Dispensationalistische oder bundestheologische Sicht?

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Dispensationalistische oder bundestheologische Sicht?
Willem Johannes Ouweneel
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Inhalt
Teil 1: Wörtlich oder übertragen? Grundsätzliches ........................ 3
Teil 2: 5. Mose 28–30 ............................................... 9
Teil 3: Jesaja 11 .................................................. 14
Teil 4: Hesekiel 34–39 ............................................. 21
Teil 5: Jeremia 30–31 .............................................. 25
Teil 6: Sacharja 12–14 ............................................. 29
Teil 7: Hosea 2; 3; 6 ............................................... 32
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Willem Johannes Ouweneel
Teil 1: Wörtlich oder übertragen? Grundsätzliches
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal
noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davor gestellt.
Gespräch zwischen einem Bundestheologen (B) und einem Dispensationalisten (D):
B: Weißt du, was dein Problem ist? Du siehst nun einmal nicht die eine Kirche aus allen
Zeiten und damit die Kontinuität der Heilsgeschichte Gottes.
D: Und du siehst nicht, dass die Kirche als solche im Alten Testament vollkommen fehlt.
B: Na, das ist ja noch schöner! Wie viele Beweisstellen willst du haben? Schau einmal nach
Römer 9,6: „Nicht die alleine sind Israel, die aus Israel sind“; hier siehst du innerhalb des
natürlichen Israels das „wahre“ Israel, das ist die Kirche.
D: Das Letztere machst du dazu. Keine einzige Schriftstelle nennt die wahren Gläubigen in
dem alttestamentlichen Israel „Kirche“.
B: Aber du wirst doch nicht leugnen, dass es im Alten Testament auch Gläubige gab? Denk
einmal an all die Stellen, die von einem „Überrest“, einem Rest reden, so wie zum Beispiel
die 7000 in den Tagen von Elia.
D: Natürlich leugne ich nicht, dass es im Alten Testament Gläubige gab! Ich leugne allein,
dass die Schrift sie die „Kirche“ nennt.
B: Was waren sie denn sonst? Die Kirche ist doch die Versammlung aller Gläubigen?
D: Die Kirche ist die Versammlung der wahren Christus-Gläubigen, das heißt des Leibes
Christi, der am Pfingsttag entstand und aus allen Juden und Heiden besteht, die an Jesus
als Messias, Herrn und Heiland zu glauben gelernt haben.
B: Aber solche Gläubigen, die nach dem Messias ausgeschaut haben und aus Glauben
gelebt haben, gab es doch auch im Alten Testament! Du kannst sie doch nicht von der
Kirche ausschließen!
D: Du redest nur so, weil du eine vollkommen andere Vorstellung von dem Begriff „Kirche“
hast als ich. Für dich ist die Kirche die Summe aller Gläubigen von Adam bis zum Jüngsten
Tag. Meiner Überzeugung nach ist die Kirche (oder Gemeinde) der Leib Christi, scharf
unterschieden von den Gläubigen im Alten Testament und den zukünftigen Gläubigen in
dem messianischen Friedensreich auf der Erde.
B: Das ist für mich unverständlich. Das hebräische Wort qahal („Gemeinde“) im Alten
Testament bedeutet genau dasselbe wie das griechische Wort ekklesia („Gemeinde“) im
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Neuen Testament.
D: Nein, sie deuten gerade zwei total verschiedene Dinge an. Der Qahal ist die
Volksversammlung des natürlichen Israels (einschließlich der Ältesten und Säuglinge, der
Gläubigen und Ungläubigen), die Ekklesia ist die Versammlung aller wahren ChristusGläubigen, von Menschen, die wiedergeboren sind und Jesus im Glauben angenommen
haben.
B: Da machst du einen völlig überzogenen Unterschied. Sowohl im Alten Testament als auch
im Neuen Testament ist die „Gemeinde“ ein gemischtes Volk, worin (oft unsichtbar für uns)
sowohl wahre als auch äußerliche Israeliten, sowohl wahre als auch äußerliche Christen
sind. So wie im Alten Testament Israel in Israel ist, so ist im Neuen Testament die Kirche in
der Kirche.
D: Wie kannst du dann selbst behaupten, dass die Gemeinde die „Versammlung aller
wahren Christus-Gläubigen ist?“ Das ist ein Bekenntnis, worin ich von Herzen mit
einstimme, denn so spricht Paulus allezeit unveränderlich über die Gemeinde: Glied der
Gemeinde wirst durch Wiedergeburt und Glauben, während du ein Glied Israels wirst durch
natürliche Geburt, ob du nun danach glaubst oder nicht usw. usw.
Zusammenfassung
Lassen wir nun erst einmal in eine Reihenfolge bringen, was wir bisher gefunden haben. Nach
EB gibt es eine totale Kontinuität zwischen dem Alten Testament und dem Neuen Testament
in dem Sinn, dass es nur ein Volk Gottes in beiden gibt: das „Israel Gottes“ oder auch „die
Kirche“ genannt. Im Alten Testament war die Gemeinde (qahal) das „wahre Israel“ innerhalb
des natürlichen Israel. Im Neuen Testament finden wir dieses „wahre Israel“ unter den
Jüngern und anderen jüdischen Gläubigen in den Evangelien. Mit ihnen setzt Gott seine
Gemeinde (ekklesia) auch in der heutigen Haushaltung fort. Dieses geschieht allerdings mit
großen Unterschieden: Das Zeremonialgesetz wird abgeschafft, die Taufe kommt an Stelle
der Beschneidung, es wird mit diesem „neuen Israel“ ein neuer Bund geschlossen und vor
allem: Die für Proselyten auch vorher schon offen gestandene Tür wird nun sperrangelweit
aufgemacht, damit gläubige Heiden zu Tausenden herzuströmen können. Aber dies ändert
nichts an der Tatsache, dass es hier prinzipiell und fundamental um dasselbe Bundesvolk
Gottes geht, dasselbe „wahre Israel“ wie es vorher war. Die Schwierigkeit mit dieser
Vorstellung der Dinge ist, dass, obwohl es deutliche Kontinuität zwischen dem Alten
Testament und dem Neuen Testament gibt, diese Kontinuität hier laut D viel zu weit
durchgeführt wird. EB erhält laut D keine oder nur ungenügend Rechnung mit folgenden
Schrifttatsachen:
1. Die neutestamentliche Ekklesia ist ein „Geheimnis“, das in früheren Generationen den
Menschen vollkommen unbekannt war und das selbst in den Evangelien noch stets
zukünftig war. Wie kann diese Ekklesia dann die Fortsetzung des alttestamentlichen
Qahal sein?
2. Im Alten Testament traten die Gläubigen aus den Heiden durch die Tür [Joh 10; Anm. d.
Red.] zu dem Qahal, nämlich Israel; im Neuen Testament treten die messiasgläubigen
Juden durch die Tür gerade aus dem Qahal von Israel nach draußen, um sich der
Ekklesia anzuschließen. Wie kann diese Ekklesia dann die Fortsetzung des Qahal sein?
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3. Der alttestamentliche Qahal ist stets ausdrücklich das Volk Israel als Ganzes, die
„Volksversammlung“, wobei es ausdrücklich um das irdische Israel geht (worunter
natürlich wohl wahre Gläubige waren). Die neutestamentliche Ekklesia (dessen Lehre
allein durch Paulus offenbart ist) ist ausdrücklich die „Versammlung der wahren ChristusGläubigen“, somit ein geistliches Volk Gottes. Wie kann diese Ekklesia dann die
Fortsetzung des Qahal sein?
4. Nirgends wird die neutestamentliche Ekklesia „Israel“ genannt, das wahre Israel, das
geistliche Israel, das Israel Gottes oder was auch immer. Im Gegenteil, in 1. Korinther
10,32 wird die Ekklesia deutlich unterschieden von Israel. Wie kann man dann sagen,
dass die Ekklesia die Fortsetzung des alttestamentlichen Israel ist? Vergleiche damit
nun die Vorstellungen, wie sie durch (G) D gegeben werden, so wie wir sie jetzt
auseinandersetzen wollen im Kontrast mit B.
„Literalismus“ gegen „Vergeistlichung“
Einer der Punkte, worin B oft D angreift, ist der „Literalismus“ von B, womit das übertriebene
„Wörtlichnehmen“ der Prophezeiungen gemeint ist, wobei doch die Schrift selbst – so EB –
darauf hinweist, dass die Prophezeiungen in geistlicher Weise erfüllt werden. Umgekehrt wirft
D oft B vor, eine Vergeistlichungstheologie zu betreiben. Von dieser Sorte Vorwürfe gibt es
noch mehr. B wirft D vor, dass, wo er sich so gerne mit der Typologie in den historischen
Büchern beschäftigt (zum Beispiel Joseph oder David als Vorbild für den Messias), D in den
prophetischen Büchern von keiner Typologie wissen will. D wirft B vor, dass er, wo er – gut
bibeltreu – darauf Wert legt, dass die historischen Bücher wörtlich zu glauben sind, das mit
den prophetischen Büchern nun gerade mal nicht tut.
In der Tat ist es interessant, einmal nachzugehen, welche Unterschiede D und B bei der
Auslegung der historischen und prophetischen Bibelbücher machen. Dabei gehen wir davon
aus, dass eine wörtliche Auslegung natürlich nicht eine übertriebene Wörtlichkeit bedeuten
soll, die mit einer sprachlichen Analyse des Textes und mit dem historischen und kulturellen
Zusammenhang, in dem der Text geschrieben wurde, nicht Rechnung hält. Man spricht hier
gewöhnlich von der historisch-grammatischen Auslegung. „Wörtlich“ soll also nicht bedeuten:
das, was der Text beim ersten Lesen und bei oberflächlicher Kenntnisnahme durch eine Brille
des 20. Jahrhunderts zu sagen scheint, sondern muss bedeuten: innerhalb der Grenzen der
historisch-grammatischen Auslegung. Lassen wir mit diesem Punkt im Hinterkopf nun wieder
einmal einen Vergleich ziehen zwischen EB und ED:
1. EB will im Allgemeinen wenig oder nichts von Typologie in den historischen Büchern
wissen oder nur insoweit das Neue Testament ausdrücklich solche Vorbilder aufzeigt:
(z.B. 1Kor 10; Gal 4; Heb 7). Er hält sich streng an die sogenannte historischgrammatische Auslegung dieser Bücher und lässt danach Raum für praktische
Glaubenslektionen, die auch für uns aus diesen Büchern gezogen werden können.
Da nun die prophetischen Bücher in gewissem Sinn als historische Bücher „avant la
lettre“ angesehen werden können, d.h. als Bücher, die „Geschichte“ beschreiben, die
noch in der Zukunft stattfinden wird, wird diese „Geschichte“ nun gerade mal nicht
wörtlich, sondern geistlich aufgefasst. Das heißt: Wo die historischen Bücher über Juda
und Ephraim, Zion und Jerusalem usw. schreiben, da wird dies wörtlich aufgefasst, aber
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wo die Propheten über dieselben Gruppen oder Plätze in der Zukunft schreiben, da
bedeutet dieses nach EB nicht wörtlich Juda, Ephraim, Zion oder Jerusalem, sondern es
geht stets um bildliche Hinweise nach der Kirche der neuen Haushaltung. Manchmal
führt dies zu den merkwürdigsten Kontrasten. Es ist ja nun so, dass in den
prophetischen Büchern nicht alles über
1. die gegenwärtige Haushaltung oder die Endzeit redet; große Teile davon
beschreiben
2. Geschichte aus den Tagen der Propheten selbst oder
3. Geschichte, die für sie noch zukünftig war, aber inzwischen schon erfüllt ist, wie
zum Beispiel die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft oder die Zeit
Das Merkwürdige
des Lebens des
ist nun,
Herrn
dass
Jesus
EB sowohl
auf der (2)
Erde.
als auch (3) wohl schon strikt buchstäblich
ausweist, jedoch (1) strikt geistlich. Es ist schwierig, bei EB für diese merkwürdige
Splittung in der Auslegung eine Verantwortung zu finden. Wir kommen darauf später
noch zurück.
2. ED ist in das andere Extrem verfallen. Er geht auch von der historisch-grammatischen
Auslegung der historischen Bücher und von der praktischen Anwendung des Textes
aus, legt dann aber viel Betonung auf die typologische Bedeutung der alttestamentlichen
Geschichte. Bei einigen klassischen Autoren, für die die Allegorie sehr wichtig war
(Philo, Origines), ist die wörtliche Auslegung selbst fast in den Hintergrund getreten
zugunsten der Allegorie der Typologie. So schlimm ist es bei ED nicht geworden. Immer
blieb die wörtliche Auslegung der historischen Bücher im Vordergrund. Aber in den
Kommentaren wird doch oft die meiste Betonung auf die Typologie gelegt.
Umso merkwürdiger ist es, dass bei der Auslegung der prophetischen Bücher ein
enormer Nachdruck auf die wörtliche Auslegung gelegt wird, aber wenig oder kein Platz
für Typologie war. Sicher geschah dies aus Reaktion auf B, deren vergeistlichende
Auslegung der Prophetie jedenfalls eine Art „typologische“ Erklärung der prophetischen
Bücher genannt werden kann. So wie D den Tempel Salomos typologisch erklärt und
ihm eine „geistliche“ Erfüllung in der neutestamentlichen Gemeinde zuerkannte (siehe
1Kor 3,16; 2Kor 6,16; Eph 2,20-22), so tut B genau dasselbe mit dem Tempel Hesekiels
in Hesekiel 40-44, mit dem Unterschied, dass D und B alle beide an die buchstäbliche
historische Existenz des Tempels Salomons glauben, aber B nicht an das buchstäbliche
zukünftige Bestehen des Tempels von Hesekiel glaubt. B sieht die neutestamentliche
Gemeinde als die „geistliche Erfüllung“ von diesem durch Hesekiel vorhergesagten
Tempel und will von einer buchstäblichen Erfüllung nichts wissen. ED ist davon so
erschreckt, dass er nur noch von der buchstäblichen Erfüllung dieser Prophezeiung
redet und nicht bereit ist anzunehmen, dass auch der Tempel Hesekiels eine
typologische Bedeutung für die neutestamentliche Gemeinde hat.
Eine konsequente Auslegung
Aufgrund dessen, was wir im vorigen Kapitel gefunden haben, können wir nun folgende
Standpunkte unterscheiden
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(1) im Bezug auf die historischen Bücher
allein buchstäbliche, (fast) keine typologische Auslegung (EB);
allein typologische, (fast) keine buchstäbliche Auslegung (alte Allegoreten);
sowohl buchstäbliche als auch typologische Auslegung (D, einige GB).
(2) in Bezug auf die prophetischen Bücher (soweit es bisher sicher nicht erfüllte
Prophezeiungen betrifft):
allein buchstäbliche, (fast) keine typologische Auslegung (ED, manchmal GB);
allein typologische, (fast keine buchstäbliche Auslegung (EB);
sowohl buchstäbliche als typologische Auslegung (GD, einige GB).
Aus diesem Schema wird erkennbar, dass auch, was eine buchstäbliche oder geistliche
Auslegung angeht, eine erfreuliche Annäherung zwischen GB und GD zu entdecken ist. Es
scheint schwierig, zu leugnen, dass die konsequenteste Weise, an einen Text heranzugehen,
doch wohl die ist, nach der die historischen und die prophetischen Bücher nach demselben
hermeneutischen Schlüssel ausgelegt werden. Dieser Schlüssel umfasst zwei Komponenten:
1. Nachdruck auf die buchstäbliche Auslegung nach der historischgrammatischen Methode
Nach dieser Auslegung beschreiben sowohl die historischen als die prophetischen
Bücher des Alten Testaments dieselbe „Geschichte“ desselben (buchstäblichen) Volkes
Israel, und das trifft sowohl auf „vergangene Geschichte“ als auch auf die „zukünftige
Geschichte“ zu. In dieser Geschichte steht die Person und das Versöhnungswerk Christi
zentral so wie wir das im Licht des Neuen Testamentes erkennen. In dieser Geschichte
Israels, sei es in der Vergangenheit, sei es in der Zukunft, sind konsequent dieselben
Grundsätze der Regierung Gottes wirksam: Segen für die Treuen, Urteil für die
Untreuen. Wo das ganze Volk Gottes abweicht, bewirkt Gott in seiner auserwählenden
Gnade doch allezeit wieder die Bildung eines gläubigen „Überrests“, an welchem Er
seine Verheißung erfüllt, denn: „Die Gnadengaben und die Berufung Gottes [gegen
Israel] sind unbereubar“ (Röm 11,29). Die Landverheißung wird nicht in irgendeinem
„geistlichen Land“ erfüllt, sondern in dem alten verheißenen Land. Die Wiederherstellung
des Tempels wird nicht in irgendeinem „geistlichen Tempel“ verwirklicht, denn nach
solch einer Auslegung würde es dann nicht um eine Wiederherstellung dessen gehen,
was einmal verlorenging, sondern um Auswechslung durch ein geistliches Gegenstück.
2. Nachdruck auf die typologische Auslegung sowohl der historischen als auch
der prophetischen Bücher des Alten Testaments
Sowohl die erste als auch die zweite Gruppe Bibelbücher spricht über Zion, Jerusalem,
den Tempel, Gottes Wohnen inmitten seines Volkes, das verheißene Land und seine
Segnungen, den Verfall, die Bildung eines Überrestes, Erweckung und
Wiederherstellung, usw. Alle diese Dinge haben eine wichtige typologische Bedeutung
für die Gläubigen der neutestamentlichen Gemeinde, so wie wir das zum Beispiel
deutlich in 1. Korinther 10,6.11 (vgl. 1Kor 9,9; Röm 15,4; Gal 4,21-31; Heb 7,1-3) finden.
Dass es eine typologische Auslegung gibt, gilt nicht allein für die historischen, sondern
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auch für die prophetischen Bücher. Alle Vorhersagen betreffs der Segnungen des Volkes
Gottes in dem zukünftigen messianischen Friedensreich haben eine typologische
Bedeutung auch für uns. Das heißt: Diese Vorhersagen finden eine geistliche VorErfüllung innerhalb der Gemeinde. Aber so gut wie die typologische Auslegung der
historischen Bücher nichts wegnimmt von ihrer geistlichen Auslegung, genauso wenig
kann die typologische Auslegung der prophetischen Bücher auch nichts wegnehmen von
ihrer buchstäblichen Auslegung. Wenn konsequente Schriftauslegung noch irgendetwas
zu bedeuten hat, werden wir weder in die Gefahren von EB noch in die von ED verfallen.
Sowohl die historischen als auch die prophetischen Bücher müssen dann primärer
„buchstäblich“ (nach der historisch-grammatischen Methode) und sekundär „geistlich“
(übertragen, typologisch) ausgelegt werden.
Diese Art Überlegung muss ihren Wert natürlich in der Praxis der Schriftauslegung beweisen.
Von der Methode und Bedeutung der typologischen Auslegung sehen wir im Weiteren
allerdings ab (außer wenn es an die Reihe kommt bei der „Vergeistlichung“ der
Prophezeiungen durch B), und wir konzentrieren uns auf die „buchstäbliche“ (historischgrammatische) Auslegung. Dabei wird es gut sein, einmal einige Prophezeiungen näher unter
die Lupe zu nehmen und zu sehen, wie B und wie D jede auf ihre eigene Weise behandeln.
Auf diese Weise kann dann hoffentlich etwas besser ans Licht kommen, welche
Herangehensweise dem prophetischen Wort das meiste „Recht“ widerfahren lässt. Natürlich
ist damit noch nicht gesagt, wer nun „Recht“ hat: B oder D. Jede Denkrichtung hat eine große
Anzahl Fluchtwege zur Verfügung, um die Schwierigkeiten zu umschiffen und ihr eigenes
Recht zu verteidigen. Aber wenn zum Beispiel bei der Auslegung der Prophezeiungen B
sichtbar die besseren Karten hat als D, dann wird damit doch der Herangehensweise von D
ein ordentlicher Schlag beigebracht – oder umgekehrt. Wir werden sehen.
Siehe Graphik [Klick aufs Bild]
Übersetzt aus Israel en de Kerk, 1991
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Teil 2: 5. Mose 28–30
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal
noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davor gestellt.
Leitverse: 5. Mose 28–30
Die Teschuwa (Bekehrung/Rückkehr)
In der jüdischen Zukunftserwartung spielt die sogenannte Teschuwa eine große Rolle. Dieses
Wort bedeutet sowohl „Bekehrung“ in dem Sinn einer geistlichen Wiederherstellung als auch
„Rückkehr“ in dem Sinn einer nationalen Wiederherstellung. Dieses Thema kommt in der
Schrift zuerst vor in 3. Mose 26,40-42 und noch deutlicher und ausführlicher in 5. Mose
28–30. Hier schildert Mose zuerst in Kapitel 28 die Segnungen, die Gott seinem Volk
schenken wird, wenn sie seine Gebote halten, und die Flüche, die über sie kommen werden,
wenn sie von Ihm abfallen. Nach der Bundeserneuerung in Kapitel 29 wiederholt Mose den
Fluch, der über das abgefallene Volk kommen soll. Ein wichtiges Element in diesem Fluch ist,
dass Israel aus seinem Land verstoßen und unter alle Völker zerstreut werden soll (5Mo
28,64).
Aber danach geschieht in 5. Mose 30 etwas sehr Interessantes: Wenn Israel unter die Völker
verstreut sein wird und sich dort zu Gott bekehrt und sich von Herzen unter seine Gebote
stellt, dann wird Gott sich über sie erbarmen und sie wieder zusammenbringen aus allen
Völkern, unter die Er sie verstreut haben wird. Er wird sie zurückbringen nach dem Land ihrer
Väter und sie dort segnen. Er wird ihre Herzen und die Herzen ihrer Kinder „beschneiden“,
sodass sie den Herrn von Herzen lieb haben, und Er wird sie mit Wohltaten überladen.
Was bedeutet nun eine derartige Verheißung? Als Auslegung gibt es, soweit ich sehen kann,
drei Möglichkeiten:
1. Man fasst die Prophezeiung wörtlich auf und sieht sie als schon erfüllt an. In diesem Fall
sieht man in die Prophezeiung als vollständig erfüllt an durch die Rückkehr Judas aus
der babylonischen Gefangenschaft.
2. Man fasst die Prophezeiung übertragen auf und meint, dass sie dabei ist, in Erfüllung zu
gehen, und zwar in der Gemeinde der gegenwärtigen Haushaltung, und dass sie voll in
Erfüllung gehen wird in der zukünftigen Haushaltung des neuen Himmels und der neuen
Erde.
3. Man fasst die Prophezeiung buchstäblich auf und sieht sie – abgesehen von einer VorErfüllung bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft – als noch unerfüllt;
die Erfüllung wartet in diesem Fall noch auf die Endzeit, wenn das messiasgläubige
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Israel in dem verheißenen Land wiederhergestellt sein wird.
Welche Auslegung?
Ist es möglich, eine Wahl zwischen diesen drei Auslegungen zu machen? Dafür wollen will
uns das nun Stückchen für Stückchen näher anschauen:
1. In der Tat hat Gott gegen Ende der babylonischen Gefangenschaft einen Überrest
zubereitet, der sich zu Ihm bekehrt hat. Dieser Überrest ist auch in der Tat zurückgeführt
worden nach dem verheißenen Land. Allerdings: Die Segnungen, die in 5. Mose 30
beschrieben wurden, hat Israel dann wirklich nur in sehr beschränktem Maß genossen.
Sie waren und blieben Sklaven von heidnischen Fürsten, die über sie herrschen (Neh
9,36.37). Und nach einigen Jahrhunderten wurde das Volk wieder aufs Neue in die
Gefangenschaft getrieben, und zwar nachdem die Römer Stadt und Land verwüstet
hatten (vgl. 5Mo 28,49-57). Die neue Gefangenschaft entspricht viel mehr der
Beschreibung von 5. Mose 28,64 (vgl. 5Mo 30,3b.4), in dem Sinn, dass Israel während
dieser Gefangenschaft nicht nur in „ein“ Land (Babylonien), sondern in „alle“ Länder als
Gefangene verstreut wurden. Kann man dann wohl sagen, dass 5. Mose 30 heute für
Israel keine Bedeutung mehr hat? Wenn sie sich nun in den Ländern ihrer
Gefangenschaft zuhauf aufs Neue bekehren würden, sollte diese Verheißung dann ihre
Gültigkeit verloren haben? Die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft war
höchstens ein Vorschuss (wie sehr es auch in sich selbst ein großes Werk des Herrn
war!); hat ein bekehrtes Israel dann kein „Recht“ darauf, dass 5. Mose 30,5-10 noch
einmal in vollem Maße in Erfüllung geht?
2. Normalerweise wird EB dem unter (1) Angeführten wohl zustimmen. Aber sie werden
sagen, darum muss 5. Mose 30 noch nicht bei dem buchstäblichen Volk Israel in
Erfüllung gehen: „Die Heilsverheißung richtet sich wohl an das Volk, aber in diesem Volk
ist die Kirche, und diese ist Erbe der Verheißung in dem vollen Sinn des Wortes. […]
Auch die Verheißung von äußerlichen Segnungen findet, in einem höheren Sinn, ihre
vollkommene Erfüllung im neuen Himmel und der neuen Erde, die die durch Christus
Erlösten erben sollen; daran geht eine anfängliche Erfüllung vorab in allen äußerlichen
Segnungen, die heute an die Gemeinde geschenkt sind, sowohl in der Vermehrung ihrer
Anzahl (vgl. 5Mo 30,6) als auch auf andere Weise“ (J. Ridderbos, Korte Verklaring op
5. Mo. 30,1-10).
Das ist deutliche EB-Sprache. Die wichtigste Grundannahme, von der hier ausgegangen
wird, ist: In Israel ist die Kirche enthalten, das meint: In dem natürlichen Israel befindet
sich das „wahre“ (das heißt messiasgläubige) Israel, das ist die Kirche des Alten
Testaments. Diese Kirche umfasst in der gegenwärtigen Haushaltung auch alle
messiasgläubigen Heiden, aber ist noch immer das „wahre Israel“. Die Prophezeiung
richtet sich einfach an dieses „wahre Israel“, das heißt die Kirche.
Für den, der EB anhängt, klingt das völlig annehmbar, und auch die Auslegung von 5. Mose
30, die aus diesen Grundannahmen hervorgeht, klingt ganz akzeptabel. Aber wer nicht
innerhalb des EB-Denkrahmens denkt, für den sieht das ganz anders aus. Ich habe schon
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angeführt, wie D demgegenüber die Kirche ansieht, und man wird dann auch begreifen, dass
die Kirchenanschauung von D eine total andere Sicht auf 5. Mose 30 erzwingt. Aber selbst
wenn man mal die D- oder B-Kirchenansicht in den Hintergrund schiebt, kann man, was 5.
Mose 30 betrifft, doch nicht über einige wichtige Punkte hinweggehen:
1. Ein Kernpunkt dieses Abschnitts ist gerade die Teschuwa, nun aufgefasst in dem Sinn
von „Rückkehr“. Gott hat sein Volk aus dem verheißenen Land vertrieben in andere
Länder. Derselbe Gott wird auch dasselbe (inzwischen bekehrte) Volk aus den Ländern,
in die es vertrieben ist, zurückbringen in das Land. Dasselbe Volk, das zerstreut ist, wird
wieder zurückgebracht. Natürlich nicht dieselben Personen – es liegen Jahrhunderte
zwischen der Vertreibung und der Rückkehr –, aber doch dasselbe Volk Israel.
Momentan ist Israel noch immer verstreut unter den Völkern, zeitgleich besteht auf der
Erde die Gemeinde, die aus 99% Heiden besteht. Welcher Trost geht von diesem
Abschnitt aus, wenn die Juden in der Gefangenschaft glauben müssen, dass ihre
Verheißungen einmal in Erfüllung gehen in einer Gesellschaft, die zu 99% aus Heiden
besteht? Selbst wenn sich heutzutage ein Jude zu Christus bekehrt und er zu dem
Gemeindeleib von Christus beigefügt wird, empfängt er wohl die Beschneidung seines
Herzens (5Mo 30,6), aber nicht die Segnungen des Landes.
2. Genauso unübersehbar ist darum, dass es notwendigerweise um dasselbe Land geht:
„… das Land, das eure Väter besessen haben“ (5Mo 30,5). Wenn das Volk verstoßen ist
aus seinem Land, zurückverlangt nach dem Land und die Verheißung empfängt, dass es
wiederhergestellt werden wird in diesem Land, dann geht es nicht an, das Land zu
vergeistlichen in der Gemeinde oder auf die neue Erde zu schieben.
3. Glaubt man, dass 5. Mose 28–29 wörtlich in Erfüllung gegangen sind? Natürlich; wir
sehen es vor unseren Augen, dass Israel verstreut ist unter die Völker. Aber mit welchem
hermeneutischen Trick erklären wir den ersten Teil der Prophezeiung für buchstäblich
erfüllt und beweisen, dass der zweite Teil geistlich erfüllt werden soll? Mit welchem
schriftgemäßen Recht lassen wir die Flüche für Israel und eignet sich die Kirche selbst
die Verheißungen und Segnungen an? Hier geht es nicht bloß darum, ob wir die
Prophezeiungen buchstäblich oder geistlich erklären müssen. Hier wird ohne irgend eine
innerliche Konsistenz einfach ein Teil buchstäblich und ein Teil geistlich ausgelegt. Die
Begründung, dass dieses zusammenhängt mit dem Übergang von der alten zu der
neuen Haushaltung funktioniert hier nicht: Noch im Jahre 70 n.Chr. geht der Fluch von 5.
Mose 28–29 wieder einmal buchstäblich in Erfüllung. Inzwischen ist dann die geistliche
Erfüllung der Segensverheißung von 5. Mose 30 laut EB schon lange in Gang
gekommen!
4. Ist es möglich, in der Diskussion zwischen B und D zusammen festzustellen, dass die
Auslegungsmethoden (1) und (2) eine unbefriedigende Methode anbieten? Gerade die
historisch- grammatische Methode wird unter „Land“ und „Volk“ in 5. Mose 28–30 stets
dasselbe verstehen. Sicher, es ist ein abgefallenes Volk, das zerstreut wird und ein
bekehrtes Volk, das zurückgebracht wird; aber es geht dann doch in beiden Fällen um
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dasselbe Volk Israel und um Zerstreuung aus und Rückkehr nach dem selben Land
Israel.
Besondere Kennzeichen der Teschuwa
Doch wenn D nur 5. Mose 28–30 hat, ist das eine ziemlich schmale Basis für seinen Glauben
an eine zukünftige geistliche und nationale Wiederherstellung Israels in seinem Land. Wir
werden uns nun verschiedene spätere Prophezeiungen anschauen, und dann werden wir
sehen, wie laut D die Prophezeiungen betreffs der Teschuwa dort einige Kennzeichen haben,
die unmissverständlich auf die Endzeit hinweisen:
a. Die Wiedervereinigung der zwei und der zehn Stämme
Eine derartige herrliche Rückkehr sowohl von Juda als auch von Ephraim und ihre
triumphale Wiedervereinigung in dem gelobten Land (unter dem Messias! Hes 37) ist
noch immer nicht in Erfüllung gegangen. Man kann hier unmöglich an die Rückkehr aus
der babylonischen Gefangenschaft denken. Auslegung (1) funktioniert hier überhaupt
nicht, und Auslegung (2) hat hier deutlich mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Wenn man
die Prophezeiung in der neutestamentlichen Gemeinde erfüllt sieht, bzw. auf der neuen
Erde, was ist dann die geistliche Bedeutung von einer Wiedervereinigung der zwei und
der zehn Stämme Israels? Man kann hier unmöglich die Vereinigung von Juden und
Heiden in einer Kirche sehen wollen. Wie kann die Vereinigung von Israel mit den
messiasgläubigen Heiden etwas zu tun haben mit Gottes Verheißungen betreffs der
Wiedervereinigung von zwei seit langer Zeit getrennten Gruppen innerhalb des Volkes
Israel? Wenn hermeneutische Kriterien noch irgendetwas bedeuten, dann sind hier die
Grenzen deutlich überschritten.
b. Ein zweites eschatologisches Kennzeichen der Prophetie ist, dass die ihre Erfüllung oft
direkt verbunden wird mit der Wiederkunft des Messias und der Festigung seines
Friedensreiches. Auch geschieht dies in den Prophezeiungen mit einem „doppelten
Boden“: Es gibt dann eine erste Erfüllung, die zur Zeit des Propheten selbst stattfindet
oder kurz danach bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft, und es gibt
eine zweite endgültige Erfüllung, die bei der Wiederkunft des Messias stattfindet. Auch
hier kann EB laut D keine konsequente „geistliche“ Auslegung geben. Denn es ist ja so,
dass die erste Erfüllung stets buchstäblich aufgefasst werden muss und die zweite
Erfüllung – die doch nichts anderes als ein Verlängerungsstück und eine Ausbreitung der
ersten ist – wieder vergeistlicht wird. Und selbst diese Vergeistlichung geschieht wieder
inkonsequent. Denn es ist ja so, dass die Wiederkunft des Messias wohl wörtlich
aufgefasst wird, aber was ringsum mit Israel und seinen Feinden geschieht, wird wieder
vergeistlicht. Selbst die Wiederkunft des Messias wird noch teilweise vergeistlicht: Wohl
ein buchstäbliches Niederkommen aus dem Himmel, also „mit den Wolken des
Himmels“, in Gesellschaft von buchstäblichen Engeln, aber dass seine Füße auf dem
Ölberg stehen werden und dass Er triumphal in die Stadt Jerusalem einziehen wird, das
muss dann wieder vergeistlicht werden. D erfährt dieses als ziemlich willkürlich, sicher
solange wie keine scharfen, annehmbaren hermeneutischen Kriterien dafür geboten
werden. Aber wenn die Ergebnisse des EB-Denkens so willkürlich aussehen, müssen
dann die Grundannahmen nicht einmal unter die Lupe genommen werden? Im folgenden
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Dispensationalistische oder bundestheologische Sicht?
Willem Johannes Ouweneel
Abschnitt werden wir diese Punkte noch näher untersuchen, dadurch dass wir einige
Prophezeiungen näher anschauen.
Siehe Graphik [Klick aufs Bild]
Übersetzt aus Israel en de Kerk, 1991
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Dispensationalistische oder bundestheologische Sicht?
Willem Johannes Ouweneel
Teil 3: Jesaja 11
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal
noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davor gestellt.
Leitverse: Jesaja 10–11
Untersuchung einiger prophetischer Schriftabschnitte
nach dispensationalistischer und bundestheologischer Sicht
Jesaja 11
Gespräch zwischen einem Bundestheologen und einem Dispensationalisten:
D: Jesaja 11 ist für mich so ein Kapitel, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass ein
bibeltreuer Christ das nicht wörtlich nehmen soll. So gut wie ich glaube, dass Vers 1 wörtlich
erfüllt ist in der Geburt des Messias, so glaube ich auch an das wörtliche Friedensreich (Jes
11,3,5-10), an die Vernichtung des Antichristen, die Rückkehr und Wiedervereinigung von
allen zwölf Stämmen (Jes 11,11-13), usw.
B: Für mich ist es genauso verwunderlich, dass ein bibeltreuer Christ nicht einsieht, dass
Jesaja 11 einfach nicht wörtlich genommen werden kann. Wenn du zum Beispiel die Jesaja
11,6-8 (Friede und Harmonie) und Jesaja 11,14.15 (Streit und Gericht) wörtlich auffassen
willst, werden sie miteinander im Widerspruch sein. Es ist deutlich, dass das Kapitel gerade
geistlich aufgefasst werden muss.
D: Aber auch bei der geistlichen Auslegung hast du mit demselben scheinbaren
Widerspruch zu tun! Bei der buchstäblichen Auslegung gibt es dabei allerdings überhaupt
kein Problem: Das messianische Reich beginnt notwendigerweise mit Gericht, um die
feindlichen Elemente aus dem Reich zu vertreiben und geht nach kurzer Zeit über in ein
wahres Friedensreich von Harmonie und Gerechtigkeit. Das sehen wir deutlich in anderen
Prophezeiungen, zum Beispiel Sacharja 14.
B: Aber wie willst du nun zum Beispiel alle Elemente in Jesaja 11,15 buchstäblich
auffassen? Dort will Gott „das Seeungeheuer von Ägypten mit dem Bann schlagen“ und
„seine Hand gegen den Fluss erheben mit der Glut seines Atems“. Das kannst du doch nur
übertragen auffassen?
D: Oh, selbst in einer buchstäblichen Prophetie können natürlich symbolische Elemente
vorkommen, zum Beispiel die normale Bildersprache. Mit demselben Problem hast du auch
in Jesaja 40,3ff. zu tun, wo es um das buchstäblich Auftreten von Johannes dem Täufer
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geht, aber wo das Erhöhen jedes Tals und das Erniedrigen von Berg und Hügel klar als
Bildersprache aufgefasst werden muss. Ich kann überdies nicht verstehen, warum du, der
du die Prophezeiung über die Ankunft von Johannes und von Christus buchstäblich auffasst,
doch dein Bestes tust, um die noch unerfüllten Prophezeiungen geistlich aufzufassen.
B: Weil das Neue Testament es deutlich macht, dass all diese Prophezeiungen einmal in der
Kirche erfüllt werden, so dass sie allein geistlich oder übertragen verstanden werden
können.
D: Aber das Neue Testament lehrt uns doch so etwas überhaupt nicht! Es werden
manchmal wohl Parallelen gezogen zwischen der neutestamentlichen Kirche und dem Israel
der Endzeit, aber das bedeutet nicht, dass solche Parallelen die definitive Enderfüllung der
Prophezeiungen beschreiben sollen.
B: Warum sollen sie das nicht? Wenn ich z.B. Römer 9,25-33 oder 1. Petrus 2,6-10 lese,
höre ich da nichts über einen derartigen Unterschied zwischen einer „Anwendung“ auf die
Gemeinde und einer „Erfüllung“ in dem zukünftigen Israel.
D: Warum muss das dabeistehen? Aus dem Vergleich der Prophezeiung und der Anführung
davon können wir erkennen, ob es sich um eine Anwendung oder wohl um eine Erfüllung
handelt.
B: Ich glaube, dass das eine künstliche Unterscheidung ist. Das Neue Testament legt das
Alte Testament aus. Dadurch glaube ich, dass die noch nicht erfüllten Prophezeiungen alle
erfüllt werden in der Kirche usw.
Wir beschränken uns in diesem Artikel auf fünf prophetische Schriftabschnitte … Und wir
beginnen mit dem in obigem Gespräch genannten Abschnitt aus Jesaja.
Jesaja 10 und 11
Der Zusammenhang mit anderen Kapiteln
In den Tagen des Propheten Jesaja, der zur Zeit der jüdischen Könige Ahas und Hiskia lebte,
war der große Feind von Juda das gerade an die Macht gekommene assyrische Weltreich. In
Jesaja 7,17-25 warnt Jesaja König Ahas, dass nicht sein damaliger Feind Rezin und Pekach,
sondern der König von Assur der eigentliche Feind des Volkes sein würde. In Jesaja 8,5-10
warnt Jesaja aufs Neue vor der sich nähernden Invasion von Assur in das Land Juda, aber
verweist als Trost auf den schon in Jesaja 7,14 angekündigten Königssohn Immanuel.
Abgesehen von der Frage, ob diese letzte Prophezeiung schon in den Tagen Jesajas eine
Vorerfüllung gekannt hat, zweifelt die bibeltreue Exegese aufgrund von Matthäus 1,22-25
nicht daran, dass mit diesem Immanuel zutiefst der Herr Jesus gemeint ist. Das bedeutet,
dass schon in Jesaja 7 und 8 der Einfall von Assur in eschatologischer Perspektive gesehen
wird, nämlich im Licht der Wiederkunft von Jesus Christus.
Dasselbe geschieht in Jesaja 8,23–9,6, wo gegenüber der Drohung, die von Assur ausgeht,
voll Trost hingewiesen wird auf das Kind, das geboren, den Sohn, der gegeben wird. Auch
hier zweifeln wir nicht daran, dass der Messias gemeint ist. Der Angriff von Assur wird
schließlich definitiv zurückgeschlagen werden nicht in den Tagen von Hiskia dem Sohn Ahas,
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sondern in den Tagen des Messias. Seine Herrschaft wird groß und sein Friede endlos sein,
wenn Er auf dem Thron Davids sitzen wird und sein Königreich aufrichtet und die Grundlagen
dafür Recht und Gerechtigkeit sind (Jes 9,6). Wie unterschiedlich B und D diesen Vers auch
interpretieren wollen (einen Thron auf der Erde oder in dem Himmel, das Tausendjährige
Friedensreich oder die neue Erde?), beide sehen in diesem Vers den Herrn Jesus, und beide
sehen, dass dieser Vers in vollem Maße in Erfüllung geht bei dessen Wiederkunft.
Wenn wir nun einmal kurz Kapitel 10 und 11 überschlagen, dann sehen wir Assur auch in den
folgenden Kapiteln in eschatologischer Perspektive. Ich nenne einige deutliche Abschnitte:
In Jesaja 19,23-25 beschreibt der Prophet eine merkwürdige zukünftige
Wiederherstellung von sowohl Assur als auch Ägypten. Israel wird dann ein Segen in der
Mitte der Erde sein, zwischen Ägypten und Assur. Nach D weist das hin auf das
Friedensreich, wenn nicht allein Israel in seinem Land wieder hergestellt sein wird,
sondern, wenn es auch eine Wiederherstellung für verschiedene Völker um Israel herum
geben wird. B hat es hier schwerer. J. Ridderbos in seiner kurzen Erklärung über diesen
Schriftabschnitt kommt nicht viel weiter als zu einem allgemeinen Hinweis nach Epheser
2,17.
Wir haben hier eins von den zahllosen Beispielen für eine große Schwierigkeit bei B. Wo
„Israel“ vergeistlicht wird zu „der Kirche“ im allgemeinen Sinn, da kann kein Unterschied
mehr gemacht werden zwischen Israel, Juda, Jerusalem, Zion, usw. Alles verweist
unabänderlich auf „die Kirche“. Aber das gilt selbst auch für die Nationen, die in dem
Friedensreich gesegnet werden: Die gehören auch ohne Unterschied zu „der Kirche“.
Den einzigen Unterschied, den B noch machen kann, ist zwischen messiasgläubigen
Juden und Heiden. Dieser Unterschied wird dann auch unmittelbar angewandt, um eine
Erklärung zu geben zur Wiedervereinigung von Juda und Ephraim und auch zum
Unterschied, den die Propheten in dem messianischen Reich machen zwischen Israel
und den Nationen. Aber jede weitere Nuancierung ist unmöglich. Was „Assur“ und
„Ägypten“ in dem messianischen Reich vorstellen können, darauf hat B keine Antwort.
Ridderbos suggeriert wohl noch, dass Ägypten eine wichtige Rolle in der früheren
Kirchengeschichte gespielt hat – an Assur wagt er sich nicht einmal! –, aber die
Tatsache, dass in der frühen Kirchengeschichte relativ viele Christen in Ägypten waren,
ist natürlich ganz etwas anderes als eine eschatologische Wiederherstellung von
Ägypten (und Assur) als solche. Hier lässt uns B einfach im Stich, wie man es auch dreht
und wendet.
Jesaja 27 ist ein prächtiges Kapitel über die endgültige Erlösung von Israel aus der
Hand der Weltmächte. Es soll „Wurzel schlagen, blühen und aufsprossen“ (Jes 27,6),
und vor allen Dingen: „Die Ungerechtigkeit von Jakob soll gesühnt werden“ (Jes 27,9;
angeführt in Römer 11,26 und auch da auf das buchstäbliche Israel angewandt!).
Schauen wir nun einmal besonders nach Jesaja 27,12.13: Der Herr wird die Israeliten
versammeln, sowohl die, die „verloren waren in dem Land Ägypten“ (die zehn Stämme)
als auch die, „die vertrieben waren in das Land Ägypten“ (vgl. Jer 40–44), und sie
„sollen kommen und sich niederbeugen vor dem Herrn auf dem heiligen Berg zu
Jerusalem“ (vgl. Jes 11,15.16). Auch hier gibt uns B keine präzise typologische
Auslegung davon, was speziell die Verlorenen in Assur und die Vertriebenen in Ägypten,
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die zurückgeführt werden nach Jerusalem, bedeuten sollen.
In Jesaja 30,30-33 und in Jesaja 31,8 wird der Untergang von Assur dem unmittelbaren
Eingreifen des Herrn zugeschrieben. In diesem Zusammenhang ist Jesaja 30,4.5
besonders interessant: „So wird der Herr der Heerscharen zum Kampfe niederfahren auf
den Berg Zion und auf dessen Hügel; wie fliegende Vögel, so soll der Herr der
Heerscharen Jerusalem beschützen, beschützend retten und schonend befreien.“ Das
scheint wohl ein deutlicher Verweis auf die Wiederkunft des Messias zu sein (siehe auch
Jes 30,27!), ein Gedanke, der dadurch unterstützt wird, dass direkt darauf in Kapitel 32
eine schöne Beschreibung des messianischen Friedensreiches folgt: „Und siehe ein
König wird regieren in Gerechtigkeit und Fürsten werden herrschen nach dem Recht …“
(Jes 32,1; vgl. auch V. Jes 32,14-20; 33,17-24; 35,1-10). Auch hier kann nicht daran
gezweifelt werden, dass der Untergang von Assur, der in der Vernichtung des Lagers
von Sanherib (Jes 37,36-38) eine Voraberfüllung fand, schließlich im vollsten Sinne bei
der Wiederkunft von Jesus Christus, der Wiederherstellung von Israel und der Festigung
des messianischen Reiches stattfinden wird.
Kapitel 10 und 11
Schauen wir uns nun Jesaja 10–11 an. Dort wird Assur die „Rute“ des Zorns Gottes genannt
(Jes 10,5), eine Rute, die der Herr aufhebt gegen sein Volk, um es zu züchtigen wegen seiner
Sünden. Aber diese Züchtigung ist nicht für Dauer; Gott hat sein Volk nicht definitiv
abgeschrieben: „Doch es soll geschehen, wenn der Herr sein ganzes Werk auf dem Berg Zion
und in Jerusalem vollendet hat, dass ich die Frucht des Hochmuts des Königs von Assur
besuchen werde“ (Jes 10,12). Assur hat seine Erfolge vollständig seiner eigenen Kraft
zugeschrieben und wollte sich selbst nicht bloß als ein willenloses Werkzeug in der Hand
Gottes sehen (vgl. Jes 10,15). Deswegen kommt das Gericht nicht allein über Assur auf
Israel, sondern letztendlich auch auf Assur selbst (Jes 10,17-27).
Dieses Gericht wird in die folgende eschatologische Perspektive gesetzt: Jesaja 10,20-22:
„Und es wird geschehen an jenem Tage, da wird der Überrest Israels und das Entronnene
des Hauses Jakob sich nicht mehr stützen auf den, der es schlägt; sondern es wird sich
stützen auf den HERRN, den Heiligen Israels, in Wahrheit. Der Überrest wird umkehren […],
der Überrest Jakobs zu dem starken Gott [… das ist der Messias; siehe Jes 9,5]. Denn wenn
auch dein Volk, Israel, wie der Sand des Meeres wäre, nur ein Überrest davon wird
umkehren“.
Was bedeutet diese Bekehrung eines „Restes“ oder „Überrests“ von Israel? Es gibt welche,
die sagen, dass dieses Wort schon längst, nämlich in den Tagen von Hiskia, in Erfüllung
gegangen ist. Ein Hinweis darauf scheint Jesaja 37,32 zu sein, wo in Verbindung mit dem
Urteil über das Lager von Sanherib gesagt wird: „… denn von Jerusalem soll ein Überrest
ausgehen, und von dem Berg Zion, was entkommen wird.“ Zweifellos können wir in Hiskias
Tagen von einer Vorerfüllung reden. Aber Kapitel 10–11 (und auch Kapitel 31–35, wie wir
gesehen haben) gehen weit darüber hinaus, dadurch dass sie die Bekehrung des „Überrests“
mit der Festigung des messianischen Reiches unter dem großen Sohn von Hiskia verbinden.
Siehe auch den Schluss von Jesaja 37,32, der gleich ist mit dem von Jesaja 9,6: „Der Eifer
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des Herrn der Heerscharen wird dies tun.“
Fast alle Ausleger haben ein Auge für die eschatologische Perspektive von Jesaja 10,20-27.
Aber, so betont B, dieser „Überrest“, der bekehrt wird, ist die ganze Kirche der neuen
Haushaltung, oder er ist der Teil von Israel, der den Messias annimmt und so in die Kirche
aufgenommen wird. D antwortet darauf, dass B hier folgende Punkte in Jesaja 10–11
übersieht:
Die Bekehrung des „Überrests“ wird nicht in der gegenwärtigen Haushaltung lokalisiert,
sondern wird genau datiert: Sie hängt zusammen mit dem Untergang von Assur (Jes
10,24-34) und mit der Festigung des messianischen Reiches (Jes 11,1-10); das
bedeutet: mit der Wiederkunft des Messias.
Es geht hier nicht um die Bekehrung von Juden als solche im Allgemeinen, noch viel
weniger um die Bekehrung von Menschen im Allgemeinen, sondern um die Bekehrung
von diesem spezifischen „Überrest“, der einen Teil ausmacht von dem durch Assur
unterdrückten Volk und das nun aus den Klauen von Assur befreit wird. Die jetzt
endliche Bekehrung des Überrests betrifft die Bekehrung der Israeliten, die in den
letzten Tagen kurz vor der Wiederkunft des Messias unterdrückt werden durch das
„Assur“ der Endzeit, das durch den Messias selbst gerichtet wird.
Das messianische Reich (Jes 11,1-10) ist nicht die gegenwärtige Haushaltung, sondern
die Haushaltung, in dem Recht und Gerechtigkeit auf der Erde gefestigt werden, die
Gottlosen ausgerottet werden (Jes 11,4), Gewalt und Blutdurst selbst aus dem Tierreich
abgeschafft werden (Jes 11,6-8; selbst wenn man dies nicht buchstäblich auffassen will,
dann verweisen diese Verse doch auf eine Zeit von allgemeinem Frieden und Harmonie,
so wie die Welt sie noch nicht gekannt hat), die Erde voll sein wird von der Kenntnis des
Herrn (Jes 11,9) und die Nationen die „Wurzel von Isai suchen werden, die als ein
Panier der Nationen bestehen wird“, das ist der Herrn Jesus.
In diesem messianischen Friedensreich wird Israel beziehungsweise Jerusalem der
Mittelpunkt der Erde sein (Jes 11,11-16; vgl. Jes 2,1-5). Es ist hierzu sehr wichtig, zu
sehen, dass hier in überhaupt keiner Weise die Rede davon ist, dass eine Vereinigung
zwischen Juden und Nationen zu einer Kirche, einem Qahal (Wort für Gemeinde im AT)
oder irgendetwas dergleichen – diese zwei Gruppen bleiben im Friedensreich deutlich
unterschieden – stattfinden wird, aber desto mehr hören wir von einer
Wiedervereinigung von „den Vertriebenen von Israel und den verstreuten Töchtern von
Juda“, die alle versammelt werden von den vier Enden der Erde her. Das Bild von den
stets deutlich unterschiedenen Juden und Nationen kann laut D auf überhaupt keine
Weise in Harmonie gebracht werden mit der gegenwärtigen Haushaltung, worin
(1) von einer Wiedervereinigung von Juda und Ephraim keine Rede ist – das kann auch
nicht, denn es soll erst nach der Wiederkunft des Messias geschehen – und
(2) messiasgläubige Juden und Heiden auf der Grundlage der Gleichheit
zusammengefügt sind in der einen Gemeinde.
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B über Jesaja
D findet es schon verblüffend, wie Ridderbos versucht, Jesaja 11 in den EB-Denkrahmen
hineinzupressen. Ridderbos muss zugeben, dass es begreiflich ist, „dass die Chiliasten
aufgrund von dieser und ähnlichen Prophezeiungen noch eine Volks-Bekehrung von Israel
und eine Rückkehr nach Kanaan erwarten“. Aber unmittelbar danach lehnt er diese
buchstäbliche Auslegung ab, weil die Verse 6ff. und die Verse 14ff., wenn sie buchstäblich
aufgefasst werden müssen, sich einander widersprechen würden! Es kommt ihm nicht in den
Sinn, dass Vers 14ff. den notwendigen Anfang des messianischen Friedensreiches
beschreibt. Der Messias muss mit seinem Volk zuerst Krieg gegen seine Feinde führen, bevor
Friede und Gerechtigkeit definitiv gefestigt werden können (vgl. Sach 14). Auch meinte
Ridderbos, dass bestimmte Merkmale in Jesaja 15ff. „schwierig“ (also nicht unmöglich?)
völlig buchstäblich gemeint sein können. Als ob er selbst nicht zum Beispiel Jesaja 40,3-5
buchstäblich in dem Auftreten von Johannes dem Täufer erfüllt sieht, auch wenn die Täler
nicht buchstäblich erhöht und die Berge nicht buchstäblich erniedrigt wurden. Eine
Prophezeiung kann also sehr gut buchstäblich erfüllt sein, auch wenn darin bestimmte
„Merkmale“ vorkommen, die übertragen oder symbolisch gemeint sind.
Aufgrund dieser kleinen Anmerkung weist Ridderbos dann die buchstäbliche Interpretation
dieses Abschnittes komplett ab und kommt mit seiner B-Vision nach vorne, ohne irgendeine
Anstrengung zu unternehmen, um im Lichte von EB die Verse 11-16 sorgfältig Wort für Wort
auszulegen. Ich weiß auch nicht, ob das überhaupt möglich ist; EB kann solche
Schriftabschnitte nur vage und in allgemeinen Ausdrücken auslegen, und er darf es D dann
auch nicht übel nehmen, wenn der das „weg-auszulegen“ nennt.
In dem Bild, das die Propheten von der Art und Weise malen, wie Israel und die Nationen
während der Zeit des messianischen Friedensreiches zueinander stehen, ist nicht viel
wiederzuerkennen, was mit dem gegenwärtigen Verhalten zwischen messiasgläubigen Juden
und Heiden innerhalb der Gemeinde übereinstimmt. Oberflächlich gesehen mag da noch
etwas Ähnliches sein, dadurch dass die Propheten sehen lassen, dass auch in dem
Friedensreich viele Heiden als Proselyten dem jüdischen Volk beitreten werden (Jes 14,1;
56,3-7; Sach 8,23; 14,16-19). Das ist allerdings nicht die Situation, so wie sie in der
Gemeinde besteht, sondern vielmehr die Situation, so wie sie im Alten Testament bestand. In
Jesaja 56,6-8 schließen Fremdlinge sich Israel an, um mit ihnen den Sabbat zu halten, dem
Herrn zu nahen auf seinem heiligen Berg und ihm Brand- und Friedensopfer zu bringen.
Genauso war es im Alten Testament. Aber im Neuen Testament wird der Sabbat nicht
gehalten, da gibt es keinen heiligen Berg mehr und da werden keine stofflichen Brand- und
Friedensopfer mehr gebracht.
Nun kann man natürlich versuchen, dies zu vergeistlichen oder die Prophetie typologisch
aufzufassen. Aber dann kann man immer noch von der gegenwärtigen Haushaltung nicht
sagen, dass der messiasgläubige Heide übergeht oder sich einem wiederhergestellten und
bekehrten (Überrest von) Israel anschließt. Vielmehr ist es so, dass der Überrest von Israel in
der gegenwärtigen Haushaltung gerade sein eigenes Volk hat verlassen müssen, um
überzugehen und sich der einen Gemeinde anzuschließen, die aus messiasgläubigen Juden
und Heiden besteht, welche aufgrund von Gleichheit miteinander vereinigt sind.
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Teil 4: Hesekiel 34–39
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal
noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davor gestellt.
Leitverse: Hesekiel 34–39
Dies (Hesekiel 34–39) ist ein langer Abschnitt aus dem Buch Hesekiel, und wir können dann
auch nur einige Hauptlinien aufzeigen.
Hesekiel 34
Der Gedanke dieses Abschnittes ist, dass Israel lange Zeit falsche Hirten gehabt hat, die sich
nicht um das Volk bekümmert haben oder es sogar selbst verschlungen haben. Deswegen
nimmt Gott selbst sich der Sache seines Volkes an:
a. Er bringt sein Volk zusammen aus allen Ländern, in die sie verstreut gewesen sind (Hes
34,13).
b. Er stellt einen Hirten über sie an, der sie weiden soll: seinen Knecht „David“; der soll
Fürst sein in ihrer Mitte (Hes 34,23).
c. Er schließt einen „Bund des Friedens“ mit seinem Volk (Hes 34,25).
d. Israel wird hergestellt und gesegnet in seinem eigenen Land (Hes 34,13-29).
Wie soll man das nun auf die Kirche zupassen, wie EB das will? Dann muss man doch
konsequent aufzeigen, wie diese Kirche erst durch falsche Hirten geleitet wurde, bevor Gott
sich ihrer annahm. Oder ist die Kirche in ihrem schlechten Zustand mit ihren falschen Hirten
das buchstäbliche Israel und ist sie in ihrem neuen Zustand als das geistliche Israel unter den
wahren David gestellt? Wie will man diesen hermeneutischen Sprung verantworten? Das
buchstäbliche Israel wird noch stets durch falsche Hirten geleitet. Hat die Prophezeiung da
überhaupt keine Bedeutung mehr für sie? Hat sie nur noch Bedeutung für die Kirche?
Aber dann vergisst man, dass Hesekiel 34 nicht in Apostelgeschichte 2 in Erfüllung gegangen
ist oder wann auch immer in der Kirchengeschichte, sondern dass ihre Erfüllung nicht anders
als sonst in der Prophetie nur in Zusammenhang mit der Wiederkunft des Messias und der
Festigung seines Reiches verstanden werden kann (siehe die folgenden Kapitel). Dann erst
werden die Feinde Israels vernichtet (s. Hes 35; 38; 39!), dann erst brechen Friede und
Gerechtigkeit auf der Erde an. Nun, welches „Israel“ ist es, über das der wiedergekommene
David bald seine Königsherrschaft ausübt? Die Kirche der Endzeit? Die eine oder andere
Kirche, die sich selbst das geistliche Israel nennt? Oder dasselbe Israel, das einmal durch
Gott verstoßen wurde, aber über das Er sich noch erbarmen wird (Jes 54,1-8; Hes 16, vor
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allen Dingen Hes 16,53-63; Hos 2)?
Hesekiel 36
Der eben genannte Punkt ist sehr wichtig. Gott wird sich einmal erbarmen über dasselbe
irdische Volk Israel, über das Er erzürnt gewesen ist. Er bringt dasselbe Volk zurück, dass Er
auch vertrieben hat. Er stellt es in demselben Land wieder her, woraus Er es in die
Gefangenschaft geführt hatte. Dasselbe Volk, das so oft von Gott abgewichen ist und so viele
Sünden auf sich geladen hat, wird in Hesekiel 36 gereinigt und geläutert. Nicht die
neutestamentliche Kirche ist dasselbe Volk, sondern das heutige Volk Israel ist dasselbe Volk,
das so lange Gottes züchtigende Hand empfunden hat, aber bald durch denselben Gott
wiederhergestellt werden wird. Das heutige Volk Israel ist dasselbe Volk, wie das Volk, das
Gott einmal aus dem verheißenen Land vertrieben hat und dass Er bald wieder in dem
verheißenen Land wiederherstellen wird. Kapitel 36 spricht über die Rückkehr des alten
Volkes Gottes, über seine Wiederherstellung auf den alten Bergen von Israel (Hes 36,8), über
die Wiederherstellung der alten Städte (Hes 36,10.33-38), über das Abwenden der Schmach
und Schande, die so viele Völker so viele Jahrhunderte lang über Israel ausgebreitet haben
(Hes 36,15). Dasselbe Volk, das wegen seiner Sünden in die Gefangenschaft gehen musste
(Hes 36,19), wird wegen des heiligen Namens Gottes aus der Gefangenschaft
zurückgebracht werden in das verheißene Land (Hes 36,22-24). Sie werden von ihren
Sünden gereinigt werden und wieder durch Gott als sein Volk angenommen werden (Hes
36,25-29.33).
Hesekiel 37
Die Verse in Hesekiel 37,1-14 sind für unser Thema sehr wichtig, weil dieser Abschnitt sehen
lässt, wie es bei der Wiederherstellung Israels zwei Phasen geben wird. Der Prophet sieht ein
Tal von dürren Knochen. Auf Befehl Gottes fügen diese sich zusammen, verbinden sich mit
Sehnen, werden mit Haut überzogen; aber Geist ist noch nicht in ihnen (Hes 37,7). Das ist die
erste Phase der Wiederherstellung: die Gebeine sehen aus wie Menschen, aber ohne Geist,
ohne Leben. Aber dann, auf einen neuen Befehl Gottes, wird der Geist (Wind, Geist) über
diese Leichen wehen, wodurch Geist in sie kommt, so dass sie wieder lebendig werden und
auf ihren Füßen stehen (Hes 37,9). Das ist die zweite Phase der Wiederherstellung. Bei der
Auslegung (Hes 37,12-14) sieht man, was die Bedeutung ist: Bei der ersten Phase der
Wiederherstellung wird das Volk als solches aus seinen Gräbern zum Vorschein gerufen und
zurückgebracht in das Land Israel. Aber erst in der zweiten Phase kommt der Geist Gottes
über das Volk, sodass es geistlich wiederbelebt wird. Das ist die Bekehrung und Reinigung
des Volkes (Hes 36,27; 39,29), nachdem alles in dem verheißenen Land angekommen ist;
erst die nationale Wiederherstellung, dann die geistliche Wiederherstellung. Das will nicht
sagen, dass es mit allen Israeliten so gehen wird. Wenn ich die Prophetien gut lese, gibt es
eine nationale Wiederherstellung im Land und erst kurz vor und in der großen Drangsal wird in
dem Land ein Überrest geformt, mit dem die geistliche Wiederherstellung beginnt. Aber nicht
alle Juden kehren schon vor der Wiederkunft des Messias in das Land zurück. Darum werden
viele Israeliten erst nach der Wiederkunft diese Wiederherstellung in den Ländern erleben, in
denen sie noch bleiben, und so bekehrt und gereinigt zurückkehren in das verheißene Land
(vgl. Hes 20,33-44).
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Im zweiten Teil von Kapitel 37 finden wir die deutlichste Passage in den prophetischen
Büchern über die Wiedervereinigung von Juda und Ephraim, die zwei und die zehn Stämme.
Gott kündigt an, dass Er sie allein aus den Ländern, wohin Er sie verstreut hatte,
zurückbringen wird in ihr eigenes Land. Da werden sie wieder zu einem Volk gemacht
werden, das alte Volk von den zwölf Stämmen, und auch ein Königreich mit einem König:
„mein Knecht David“. Sie werden gereinigt sein von ihren Sünden und der Herr wird mit ihnen
einen ewigen Bund schließen. Sein Heiligtum wird wieder in ihrer Mitte erbaut werden (siehe
ausführlich Hes 40–44).
Auch hier also dieselbe Botschaft. Gott sagt also nicht voraus in vager Form, dass in der
Zukunft das eine oder andere Bundesvolk bestehen soll, das alle gereinigten Sünder umfasst.
Da würde man dann die Kirche der neuen Haushaltung sehen können. Aber nein, Er hat es
mit seinem alten Volk zu tun, das Er selbst zerstreut hat, aber das Er einmal wieder
zurückbringt und wieder vereinigt. Gott hat es auch nicht zu tun mit einem Volk, das Er seinen
neuen Tempel nennt – so wie Paulus uns zeigt, dass die Gemeinde der Tempel Gottes ist –,
nein, der Herr spricht über einen Tempel, den Er inmitten seines Volkes bauen wird. Dies ist
auch nicht ein Tempel in dem gegenwärtigen, sondern in dem zukünftigen Zeitalter. Es ist in
Sacharja 14 das „Haus des Herrn“ (Hes 37,20), wohin die Völker jedes Jahr hochziehen
werden, um sich vor dem Herrn nieder zu beugen (Hes 37,16), und das, nachdem der Herr
wiedergekommen ist aus dem Himmel (Hes 37,3-5) und sein Friedensreich aufgerichtet hat
(Hes 37,9). Dann wird der Spross (der Messias) „an seiner Stelle aufsprossen und er wird den
Tempel des Herrn bauen. Ja, er wird den Tempel des Herrn bauen und er wird mit Majestät
bekleidet sein und als Herrscher sitzen auf seinem Thron; und er wird Priester sein auf seinen
Thron. … Die ferne sind, werden kommen, um an dem Tempel des Herrn zu bauen“ (Sach
6,2.15).
Hesekiel 38 und 39
Der volle Segen des Friedensreiches (s. Hes 40–48) kann erst anbrechen, wenn die EndzeitWeltmacht, die gegen Israel ankämpft, vernichtet ist. Sie wird hier angedeutet mit dem Namen
„Gog, in dem Land Magog, der Großfürst von Mesech und Tubal“ (Hes 38,2), „ferne in dem
Norden“ (Hes 38,6), aber es geht um dieselbe Macht, „ wovon“ (sagt Er) „ich in früheren
Tagen gesprochen habe durch den Dienst meiner Knechte, dem Propheten von Israel, die in
jenen Tagen jahrelang prophezeit haben, dass ich dich gegen sie auftreten lassen werde“
(Hes 38,17). Das wird wahrscheinlich dieselbe Macht sein, die Jesaja andeutet mit dem
Namen „Assur“.
Auch hier finden wir nicht, wie EB es gewöhnlich beschreibt, eine vage Beschreibung über
eine Weltmacht, die die Kirche jahrhundertelang bedrängt, aber schlussendlich vernichtet
werden soll. Im Gegenteil, die Prophezeiung ist wieder sehr spezifisch. Israel wird hier
beschrieben als ein Volk, „das aus dem Gebiet von vielen Völkern zusammengebracht ist auf
den Bergen Israels, die zu einer bleibenden Wüste geworden waren, aber es ist aus den
Völkern hinausgeführt; alle wohnen in Ruhe“ (Hes 38,8); es geht um „eine Nation, die aus dem
Gebiet der Völker zusammengebracht ist, die Hab und Gut erworben hat, die auf dem Nabel
der Erde wohnt“ (Hes 38,2); ausdrücklich geht es um das Volk, das der Herr wegen seiner
Sünden in die Gefangenschaft hat wegführen lassen, aber dem Er Vergebung schenken wird
und in dem alten verheißenen Land wiederherstellen wird vor den Augen aller Völker (Hes
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39,23-29).
Auch hier fragt D wieder: Wie kann man diese Prophezeiung anders anwenden als auf das
Israel der Endzeit? „Selbst“ unter den Anhängern von EB wird doch niemand diese
Prophezeiung als erfüllt ansehen durch die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft.
In jedem Fall, viele Völker ziehen hier zugleich gegen das in seinem Land wiederhergestellte
Israel hinauf (Hes 38,3.5.13.15), und sie werden auch in diesem Land vernichtet, auf den
„Bergen Israels“ (Hes 38,21; 39,2-4), durch den Herrn selbst, der zur selben Zeit seinen Geist
über das Haus Israel ausgießt (Hes 39,29). Das kann nur auf die Endzeit Bezug haben.
D kann sich nicht vorstellen, wie man diese Prophezeiung erfüllt sehen will in der
neutestamentlichen Kirche. Das wegen seiner Sünden vertriebene Volk empfängt Vergebung
und wird wiederhergestellt in seinem eigenen Land. Wie will man das auf die Kirche
anwenden? Ist diese Prophezeiung erfüllt in der Handvoll Juden, die zu der Kirche zugetreten
ist? Ist dies das vertriebene Volk, das in sein Land zurückgebracht wurde? Und wie steht es
dann mit der Masse des jüdischen Volkes, an dem dieser Segen bisher vorbeigegangen ist?
Werden sie einmal in Massen der Kirche beitreten? Aber ist das dann die (nicht einfach
geistliche, sondern auch) nationale Wiederherstellung von Israel in seinem eigenen Land?
Oder müssen wir Israel vorhalten, dass sie die Verheißung der Wiederherstellung in ihrem
Land bloß geistlich auffassen dürfen? Wie soll Israel, das so viele Jahrhunderte auf diese
Verheißungen vertraut hat und ausgeschaut hat nach dem Tag, an dem Gott sein Wort
wahrmachen wird und sie wiederherstellen wird in ihrem Land, das jemals von uns annehmen
können oder sogar noch aus der Schrift „lesen“ können? Wie können messiasgläubige
Heiden selbst dieses überhaupt annehmen? Gottes Gnadengaben bezüglich seiner Berufung
dieses Volkes sind unbereubar (Röm 11,29). Dass Gott in der heutigen Haushaltung seinen
„ewigen Ratschluss“ mit der Kirche durchführt (Eph 3,9-11), ist ein Höhepunkt in all seinen
Heilswegen – aber es lässt die alten Verheißungen Israels vollkommen unverletzt. Diese
werden bald erfüllt bei einem neuen Höhepunkt: dem messianischen Friedensreich.
Siehe Graphik [Klick aufs Bild]
Übersetzt aus Israel en de Kerk, 1991
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Teil 5: Jeremia 30–31
Anmerkung der Redaktion:
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
(E bzw. G) D: Anhänger des Dispensationalismus
(E bzw. G) B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden wird manchmal
noch ein E für extrem, oder ein G für gemäßigt davor gestellt.
Leitverse: Jeremia 30 und 31
Die Wiederkunft des Messias
Inmitten vieler Prophezeiungen, die in viel kürzerer Zeit eine Erfüllung empfangen haben,
finden wir in dem Buch Jeremias diese zwei Kapitel, die prophetisch am weitesten
vorausgreifen. Hier haben wir mit einer Prophezeiung zu tun, deren Erfüllung wieder unlösbar
mit der Wiederkunft des Messias und der Festigung seines Reiches verbunden ist. In den
meisten Prophezeiungen dieser Art wird übrigens nicht buchstäblich über die Wiederkunft des
Messias gesprochen. Diese Wiederkunft wird in den prophetischen Büchern auf folgende
Weise angedeutet:
1. Sehr deutlich allein in Daniel 7, wo der Prophet über das Kommen des Sohnes des
Menschen spricht. Diese Prophezeiung wird im Neuen Testament öfter direkt angepasst
auf die Wiederkunft des Herrn Jesus (Mt 10,23; 16,27.28; 24,27.30.37.39.44; 25,31;
26,64).
2. Indirekt in den Prophezeiungen, die über das erste Kommen des Messias reden und
diese unmittelbar mit der Festigung des messianischen Reiches und somit implizit auch
mit der Wiederkunft des Messias verbinden (Ps 2,6-9; Jes 9,5-6; 11,1-10; 40,3-11;
53,1-12; Jer 23,5.6; Mich 5,1-8; Sach 9,9.10). Unter diese Kategorie fällt auch Jeremia
30,9, wo Gott über „David, den König“ spricht, den Er seinem Volk „erwecken“ wird.
Dieses „Erwecken“ kann mit dessen Geburt zu tun haben, aber auch einfach bedeuten:
auferstehen, auftreten.
3. Indirekt auch in den Prophezeiungen, die von einem dem Friedensreich vorangehenden
„Niederkommen“ des Herrn reden, der die Feinde vernichten und sein Volk Israel retten
und einführen wird in die Segnungen des Friedensreiches (Jes 24,21; 29,5; 30,27.30;
31,4; 35,4; 59,20; 60,1; 62,11; 66,6.15.18; Jer 25,30.38; Joel 3,1.16; Mich 2,12; Hab
2,3; 3,3-15 [vgl. Heb 10,37]; Sach 9,14; 10,3; 12,10; 14,3-5).
In diese letzte Kategorie fällt nun auch Jeremia 30, wo wir in Vers 23 lesen: „Siehe, ein
Sturmwind des HERRN, ein Grimm ist ausgegangen, ein sausender Sturmwind; er wird sich
herniederwälzen auf den Kopf der Gesetzlosen. Nicht wenden wird sich die Glut des Zornes
des HERRN, bis er getan und bis er ausgeführt hat die Gedanken seines Herzens. Am Ende
der Tage werdet ihr dessen innewerden.“ Dem gesamten Kontext entsprechend können diese
Worte verbunden werden mit der mächtigen Offenbarung der Majestät des Herrn, die sich
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offenbaren wird in der Wiederkunft von Jesus Christus. Diese wird den Sturm von Gottes Zorn
herniederkommen lassen auf den Kopf seiner und Israels Feinde.
Die Endzeit in Jeremia 30 und 31
Die in den Kapiteln 30 und 31 enthaltenen Geschehnisse haben die folgenden besonderen
Kennzeichen:
1. Die Rückkehr, die geistliche Wiederherstellung und Vereinigung der zwei und der zehn
Stämme: Juda und Israel (gleich ihr vor ihm) (Jer 30,3; 31,7–9,7; 20,31). Wir haben
schon gesehen, dass diese Wiedervereinigung nichts zu tun hat mit der Vereinigung von
messiasgläubigen Juden und Heiden in der Gemeinde oder in dem Friedensreich.
2. Die große Drangsal, die unmittelbar der Wiederherstellung Israels vorausgeht
(vergleiche Mt 24,21; und weiter zum Beispiel Joel 2,17; 3,5; Mich 7,7-20; Hab 3,16-19;
Zeph 1,2–2,3; 3,7.12; Sach 13,8; 14,2-5;). Siehe in Jeremia 30 vor allen Dingen Jeremia
30,4-7.12-15. In Vers 7 ist die Rede von einer „Zeit der Drangsal für Jakob“. Laut dem
Buch der Offenbarung (siehe Off 7,14) wird diese große Drangsal kurz vor der
Wiederkunft des Messias stattfinden. In dieser Drangsal wird der Überrest von Israel
gebildet, geläutert und bereit gemacht, um den kommenden Messias zu empfangen.
3. Israel wird wiederhergestellt sowohl innerlich durch Bekehrung (Jer 30,8.17; 31,33) wie
auch äußerlich durch Rückkehr in das verheißene Land (JEr 30,10.18; 31,7-11.17).
Auch hier ist laut D die durchgehende Linie der prophetischen Unterweisungen, dass
dasselbe Volk, das Gott aus seinem Land vertrieben hat und das gezüchtigt wurde
wegen seiner Sünden, einmal geläutert und gereinigt werden wird und durch Gott
zurückgebracht werden wird nach dem Land, das das Volk von alters her bewohnt hat.
Man kommt in Konflikt mit fundamentalen hermeneutischen Regeln, wenn man
diese Prophezeiung in der Kirche erfüllt sehen will, deren Vorfahren zu 99% nicht in
Kanaan gewohnt haben und nie daraus vertrieben worden sind.
Diese Erfüllung würde dann ausschließlich Beziehung haben auf ein anderes
„geistliches“ Land Kanaan!
Für das wirkliche Volk Israel von heute würde diese Prophezeiung darüber hinaus
überhaupt keine Bedeutung haben, es sei denn, dass ein Jude gerade das
natürliche Israel verlässt und seine Erwartungen einer buchstäblichen Verheißung
auf das Land aufgibt! Der Jude, der das tut, findet in der Tat innerhalb der
Gemeinde ein geistliches Volk Gottes und ein geistliches „Land“. Aber das hat
nichts zu tun mit den Verheißungen, die Gott noch in petto hat für ein bald
bekehrtes Volk Israel als solches.
4. Dann der Segen des messianischen Friedensreiches. Israels Feinde werden gerichtet
(Jer 30,11.16.20). Der Messias, der große (Sohn von) David, wird König über das
wiederhergestellte Volk Israel; Gott „erweckt“ Ihn (Jer 30,9), lässt den „Fürst“ aus Israel
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hervorkommen, seinen Herrscher aus seiner Mitte entstehen (Jer 30,21). Jerusalem
wird wiederhergestellt (Jer 30,18b; 31,38-40); versuche mal diese Verheißungen (aber
sehr wohl in diesen Einzelheiten) zu „vergeistlichen“! – und Israel wird in jeder Hinsicht
reich gesegnet (Jer 30,19.22; 31,1,12ff.23-25.27ff.).
5. Gott schließt einen Neuen Bund mit seinem Volk (Jer 31,31-34). Diese Verheißung wird
in Hebräer 8 zitiert und durch EB und dann ohne weiteres auf die Kirche angewandt.
Dabei geht EB an Folgendem vorbei:
Nirgends zeigt der Hebräerbrief, dass der Neue Bund in der gegenwärtigen Haushaltung ganz
erfüllt ist oder wird, das heißt in der neutestamentlichen Kirche, oder wenigstens dass keine
Erfüllung mehr sein wird in für das wiederhergestellte Volk im messianischen Friedensreich.
Der Hebräerbrief ist ausdrücklich an messiasgläubige Juden geschrieben. Als solche
besaßen und besitzen sie das erste Anrecht auf die Segnung des Neuen Bundes. Nur in
abgeleiteten Sinne – das Blut des Neuen Bundes reinigt auch uns (Heb 13,20; Mt 26,28) –
kann man den Neuen Bund auch anwenden auf messiasgläubige Heiden. Aber selbst in dem
Friedensreich wird nie von einem Neuen Bund gesprochen, den Gott auch mit den Völkern
schließt (vgl. Jes 54,10; 55,3; 59,21; 61,8; Jer 32,40; Hes 16,60.62; 34,15; 37,26; Hos 2,17);
sie profitieren nur indirekt von den Segnungen des Neuen Bundes.
Der Neue Bund wird ausdrücklich mit dem „Haus von Israel und dem Haus von Juda“
geschlossen, das heißt also mit den zehn und mit den zwei Stämmen. Das stellt die definitive
Erfüllung des Neuen Bundes in die Zeit, wo die zehn und die zwei Stämme in dem
verheißenen Land vereinigt sein werden. Es gibt in dem Brief an die Hebräer nichts, was uns
das Recht gibt zu behaupten, dass die Kirche der heutigen Haushaltung dieses „Haus von
Israel und Haus von Juda“ vorstellt.
Die Einsetzung des Neuen Bundes darf nicht aus ihrem ursprünglichen Kontext in Jeremia 31
gelöst werden, wo sie verbunden wird mit der Bekehrung Israels und seiner Wiederherstellung
in dem alten verheißenen Land, wo Jerusalem wieder aufgebaut wird und Israel von den
Früchten des Landes genießt. Das lässt deutlich sehen, wann der Neue Bund tatsächlich
geschlossen wird: nach der Wiederkunft des Messias, am Beginn des Friedensreiches.
Siehe Graphik [Klick aufs Bild]
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Übersetzt aus Israel en de Kerk, 1991
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Teil 6: Sacharja 12–14
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
(E bzw. G) D: Anhänger des Dispensationalismus
(E bzw. G) B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden wird manchmal
noch ein E für extrem, oder ein G für gemäßigt davorgestellt.
Leitverse: Sacharja 12–14
Neue Zerstreuung …
In großen Linien finden wir hier wieder dasselbe vertraute Bild. Aber es gibt einige
Besonderheiten, die wir sonst nicht so deutlich finden. Ich weise erst noch hin auf Sacharja
10,6-10, wo wir nicht nur die bekannten Verheißungen der Rückkehr eines Überrestes für
sowohl Juda als auch Joseph (= Ephraim, die Zehn Stämme) finden, sondern auch eine
Ankündigung von Zerstreuung. Sacharja nimmt eine besondere Stellung ein, weil er einer der
wenigen Propheten ist, die nach der Gefangenschaft da waren. Desto bemerkenswerter ist
darum Vers 9: „Und ich will sie unter den Völkern säen, und in den fernen Ländern werden sie
meiner gedenken; und sie werden mit ihren Kindern leben und zurückkehren.“
Dies ist eine der deutlichsten Prophezeiungen über eine neue Gefangenschaft – die große
Gefangenschaft, die mit dem Fall von Jerusalem im Jahre 70 nach Christi begonnen hat –
woraus die Israeliten noch einmal, und dann endgültig, wiederhergestellt werden sollen. Bei
dieser letztendlichen Wiederherstellung werden auch die zehn Stämme einbezogen sein, die
aus Assur versammelt werden (V. 10).
… und Wiederherstellung
Diese Wiederherstellung wird ausführlicher beschrieben in Sacharja 12–14. Diese Kapitel sind
nicht genau chronologisch, aber sie geben wohl in großen Linien den Verlauf der
Geschehnisse in der Endzeit wieder:
a. Sacharja12,1-9
Die Belagerung von Jerusalem durch die versammelten dämonischen Mächte der
Endzeit (der „Assur“ von Jesaja, der „Gog“ von Hesekiel) und die Befreiung der Stadt.
Die Juden werden selbst einen besonderen Beitrag in dieser Befreiung liefern, aber wir
können hier nicht auf die Besonderheiten eingehen. Wichtig ist der typisch
eschatologische Ausdruck „An jenem Tage“ (16-mal in den Kapiteln 12–14!).
b. Sacharja 12,10-14
Die große Wehklage Israels, wenn es in dem kommenden Messias niemand geringeren
als den Herrn Jesus wieder erkennen wird, den sie einmal auf der Erde „durchstochen“
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haben (siehe Joh 19,37). Diese Wehklage ist tatsächlich ein Schuldbekenntnis; darum
folgt direkt darauf:
c. Sacharja 13,1-7
Die Entsündigung und Reinigung des Volkes und die Ausrottung jeden Götzendienstes
und der falschen Propheten aus dem Volk. Nach einigen, aber lange nicht allen
Auslegern verweist der Vers 6 im Gegensatz dazu auf den Messias, den wahren
Propheten, dem in dem Haus seiner Freunde Wunden in seinen Händen zugefügt
wurden. Für unser Thema ist das nicht so bedeutend. Auf jeden Fall verweist Vers 7
nach dem Messias, Gottes Hirten und Genossen, der geschlagen wird durch das
Schwert des Zorns Gottes, damit die Schafe frei ausgehen können (s. Mt 26,31 und
Parallelstellen).
d. Sacharja 13,8.9
Aufgrund des Versöhnungswerkes des Messias wird einmal in der großen Drangsal ein
Überrest in Israel gebildet werden. Zwei Drittel des Volkes werden in den Kriegen
umkommen, aber ein dritter Teil wird geläutert und gereinigt und lernt zu dem Herrn zu
rufen und er wird sie erhören. Diese Erhöhung besteht in der Wiederkunft des Messias,
der Rettung des Überrestes und der Festigung des Friedensreiches, so wie es in Kapitel
14 beschrieben wird.
e. Sacharja 14,1-7
Wieder die Belagerung Jerusalems in der Endzeit (vgl. Sach 12,1-9), die darin mündet,
dass der Herr wiederkommt zur Rettung seines Volkes. Seine Füße werden auf dem
Ölberg stehen (Sach 12,4; vgl. Apg 1,11!). Der Herr, der wiederkommt, ist derselbe, den
sie durchstochen haben (Sach 12,10) und der zu gleichen Zeit der Hirte und Genosse
des Herrn ist! Wunderbares Zeugnis bezüglich seiner Gottheit und Menschheit. Er, der
wiederkommt, ist der Mensch Jesus Christus, einmal durch Gott geschlagen am Kreuz,
aber doch ist Er der Herr selbst.
f. Sacharja 14,8-21
Die Königs-Herrschaft des Herrn, das ist des Messias. Wiederherstellung des Landes
und Wiederaufbau von Jerusalem, das schwer geschunden aus der Belagerung zum
Vorschein kommen wird. Alle Völker beugen sich nieder vor dem Messias und ziehen
jedes Jahr hinauf nach Jerusalem, wo das Haus des Herrn steht.
Kommentar von EB
In großen Linien ist die Prophezeiung deutlich genug. Das soll nicht bedeuten, dass es bei der
Detail-Auslegung keine Probleme gibt, im Gegenteil, aber das verändert nichts an der
Hauptlinie. Trotzdem hatte EB viele Male probiert, wegen der Schwierigkeiten bei der
Detailauslegung einfach die ganze wörtliche Auslegung in Misskredit zu bringen zum Beispiel
…
… weil einige kleine Elemente gut symbolisch aufgefasst werden können (sowie zum Beispiel
Sacharja 10,11) – aber darum kann man noch nicht die ganze Prophezeiung symbolisch
erklären! Ich weise auf Jesaja 40,3, wo EB das selbst auch nicht tut. Ist es nicht so, dass
bibeltreue EB-Anhänger selbst auch protestieren, wenn liberale Ausleger aufgrund von
solchen eventuell übertragbaren Einzelheiten in historischen Abschnitten, zum Beispiel 1.
Mose 1–11, diese Abschnitte deswegen ganz vergeistlichen wollen? Doch tut EB selbst genau
dies bei den prophetischen Büchern.
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… weil es schwierig ist, heutzutage anzugeben, wo genau Assur (Sach 10,10; oder z.B.
Magog, Mesech, Tubal, Gomer, Togarma in Hes 38), und vor allen Dingen, wo die zehn
Stämme zu suchen sind – aber was würden EB-Leute sagen, wenn andere bei historischen
Kapiteln, in denen Völker und Länder vorkommen, die wir auch nicht genau lokalisieren
können, eine buchstäblich große Auslegung ablehnen würden?
… weil zum Beispiel Sacharja 12,4; 14,15,20 bloß über Reiter und Pferde sprechen, wogegen
heutige Armeen doch über modernste Waffen verfügen – aber wenn auch die zukünftigen
Armeen über Panzer und Raketen verfügen, dann ist es doch wohl kaum zu erwarten, dass
Sacharja diese in seiner Beschreibung nennen würde.
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Übersetzt aus Israel en de Kerk, 1991
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Teil 7: Hosea 2; 3; 6
Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
(E bzw. G) D: Anhänger des Dispensationalismus
(E bzw. G) B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden wird manchmal
noch ein E für extrem, oder ein G für gemäßigt davorgestellt.
Leitverse: Hosea 2; 3 ;6
Hosea 2
Unter dem Bild einer untreuen Ehefrau, die durch ihren Mann wieder in Gnade angenommen
wird, beschreibt der Prophet hier das Thema, das uns mittlerweile vertraut ist: Das Volk, das
dem Herrn untreu geworden ist und von ihm abgewichen ist, dieses Volk wird einmal durch
ihn wieder in Gnade angenommen. Was auch immer die gegenwärtige Kirche sein mag, was
auch ihre Position in der Heilsgeschichte sein mag, es ändert doch nichts daran, dass Gott
dasselbe untreue Volk von früher einmal wieder annimmt.
Vergleiche hierzu besonders Jesaja 54,4: „Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht beschämt
werden, und schäme dich nicht, denn du wirst nicht zuschanden werden; sondern du wirst der
Schmach deiner Jugend vergessen und der Schande deiner Witwenschaft nicht mehr
gedenken. Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann, der HERR der Heerscharen ist sein
Name, und der Heilige Israels ist dein Erlöser: Er wird der Gott der ganzen Erde genannt
werden. Denn wie eine verlassene und im Geiste betrübte Frau ruft dich der HERR, und wie
eine Frau der Jugend, wenn sie verstoßen ist, spricht dein Gott. Einen kleinen Augenblick
habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen will ich dich sammeln; im Zorneserguss
habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Güte werde ich
mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser“ (Jes 54,4-8).
Auch hier genauso wie in Hosea 2 macht es der eschatologische Rahmen, worin die
Prophezeiung steht, unmöglich, sie auf die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft
zu beschränken.
Ich möchte hier gerne ein typologisches Bild benutzen, das keine Beweiskraft hat, aber doch
wohl eine schöne Illustration bietet. Für D ist es kein Problem, in den zwei Frauen von Jakob,
Rahel und Lea, Vorbilder zu sehen von den zwei Völkern Gottes: Rahel ist dann ein Bild von
dem Überrest Israels, der einmal wieder angenommen wird, und Lea ist ein Bild von der
Gemeinde aus (hauptsächlich) den Nationen. Der Herr Jesus kam, um sich Israel als Braut zu
erwerben (vergleiche Mt 9,15; 15,24; Röm 15,8), aber er bekam die Gemeinde, so wie Jakob
Rahel suchte und Lea bekam. Aber schließlich wird auch Israel die Braut des Messias, so wie
Jakob letztendlich auch Rahel bekam. Ob du das nun für eine akzeptable Typologie hältst,
darauf kommt es jetzt nicht an. Ich verweise hier allein darauf als Illustration, um deutlich zu
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machen, was meines Erachtens EB hier macht: Man lässt die Verheißungen, die Gott an
Rahel gegeben hat, in Erfüllung gehen an Lea und meint dann, dass dies der Sinn der
Prophezeiung ist. Die eine ist die untreue Frau, die durch ihren Mann verstoßen wird; aber
nach einer Zeit will der Mann ihr Vergebung schenken und sie wieder annehmen, und … bringt
dieses Vorhaben zur Ausführung, dadurch dass er sich eine andere Frau nimmt! Was EB hier
tut, ist meines Erachtens vergleichbar mit dem, was Laban tat: Er verwechselte Rahel und
Lea. Was Rahel hätte bekommen sollen, wird Lea zugerechnet. Wenn wir auch meinen, dass
die Prophezeiung auf Israel Bezug hat, dann lass nur EB anfangen, und … „siehe, es war Lea“
(1Mo 29,25).
Nun weiß ich natürlich ganz genau, was EB hierauf antworten wird: „Es ist überhaupt keine
Rede von zwei Frauen, sondern viel mehr nur von einer Frau. Wenn die Prophezeiungen in
der Kirche erfüllt werden, dann werden sie an ,Israel‘, an Gottes Volk erfüllt, denn es gibt nur
ein Volk Gottes.“ Genau hier scheint wieder der Kern des Problems zu liegen: Ist in der Bibel
die Rede von einem Volk oder von zwei Völkern Gottes? Wenn es nun bloß ein Volk Gottes
in der Bibel gibt und die neutestamentliche Kirche von heute das Volk Gottes ist, was bleibt
dann übrig für die Masse des jüdischen Volkes? Wird die verstoßene Frau dann nicht mehr
angenommen werden? Wird das vertriebene Volk dann nicht mehr zurückkehren in sein
Land? Welche Juden, die nun jahrhundertelang mit ihren Vätern geschmachtet haben nach
dem Ehemann, der einmal die verlassene Frau wieder in seine Arme schließen wird – und
dann nirgendwo sonst als in der altbekannten „ehelichen Wohnung“: das verheißene Land
und der Tempel in Jerusalem! –, werden begreifen können, dass dieses schon alles
„geistlicherweise“ erfüllt ist an „Lea“?
Hosea 3 und 6
Auch hier wieder dasselbe Thema: das Volk, das nun schon so viele Jahrhunderte keinen
König oder Fürsten mehr hatte und keinen Opferdienst, dasselbe Volk wird sich einmal
„bekehren und den Herrn ihren Gott suchen, und David ihren König, und zitternd werden sie
zu dem Herrn kommen und zu seiner Rettung – in den Tagen der Zukunft“ (Hos 3,4.5). Dann
wird das Volk sagen: „Kommt und lasst uns zu Jahwe umkehren; denn er hat zerrissen und
wird uns heilen, er hat geschlagen und wird uns verbinden. Er wird uns nach zwei Tagen
wieder beleben, am dritten Tage uns aufrichten; und so werden wir vor seinem Angesicht
leben“ (Hos 6,1.2). Vielleicht können wir hier daran denken, dass Israel nach zwei „Tagen“,
das ist nach zweitausendjähriger Gefangenschaft, einen dritten „Tag“, das ist das
Tausendjährige Friedensreich von Segen und Wiederherstellung erleben wird. Aber darauf
lege ich nicht besonderen Wert. Worum es geht, ist, dass das alte, verwundete und
geschlagene Volk Israel einmal zu dem Herrn zurückkehren, geheilt und verbunden und
neues Leben empfangen wird. Das ist eine Wiederherstellung des ganzen Volkes, nicht einer
Hand voll Juden, die der Kirche beigetreten sind. Es geht um die Wiederherstellung des
Volkes in der Endzeit, nicht bloß um die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft.
Das wird noch ganz besonders deutlich in Hosea 14,2-9, wo die endgültige Wiederherstellung
Israels gezeichnet wird.
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