadtviertel beschränkt sind als die der deutschen Familien.31 Nach einer
neuen Schweizer Studie über Armutsfolgen trifft andererseits die Hypothese zu, daß von Armut betroffene Menschen kleinere Freundes- und Unterstützungsnetzwerke haben.32
Ähnliche Unklarheiten bestehen hinsichtlich der Frage der Aktionsräume von Bewohnern benachteiligter Stadtviertel. Einige qualitative Studien
weisen darauf hin, daß sozial benachteiligte Jugendliche insbesondere in
Armutsvierteln in ihrem Aktionsradius mehr auf das eigene Viertel beschränkt sind als andere Jugendliche,33 jedoch mangelt es noch an verall30
O'REGAN, U. QUIGLEY (1998).
NAUCK, B.: Sozial-ökologischer Kontext und außerfamiliäre Beziehungen. Ein interkultureller und interkontextueller Vergleich am Beispiel von deutschen und türkischen
Familien. In: Soziologische Stadtforschung, hrsg. v. J. Friedrichs. Opladen 1988, 310327.
32
LEU, R. E.; BURRI, S.; PRIESTER, T.: Lebensqualität und Armut in der Schweiz. Bern;
Stuttgart; Wien 1997.
33
BAUM, D.: Armut durch die Stadt oder Urbanisierung der Armut. Städtische Jugend
im sozialen Brennpunkt - Bedingungen und Folgen räumlicher und sozialer Segregation
in einem städtischen Kontext. In: Armut im Jugendalter. Soziale Ungleichheit, Gettoisierung und die psychosozialen Folgen, hrsg. v. J. Mansel; K.-P. Brinkhoff. Weinheim
1998, 60-75. DANNENBECK, C.; LÖSCH, H.: Fremdelnde Diskurse: "Ethnische Anmache" in multikulturellen Lebenswelten von Jugendlichen. Zeitschrift für Migration und
Soziale Arbeit (1997), 24-31. KARSTEN L.: Growing Up in Amsterdam: Differentiation
and Segregation in Children's Daily Lives. Urban Studies 35 (1998), 565-582.
31
414
DIETRICH OBERWITTLER
gemeinerbaren quantitativen Belegen. Bei Jugendlichen kommt es darüber
hinaus zu einer Überlagerung des Stadtviertelkontextes durch den wichtigen Schulkontext, der hinsichtlich der räumlichen Herkunft der Mitschüler
nicht notwendigerweise identisch ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn
Eltern ihre Kinder ganz bewußt zu Schulen schicken, deren soziale und
ethnische Zusammensetzung günstiger erscheint als im eigenen Stadtviertel, um ihre Bildungschancen zu erhöhen; das Resultat dieser offenbar verbreiteten Strategie ist eine nochmals verstärkte Segregation im schulischen
Rahmen.34 Des weiteren ist zu fragen, durch welche Mechanismen eine Übertragung von devianten Handlungsmustern vom sozialen Kontext auf die
Individuen erfolgt. Nach dem eben Gesagten erscheint es naheliegend, persönliche Kontakte, d.h. direkte Interaktionen zwischen Individuen, als
maßgeblichen Übertragungsmechanismus anzunehmen. Jedoch bauen einige kriminalsoziologische Theorieansätze gerade auf den Einfluß unpersönlicher und überindividueller Eigenschaften der Stadtviertel auf die Bewohner (und Besucher) auf, auch wenn diese "emergenten" Eigenschaften aus
der Summe der individuellen Eigenschaften ihrer Bewohner erwachsen.35
Eine zentrale Annahme des Desorganisations-Ansatzes der Chicago-School
war die Überlegung, daß sich in strukturell benachteiligten Stadtvierteln
wegen der hohen ethnischen Heterogenität und residentiellen Fluktuation
kein sozialer Zusammenhalt der Bewohner entwickeln kann, von der wiederum das Maß der informellen Sozialkontrolle v.a. gegenüber den Jugendlichen abhängt. In einer Weiterentwicklung dieses Ansatzes hat Robert
Sampson die "social efficacy" von Stadtvierteln anhand der wahrgenommenen informellen Sozialkontrolle und sozialen Kohäsion im Stadtviertel
gemessen;36 auf der Stadtviertelebene moderiert dieser Faktor im multivariaten Regressionsmodell den größten Teil der Beziehung zwischen sozialstrukturellen Faktoren und Gewaltdelinquenz; d.h. die Sozialstruktur wirkt,
wie im Erklärungsanstz der sozialen Desorganisation postuliert, nicht direkt, sondern über eine Schwächung des sozialen Zusammenhalts im Viertel delinquenzfördernd.
Ebenso relevant ist die u.a. von Wesley Skogan untersuchte Hypothese,
daß bauliche und physische Verfallserscheinungen von Stadtvierteln einen
34
Vgl. SPIEGEL 44/1998.
BURSIK U. GRASMICK (1996).
36
SAMPSON, R. J.; RAUDENBUSH, S. W.; EARLS, F.: Neighborhoods and Violent Crime:
A Multilevel Study of Collective Efficacy. Science 277 (1997), 918-924.
35
SOZIALE PROBLEME, GEWALT UND JUDENDDELINQUENZ IN DER STADT
415
eigenständigen Einfluß auf delinquentes Verhalten ausüben.37 In jüngster
Zeit hat die Rolle des physischen Verfalls von Stadtteilen im Rahmen der
"Fixing Broken Windows"-Strategie eine starke Verbreitung gefunden.
Sichtbare Zeichen der Unordnung im städtischen Raum (incivilities) könnten auf verschiedene Weise delinquenzfördernd wirken: Bei Bewohnern
könnten sich langfristig Anomiegefühle und Desintegrationswahrnehmungen verfestigen; Unordnung und Verfall könnten Bewohnern und Besuchern die Abwesenheit wirksamer sozialer Kontrolle signalisieren, dadurch
einerseits potentielle Täter ermuntern und andererseits durch Vermeidungsverhalten von Bewohnern tatsächlich die informelle Sozialkontrolle
an bestimmten Orten weiter reduzieren. In einer zeitlichen Perspektive ist
auch ein umgekehrter Wirkungspfeil von Kriminalität auf Verfall und Unordnung des Stadtviertels durch selektive Abwanderung denkbar.38 Insgesamt führen diese Erklärungsansätze mit ihrer Betonung der informellen
Sozialkontrolle zur Perspektive des routine activity approach mit den Fragen nach Gelegenheitsstrukturen und situativen Kontexten von Gewalthandlungen.39 Angesichts der kriminalgeographischen Erkenntnisse über
die überwiegend geringen Aktionsräume von Tätern und angesichts der
möglichen sozialisatorischen Folgen einer dauerhaften Exposition von
Kindern und Jugendlichen in einem "Delinquenzmilieu" ist jedoch die Übertragung dieses situativen Faktors auf die täterbezogene Perspektive naheliegend. M. Eisner hat in diesem Zusammenhang versucht, bei seiner Analyse der städtischen Gewaltkriminalität in Basel das "innerstädtisches
Gewaltmilieu" als eigenständigen Faktor für die Erklärung der Delinquenzneigung der Bewohner heranzuziehen.40
37
SKOGAN, W. G.: Disorder and Decline. Crime and the Spiral of Decay in American
Neighborhoouds. New York 1990.
38
MORENOFF, J. D.; SAMPSON, R. J.: Violent Crime and The Spatial Dynamics of
Neighborhood Transition: Chicago, 1970-1990. Social Forces 76 (1997), 31-64.
39
BRANTINGHAM, P.; BRANTINGHAM, P.: Criminality of place. Crime generators and
crime attractors. European Journal on Criminal Policy and Research 3 (1995), 5-26.
COHEN, L.E.; FELSON, M.: Social Change and Crime Rate Trends: A Routine Activity
Approach. American Sociological Review 44 (1979), 588-608. SHERMAN, L.; GARTIN,
P.; BUERGER, M.: Hot spots of predatory crime: Routine activities and the criminology
of place. Criminology 27 (1989), 27-55.
40
EISNER (1997), 181.
416
DIETRICH OBERWITTLER
Die Konzeptualisierung und empirische Überprüfung von sozialökologischen Kontexteffekten ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden und
wurde bislang – zumal in der Kriminalsoziologie – nur selten realisiert. Die
entscheidende Aufgabe bei der Überprüfung entsprechender Hypothesen
liegt darin, den angenommenen Kontexteffekt von den Individualeffekten
zu trennen, obgleich beide Effekte u.U. anhand derselben Variablen gemessen werden. Nimmt man z.B. an, daß die räumliche Konzentration von sozialen Benachteiligungen zu einer Verstärkung bestimmter Einstellungen
und Verhaltensmuster führt, die ohnehin mit sozialen Benachteiligungen in
Verbindung gebracht werden, dann könnte ein nichtlinearer, exponentieller
Zusammenhang auf der Aggregatebene ein empirischer Hinweis auf solche
Schwelleneffekte sein. Ziel einer empirischen Überprüfung muß es jedoch
sein, die Effekte auf der Individualebene und auf der Kontextebene in ihrem Zusammenwirken zu analysieren, um den "Netto-Effekt" der Kontexteinflüsse zu schätzen. Das notwendige statistische Werkzeug dafür stellt
die Mehrebenenanalyse bereit, bei der unabhängige Variablen auf der Individual- und Aggregatebene gemeinsam in Regressionsgleichungen aufgenommen und ihr jeweiliger Einfluß korrekt geschätzt werden können.41
Einige jüngere amerikanische Untersuchungen haben mit dieser Methode – allerdings recht geringe – Kontexteffekte der Stadtviertel auf delinquentes Verhalten von Jugendlichen identifiziert.42 Dabei wurden i.d.R. die
in Befragungen von Jugendlichen gewonnenen Individualdaten durch andere Befragungsdaten über die soziale Desorganisation der Stadtviertel ergänzt. Elliott et al. erreichten durch den Einschluß der Stadtviertel-Ebene in
das Modell der individuellen Faktoren eine zusätzliche Varianzaufklärung
von lediglich 6%.43 Wikström u. Loeber stellten in einer Studie in Pittsburgh eine Interaktion individueller Risikofaktoren mit der Sozialstruktur
der Stadtviertel fest: Während Jugendliche mit hohen Werten auf einer Ri41
ENGEL, U.: Einführung in die Mehrebenenanalyse: Grundlagen, Auswertungsverfahren und praktische Beispiele. Opladen 1998.
42
SIMCHA-FAGAN U. SCHWARTZ (1986). LIZOTTE, A. ET AL.: Neighborhood Context and
Delinquency: A Longitudinal Analysis. In: Cross-National Longitudinal Research on
Human Development and Criminal Behaviour (NATO ASI Series D: Behavioural and
Social Sciences / Bd. 76), hrsg. v. E. Weitekamp u. H.-J. Kerner, Dordrecht; Boston;
London 1994, 217-228.
43
ELLIOTT, D.S. ET AL.: The Effects of Neighborhood Disadvantage on Adolescent Development. Journal of Research in Crime and Delinquency 33 (1996), 389-426.
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417
sikofaktorenskala in den untersuchten Stadtvierteln gleichermaßen zu delinquentem Verhalten neigten, unterschieden sich Jugendliche mit geringen
Werten je nach Art des Stadtviertels deutlich voneinander. Solche Jugendlichen wiesen in den "guten" Wohngebieten geringe und in "schlechten"
Wohngebieten hohe delinquente Neigungen auf, was auf die Existenz eines
sozialökologischen Kontexteffekts hindeutet.44 Diese Ergebnisse decken
sich mit Erfahrungen, die in der deutschen Stadtsoziologie bislang bei
Mehrebenenanalysen gemacht wurden und die ebenfalls auf schwache Effekte der sozialökologischen Kontextfaktoren auf individuelles Verhalten
hindeuten.45 Demnach bleibt die Individualebene die maßgebliche Analyseebene für die sozialen Einflußfaktoren von abweichendem Verhalten.
Trotz dieser Erfahrungen wäre es voreilig, den sozialökologischen Forschungsansatz als eine zusätzliche Analyseebene zu ignorieren, zumal erst
einige wenige Resultate empirischer Forschung vorliegen. Die vielfältigen
theoretisch begründbaren sozialökologischen Wirkungsmechanismen sind
bislang ebensowenig erschöpfend untersucht worden wie die methodischen
Probleme der kleinräumlichen Delinquenzstudien und der Mehrebenenanalyse gelöst wurden. Der sozialökologische Forschungsansatz stellt
vielmehr eine wichtige Ergänzung und Verbindung der bislang getrennten
individuellen und kollektiven Perspektiven auf die sozialen Einflußfaktoren
von Delinquenz dar.
44
Zitiert in WIKSTRÖM (1998), 246f. Vgl. PEEPLES, F. U. LOEBER, R.: Do Individual
Factors and Neighborhood Context Explain Ehtnic Differences in Juvenile Delinquency? Journal of Quantitative Criminology 10 (1994), 141-157.
45
FRIEDRICHS (1998). ESSER, H.: Sozialökologische Stadtforschung und Mehr-EbenenAnalyse. In: Soziologische Stadtforschung (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie / Sonderheft 29), hrsg. v. Friedrichs, J., Opladen 1988, 35-55.
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