INTEGRATIONSPROZESSE in Wirtschaft und Politik 4. Fremde Nachbarn? Europas neue Mitte Seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs hat sich das Gesicht der mittel- und osteuropäischen Länder stark verändert. Der Alltag hat sich gewandelt, die Hoffnung auf Wohlstand hat sich für viele, aber nicht für alle Menschen erfüllt. 1 A 1: Welche heutigen Staaten in Mittelund Osteuropa waren bis 1918 Teil der Donaumonarchie? A 2: Welche Städte liegen – von Wien aus in die verschiedenen Richtungen gemessen – in einer Entfernung von 60, 200 und 500 km? A 3: Vergleichen Sie die Grenzen in Mittel- und Osteuropa im Verlauf des 20. Jahrhunderts (Atlas). Welche Staaten sind verschwunden und neu gebildet worden? Welche Staaten haben ihr Territorium stark verändert? A 4: Nennen Sie Beispiele für die gemeinsamen Traditionen in Kunst und Kultur, durch die Österreich mit den anderen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie verbunden ist. A 5: Welche Vorurteile bestehen in den Köpfen vieler Österreicher gegenüber den Nachbarn in den MOEL? Tab. 140.1: Die neuen EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten 1 2 Türkei 4/1987 10/2005 Zypern 7/1990 3/1998 Malta 7/1990 2/2000 Ungarn 3/1994 3/1998 Polen 4/1994 3/1998 Rumänien 6/1995 2/2000 Slowakei 6/1995 2/2000 Lettland 10/1995 2/2000 Estland 10/1995 2/2000 Litauen 12/1995 2/2000 Bulgarien 12/1995 2/2000 Tschechien 1/1996 3/1998 Slowenien 1/1996 3/1998 Kroatien 2/2003 10/2005 Mazedonien 3/2004 12/2005 1 Datum des Beitrittsantrags 2 Beginn der Beitrittsverhandlungen 3 Datum des EU-Beitritts Das gemeinsame historische Erbe Jene mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL), die seit 2004 Mitglieder der Europäischen Union sind, waren Jahrhunderte lang durch eine wechselvolle Geschichte mit ihren westlichen Nachbarn verbunden. Polen war im 15. und 16. Jahrhundert eine europäische Großmacht. Danach setzte eine lange Zeit des Niedergangs ein, der im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte, als Österreich, Russland und Preußen das Land unter sich aufteilten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polen als unabhängiger Staat wieder errichtet. Doch ein Geheimpakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion brachte 1938 die neuerliche Aufteilung. Nach 1945 wurde Polen zwar wieder unabhängig, blieb allerdings bis 1989 unter kommunistischer Regierung. Auch die Geschichte der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen war wie jene Polens durch die Lage zwischen den europäischen Großmächten Deutschland und Russland geprägt. Ihre erste Phase der Unabhängigkeit fällt in die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Danach war ihre Identität auf die von Teilrepubliken der Sowjetunion reduziert. Seit der neuerlichen Unabhängigkeit von 1991 bemühen sich die drei Kleinstaaten um eine möglichst große Distanz zu Russland und um eine Integration in Europa, die sie mit der Aufnahme in der EU nun erreicht haben. Österreich war selbst Jahrhunderte lang Teil eines großen staatlichen Gebildes, das unter der Führung der Habsburger bis 1918 den größten Teil des Donauraumes und Mitteleuropas umfasste. Die Donaumonarchie zerbrach auf Grund der ungelösten Nationalitätenfrage in der Folge des Ersten Weltkrieges, doch blieben viele kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie erhalten. ➲ S. 175: Österreichs Geschichte in Stichworten Abb. 140.2: Die Donaumonarchie und ihre Nachfolgestaaten 3 * 5/2004 5/2004 5/2004 5/2004 1/2007 5/2004 5/2004 5/2004 5/2004 1/2007 5/2004 5/2004 * * * Termin steht noch nicht fest. 140 ��������� �������������� �������� ����������� ������� ������ ����� ����������� ������� ���� ���������������� ���������������� ���������� ���� ���������� ������� �������� ������ ������� ����������� ��� © Ed. Hölzel Zu 1: �������� ������� Kapitel 8 Nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich von seinen östlichen Nachbarländern durch den ☞Eisernen Vorhang getrennt. In mentaler Hinsicht brachte dies eine mehr als 40 Jahre dauernde Hinwendung nach dem Westen. Diese Perspektive hat sich auch nach der Öffnung der Grenzen und mit dem EU-Beitritt der MOEL noch nicht wesentlich verändert. Während österreichische Firmen schon längst in den östlichen Nachbarländern äußerst aktiv und erfolgreich tätig waren, blieb in den Köpfen vieler Österreicher das alte Bild erhalten. 2 „Die Herausforderung besteht heute darin, die politische Geographie Europas der natürlichen anzugleichen. Selbst die Wiener müssen noch lernen, dass Prag eine Stadt im Nordwesten und nicht im Osten ist.“ Erhard Busek, Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa Wirtschaft im Umbruch Gemeinsam ist allen mittel- und osteuropäischen Ländern, dass sie nach dem Zusammenbruch des ☞Ostblocks auf dem Weg von der Zentralverwaltungswirtschaft in die Marktwirtschaft durch eine Phase der schweren wirtschaftlichen Krise gehen mussten, die der Bevölkerung hohe Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit und sinkenden Lebensstandard brachte. Durch die Auflösung des RGW (S. 87) gingen die traditionellen Exportmärkte verloren, die vorher abgeschottete Wirtschaft war dem internationalen Wettbewerb nun voll ausgesetzt. Gegen Ende der 1990er-Jahre hatten die meisten Länder diese Phase der Transformation überwunden. Steigende Industrieproduktion und wirtschaftliches Wachstum vor allem im Dienstleistungssektor leiteten eine Zeit des Aufschwungs ein, der im Zeichen der zunehmenden Verflechtung mit der Wirtschaft des EU-Raumes steht. Die hohen Direktinvestitionen aus dem Ausland zielen entweder darauf ab, die neuen Absatzmärkte im Osten Europas zu erschließen oder die im Vergleich zu Westeuropa niedrigen Lohnkosten zu nutzen. Dennoch profitieren nicht alle Staaten und Regionen gleichermaßen von dieser gegenwärtigen Dynamik. Regionale Disparitäten gibt es einerseits zwischen den einzelnen Ländern, aber auch innerhalb der mittel- und osteuropäischen Staaten. Abb. 141.2: Grenzsteine – Symbole für die Grenzen im Kopf (Blick von Kittsee nach Pressburg) • Gewonnen haben die Stadtregionen und die Grenzgebiete zum Westen. Dort ist ein regelrechter Gründungsboom zu verzeichnen: Viele ausländische Unternehmen errichten Vertretungen und Produktionsstandorte und verstärken die Dynamik einheimischer unternehmerischer Aktivitäten. Zu den Standortvorteilen gehören neben der Nähe zur bestehenden EU auch die günstige Infrastruktur und die im westlichen Ausland tätigen Tagespendler, die das regionale Einkommen erhöhen. Helmut Wagner, Mautern • Verloren haben traditionell unterentwickelte Räume, vorwiegend in den östlichen Landesteilen. Dabei handelt es sich meist um landwirtschaftlich geprägte Regionen oder Industriegebiete mit veralteter Produktionsstruktur. Arbeitslosigkeit, niedrige Kaufkraft der Bevölkerung und hohe Umweltbelastung prägen diese Krisengebiete. Abb. 141.1: Pressburg – Zentrum einer dynamischen Wirtschaftsregion in unmittelbarer Nähe Österreichs Helmut Wagner, Mautern Geo-Basics Mittel- und osteuropäische Länder (MOEL) oder Reformstaaten werden jene europäischen Länder bezeichnet, die bis 1989 zum Ostblock gehörten und seitdem einen politischen und wirtschaftlichen Wandel durchmachten. Die österreichischen Nachbarstaaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien sowie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, aber auch Polen gehören seit 2004 zur EU. Bulgarien, Rumänien sind 2007 beitreten, Kroatien und Makedonien sind Beitrittskandidaten. 141 INTEGRATIONSPROZESSE in Wirtschaft und Politik Geo-Facts: Österreichs Wirtschaft und die benachbarten MOEL • Rund 78 % der Gesamtfläche der mittel- und osteuropäischen Nachbarländer Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) sind weniger als 60 km von Wien entfernt. • In den MOEL gibt es über 16 000 österreichische Vertriebs- und Produktionsbeteiligungen (Joint Ventures). • Wert der österreichischen Importe aus MOEL: 13,3 Mrd. € (2007). • Wert der österreichischen Exporte in die MOEL: 20,0 Mrd. € (2007). Zu 2: A 1: Wie hat sich der Handel Österreichs mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarländern entwickelt? A 2: Welche österreichischen Unternehmer sind als Investoren in den neuen EU-Ländern aktiv? A 3: Welche Regionen gehören zu den Aktiv- und Passivräumen in den MOEL (Atlas)? Alle Bilder: Helmut Wagner, Mautern A 4: Stellen Sie die Strukturmerkmale der in den beiden Texten vorgestellten Regionen gegenüber. In welchen anderen europäischen Regionen gibt es ähnliche Gegensätze? 142 Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der EU haben sich seit der Öffnung des Außenhandels am Beginn der 1990er-Jahre sehr verstärkt. Ungarn wickelte schon 1997 zwei Drittel seines Außenhandels mit den Staaten der EU-15 ab. Vor allem österreichische Firmen sind mit Investitionen und Firmenbeteiligungen in den MOEL sehr aktiv. Westungarn – boomende Region im Strukturwandel i Der Westen Ungarns nahe der österreichischen Grenze hat sich in den letzten Jahren zu einer der florierendsten Wirtschaftsregionen Europas entwickelt. Während die Arbeitslosigkeit im gesamtungarischen Mittel bei 8 % liegt, herrscht im Bereich Győr/Moson/Sopron bereits akuter Mangel an ausgebildeten Fachkräften. Das Nettoeinkommen in der Region ist um 25 % höher als im Osten Ungarns. Regionen in der EU-15 wie Griechenland und Portugal sind damit bereits überflügelt. Die Gunstlage im Dreieck der Hauptstädte Wien, Pressburg und Budapest sowie das hohe Qualifikationsniveau der Arbeit suchenden Menschen lockten viele Investoren in das Gebiet, das Ende der 1980er-Jahre noch am Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruches stand. Mit dem Lkw- und Bushersteller Raba gibt es zwar eine Tradition in der Automobilbranche, doch nach der Wende 1989/90 wollte niemand mehr diese Produkte mit dem Ostblock-Image kaufen. 1993 kam Audi als erster westlicher Investor nach Győr und begann mit der Produktion von Motoren. Es folgte die deutsche VAW Aluminiumtechnik, die Zylinderköpfe und Motorenblöcke fertigte. Die Produktionsstätte wurde im Wirtschaftspark Győr errichtet, der kurz davor mit österreichischer Finanzierung fertig gestellt wurde. Der Standort hat gegenwärtig noch entscheidende Kostenvorteile gegenüber Betrieben im Westen Europas, doch spätestens in zehn Jahren rechnen Experten damit, dass die Personalkosten 70 % des westeuropäischen Niveaus erreicht haben. Daher werden bei der Industrieansiedlung vorwiegend solche Projekte gefördert, die hochwertige Produkte versprechen, wie das in Győr von Audi produzierte Sportcoupé TT. Dass Ungarn seine Attraktivität als billige Werkbank für multinationale Unternehmen zusehends einbüßt, zeigt sich am Beispiel von Philips. Der Elektronikkonzern hat die Produktion von Computermonitoren in der westungarischen Stadt Szombathely im Jahr 2003 einstellen lassen und plant eine Verlagerung nach China. Nach: Profil extra, August 2002; Die Presse, 22. 1. 2003 Abb. 142.1: Österreichische Marken und Produkte – Alltag in den mittel- und osteuropäischen Nachbarländern Kapitel 8 Polens ländlicher Raum zwischen Tristesse und Hoffnung auf die Fördermillionen Abb. 143.1: Dorf in Masuren (Nordostpolen) Helmut Wagner, Mautern Bleibt nur noch die Hoffnung auf die Fördertöpfe aus Brüssel. Denn nach dem EU-Beitritt wird Polen voraussichtlich einen hohen Anteil der Strukturmittel für jene Regionen erhalten, in denen das BIP geringer als 75 % des EU-Mittels ist. Mehrere Milliarden Euro sind für den Bau von Straßen, die Modernisierung von Eisenbahnstrecken und für Umweltprojekte vorgesehen. Die Türkei – der ewige Beitrittskandidat? 3 i Auch auf die Landwirtschaft, die heute mit einem Beschäftigungsanteil von 18 % gegenüber einem BIP-Anteil von nur 3,8 % dem EU-Niveau weit hinterher hinkt, werden umfangreiche Reformen zukommen. Die polnischen Bauern hatten sich einst als einzige im gesamten Ostblock der Kollektivierung widersetzen können. Daher ist der Agrarsektor traditionell von Unterentwicklung und kleinbetrieblichen Strukturen geprägt. Dörfer, in denen bis zu 35 % der Bewohner arbeitslos sind, verarmte Regionen wie Masuren im Nordosten des Landes, wo die idyllischen Wälder und einsamen Seen die Menschen nicht satt werden lassen – dieses Bild prägt weite Landstriche in Polen, dem größten Land der jüngsten EU-Beitrittsrunde. Die soziale Kluft zwischen den Zentren und den Peripherien wird immer größer. „Die bitterste Armut findet sich dort, wo der Bus nicht mehr hinfährt, die Bahnstrecke stillgelegt wurde“, beteuert Zdislaw Szczepkowski, der stellvertretende Direktor des Arbeitsamtes in Olsztyn (Allenstein) im Nordosten des Landes. Dort bleibt nicht einmal mehr die Hoffnung auf Abwanderung. Denn „Flucht“ in die Städte, um sich dort nach Arbeit umzusehen, können sich viele Arbeitssuchende gar nicht leisten. Sie haben nicht einmal das Geld, um sich in Warschau oder Łódz nach einer Arbeit umzusehen. Denn der Wohnungsmangel und die daraus resultierenden hohen Mietpreise verhindern trotz des Wohlstandsgefälles eine massive Abwanderung der Landbevölkerung. Wo endet Europa? Außenseiter und Nachzügler der Integration In den letzten Jahren hat die europäische Integration große Fortschritte in Richtung Ost- und Südosteuropa gemacht. Im Jahr 2007 sind Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten – zwei Staaten, die noch mit massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen kämpfen. Massenarmut, Kriminalität, Korruption Schattenwirtschaft sind noch weit verbreitet. Andererseits entwickeln sich vor allem die städtischen Ballungs-räume sehr dynamisch und sind zu Wachstumsinseln geworden. i Die Türkei hat seit jeher eine besondere Beziehung zu Europa. Schon 1987 stellte das Land einen Beitrittsantrag, doch erst 2004 erhielt es den Kandidatenstatus. Den positiven Entwicklungen der letzten Jahre stehen aber nach wie vor die Kritikpunkte in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Überprüfen Sie Ihr Wissen: Auch wirtschaftlich scheint die Türkei noch nicht bereit für einen Beitritt zu sein. Des Weiteren gibt es noch schwer auszuräumende Ängste über die kulturelle Integrierbarkeit der Türkei. Für einige Kritiker ist das Land zivilisatorisch nicht Teil Europas. Es stellt sich die Frage, ob der Islam ein Hindernis auf dem Weg der Europäisierung der Türkei ist und wie sich das Spannungsverhältnis zwischen der politischen Kultur westlicher Demokratien und dem Islam überbrücken lässt. 1. Nennen Sie die neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer der EU. Welche davon grenzen an Österreich? Nach Niels Sijben in: www.europa-digital.de, 28. 2. 2003 Weitere Integrationsbestrebungen betreffen vor allem die Staaten am Westbalkan. Nachdem die kriegerischen Konflikte nach der Auflösung Jugoslawiens mit internatio-naler Hilfe beigelegt sind, stellt die Aussicht auf einen EU-Beitritt für viele der neuen Kleinstaaten auf dem Balkan eine wichtige Zukunftsperspektive dar. Kroatien und Mazedonien sind auf diesem Weg schon am weitesten fortgeschritten und stehen in Beitrittsverhandlungen mit der EU. 2. In welcher Hinsicht machten die MOEL in den letzten Jahren einen starken Wandel durch? 3. Wie haben sich die Wirtschaftsbeziehungen Österreichs zu den MOEL entwickelt? 4. Welche Regionen und Branchen sind die Gewinner, welche die Verlierer der EU-Erweiterung? Zu 3: A 1: Verfolgen Sie den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen der EU mit Kroatien, Mazedonien und der Türkei. A 2: Was spricht für, was gegen die Aufnahme der Türkei in die EU? 143