Christine Morgenroth Entwicklungstendenzen der Arbeitsgesellschaft: Vereinbar mit Bedingungen für seelische Gesundung? Vortrag am 16.5.2014 auf der Fachtagung des Klinikums Wahrendorf Zwei Eindrücke möchte ich zu Beginn schildern: in der Teamsupervision von Mitarbeitern einer Einrichtung für berufliche Reha, die in ihrer Tischlerei psychiatrisch Erkrankte im Rahmen einer Wiedereingliederung beschäftigt, rechnete ich mit Fallsupervision zum Umgang mit schwierigen Patienten/Mitarbeitenden. Statt dessen stand der Umgang mit schwierigen Kunden im Zentrum, die zwar die extrem günstigen Preise für Maßanfertigungen beanspruchen wollten, aber auf sofortige Lieferung pochten und nicht verstehen wollten, dass psychisch Kranke nicht so verlässlich nach engem Zeitplan und unter Druck arbeiten können. Es fehlte völlig das Verständnis dafür. Zudem bin ich in einer der beiden Tagestätten für psychisch Kranke der AuE-Kreativschule zuständig für das Modul Kreatives Schreiben. Befreit von Behandlungs- und Heilungserwartungen kann ich mich auf die Teilnehmer und die entstehenden Texte konzentrieren und bin jedes Mal völlig überrascht und oft begeistert von der Qualität, dem Einfallsreichtum und der Originalität der Texte. Das sind Potentiale der Patienten, die meist völlig brach liegen und nicht geachtet werden. 1 Ich werde im Folgenden etwas 1. Zu den Veränderungen in der Arbeitswelt sagen; 2. Entsprechend veränderte kulturelle Leitnormen ansprechen; 3. Reaktive psychische Erkrankungen wie Sucht und Depression betrachten; 4. Die Chancen von psychisch Kranken/Gesundenden in der Arbeitswelt untersuchen, bevor ich 5. Einige Schlussfolgerungen benenne. Seelische Leiden sind zur neuen Volkskrankheit geworden - auf ihr Konto geht annähernd eine Verdoppelung der Arbeitsunfähigkeitstage seit dem Jahr 2000. Aktuell sind 12,5 Prozent aller betrieblichen Fehltage auf seelische Erkrankungen zurückzuführen. Der Trend ist weiterhin steil ansteigend. Das sind einige Fakten bezüglich der seelischen Erkrankungen, deren Ursache im Erwerbsleben zu suchen ist. Gegenwärtige Arbeitsbedingungen können also, so die Schlussfolgerung, die ArbeitnehmerInnen krank machen. Diese Entwicklung hat Gründe. Sie liegen in den 1. Veränderungen der Arbeitsgesellschaft unter der Perspektive von Beschleunigung und Entgrenzung Der Begriff der Entgrenzung hat, ähnlich wie der der Beschleunigung, in den letzten 15 Jahren eine inflationäre Entwicklung erlebt. Die entspricht etwa der Geschwindigkeit, mit der sich die Lebenswelt und vor allem die Arbeitswelt in einem strukturellen Veränderungsprozess befinden. Entgrenzung meint zunächst die Auflösung oder das Brüchigwerden, die Erosion von ehemals für sicher gehaltene Grenzziehungen und Zuordnungen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: im Verhältnis von Unternehmen und Organisationen zu ihrer Umwelt, 2 zwischen sozialen Schichten oder Lebensstilen, in der sozialrechtlichen Regulierung der beruflichen Arbeitsteilung, in den Geschlechts- und Rollenidentitäten. Diese Prozesse sind eine Folge veränderter Bedingungen in der Arbeitswelt. Bis Mitte der 70er Jahre herrschte die Überzeugung, dass wir es mit einer “immerwährenden Prosperität” zu tun haben (“Wohlstandsgesellschaft”), die an das Modell der fordistischen Arbeitsgesellschaft geknüpft war - deren Ende seit 20-30 Jahren absehbar ist. Wir müssen drei Dimensionen der Entgrenzung unterscheiden (vgl.Sauer 2012, S.5) 1.Entgrenzung zwischen Unternehmen und Markt: wir stellen eine wachsende Vernetzung der Unternehmen untereinander fest, die aber durch den Markt reguliert wird: es herrscht das Prinzip der Vermarktlichung. Die fordistische Arbeitsgesellschaft zeichnete sich durch eine strenge Trennung von Produktionssphäre und privater Lebenswelt aus, die Unternehmen waren deutlich vom Markt getrennt, es gab institutionelle und kollektive Standardisierungen von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitszeiten. Die Arbeitsprozesse selbst waren ebenfalls durch eine hohe Arbeitsteilung gekennzeichnet (Trennung von Planung und Ausführung) und es war immer klar, wer ist Chef, wer Arbeiter. Für die hierarchischen Prinzipien von Anweisung und Kontrolle sowie für kollektive und standardisierte Leistungsregulierung steht das Fließband als Prototyp. Heute treten permanente Reorganisation, Vernetzung und vor allem indirekte Steuerungsformen in den Vordergrund. 2. Entgrenzung zwischen Arbeit- und Lebenswelt verbindet sich mit den Begriffen Flexibilisierung, Entstandardisierung und Entsicherung. Flexible Erwerbsformen führen zu einem Verlust an Sicherheit, 3 Entsicherung (keine Planbarkeit mehr) und zu Prekarisierung: es gibt keine Einkommensicherheit mehr. Entsicherung ist ein Bruch mit den traditionellen betrieblichen und sozialstaatlichen Regelungen. Ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse (Werkverträge, Leiharbeit, Befristung) nehmen zu, das wird mit der Erwartung höherer Flexibilität im Einsatz zeitlicher und räumlicher Art verknüpft. Von 1992 bis 2007 hat die Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses deutlich abgenommen, der Anteil der atypisch Beschäftigten ist hingegen gestiegen und machte 2007 bereits ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse aus, Tendenz weiterhin steil ansteigend. (Fehlzeitenreport S.7) was überwiegend auf eine Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung zurückgeht. Wenn dies mit prekären Niedriglöhnen zusammenkommt, die nicht mehr zur Sicherung der Existenz ausreichen, sind wir im Bereich der Prekarisierung angelangt. Laut Berichten der internationalen Arbeitsorganisation ILO in Genf sind die Löhne in Deutschland in den letzten 10 Jahren preisbereinigt um 4,5% gefallen, die Löhne im unteren Einkommensdrittel sogar um 20% (S.7 Fehlzeitenreport 2012). Prekarisierung betrifft inzwischen auch den Kern der Normalarbeit und reicht bis weit in die Mitte der Erwerbsgesellschaft. Flexible, individuell und informell ausgehandelte Arbeitszeiten führen zu einer immer dichteren Verschränkung von Leben und Erwerbsarbeit. 3.Entgrenzung zwischen Unternehmen und Arbeitskraft: Subjektivierung und Selbstorganisation: durch den Abbau betrieblicher Hierarchien wird Verantwortung an die Beschäftigten delegiert. Subjektive und lebensweltliche Ressourcen werden verstärkt für die Erwerbsarbeit genutzt. Es gibt einen Zugewinn an Selbstbestimmung mit der wachsenden Drohung der Selbstgefährdung. 4 Ich möchte dem die Dimensionen der subjektiven Folgen hinzufügen, die indirekten Folgen in Familie und sozialen Strukturen (Freundschaften Nachbarschaften, das bedeutet 4. die Entgrenzung in sozialen Beziehungen, woraus folgt 5. die Erosion von Ich-Strukturen sowie 6. die Entgrenzung der Wahrnehmung des Zeiterlebens und der individuellen Belastbarkeit (vgl. Morgenroth 2004 und 2005). Die beschriebenen Dimensionen der Entgrenzung führen zu einer 2. Veränderung kultureller gesellschaftlicher Leitnormen. Nicht nur die beruflichen, auch die außerberuflichen Lebensformen unterliegen dem Einfluss technologisch bedingter Veränderungen und wachsender, spezifischer Belastungen. Sie sind weniger durch einmalige Stress-Situationen gekennzeichnet; vielmehr ist ein immer höher geschraubter Dauerstress das Besondere dieses Lebensalltags, der zweifelsfrei unter der Dominanz der Erwerbsarbeit steht. Das Phänomen der Omnipräsenz, der zeitlichen (und mentalen) Überbeanspruchung durch permanente Präsenz am oder für den Arbeitsplatz ist bei vielen Erwerbstätigen derart ausgeprägt, dass Arbeitsmediziner bereits von einer anhaltenden Erholungsunfähigkeit sprechen. Sie sind auch außerhalb des Unternehmens beständig mit beruflichen Fragen beschäftigt, vernetzt über die verschiedensten Kommunikationskanäle mit ihrem Büro und den Schaltzentralen der Arbeitswelt, gedanklich nicht vom professionellen Kontext befreit. Wenn das Mobiltelefon beim Joggen aus beruflichen Gründen klingelt und das Laptop im Bett seinen festen Platz hat, kann von Freizeit im traditionellen Sinne keine Rede sein. Damit wird die Selbstanforderung zur Beschleunigung transformiert in eine Selbstanforderung der Vergleichzeitigung, multitasking ist die moderne Bezeichnung für simultane Aktivitäten. So wie auf vielen PCBildschirmen zur selben Zeit mehrere Fenster geöffnet sind und verschiedene Vorgänge gleichzeitig bearbeitet werden können, so wird die 5 gesamte Lebensorganisation diesem Prinzip der Gleichzeitigkeit unterworfen. Der Dauerstress liegt in einer oft fatalen Verkettung einzelner Faktoren; jeder für sich allein ist durchaus verkraftbar und in den jeweiligen Lebenszusammenhang integrierbar: Veränderungen der Lebenssituation durch ein Kind, Wechsel oder Verlust des Arbeitsplatzes oder grundlegende Veränderungen des professionellen Anforderungsprofils, sogar Liebesbeziehungen auf Wochenend-Basis - jeder Faktor allein genommen kann durchaus als anregend erlebt werden und erweitert die persönlichen Fähigkeiten. Die Anforderung jedoch, all diesen Ansprüchen gleichzeitig und bestens zu genügen, übersteigt oft das individuelle Leistungsvermögen. Diese Anforderung wird als gültige nicht nur von äußeren Instanzen formuliert, z.B. von Vorgesetzten, sondern ist ein tief verinnerlichter Selbstanspruch geworden, der als innerer SelbstAntreiber wie ein moderner Kategorischer Imperativ wirkt: >Handele immer so, dass das Optimum aller denkbaren Ziele, Effizienzen, Geschwindigkeiten erreicht wird<! Aus diesem extern wie intrapsychisch wirkenden Antrieb heraus wird dieser neuen Simultaneitäts-Norm und den davon abhängigen normativen Forderungen gefolgt. Sie wirken wie Sklaventreiber von Innen. Sie lassen sich in mindestens drei Bereichen deutlich identifizieren: 1. Dem Zeiterleben der Simultaneität inhärent ist die Forderung nach ständiger Verfügbarkeit. Der dieser Forderung nach Omnipräsenz folgende Imperativ und Antreiber lautet: Sei immer erreichbar! 2. An die Stelle von Verlässlichkeit und Kontinuität ist eine Lebenseinstellung der permanenten Flexibilität getreten. Lebenslanges Lernen und eine buchstäblich grenzenlose Anpassungsfähigkeit kennzeichnen das Anforderungsprofil der modernen Arbeitnehmer/innen, die sich selbst um ihre Beschäftigungsfähigkeit kümmern. Der dazugehörige Antreiber/Imperativ lautet: Sei biegsam und 6 anpassungsfähig! 3. Ein weiterer hochwirksamer Imperativ/Antreiber ergibt sich aus einer Tendenz zum zwanghaften Hedonismus und läßt sich normativ als “ have fun” ausdrücken. Ihm liegt die Vorstellung eines immer gut gelaunten, belastbaren und toleranten Menschen zugrunde, der auch Frustrationen mit einem Lächeln begegnet und sie als Option für ein weiteres tolles Erlebnis begreift. Ein erstes Zwischenergebnis lautet: Gesellschaftliche Leitnormen unterliegen einer Veränderung, die als direkte Antwort auf die Entgrenzungsphänomene in der Arbeitswelt zu verstehen ist. Sie geben diejenigen kulturellen Orientierungen vor, die als geltende Normen gesellschaftliche Realität bestimmen und die Muster subjektiver Wahrnehmung prägen. Die Antreiber-gesteuerten neuen Leitnormen führen Erwerbstätige, die diese Normen verinnerlicht haben, in die Zone der Selbstgefährdung. 3. Reaktive Erkrankungen: Sucht und Depression Den diesen Leitnormen immanenten Leistungsforderungen direkt durch aktivitätssteigernde, stimmungsaufhellende oder beruhigende Substanzen nachzuhelfen bezeichnet eine unmittelbare Schnittstelle zur Suchtgefahr. Wenn die Befolgung dieser Leitnormen routinehaft, d.h. unreflektiert geschieht, kommt der Mensch sehr schnell in einen aussichtslosen Teufelskreis: Da gute Leistung nicht ausreicht, sondern sehr gute, beste, brillante Leistung gefordert ist, die sich am Modell technologischer Effizienz orientiert, geht es immer noch besser, gibt es kein Nachlassen, besteht niemals die Möglichkeit, mit dem erreichten Ergebnis zufrieden zu sein. Dieser Zustand vervielfältigt sich durch die Gleichzeitigkeitsforderung, in der die Antreiber-Formel dazu führt, dass die Best-Leistungen in verschiedenen Lebensbereichen simultan verwirklicht werden müssen. 7 Das Auftreten und die Dynamik von Suchterkrankungen kann als Folge dieser Selbst-Überforderung verstanden werden, die mit Hilfe bestimmter psychoaktiver Wirkstoffe kompensiert werden soll. In der psychodynamischen Auffassung von Sucht wird dem Gebrauch von Psycho-Substanzen eine gewisse Brückenfunktion zugewiesen – in der Funktion einer ‚ Plombe’ , mit der eine ansonsten unerträgliche Situation, zumeist eine Leere ausgefüllt wird. Zudem sind bestimmte Substanzen fast zu einer Selbstverständlichkeit bei der Gestaltung von Alltagsleben geworden. Sie werden als chemische Hilfen eingesetzt, sie sind Bestandteil von Strategien des Self-Managements, um in diesem Alltag zurechtzukommen. Vorausgehende und/oder begleitende psychische Störungen/Erkrankungen sind ebenfalls ein Ausdruck dieser Überforderung. 1 Besorgniserregend ist der Konsum der legalen Substanzen Alkohol und Nikotin (vgl. hierzu DHS, Jahrbuch Sucht 2011). In Deutschland werden jährlich etwa 10 Liter reiner Alkohol konsumiert - pro Kopf. 9,5 Millionen Menschen trinken Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. 1,3 Millionen Menschen (in der Altersgruppe zwischen 18 und 64 Jahren sind 3,4 Prozent der Männer und 1,4 Prozent der Frauen alkoholabhängig). Bei Missbrauch von Medikamenten ist mit der allergrößten Dunkelziffer zu rechnen, Abhängigkeit und riskanter Konsum sind aber zweifelsfrei weit verbreitet, Schätzungen gehen von 1,4 bis 1,9 Mio in der Erwachsenenbevölkerung aus. 1Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Störungen nimmt seit Jahren konstant zu. So betrug der Anteil dieser Diagnosen (psychische Störungen) an allen Diagnosen im Jahr 2002 23,3% , im Vergleich zu 28,7 % im Jahr 2008. (aus: Berechnungen gbe-bund.de, Gesundheitsberichterstattung des Bundes/Stat.Bundesamt). Im Jahr 2010 beliefen sich Schätzungen der gesamtgesellschaftlichen (direkten und indirekten) Krankheitskosten durch psychische Störungen auf Milliardenbeträge: Im Jahr 2011 geht man von 28,6 Mrd. Euro an direkten Kosten aus, hinzu kommen 17,9 Mrd. Euro an Produktionsausfall durch Invalidität (vgl. BKK Bundesverband, Abteilung Gesundheitsförderung). Die Krankheitstage und Fehlzeiten aufgrund der direkten und indirekten Folgen einer Suchterkrankung sind in diesen Angaben Bestandteil der insgesamt deutlich ansteigenden Krankheitszeiten aufgrund psychischer Störungen. 8 Suchtgefahr besteht daher durch den Einsatz von Substanzen entweder zur direkten Leistungssteigerung (Amphetamine) oder zur Entspannung nach der Arbeit (downer) bzw. zur Angstlösung/Beruhigung (Diazepine), wenn der arbeitsbedingte Stress zu groß wird. Depression Die beschleunigte gesellschaftliche Entwicklung vor allem im Erwerbsleben begünstigt die Identifikation mit der Leitnorm, die, auf diese Weise verinnerlicht, zur Ausbildung von Strukturen und Anforderungen im IchIdeal führt, die das Subjekt vor Aufgaben stellen, denen es sich nicht gewachsen fühlt und die eine tatsächliche Überforderung darstellen. Der Versuch, diesen Selbst-Anforderungen zu genügen, führt zu einer permanenten Überforderung und einem räuberischen Umgang mit den eigenen Kräften. Da aber die Leitnormen unrealistisch hoch definiert sind, kann trotz größter subjektiver Anstrengungen dieser Selbstanspruch nicht erfüllt werden. Das führt auf der Ebene subjektiver Reaktionen zwangsläufig zu massiven Enttäuschungen, weil das Ich gegenüber den Ansprüchen dieses Ich-Ideals versagt. Scham und Selbstzweifel, Selbstanklagen und Gefühle von Wertlosigkeit sind die Folge, das Selbsterleben kreist um Gefühle des Ungenügens, der Insuffizienz 2. Das sind die Charakteristika des depressiven Erscheinungsbildes. Damit in Zusammenhang zu sehen ist auch die weitaus höhere Zahl depressiver Erkrankungen bei Frauen. Das Risiko von Frauen, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, liegt zwischen 10 und 25 %, bei Männern zwischen 5 und 12% (Leuzinger Bohleber 2005). In wachsendem Umfang handelt es sich dabei um Erschöpfungsdepressionen, deren Nähe zum Burnout evident ist. Quelle der Erkrankung ist dauerhafte 2Bei der Techniker Krankenkasse (TK) haben sich die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen, die Klinikaufenthalte wegen Depressionen und die Menge der dagegen verordneten Antidepressiva innerhalb fünf Jahren um jeweils rund 50 Prozent erhöht. Das berichtet der "Focus" unter Berufung auf TK-Daten aus den Jahren 2007 bis 2011. Die BKK-Daten beziehen sich auf den Zeitraum 2004 bis 2011. 9 Überforderung durch äußere Bedingungen, die durch einen inneren Leistungswillen gestützt werden. Nicht also der äußere Zwang allein, vielmehr die Kombination mit den verinnerlichten Normen, diese Ansprüche aus eigenem Willen erfüllen zu wollen, ist der Einstieg, die Grenzen der Selbstsorge permanent zu überschreiten. Die Gratifikation kommt vom Über-Ich, wenn dessen Normen entsprochen wurde. Dass hohe Leistungsbereitschaft in einer Leistungsgesellschaft auch ein sozial hoch geachteter Wert ist, muss kaum gesondert betont werden. Zudem gibt es eine starke Tendenz zu rezidivierenden Verläufen, die Depression kommt wieder.. Es ist davon auszugehen, dass gegenwärtig in Deutschland 4 Millionen Menschen akut an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt sind, EU-weit sind es akut 20 Millionen Menschen. 3 Diese Daten geben unmissverständliche Hinweise auf eine große Belastung, die sich in Stress ausdrückt und längerfristig zu stressbedingten Erkrankungen führt. Wir können also ein zweites Zwischenergebnis festhalten: Die gegenwärtigen Bedingungen des Erwerbslebens in der Arbeitsgesellschaft: Entgrenzung und Beschleunigung, Subjektivierung und Selbststeuerung, aber auch Subjektivierung und Selbststeuerung, führen zu Strukturen, die arbeitenden Menschen (und ihren Angehörigen) mehr abverlangen, als die subjektiven Kräfte es hergeben. Aufgrund der veränderten Leitnormen: beeil dich, sei immer verfügbar uvm. verinnerlichen Menschen diese Anforderungen, sie wirken als innere 3Die Problematik liegt m.E. vielmehr in den Veränderungsprozessen der subjektiven Struktur, die sich umbaut, als wenn ein innerer Sklaventreiber zu immer intensiverer Leistung antreibt. Die Verinnerlichung der Leistungsnorm - “nur wer Sinnvolles leistet ist ein wertvoller Mensch” - treibt Menschen dazu, Raubbau mit ihren Kräften zu treiben und sich selbstgestellten, als kategorischer Imperativ mit ungeheurer Wucht auftretenden Selbst-Ansprüchen zu beugen - und zwangsläufig daran zu versagen; folgerichtig fühlen sie sich als Versager/innen. Die konkreten Bedingungen der Erwerbsarbeit bedienen diesen Mechanismus perfekt, die geschlechtliche Arbeisteilung, mit der Frauen der Löwenanteil an der Beziehungsarbeit zugewiesen wird, vermehrt den Druck ebenso wie das notwendige Scheitern an den eigenen Ansprüchen wahrscheinlicher wird. 10 Antreiber und führen zu dem gewünschten Verhalten aus “freiem Willen”. Die Menschen wollen nun selbst, was sie tun sollen. Diese Arbeits- und Lebensbedingungen haben pathogenen Charakter und sind angetan, Menschen reaktiv in eine psychische Erkrankung zu treiben. 4. Psychisch kranke Menschen in Lebens- und Arbeitswelt Es ist nun an der Zeit, die Perspektive umzukehren: einerseits macht die Arbeitsgesellschaft krank - andererseits sollen auch psychisch und psychiatrisch Kranke in die Arbeitsgesellschaft, in die Erwerbsarbeit zurückgeführt werden. Wie soll das gehen? Der Blick auf die Charakteristika der Anforderungen in modernen Arbeitsverhältnissen, wie ich sie eingangs skizziert habe, ergibt folgenden Befund: Menschen müssen folgende Eigenschaften mitbringen: *eine hohe Flexibilität in Einsatz von Zeit und Ort (immer und überall verfügbar) *große Selbstverantwortung und Selbststeuerungsfähigkeit *ein enormes Maß an intrinsischer Motivation *Fähigkeit zur autonomen Prozesssteuerung *Selbstbewusstsein für das Aushandeln der nötigen Arbeitsbedingungen *Eigenständigkeit einer passenden work-life-balance *Fähigkeit zur Selbstsorge *Leistungsbereitschaft und innere Robustheit gegenüber Stress der aus ständig wechselnden Aufgaben und Teams entsteht *Stressresistenz gegenüber Leistungsdruck unter Zeitdruck. Wie aber ist die besondere Lage von Menschen mit psychischen Problemen und was benötigen sie, um am gesellschaftlichen Leben, gar am Arbeitsleben teilhaben zu können? Ich fasse mich an dieser Stelle kurz, denn Sie sind als Fachleute mit diesen Bedürfnissen der Patienten 11 und deren psychosozialer Situation bestens vertraut. Unter diagnostischen Kriterien leiden die meisten psychisch Behinderten unter Schizophrenie oder affektiven Psychosen (depressive oder bi-polare Form), Persönlichkeitsstörungen sowie Folgen von Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Diese Erkrankungen gehen mit Störungen des Denkens, der Konzentration, der Motivation und des emotionalen Ausdrucks einher. Zudem entstehen in der Folge soziale- und Beziehungsstörungen. All das wird durch große Sensitivität und ein hohes Stresspotential begleitet. 4 Auf der persönlichen Ebene suchen die Betroffenen nach Bewältigungsformen: * Die erste Reaktionsform ist ein weitreichender Verlust von Vertrauen in sich selbst und die soziale Umgebung mit der Folge hoher Anfälligkeit für Stress und Anforderungen aller Art - was die nächste psychotische Episode hervorrufen kann. Mit dem Ergebnis eines weiteren Verlustes von Selbstvertrauen. Im Ergebnis führt das zu immer weiterreichender Vermeidung und Passivität. * Zweitens kann die ängstigende Erfahrung verleugnet werden, Probleme werden negiert. Fehlende Krankheitseinsicht führt zum Festhalten an unrealistischen Zielen. Oftmals führen diese Folgen zu mehr Beeinträchtigung als die psychiatrischen Symptome selbst. Die auffallendsten Probleme der Menschen mit psychischen Einschränkungen sind die weitreichende soziale Isolation, die hohe Arbeitslosigkeit und der Mangel an tragfähigen belastbaren Beziehungen. Hierzu gibt es neue Untersuchungen der Universität Greifswald. In einer Vergleichsstudie über 30 Jahre zur Toleranz gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen wird festgestellt, dass die Toleranz sich im 4Hinzu kommen die besonderen Reaktionen auf die psychische Erkrankung. Eine heftige psychotische Episode ist verwirrend, aber auch sehr ängstigend und hinterlässt auch eine Erwartungsangst, die weitaus länger besteht als die psychiatrischen Symptome. 12 Fall von Depressionen vergrößert hat, jedoch gegenüber den an einer Schizophrenie Erkrankten hat sich die soziale Angst deutlich verstärkt. Was die Stigmatisierung der Betroffenen angeht, zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen. Für Betroffene mit einer Depression konnten tendenziell geringfügige positive Veränderungen beobachtet werden: die Menschen äußerten 2011 etwas mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft und etwas weniger Befangenheit als 1990, gleichzeitig aber auch mehr Ärger über den Betroffenen. Eine eindeutig negative Entwicklung zeigte sich dagegen für die Schizophrenie: Hier nahm die Furcht vor den Betroffenen zu, während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen. Vor allem aber ist das Bedürfnis nach sozialer Distanz deutlich gestiegen: Während es 1990 zum Beispiel 20 Prozent waren, die eine Zusammenarbeit mit einer an Schizophrenie erkrankten Person ablehnten, waren es 2011 schon 31 Prozent. Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemand mit einer Schizophrenie einem Freund vorzustellen, stieg von 39 Prozent auf 53 Prozent. Die stärkste Ablehnung unter den drei Krankheitsbildern erfahren nach wie vor Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. Die persönliche Ablehnung äußert sich darin, dass 31 Prozent einen Alkoholkranken nicht als Nachbarn wünschen, 34 Prozent nicht als Arbeitskollegen, 60 Prozent nicht im Freundeskreis und 61 Prozent nicht als Untermieter. Auch wenn die Öffentlichkeit mehr über psychische Krankheiten weiß und einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener ist, so ändern doch Aufklärung und Wissen offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung. Was folgt daraus? Drittes Zwischenergebnis: Die Anforderungen der entgrenzten und beschleunigten Arbeitswelt 13 fordern von den Erwerbstätigen Eigenschaften (Flexibilität, Ausdauer, Motivation, Stress-Resistenz), die die psychisch Beeinträchtigten gerade nicht mitbringen. Sie benötigen, um überhaupt an ihre Ressourcen heranzukommen, Kontinuität, Verlässlichkeit besonders im Bereich der (professionellen) Beziehungen, klare Strukturen, nur mäßige Stimulation von Außen und sehr, sehr viel Anerkennung. Nichts davon hält die moderne Arbeitswelt vor. Mit anderen Worten: das Anforderungs-Profil der entgrenzten Arbeitswelt und das Möglichkeitsprofil von Menschen mit psychischen Problemen sind überhaupt nicht kompatibel, sie passen nicht zusammen!! 5. Schlussfolgerungen: Wohin führen diese Überlegungen? Die Nichtübereinstimmungen zwischen veränderten Anforderungen der Erwerbsarbeit und dem Möglichkeitsprofil von Menschen mit psychischen Problemen lässt eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt, wenn sie gelingt, fast als seltenen Glücksfall erscheinen. Je öfter dieser dennoch eintritt, desto besser. Ich will keine Unke sein - aber: die Wahrscheinlichkeit sinkt mit dem herrschenden Druck und den wachsenden Leistungs- und Flexibilitätsanforderungen. Das kann aber keinesfalls bedeuten, dass Bemühungen um Rehabilitation unnütz sind, im Gegenteil. Allerdings müssen die Ziele und somit auch erfolgreiche Zielerreichung sehr differenziert betrachtet werden - und es muss mehr und andere Erfolgskriterien geben als nur die Integration in den 1.Arbeitsmarkt! Erfolge müssen kleiner sein dürfen, um als solche trotzdem Geltung und Anerkennung zu haben. Jede Form der wachsenden Beziehungsfähigkeit und/oder der autonomen Bewegung im Sozialraum ist ein Erfolg, die Befähigung zum Einhalten von Vereinbarungen, die Gewöhnung an eine regelmäßige Tagesstruktur uvm alles sind wichtige Erfolge, die Anerkennung verdienen. Ohne eine solchee Mikrologie der Erfolge ginge es den Patientinnen und auch den Mitarbeiterinnen im 14 Hilfesystem wesentlich schlechter. Zudem müssen die Bedingungen der Rehabilitation optimiert werden im Sinne einer institutionen-übergreifenden Multiprofessionalität. Hier denke ich an die Übergänge zwischen stationärer und ambulanter Zeit, vor allem aber an die bessere Kooperation zwischen den verschiedenen Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen in der nach-stationären Zeit. Ein gelegentliches HPG, in dem die Verlängerung von Maßnahmen auch notwendigerweise von Kosten-Nutzen-Überlegungen geprägt ist, hat eine andere Funktion als eine regelmäßige Helferinnen-Konferenz, in der die verschiedenen Hilfesysteme (ambulante Psychotherapie, Tagesstätte, mobil-betreutes Wohnen, Hausarzt bzw. psychiatrisch-fachärztliche Betreuung, betrieblicher Sozialarbeiter ihre Maßnahmen aufeinander abstimmen können. Das ist notwendig, damit nicht unversehens verschiedene Interventionen in unterschiedliche widerstreitende Richtungen erfolgen und sich wechselseitig paralysieren und daher zu Misserfolgen führen. Misserfolge schaden den Patienten. Aber sie schaden ebenso den HelferInnen, denn Misserfolg führt zu Frustration, Demotivation und Lähmung/Passivität - also zu Zuständen, die wir von den Patienten ebenfalls kennen. Wenn dann die verschiedenen Einrichtungen mit wechselseitigen Schuldzuweisungen beginnen (“wenn die Psychotherapeutin die Traumabehandlung geschickter angelegt hätte, wären wir mit der Stabilisierung schon viel weiter...!!” So kann das ja nicht klappen) verkehrt sich die tragische Dynamik und richtet sich auf die HelferInnen zum Nachteil der PatientInnen. Als Supervisorin in diesem Feld mit einer Vielzahl von Teams in Kontakt habe ich gelegentlich hervorragende Erfahrungen damit gemacht, wenn es eine Institutionenübergreifende multiprofessionelle Supervision gab, wenn also das Team aus der MoB den Arzt, einen KSD-Mitarbeiter und/oder die Therapeutin mitgebracht hat, um einen Fall gemeinsam zu supervidieren. Ich bin mir 15 bewusst, dass ich von Utopia schwärme. Allerdings ist mir die oft durchschlagende und langfristige Effizienz solcher Arbeit, wenn sie denn mal stattfand, sehr nachdrücklich geworden. Ich wünsche mir daher größere Spielräume (vor allem finanzieller Natur) um die institutionenübergreifende Multiprofessionalität in der ambulanten Arbeit auszubauen und zu verwirklichen. Dazu muss natürlich auch eine Finanzierungsmöglichkeit geschaffen werden. Vorher jedoch bedarf es einer grundsätzlichen Bereitschaft und einer Einsicht in den unmittelbaren Nutzen für die PatientInnen. Ich möchte es knapp fassen: Das System der Erwerbsarbeit und der Arbeitsgesellschaft hat mit Entgrenzung und Beschleunigung, mit Vergleichzeitigung und Subjektivierung einen Charakter angenommen, dessen pathogene Eigenschaften immer deutlicher zutage treten. Es hat das Potenzial, krank zu machen. Dafür verringert sich im Gegenzug das Potenzial, besondere, von der Norm abweichende, beschädigte und eingeschränkte Menschen mit ihren besonderen Arbeitsvermögen zu integrieren, weil die nötigen Schutzräume kleiner werden und die Bereitschaft nachlässt, das Profil der Arbeit dem der Menschen anzupassen. Die Erwartung läuft exakt anders herum: der Mensch passt sich immer mehr den Erwartungen an - ich hatte das unter dem Begriff der Subjektivierung gefasst. Bleiben diese Tendenzen ungebremst, werden immer mehr Menschen als Kranke, Unfähige, Ausgegrenzte enden. Und immer weniger der Menschen mit psychischen Einschränkungen werden in die Erwerbsarbeit zurückfinden können. Wenn Inklusion mehr als ein hohles Schlagwort sein soll, müssen auch die Bedingungen der Erwerbsarbeit den Gesundenden und ihrem besonderen Profil entsprechend geöffnet und verändert werden. In sehr viel höherem Umfang, als das bislang geschieht. Das ist ein Appell an Arbeitgeber wie Gewerkschaften gleichermaßen wie an die Institutionen des Gesundheitssystems. 16 Dennoch möchte ich betonen: Die - Rückführung in - Erwerbsarbeit darf nicht das Hauptkriterium für Erfolg sein, das gilt für alle! Vielmehr kommt es angesichts der beschriebenen Tendenzen der Arbeitsgesellschaft darauf an, die vielen Ausdrucksmöglichkeiten von Humanität, über die auch und gerade psychisch eingeschränkte Menschen verfügen, auszubauen, zu fördern und mit Leben zu füllen. Das bleibt eine große gesellschaftliche Herausforderung - im Interesse der Erkrankten ebenso wie für die (noch) Gesunden. In diesem Sinn ist Inklusion eine Herausforderung und eine Chance für uns alle! Vielen Dank. Literatur Badura, Bernhard u.a. (2012) Fehlzeiten-Report 2012. Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt. Berlin, Heidelberg (Springer) Bilitza, Klaus (Hg): Psychodynamik der Sucht, Psychoanalytische Beiträge zur Theorie, Göttingen 2008 (Vandenhoeck und Ruprecht) ders., Psychotherapie der Sucht, Psychoanalytische Beiträge zur Praxis, Göttingen 2008 Bohleber, W. (Hrsg), Depression. Psychoanalytische Erkundungen einer Zeitkrankheit, Sonderheft Psyche 2005 (Klett-Cotta) Battegay, R., Depression. 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März 2014, 14:05 Rein biologisches Krankheitsverständnis betont die vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen und führt zu steigender Ablehnung Greifswald - Rund 3.600 Menschen wurden Ende 2011 in Deutschland in persönlichen Face-to-Face-Interviews ausführlich zu ihrer Einstellung zu den Krankheitsbildern Schizophrenie, Depression und Alkoholismus befragt. Das Ergebnis ist beunruhigend. Während die Bereitschaft, mit 18 Betroffenen in Kontakt zu treten in Bezug auf Depression und Alkoholabhängigkeit unverändert geblieben ist, hat sich das Verhältnis zu Menschen mit Schizophrenie im Vergleich zu 1990 deutlich verschlechtert. Die Studie unter der Leitung von Georg Schomerus von der Universitätsmedizin Greifswald im "The British Journal of Psychiatry" veröffentlicht. "Das Besondere ist, dass wir die Einstellungsentwicklungen zu psychisch Kranken seit 1990 sehr gut nachverfolgen können, weil wir Vergleichsdaten aus den Jahren 1990, 1993 und 2001 haben", sagte Schomerus. Dazu liegen Studien des Leipziger Wissenschaftlers Matthias C. Angermeyer vor, der auch an der aktuellen Studie beteiligt war. In circa 30-minütigen Gesprächen wurden den Befragten erneut drei exemplarische Krankheitsgeschichten vorgestellt, ohne Nennung der Diagnose. Sie sollten dann ihre Meinung sagen zu möglichen Ursachen, Behandlungsempfehlungen sowie persönlichen Einstellungen zu Menschen mit der geschilderten psychischen Erkrankung. Stress als Krankheitsauslöser In den letzten 20 Jahren haben biologische Ursachenvorstellungen zur Schizophrenie deutlich zugenommen, während psychosoziale Ursachenvorstellungen etwas abgenommen haben. 2011 stimmten 62 Prozent der Aussage zu, es handle sich bei dem geschilderten Problem um eine Gehirnkrankheit, 1990 waren es nur 43 Prozent. Auf der anderen Seite führten 2011 66 Prozent eine Schizophrenie auf ein belastendes Lebensereignis zurück, 1990 waren es noch 71 Prozent. Bei der Depression verlief die Entwicklung anders, hier scheinen psychosoziale Gründe, insbesondere Stress als Auslöser in den Vordergrund zu rücken: Insbesondere "Stress am Arbeitsplatz" wurde 19 häufiger (2011: 80 Prozent; 1990: 70 Prozent) als mögliche Ursache bezeichnet, während die Zustimmung zu biologischen Ursachen eher gesunken ist. Auf die offene Frage, wie sie das geschilderte Problem bezeichnen würden, antworteten bei der Depression in der aktuellen Umfrage über 10 Prozent mit dem Begriff "Burnout", 2001 waren es weniger als 1 Prozent gewesen, 1990 praktisch niemand. Bei der Depression zeigt sich damit eine Trendwende: Noch bis 2001 war auch hier eine Zunahme biologischer Krankheitsvorstellungen zu verzeichnen gewesen, mittlerweile treten aber Vorstellungen von Stress und Überlastung zunehmend in den Vordergrund. Bei der Alkoholabhängigkeit gab es keine einheitlichen Veränderungen, hier dominiert klar die Vorstellung von psychosozialen Stressfaktoren: 2011 stimmten 21 Prozent zu, dass es eine Gehirnkrankheit sei, 25 Prozent meinten, das wird "vererbt". Dagegen meinten 73 Prozent, Auslöser sei ein belastendes Lebensereignis, 76 Prozent vermuteten Stress am Arbeitsplatz als Ursache. Medikamenteneinnahme wird positiv gesehen Für alle Krankheiten gilt, dass professionelle therapeutische Behandlung erheblich an Popularität gewonnen hat, und zwar sowohl die Pharmakotherapie als auch die Psychotherapie. Der Anteil von Personen, der psychiatrische Medikamente für die Behandlung einer Schizophrenie empfahl, stieg zwischen 1990 und 2011 von 30 Prozent auf 53 Prozent, bei der Depression von 26 Prozent auf 35 Prozent. Für beide Krankheitsbilder war die Psychotherapie noch populärer, auch hier zeigte sich eine deutliche Zunahme bei den Behandlungsempfehlungen. Analog hat auch die Empfehlung von Psychotherapeuten und Psychiatern als Behandler deutlich zugenommen, während es bei den Hausärzten nur kleine Zuwächse und bei 20 Selbsthilfegruppen keinerlei signifikante Veränderungen gab. Bei der Alkoholabhängigkeit wurde ebenso vor allem der Gang zum Psychiater, Psychotherapeut und Hausarzt oder die Selbsthilfegruppe empfohlen. Positiver wurde auch hier die Einnahme von Medikamenten oder eine Psychotherapie eingeschätzt. Bedürfnis nach sozialer Distanz Was die Stigmatisierung der Betroffenen angeht, zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen. Für Betroffene mit einer Depression konnten tendenziell geringfügige positive Veränderungen beobachtet werden: die Menschen äußerten 2011 etwas mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft und etwas weniger Befangenheit als 1990, gleichzeitig aber auch mehr Ärger über den Betroffenen. Das Bedürfnis nach sozialer Distanz, also die Bereitschaft, mit einem Betroffenen in alltäglichen Situationen umzugehen, blieb weitgehend unverändert. Eine eindeutig negative Entwicklung zeigte sich dagegen für die Schizophrenie: Hier nahm die Furcht vor den Betroffenen zu, während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen. Vor allem aber ist das Bedürfnis nach sozialer Distanz deutlich gestiegen: Während es 1990 zum Beispiel 20 Prozent waren, die eine Zusammenarbeit mit einer an Schizophrenie erkrankten Person ablehnten, waren es 2011 schon 31 Prozent. Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemand mit einer Schizophrenie einem Freund vorzustellen, stieg von 39 Prozent auf 53 Prozent. Die stärkste Ablehnung unter den drei Krankheitsbildern erfahren nach wie vor Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. Die persönliche Ablehnung äußert sich darin, dass 31 Prozent einen Alkoholkranken nicht als Nachbarn wünschen, 34 Prozent nicht als Arbeitskollegen, 60 Prozent 21 nicht im Freundeskreis und 61 Prozent nicht als Untermieter. Differenzierte Betrachtung "Die Öffentlichkeit weiß mehr über psychische Krankheiten und ist einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener. Das sind die positiven Entwicklungen", sagt Schomerus und ergänzt: "Aufklärung und Wissen ändern aber offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung." Bei der Schizophrenie gibt es sogar Hinweise, dass eine einseitige Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien oder durch Wissenschaftler den Betroffenen schadet. Mit der Befragung konnte demonstriert werden, dass durch ein rein biologisches Krankheitsverständnis eine vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen betont wird und dadurch die Ablehnung steigt. Schomerus fordert daher ein differenzierteres, lebendigeres Bild von Menschen mit psychischen Krankheiten. "Psychisch kranke Menschen dürfen nicht auf eine Fehlfunktion im Gehirn reduziert werden." Nach Auffassung des Studienleiters müssen in der Gesellschaft und Öffentlichkeit dringend neue Wege in der Aufklärung von psychischen Erkrankungen und im Umgang mit den Betroffenen gesucht werden. "Bis zu einem selbstverständlichen Umgang mit psychischen Krankheiten, die ja sehr häufig sind, ist es noch ein weiter Weg. Wir haben in den letzten 20 Jahren viel getan, aber offenbar zu wenig erreicht. Das ist leider keine gute Botschaft für die Betroffenen, zu denen ja jeder einmal gehören kann," sagt Schomerus. (red, derStandard.at, 11.3.2014) Ärzte Zeitung, 19.03.2014 Kommentieren (0) 22 Stigmatisierung Bevölkerung sucht Distanz zu Schizophrenen Die Einstellung zu Menschen mit Schizophrenie ist negativer geworden. GREIFSWALD. Eine repräsentative bundesweite Erhebung Ende 2011 bei rund 3600 Menschen hat teilweise beunruhigende Ergebnisse gebracht, meldet die Universitätsmedizin Greifswald: Die Bereitschaft, mit Betroffenen in Kontakt zu treten, habe sich in Bezug auf Schizophrenie im Vergleich zu 1990 deutlich verschlechtert (BJPsych 2013; online 20. Juni). Das Bedürfnis nach sozialer Distanz sei hier deutlich gestiegen: Während es 1990 zum Beispiel 20 Prozent ablehnten, mit einer an Schizophrenie erkrankten Person zusammenzuarbeiten, seien es 2011 schon 31 Prozent gewesen. Der Anteil derjenigen, die es ablehnten, jemand mit einer Schizophrenie einem Freund vorzustellen, stieg von 39 auf 53 Prozent.Insgesamt wurden sieben verschiedene hypothetische Situationen abgefragt, und in allen Situationen stieg die Ablehnungsquote deutlich. Positiv: Die Öffentlichkeit weiß mehr über psychische Krankheiten und ist einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener. "Das Besondere ist, dass wir die Einstellungsentwicklungen zu psychisch Kranken seit 1990 sehr gut nachverfolgen können, weil wir Vergleichsdaten aus den Jahren 1990, 1993 und 2001 haben", wird Privatdozent Georg Schomerus von der Universitätsmedizin Greifswald, 23 Leiter der Studie, zitiert. In puncto Stigmatisierung gab es unterschiedliche Entwicklungen: Für Betroffene mit Depression konnten tendenziell geringfügige positive Veränderungen beobachtet werden: die Menschen äußerten 2011 etwas mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft und etwas weniger Befangenheit als 1990, gleichzeitig aber auch mehr Ärger über den Betroffenen. Die Bereitschaft, mit einer Person mit Depressionen im Alltag umzugehen, blieb dagegen weitgehend unverändert. Gerade der Kontrast zum Krankheitsbild Depression mache deutlich, dass speziell die Einstellungen zu Menschen mit Schizophrenie in den letzten zwanzig Jahren negativer geworden sind. Aufklärung und Wissen änderten offenbar nichts am Problem der Stigmatisierung, Schomerus. Bei der Schizophrenie gebe es sogar Hinweise, dass eine einseitige Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien oder durch Wissenschaftlerden Betroffenen schadet. "Wir konnten zeigen, dass durch ein rein biologisches Krankheitsverständnis eine vermeintliche Andersartigkeit der Betroffenen betont wird und dadurch die Ablehnung steigt. Wir brauchen also ein differenzierteres, lebendigeres Bild von Menschen mit psychischen Krankheiten. Psychisch kranke Menschen dürfen nicht auf eine Fehlfunktion im Gehirn reduziert werden", so Schomerus. In den letzten 20 Jahren haben biologische Ursachenvorstellungen zur Schizophrenie deutlich zugenommen, während psychosoziale Ursachenvorstellungen etwas abgenommen haben. 2011 stimmten 62 Prozent der Aussage zu, es handle sich bei dem geschilderten Problem um 24 eine Gehirnkrankheit, 1990 waren es nur 43 Prozent. Auf der anderen Seite führten 2011 66 Prozent eine Schizophrenie auf ein belastendes Lebensereignis zurück, 1990 waren es noch 71 Prozent. Bei der Depression verlief die Entwicklung anders, hier scheinen psychosoziale Gründe, insbesondere Stress als Auslöser in den Vordergrund zu rücken: Insbesondere "Stress am Arbeitsplatz" wurde häufiger (2011: 80 Prozent; 1990: 70 Prozent) als mögliche Ursache bezeichnet, während die Zustimmung zu biologischen Ursachen eher gesunken ist. Bei der Depression zeigt sich damit eine Trendwende: Noch bis 2001 war auch hier eine Zunahme biologischer Krankheitsvorstellungen zu verzeichnen gewesen, mittlerweile treten aber Vorstellungen von Stress und Überlastung zunehmend in den Vordergrund. (eb) 25