Präsident i. R. D. Dr. h. c. Wilhelm Hüffmeier, Berlin 17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005 , 18 Uhr Predigt über Markus 9, 14-17 Liebe Gemeinde, von einem „bösen Geist“ ist hier die Rede, der sprachlos macht und der nur dem Gebet weicht. Allein dieser Beziehung nachzudenken, wäre schon eine ganze Predigt wert. Denn die Katastrophen in unserer Welt, die ganz großen wie die kleinen persönlichen, machen uns immer wieder fassungs- und sprachlos. Auch der Ausgang der Wahlen heute Abend dürfte dem einen oder der anderen die Worte nehmen. Ein Glück, dass es die bekannten Rituale der Reaktion auf Siege und mehr noch auf Niederlagen gibt, Rituale der Relativierung, der tapferen Hinnahme oder der Selbstermutigung. Ist das Gebet ein solches Ritual? Nun, demütige Relativierungen unserer Triumphe und tapfere Hinnahme unserer Niederlagen brauchen wir ebenso wie kräftige Ermutigungen. Und dazu hilft ein Gebet zweifellos. Aber wer betet, wer mit Gott redet, erwartet noch mehr. Auch sieht er nicht nur auf sich, er blickt – wie der verzweifelte Vater in unserer Geschichte – auf die Not des anderen. Wer betet, verlässt den Bannkreis des eigenen Ichs. Er geht weit über sich hinaus und gelegentlich, wie in unserer Geschichte, erbittet er sogar ein Wunder. Die Jünger sind daran freilich gescheitert. Wer jedoch die furchtbare Krankheit kennt, um deren Heilung hier gebeten wird, der dürfte Mühe haben zu verstehen, warum die Jünger von Jesus so hart getadelt worden sind. Ihnen ist ja fast Unmögliches zugemutet worden. Der arme Junge, der hier von seinem Vater erst zu den Jüngern, dann zu Jesus selber gebracht wird, leidet an Epilepsie. Alle so minutiös, ja fast möchte man sagen professionell beschriebenen Symptome: Das Hin- und Hergerissenwerden, der Schaum vorm Mund, das Zähneknirschen und das furchtbare Fallen und Verstummen – alle Symptome weisen auf das grad mal des Gehirnkrampfes. Dafür gibt es heutzutage, Gott sei Dank, recht erfolgreiche medikamentöse Hilfen und neurochirurgische Eingriffe. Geht es also in unserer Geschichte um einen Fall, den Christen heute getrost der Medizin und den Ärzten überlassen können und sollen? Ich denke, ja. Der Glaube freut sich über die Möglichkeiten der Medizin. Die Bibel lobt bekanntlich den Beruf des Arztes in hohen Tönen. Und warum sollen wir nicht angesichts großartiger medizinischer Leistungen, z. B. der Neurochirurgen, auch einmal von Wundern menschlicher Kühnheit und Erbarmung reden? Und wenn ein Engel die Hand des Operateurs leitet, umso besser. Unsere Geschichte handelt freilich von mehr als einer Heilung, von mehr als einem erfolgreichen Arzt. So wichtig die Heilung des epileptischen Knaben ist, was um ihn herum geschieht, das Versagen der Jünger, die Fürsorge und Verzweiflung des Vaters und in all dem die Begegnung mit Jesus, ist nicht weniger wichtig. Krankheit ist immer ein sozialer Vorgang, der Beziehungen fordert und belastet, prüft und läutert, ja manchmal lebensentscheidend sein lässt. Was aber unseren Beziehungen Halt gibt und Richtung, ist der Glaube. Er ist deshalb das zentrale Thema unseres Textes. Vom Glauben erfahren wir, wenn wir auf die Jünger und den Vater blicken, ein Vierfaches. Zunächst: Unsere Erzählung folgt auf die Geschichte von der Verklärung Jesu auf dem Berg. Die Jünger wären gerne oben geblieben, hätten gerne, wie es heißt, dort „Hütten gebaut“, um zu bleiben, wo es hell und gut für sie ist. Aber Jesus führt sie in die Begegnung mit dem verzweifelten Vater. Wenn glauben heißt, mit Jesus zusammen sein, dann kann Glauben nicht bedeuten, sich auf einer dauernden Höhenwanderung bewegen – sagen wir in der Höhenluft des Tessins oder des Wallis, oberhalb der Nebelgrenze des Lebens. Vielmehr bedeutet glauben – das ist das Erste -, hinabgeführt werden ins Tiefland menschlichen Elends. Da machen die Jünger, machen die Glaubenden plötzlich die Erfahrung: sie wollen helfen, sie versuchen zu heilen, aber sie scheitern. Ja, es gibt Aufgaben, an denen Glaubende scheitern können. Aber nun das Zweite: Enttäuscht von den Jüngern, d. h. doch so viel wie enttäuscht von der Kirche, denn die Jünger sind das Urbild der Kirche, wendet sich der verzweifelte Vater an Jesus selbst: „Wenn du kannst, so hab Erbarmen mit mir und hilf mir“. Fast möchte man meinen, in dieser Aussage klinge die Enttäuschung über die Kirche als Skepsis über ihren Herrn fort: „Wenn du kannst …“. Doch der Vater gibt nicht auf. Wie ein hilfloser Helfer bringt er die Last seines Lebens zu Christus. Das ist das zweite Kennzeichen des Glaubens. Noch in der Verzweiflung, selbst in der aussichtslosesten Lage schleppt er Menschen zu Gott, bringt er sie dazu, mit Gott zu reden. Glauben heißt, noch in der Gottverlassenheit mit Gott reden und rechnen. Und nun das Dritte: „Alles ist möglich dem, der da glaubt“, sagt Jesus. Ein unerhörtes Wort. Aber es wäre missverstanden, wenn wir es als ein Zauberwort deuteten. Glaube nur, und du kannst machen, was du willst. Nein, das Unzuträgliche, das Absurde, das Unanständige ist nicht möglich dem, der glaubt. Das Falsche auch nicht, das Unwahre, die Lüge auch nicht. Im Glauben geht es nicht um das, was ich will, sondern um das, was Gott für gut erachtet hat. An diesem Guten gewinnt Anteil, wer glaubt. So heißt Glauben denn eigentlich Vertrauen, Gottvertrauen. Das bedeutet, damit zu rechnen, dass Gott das Ziel weiß und im Auge behält, dass er uns den besten Weg führt, auch wenn uns dieser oft genug steil und steinig vorkommt. Auch die Ärzte, die Medizin gehören hinein in Gottes Wege. Wie aber reagiert unsere Lebenserfahrung auf Jesu Zumutung? „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“, sagt der Vater. In dieser Spannung zwischen Glauben und Unglauben, Vertrauen und Skepsis, Zuversicht und Angst, leben wir. Ich erinnere mich, wie ich vor langen Jahren einer Konfirmandin den Satz „Alles ist möglich dem, der glaubt“ als Konfirmationsspruch mitgegeben habe. Sie war erfreut darüber. Denn, wenn man jung ist, traut man sich in der Regel sehr viel zu. Man identifiziert die Glaubenskraft mit der Spannkraft der Jugend. Das ist ja auch nicht ganz falsch. Gott gebraucht auch hier unsere Möglichkeiten. Ein 15jähriges Mädchen, das, zusammen mit anderen Menschen, auf dem Weg zu seinen Berufszielen ist, da stehen alle Tore offen. „Alles ist möglich dem, der glaubt.“ Aber dann wird es eben doch schwieriger. Widerstände melden sich. Lehrstellen, Ausbildungsplätze fehlen. Es glückt nicht alles. Manchmal muss ein ganzes Land merken, dass es so wie in den fetten Jahren nicht mehr weitergeht. Und mit der Zeit merkt ein Menschenkind, dass doch nicht alles möglich ist, trotz des Glaubens. Dann kommt eben die andere Erfahrung, die des Zweifels, der Niederlagen, des Unglaubens, der Angst. Wer in solcher Situation ausruft: „Gott, hilf meinem Unglauben!“, „Hilf mir in meiner Angst!“, der ist genau in der Spannung zwischen Glauben und Unglauben, von der unser Text redet: Die Spur jener Konfirmandin habe ich verloren, vielleicht würde sie mir als heute 40jährige bestätigen, ja, diese Spannung ist’s! Damit ist gesagt: Ich kann fröhlich schwach sein und bilde mir nicht ein, glauben zu können, aber ich traue auf das, was Gott tun kann und tun will, unter Umständen ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Nicht der große Glaube an Gott ist wichtig, sondern der Glaube an einen großen Gott. Solcher Glauben ist auch für alle politisch Verantwortliche, Gewählte und nicht Gewählte am heutigen Abend zu erbitten. Und für uns Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auch. Amen. Gebet: Gott, lieber Vater, dir zu vertrauen tut gut an hellen wie an dunklen Tagen. Hab Dank für diese kostbare Gabe. Hab Dank, dass du unsern Glauben nährst und stärkst trotz unserer Zweifel und unserem Unglauben. So bitten wir dich: Sei und bleib du gegenwärtig und wirksam in deiner Kirche und in unserer Welt, wirksam mit deinem gütigen Wort und hilfreichen Geist, die Vertrauen in Dich stiften und erhalten. Um deinen Geist bitten wir für alle, die an diesem Tag gewählt worden sind, unser Land zu regieren oder ihm als Opposition zu dienen. Gib allen Leidenschaft und Augenmaß, in deinem Auftrag für Recht und Frieden zu sorgen bei uns und weltweit, stärke den Willen zu Kompromissen um des Gemeinwohls willen und die Fähigkeit, den Regierten Entscheidungen und Zumutungen plausibel zu machen. Wir bitten dich für alle, die in Forschung und Lehre tätig sind, dass sie ihre Arbeit gemeinschaftlich verantworten und an der Würde des Menschen orientieren. Um Nüchternheit für die Medienmacher bitten wir dich, um heitere Verträglichkeit in den Familien und Häusern, um Liebe und Beständigkeit für alle Eltern und alle Lehrenden in den Schulen, um offene Herzen für die Armen und Verlassenen, um Erleichterung und Geduld für die Kranken und um ein gnädiges Ende und die Hoffnung des ewigen Lebens für die Sterbenden. Hab Dank, lieber Gott, dass wir das alles vor dir ausbreiten dürfen, vor dir, der du helfen kannst und willst, weit über unser Bitten und Verstehen. Amen!