In: Widerspruch Nr. 6 (02/83) Marx-Rezeption in München (1983), S. 89-110 Autor: Martin Schraven Artikel Martin Schraven Zur Kritik der Philosophie der „MG“ 0. Einleitung Der Marxismus scheint in München, wenn schon kaum in der Philosophischen Fakultät, so doch um so massiver bei den Studenten durch eine „Marxistische Gruppe (MG)“ präsent zu sein. Fies ist jedoch ein Mißverständnis, denn was die MG theoretisch wie praktisch vertritt, ist weder Marxismus noch eine kritische oder revisionistische Variante desselben. Es ist ein Standpunkt, den Marx selbst kritisiert und bekämpft hat: bürgerliche Theorie. Diese Einsicht, daß die MG theoretisch wie praktisch einen bürgerlichen und damit einen dezidiert antimarxistischen Standpunkt eingenommen hat, mag dem mit dem Marxismus nicht oder nur oberflächlich Vertrauten neu sein. Für den aufmerksamen Beobachter der MG und Kenner der marxistischen Theorie ist diese Erkenntnis nicht überraschend. Die MG hat seit ihrem Bestehen zu allen wesentlichen Teilen des Marxismus eine polemische Haltung eingenommen. Daß die Marxsche Theorie mit den theoretischen Elaboraten der MG kollidiert, hat auch die MG feststellen müssen. Den theoretischen Grund für diese Kollision findet man in ihrer Wissenschaftsauffassung. Martin Schraven Dieser Kritik meint sie dadurch ausweichen zu können, daß sie, anknüpfend an die Erkenntnis, daß auch Marx nicht als Marxist zur Welt gekommen ist, sondern sich seine wissenschaftlichen Erkenntnisse erst, erarbeitet hat, das Marxsche Werk in gut und schlecht, in wissenschaftlich und unwissenschaftlich aufteilt. Ihr Einteilungsschema ist dabei ebenso kurios wie falsch. So gelten ihr ausschließlich die drei Bände des „Kapital“ als die wahre wissenschaftliche Leistung des Karl Marx. Alle anderen Werke sind für die MG entweder Entwicklungsschritte zu seinem Hauptwerk oder, wenn die Werke zur selben Zeit oder nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des „Kapital“ geschrieben wurden, dann marginalisiert die MG solche Werke, die Marx außerhalb und neben seiner Eigenschaft als Wissenschaftler verfaßt habe. Hit diesem Verfahren scheint die MG zu glauben, ihr mißliebige theoretische Resultate von Marx aus dem Marxismus ausschließen zu können. Daß dieses Verfahren nicht nur gegen den Marxismus als Ganzen gerichtet ist, sondern auch der „Kritik der politischen Ökonomie“ den Boden entzieht, wird im folgenden zu zeigen sein. 1. Philosophie contra Wissenschaft? Glaubt man der MG, so war es eine Leistung von Marx, die Philosophie so kritisiert zu haben, daß seither jede Philosophie überflüssig sei, und an ihre Stelle die wahre Wissenschaft treten könne. Als Zeugen für diese dubiose Entgegensetzung nennt die MG Marx selbst. In der „Deutschen Ideologie“ wendet sich Marx gegen das Selbstverständnis der bürgerlichen Philosophie, insbesondere der spekulativen Philosophie Hegels, sie sei die gegenüber den Einzelwissenschaften selbständige, übergeordnete Wissenschaft. „Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzminimum. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinen Resultate treten, die Zur Kritik der Philosophie der „MG“ sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen. Diese Abstraktionen haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert.“1 Die MG meint nun, daß Marx mit diesen Sätzen die „Überflüssigkeit der Philosophie bei der Herausbildung der 'positiven Wissenschaft'„2 festgestellt habe; es sei dies die Todesanzeige der Philosophie.3 Es handelt sich bei der MG nicht um mangelndes Differenzierungsvermögen, wenn sie zwischen der „selbständigen Philosophie“ und der Philosophie schlechthin nicht unterscheidet. Diese Form der falschen Interpretation, und als solche ist sie nicht Interpretation, sondern schlichtweg Fälschung, hat bei der MG Methode, wie wir noch öfters sehen werden. Dem Grund ihrer Aversion gegen jede Philosophie kommen wir näher, wenn wir ihre Interpretation einer anderen Marxstelle betrachten. Bekanntlich skizziert Marx im Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859) den Gang seiner bisherigen Studien. Er führt aus, daß seine Untersuchung in dem Ergebnis mündete, „daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzelt, ...“ daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. „Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so zusammengefaßt werden...“.4 Es folgt sodann die berühmte Passage, in der Marx die materialistische Grundlage seiner Methode erörtert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, daß Marx auf Grund bestimmter Studien zu einem allgemeinen Resultat gelangt war, das ihm seinerseits Richtschnur, Leitfaden für weitere Studien gedient hatte, daß er also, bevor er die ökonomische Wissenschaft beendet hatte - denn 1 MEW Bd. 3, S. 27. Rote Zellen/Marxistische Gruppen, Die linken Kritiker, München 1977, S. 61. 3 Vgl. MSZ 1/83. S. 68. 4 MEW Bd. 13, S. 8. 2 Martin Schraven wozu wollte wohl Marx noch weitere Studien betreiben? - sich ein wissenschaftliches Resultat erarbeitet hatte. Die MG, die bei den Marxschen Vor- und Machtworten öfters ins Schlingern gerät, meint nun aus dieser Passage herauslesen zu können, „daß jenes 'allgemeine Resultat' von welchem Marx spricht, eben Resultat intensiver Studien und nicht programmatisch vorausgesetzt war“.5 Es ist dies ein weiteres Beispiel eines typischen „MG-Kurzschlusses“. Weil Wissenschaft keinen Standpunkt dulden kann, der der Wissenschaft ihre Resultate im Voraus vorschreibt ,- dem ist durchaus zuzustimmen darf Wissenschaft überhaupt keinen Standpunkt, letztlich sogar überhaupt keine Voraussetzungen haben. Hit dieser ihrer Erkenntnis (!) über den Charakter „wahrer Wissenschaft“ glaubt nun die MG den Verfassern der „Deutschen Ideologie“, Marx und Engels, Unwissenschaftlichkeit vorwerfen zu können.6 Die MG hält diesen beiden Autoren vor, daß sie mit dieser Schrift eine „marxistische Weltanschauung“ begründet haben, die wissenschaftlicher Erkenntnis entgegenstehen würde. „Was man der 'Deutschen Ideologie' vorwerfen kann, ist die 'Grundlegung' ihrer Kritik, die sie ... in Form von Prinzipien und Standpunkten dargeboten haben, die nicht minder 'abstrakt-philosophisch' genannt werden müssen als die von Marx und Engels kritisierten Weltanschauungen.“ Die MG zitiert in diesem Zusammenhang einen Brief von Marx an Leske, in dem er in Bezug auf die „Deutsche Ideologie“ schreibt: „Es schien mir nämlich sehr wichtig, eine polemische Schrift gegen die deutsche Philosophie und gegen den seitherigen 5 Rote Zellen/Marxistische Gruppen, a.a.0., S. 62. Materialismus noch als Wissenschaft. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: MSZ 1/83 S. 67. Die MG gelangt aus ihrer hier formulierten „Erkenntnis“ nicht zu der Einsicht, daß es Marx und Engels wohl nicht um die Kritik jeder Philosophie, sondern um die Kritik der bürgerlichen und Idealistischen Philosophie zu tun war, der Marx und Engels die materialistisch begründete, „wahre Wissenschaft“ entgegensetzen wollten. Die MG meint vielmehr, daß Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ „noch“ denselben Fehlern verhaftet gewesen sei, wie die von ihnen angegriffenen deutschen Philosophien. 6 Zur Kritik der Philosophie der „MG“ deutschen Sozialismus meiner positiven Entwicklung vorherzuschicken. Es ist dies notwendig, um das Publikum auf den Standpunkt meiner Ökonomie, welche schnurstracks der bisherigen deutschen Wissenschaft sich gegenüberstellt, vorzubereiten.“7 Die MG meint nun, Marx eines Fehlers bezichtigen zu können. „Marx muß ganz übersehen haben, daß er mit solchen Bemerkungen einen (ihm sicher auch!) aus der Erkenntnistheorie wohlbekannten Zirkel fordert; Zum Verständnis des „Nachfolgenden“ und der neuen Einsichten soll ein wissenschaftlicher 'Standpunkt' vonnöten sein, den man erst einmal ... haben muß.“8 Damit nämlich nehmen Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ „einen vor und neben aller Wissenschaft eingenommenen 'Standpunkt'„ ein, „der dann seinerseits Vorschriften über den Gang und die Resultate der Theorie“ (erg. zu) „erlassen habe.“9 Was die MG hier in der Pose eines Apologeten der reinen Wissenschaft Marx und Engels vorwerfen, mag den Unbedarften erstaunen und vielleicht plausibel erscheinen; es ist aber in der Tat die Absage an jede Wissenschaftlichkeit. Die MG zielt zunächst auf das triviale Verständnis von Wissenschaft ab, daß eine wissenschaftliche Theorie schließlich die Theorie ihres bestimmten Gegenstandes sein müsse, daß sie ihren Gegenstand nicht nach einer einmal vorgefaßten Meinung zurechtrücken dürfe. Diesem Vorverständnis von Wissenschaftlichkeit, das in seiner Naivität zunächst richtig ist, fügt aber die MG nun eine Einsicht hinzu, auf die Hegel in seiner Kritik an der kantischen Philosophie aufmerksam gemacht hat. Hegel wirft Kant vor, daß er vor dem Erkennen einer Sache, das Erkennen selbst untersuchen wolle und dabei nicht gewahr werde, daß die Untersuchung des Erkennens selbst ein Erkennen sei, daß Kant sich also in den Widerspruch begebe, vor dem eigentlichen Erkennen selbst erkennen zu wollen. Hegel zieht aus diesem sich notwendig ergebenden Zirkel die Konsequenz, daß im wissenschaftlichen Erkennen der Gegenstand immer schon eine erkannte Sache sei, und kritisiert die Vorstellung, daß die eigentlich wahre Sache diejenige sei, wie sie vor dem Erkennen existierte, bevor das er7 Marx an Carl Wilhelm Leske vom 1.8.1846, in: MEW Bd. 27, S.448f. Materialismus noch... 9 ebenda. 8 Martin Schraven kennende Subjekt diese Sache durch seine Erkenntnisformen verändere, „vergifte“ und sie in etwas anderes verwandle, als sie vor dem Erkennen an sich sei. Auf diesem philosophischen Standpunkt, der zwar für die Entwicklung des menschlichen Denkens notwendig gewesen sein mag, aber durch Feuerbach und vor allem Marx kritisiert und überwunden wurde, ist die MG stehen geblieben und, wie sich noch zeigen wird, indem sie einseitig auf diesem Standpunkt verharrt, weit hinter ihn zurückgefallen. Dies zeigt ihre Kritik an Reichelt.10 Gegen ihn schreibt die MG: „Hat MARX durch die Begriffe gezeigt, daß sie die Kritik des Kapitalismus leisten, so verlangt Helmut REICHELT noch die Kommentierung dieser Leistung angesichts der 'präzisierten materialistischen Position'; ein Verlangen, welches an der Frage nicht vorbeikommt, wie der denn wohl eine Position zu präzisieren gedenkt, wenn nicht begrifflich. Materialistische Theorie, der erst im Nachhinein die Begriff angepaßt werden, eine materialistische Position ohne Begriffe, die sie ausmachen - dies ist die Vorstellung, welche diesem Vergleich zugrunde liegt. Und wie er die Theorie von dem, was sie ausmacht - den Begriffen - trennt, so löst er mit der Untersuchung ihrer Genesis den Begriff von der Sache, welche durch ihn begriffen wird. Der Entstehung und weiteren Entwicklung der Verwendung von Begriffen getrennt von dem, was sie hegreifen, nachzugehen, heißt den Begriff als Wort, als zufälligen Namen einer Sache, nicht aber als deren notwendige Bestimmung zu nehmen.“11 Die MG behauptet also - scheinbar in Einklang mit Hegel -, daß der Begriff in einer wissenschaftlichen Theorie als notwendige Bestimmung 10 Die MG trägt Ihr positives Wissenschaftsverständnis nur sehr sporadisch vor. Man ist daher gezwungen, ihr positives Wissenschaftsverständnis aus der Polemik gegen Dritte zu entschlüsseln. Wenn Ich hier die Polemik der MG gegen Helmut Reichelt kritisiere, so ist dies keine Verteidigung der Schriften Reichelts. Mein Gegenstand ist hier die Philosophie der MG. Dem entspricht, daß Reichelts Auffassungen hier nur so aufgenommen werden, wie sie von der MG rezipiert werden. Die offensichtlichen Differenzen zwischen den Auffassungen Reichelts und ihrer Rezeption durch die MG bleiben daher außer Betracht. 11 RZ/MG, Die linken Kritiker, a.a.O., S. 58 f. Zur Kritik der Philosophie der „MG“ der Sache mit dieser Sache unmittelbar identisch sei, daß außerhalb dieser unmittelbaren Identität nichts zu begreifen sei. Diese unmittelbare Identität von Begriff und Sache ist das Geheimnis der Philosophie der MG, das sie ihren theoretischen Produkten zugrunde legt und sich dabei antiphilosophisch und damit wissenschaftlich wähnt. 2. Die Voraussetzungen der Wissenschaft Von den Voraussetzungen der Wissenschaften, von den Bedingungen, „daß Wissenschaft überhaupt möglich sei, will die MG nur eine „einzige gelten lassen. Den Verweis auf weitere Voraussetzungen glaubt die HG als unwissenschaftlich, idealistisch abtun zu können. Gegen Marx als Autor der „Deutschen Ideologie“ wendet sie ein: „Statt die idealistischen Berufungen auf 'Voraussetzungen der Wissenschaft' darin aufzugreifen, daß sie die einzige wirkliche Voraussetzung der Wissenschaft, nämlich die Objektivität des Denkens leugnet, hält er das für eine Leugnung der Objektivität der Welt - als ob jemand, der von der wirklichen Gesellschaft in seiner Theorie verkehrte Abstraktionen behauptet, ihre Existenz bestreiten würde! - und beruft sich auf 'wirkliche Voraussetzungen'. Das hat ihm nur eins eingebracht: Auch der Materialismus, objektive Wissenschaft, wird weither unter ausgiebigem Marx-Zitieren als mögliche, wenngleich 'nur(!) auf Materielle' gerichtete theoretische Technik der Parteinahme betrachtet.“12 Zunächst ist festzuhalten, daß die von der MG postulierte „Objektivität des Denkens“ als einzige Voraussetzung von Wissenschaft auf die schon oben dargestellte Vorstellung von der unmittelbaren Identität von Begriff und Sache im wissenschaftlichen Erkennen hinausläuft. Indem aber die MG diese Objektivität des Denkens zur „einzigen wirklichen Voraussetzung der Wissenschaft“ erklärt, eskamotiert sie andere, notwendige Voraussetzungen der Wissenschaft, und sie entzieht damit jeder Wissenschaftlichkeit den Boden. Zunächst hat jede Wissenschaft einen Gegenstand, der durch jene Wissenschaft begriffen werden soll. Dieser Gegenstand existiert vor der Wissenschaft, 12 Materialismus noch..., a.a.O., S. 67. Martin Schraven ist von der Wissenschaft unabhängig. Diese Tatsache erklärt die MG als eine Banalität. Um so peinlicher ist jedoch, daß die MG nicht in der Lage ist, die entsprechenden Konsequenzen aus einer solchen Banalität zu ziehen. Bei dem Gegenstand des „Kapital“, der kapitalistischen Produktionsweise, kommt zu der notwendigen, der Wissenschaft vor ausgesetzten Existenz noch hinzu, daß sich dieser Gegenstand erst entwickelt haben muß. Notwendige Voraussetzung des wissenschaftlichen Sozialismus ist also eine ganze Weltgeschichte.13 Kommt aber dem Gegenstand die notwendige Bestimmung zu, selbst historisch entstanden zu sein, und mehr noch sich in der Geschichte zu entwickeln und zu vergehen, so ist dier ebenso eine notwendige Bestimmung dieser Wissenschaft selbst, wenn sie die Wissenschaft dieses Gegenstandes sein soll, historisch bestimmt zu sein. Und dies in einem zweifachen Sinn. Zum einen ist die historische Entwicklung der Sache selbst Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Darstellung, ist also Inhalt dieser Wissenschaft. Zum anderen ist die Wissenschaft selbst an historische Voraussetzungen gebunden, ist selbst historisch bedingt. Die Ignoranz dar historischen Bestimmtheit des Gegenstandes der Wissenschaft und der Wissenschaft selbst war für Marx ein Kennzeichen der bürgerlichen Wissenschaft14. Die Wissenschaftsauffassung der MG fällt unter dieses Urteil von Marx. 3. Die Parteilichkeit der Wissenschaft Die MG versteht sich selbst als Verteidiger der reinen Wissenschaftlichkeit. Wenn Marxisten den wissenschaftlichen Sozialismus als Ganzen und die wissenschaftliche Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise im „Kapital“ als eine parteiliche Wissenschaft, als die Wissenschaft der Arbeiterklasse bestimmen, ist für die MG die Verfälschung, die Revision der Marxschen Theorie bewiesen; denn für die MG ist gerade die 13 14 Vgl. MEW Bd. 23, S. 184. Vgl. MEW Bd. 23, S. 19. Zur Kritik der Philosophie der „MG“ Parteilichkeit der Fehler bürgerlichen Denkens und Schreibens. „Gelegentliche Irrtümer unterscheidet man von Fehlern, deren 'konsequente' Fortsetzung in den modernen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu ganzen Theoriegebäuden herangereift ist und sich stets Interessen verdankt, die den Gegenstand des Denkens parteilich zu bestimmen gebieten, ihn auf allerlei fromme und weniger fromme Absichten beziehen lassen und die Urheber der Theorien zu Behauptungen über die Eigenart ihres Gegenstandes beflügeln, die mit dessen Grund und Zweck partout nichts zu tun haben.“15 Auch hier liegt wieder ein typischer MG-Kurzschluß vor. Weil die Wissenschaft sich nicht ihre Zwecke von außen vorschreiben lassen kann, die mit der Sache nichts zu tun haben, deshalb ist jede Parteilichkeit ein Indiz für die Fehlerhaftigkeit von wissenschaftlichen Bemühungen. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sei so viel gesagt: Das Zurechtbiegen von „wissenschaftlichen“' Resultaten nach einem der Wissenschaft selbst fremden Maßstab ist in der Tat die Absage an jede Wissenschaftlichkeit. Eine völlig andere Sache ist es jedoch, wenn der Gegenstand einer Wissenschaft selbst parteilich ist, wenn der Gegenstand an sich selbst Bestimmungen aufweist. die Interessen zum Ausdruck bringen. Die Tendenz liegt also nicht jenseits des Gegenstands (im Bewußtsein des Wissenschaftlers), sondern im Gegenstand und seiner geschichtlichen Entwicklung. Und gerade dies ist der Fall beim Gegenstand des „Kapital“, der kapitalistischen Produktionsweise. Hat Marx doch im „Kapital“ gezeigt, daß es die Arbeiterklasse sein wird, die diese Produktionsweise überwinden wird. „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. 15 Marxistische Gruppe, Die Psychologie des bürgerlichen Individuums, München 1981, S. 9. Martin Schraven Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.16 Aus diesem Grund, weil der Gegenstand des „Kapital“ selbst parteilich ist für die Arbeiterklasse und gegen die Bougeoisie, deshalb kann auch vom „Kapital“ als der Politischen Ökonomie der Arbeiterklasse gesprochen werden. Marx selbst schrieb daher auch über „Das Kapital“ als der Kritik der politischen Ökonomie: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließlich“ Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat.“17 4. Das Kriterium der Wahrheit wissenschaftlicher Theorien Aus der Position der MG, daß im wissenschaftlichen Erkennen Begriff und Sache unmittelbar identisch sind, eine Position, die äußerst abstrakt und philosophisch ist, ergeben sich für die theoretischen Konstruktionen der MG Widersprüche, vor deren Auflösung die MG versagt und versagen muß. So muß die Frage beantwortet sein, wenn man die unmittelbare Identität von Begriff und Sache im wissenschaftlichen Erkennen behauptet, worin denn der Beweis der Wahrheit einer Theorie besteht, wenn keinerlei Differenz von Begriff und Sache auszumachen ist. Im obigen Zitat der MG gegen Reichelt gibt die MG zu verstehen, wie sie bei dem Marx des „Kapital“ die Überprüfung der Wahrheit verstanden wissen will: Marx habe durch die Begriffe gezeigt, „daß sie“ (die Begriffe!) „die Kritik des Kapitalismus leisten“.18 16 MEW Bd. 23, S. 790 f. ebenda, S. 22. 18 Hier hat die MG offensichtlich die Marxsche Selbstkritik übersehen, die Marx an der Darstellungsweise der Grundrisse übt. „Es wird später nötig sein“ ... „die idealis17 Zur Kritik der Philosophie der „MG“ Ähnlich stellte sich dieses Problem auch für Hegel, und er konnte es im Rahmen seines objektiven Idealismus lösen. Neben einer inneren Notwendigkeit von einer Bestimmung zur anderen fortzugehen, ohne etwas in dieser dialektischen Bewegung fallenzulassen oder etwas von außen aufzunehmen, nennt Hegel als Kriterium der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit seiner Philosophie die systematische Vermittlung aller Momente mit dem Ganzen des philosophischen Systems. „Das Wesentliche für die Wissenschaft ist, ... daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird.“19 Diese Notwendigkeit, daß bei der angenommenen Identität von Begriff und Sache die Wahrheit einer Theorie einer über die immanente Stimmigkeit der Argumente hinausgehenden Beweises bedarf, nämlich das philosophische System, kann und darf die MG nicht nachvollziehen, denn sonst würde sie ihrem eigenen Selbstverständnis untreu, i.e. philosophisch, werden. Die MG löst dieses Problem, das sie sich selbst geschaffen hat, mit der ihr eigenen souveränen Naivität. Sie folgt zur Hälfte Hegel und ignoriert den anderen notwendigen Teil des Beweises: Das erste und - wie sich zeigen wird - einzige Kriterium der Wahrheit ist für die MG die logische Widerspruchsfreiheit. Da die folgende Passage eine der wenigen Äußerungen ist, in der sich die MG positiv über ihr eigenes Wissenschaftsverständnis ausläßt, sei sie hier ausführlich zitiert. „Das Abstrahieren gilt mit Recht als eine selbstverständliche Tätigkeit verständiger Individuen. Wenn wir die Bestimmungen einer Suche voneinander scheiden, so wissen wir sehr wohl, daß die von uns wahrgenommenen Teile, Unterschiede, Eigenschaften und Momente gerade in ihrer Einheit den theoretisch interessierenden Gegenstand ausmachen. Wenn wir nach der Sondierung der verschiedenen Seiten zum Urteilen und Schlüssen fortgehen, dann ist es uns um den Zusammenhang des getrennten Arsenals von gefundenen Bestimmungen zu tun, und dies nicht in der Form einer tische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe“. (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt, Wien, o. J., S. 69). 19 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, S. 70. Martin Schraven Aufzählung, sondern logisch. Das Wie und Warum führt uns zur Einsicht in die Beschaffenheit, zum Grund dafür, daß der Gegenstand unserer denkenden Bemühung so und nicht anders vorliegt, funktioniert und wirkt. Über Abstraktionen kommen wir Gesetzen und Zwecken auf die Spur, die in Natur und Gesellschaft gelten und sich durchsetzen. Wenn dabei Fehler gemacht werden, so sind sie an den logischen Widersprüchen der Theorien kenntlich. Im Nachvollzug von Argumenten ermitteln wir deren Stimmigkeit oder Falschheit, auch die Berechtigung von Abstraktionen.“20 Was die MG hier behauptet, ist nicht mehr und auch nicht weniger, daß die logische Widerspruchsfreiheit einziges und hinreichendes Wahrheitskriterium einer wissenschaftlichen Theorie sei. Diese Wissenschaftsauffassung dehnt die MG auch auf die Naturwissenschaften aus. „Die Richtigkeit der naturwissenschaftlichen Ergebnisse kann nicht bestritten werden. Das Studium, das heißt der inhaltliche Nachvollzug der Theorien zeigt ihre Haltbarkeit.“... „Es bezeichnet nur das Elend einer Diskussion über die N(atur)w(issenschaft), wenn Leute diese Geltung in Frage stellen wollen, die von ihr absolut überzeugt sind, bevor sie nur einen Lichtschalter betätigen.“21 Der in solchen Behauptungen liegende Widerspruch ist später auch der MG aufgefallen. Der Widerspruch liegt, darin, daß die MG hier eine Metatheorie aufgestellt hat, wie ihrer Meinung nach nähre und fehlerhafte Theorien zu unterscheiden seien. Da diese Metatheorie jedoch selbst überprüfbar sein muß, wenn sie wissenschaftlich sein will, bedarf es einer weiteren Metatheorie, die die Wissenschaftlichkeit der ersten Metatheorie ermitteln kann usw., usf. Ein solches Verfahren endet notwendigerweise in einem regressus in infinitum, einem Fehler also, dessen Kenntnis zum Elementarwissen jeder wissenschaftlichen Arbeit gehört. 20 21 MG, Die Psychologie..., a.a.O. S. 9 MSZ Nr. 1 vom 5.11.1974, S. 8 (Hervorhebungen von mir, M.S.). Zur Kritik der Philosophie der „MG“ Da die MG sich so gerne auf das Hauptwerk von Karl Marx, „Das Kapital“ beruft, so verwickelt sie sich selbst in einen logischen Widerspruch, als dort Sätze zu lesen sind, die selbst einen logischen Widerspruch formulieren. „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“22 Dieser Fehler der MG, daß sie als einziges Kriterium der Wahrheit die logische Widerspruchsfreiheit angibt, scheint auch der MG etwas später aufgefallen zu sein, und die MG „beseitigt“ diesen Fehler in der ihr typischen Weise: sie erteilt ein Frageverbot. Unter der Überschrift „Die Frage nach den Kriterium der Wahrheit“ wollte die MG eine begründete Kritik an der Fragestellung selbst leisten.23 Den Fehler, der in der Frage nach einem Kriterium der Wahrheit selbst liegen soll, meint nun die MG darin gefunden zu haben, daß diese Frage selbst gar nichts von der Wahrheit wissenschaftlicher Theorien ermitteln will. Die Wahrheit selbst sei, und die MG stellt wieder mal eine recht abstrakt-philosophische Theorie auf - „nichts anderes als die Leistung, welche Wissenschaft vollbringt, wenn sie einen objektiv existierenden Inhalt seiner Erklärung zuführt, ihn auf seinen Begriff bringt.“24 Aber, so die MG, wenn man sich nicht damit begnügt, allgemeine und abstrakte Theoreme über Wahrheit aufzustellen und sie als wahr einfach behauptet, wenn man nach einem Kriterium der Wahrheit solcher Wahrheiten frage, „dann liegt in der Frage nach der Wahrheit bereits der Fehler vor, von dessen Ausschlachtung freilich eine ganze Abteilung in der Wissenschaft lebt. Dann erhebt sich getrennt von der Untersuchung der Praxis des Vermögens der Wissenschaft die Frage, worin denn die Frage für sich bestehe, oder auch gleich das Problem, woran man sie erkennen könne, ob sie überhaupt möglich sei usw. Jenseits aller Beweise, die eine Wissenschaft führt, jenseits aller Schlußfolgerungen, die denkend zustandegebracht werden und Erkenntnis ausmachen, ohne irgendein wissenschaftliches 22 MEW Bd. 23, S. 180. siehe Münchner Hochschulzeitung (MHZ) NR. 4 vom 24.11.82, S. 3. 24 Ebenda. 23 Martin Schraven Urteil zu untersuchen oder begründet zu bezweifeln, möchte man sich des Resultats wissenschaftlicher Erkenntnisse in einer abstraktesten Fassung: seiner für sich genommenen 'Wahrheit schlechthin' vergewissern...“25 Was vielleicht den unbedarften Leser schlüssig vorkommen mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine MG-typische Verdrehung des Sachverhalts. In die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit legt sie einen Zweck hinein, der mit jener Frage gar nicht verfolgt wird. Die MG behauptet, daß diese Frage auf das Umgehen jeder wissenschaftlichen Bemühung abzielt, daß diese Frage die Richtigkeit eines wissenschaftlich ermittelten Resultats feststellen will, ohne die wissenschaftliche Argumentation einer bestimmten Wissenschaft zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die MG tut hier nicht mehr und nicht weniger, als der Frage nach dem Kriterium der Wahrheit, die Gegenstand einer bestimmten Wissenschaft, nämlich der Erkenntnistheorie26 ist, einen anderen Gegenstand zu unterschieben, der in der besagten Frage gar nicht enthalten ist. Diese Argumentationsweise, einem bestimmten Sachverhalt etwas anderes zu unterstellen als er selbst zu leisten imstande ist und auch nicht leisten soll, um dann diesen Sachverhalt mit dieser Unterstellung zu kritisieren, ist ein beliebtes Argumentationsschema der MG.27 Die Lösung, die die MG für ihr Problem anbietet, das sie mit der Wahrheit hat, läuft wiederum auf das schon oben herausgestellte dogmatische Pochen hinaus, daß in einer wissenschaftlichen Theorie Begriff und Sache unmittelbar identisch seien. Zunächst stellt die MG die Behauptung auf, daß dieses Problem nie bestanden habe. „Die Trivialität, daß der Mensch Wissen produziert, im Fall der Naturwissenschaft sogar für den 25 Ebenda. Daß unter dem Titel „'Erkenntnistheorie' eine ganze Abteilung in der Wissenschaft“ alles andere betreibt als die Frage zu beantworten, wie wissenschaftliche Erkenntnisse möglich sind, ist ebensowenig ein Argument gegen die Erkenntnistheorie schlechthin, wie die Marx-Kolportagen der MG ein Argument gegen den Marxismus. 27 Zu den verschiedenen Argumentationsschemata der MG vgl. Bernd Gäbler, Mit Marx gegen die „MG“, in: drs. (Hrsg.), Das Prinzip Ohnmacht. Eine Streitschrift zur Politik der „Marxistischen Gruppe“, Dortmund 1983, S. 12 ff. 26 Zur Kritik der Philosophie der „MG“ größten Skeptiker sinnfällig, hat die Philosophen nicht bewegen können, die Problematisiererei dieses 'daß' zu den Fragen zu rechnen, die die Menschheit gelöst hat, weil niemals ein Problem solcher Art bestand.“ 28Dann aber scheint es der MG doch wieder sinnvoll zu sein, ein Kriterium anzugeben für ein Problem, das es nach ihrer Meinung gar nicht gibt. In dem soeben zitierten Artikel schreibt sie: „Was folgt aus all dem für das Problem, für die Wahrheit das Kriterium zu finden? ...Sofort springt nämlich ins Auge: was hat die Wahrheit, in ihrer oben besprochenen abtrakten Allgemeinheit genommen29, ein anderes Kriterium als sich selbst, - nämlich die Argumente, die Für ein wissenschaftliches Urteil sprechen! Maßstab der Wahrheit ist sie selbst - ...“30. Die „Frage nach einem abstrakten Kriterium der Wahrheit“ könne „zu nichts anderem führen“ ... „als zu theoretischen Nichtigkeiten.“31 Die philosophische Autorität, auf die sich die MG diesmal beruft, ist zwar nicht Marx, auch nicht Hegel, sondern - und hier ist die MG endlich einmal konsequent Spinoza!32 Die MG erklärt, damit auch formell, was der Sache nach schon früher deutlich war, daß sie nicht nur Marxens Kritik an Hegel, sondern auch Hegels Kritik an Kant, und damit, auch Kants Kritik an der dogmatischen Metaphysik in den Wind schlägt, und sich auf einen Standpunk bezieht, der für Spinoza Gültigkeit, hat: die unmittelbare 28 MHZ, ebenda. siehe das durch Anm. 24 belegte Zitat. 30 Ebenda. 31 Ebenda. 32 Spinozas Standpunkt zu diesem Sachverhalt ist eindeutig. Die Entwicklung der res cogitans und der res extensa verläuft bei ihm völlig parallel, die außer der Differenz von Ausdehnung und Denken keine weiter zuläßt. Es ist daher für Spinoza konsequent, wenn er für die Wahrheit der Idee der res cogitans kein über die Entsprechung hinausgehendes Wahrheitskriterium für nötig hält. Soweit wäre die Berufung der MG auf Spinoza nachvollziehbar, wenn Spinoza nicht eine Begründung für die völlige Übereinstimmung der Ideen mit den Dingen geliefert hätte, auf der sein ganzes System beruht; die res cogitans und die res extensa sind bei ihm die beiden einzigen vom Menschen erkennbaren Attribute der einen Substanz; diese Substanz ist aber nach Spinoza Gott oder die Natur. Die beiden Attribute folgen daher denselben immanenten Gesetzen, der geometrischen Methode. Dies ist die Begründung bei Spinoza, warum die Wahrheit keines weiteren Kennzeichens bedarf als sich selbst. Wann wird wohl die MG die göttliche Substanz als Grundlage ihrer Politik und ihrer Theorie erkennen? 29 Martin Schraven Entsprechung von Idee und Wirklichkeit, die unmittelbare Identität, von Begriff und Sache. Der Grund dafür, daß es trotz der Eiertänze der MG eines Kriteriums der Wahrheit bedarf, ist dem Umstand geschuldet, daß die zu erkennenden Gegenstände der Erkenntnis vorausgesetzt, daß sie unabhängig vom Bewußtsein der Menschen existieren. Die MG scheint diesen Umstand ohne weiteres zuzugeben, denn „gäbe es keine bewußtseinsunabhängige Realität hätte Erkenntnis keinen objektiven Gegenstand“.33 Diese Einsicht wird durch die MG jedoch zunächst relativiert und dann wieder praktisch zurückgenommen. Marx und Engels schreiben in der „Deutschen Ideologie“, daß die Voraussetzungen, mit denen sie beginnen, „keine willkürlichen, keine Dogmen“ seien, sondern wirkliche Voraussetzungen. „Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.“34 Die MG kommentiert diese Passage: „Daß die in der Welt vorfindlichen Gegenstände ihrer Erkenntnis vorausgesetzt sind, versteht sich von selbst; daß sie 'empirisch konstatierbar’ sind, sollte man hoffen; aber beides macht sie in ihrem Voraus doch zu keiner Qualität ihrer Erklärung, unterscheidet sie vielmehr von dieser.“35 Die Schwierigkeiten, die die MG mit der vom Bewußtsein unabhängigen Objektivität hat, werden deutlicher, wenn man ihren Vergleich der Marxschen Theorie mit der Hegelschen Philosophie betrachtet. Hegel sei nämlich in gleicher Weise wie Marx von der Objektivität der Welt ausgegangen und daher sei eine Unterscheidung zwischen dem Idealismus eines Hegel und dem Materialismus eines Marx sehr dubios.36 Der MG 33 MSZ HP. 2 vom 5.12.74, S. 4. MEW Bd. 3, S. 20. 35 Materialismus noch ... a.a.O., S. 67. 36 Vgl. MSZ Nr. 2 vom 5.12.74, S. 4. Dieselbe Dubiosität muß die MG wohl auch Marx vorwerfen, wenn er schreibt: „'Er' (Dühring) weiß sehr wohl, dass meine Ent34 Zur Kritik der Philosophie der „MG“ scheint das Wissen über Hegel verlorengegangen zu sein, welches Hegel selbst von der Logik als der Grundlage seines Systems hatte, nämlich „daß dieser Inhalt“ (der Logik, M.S.) „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geiste ist“.37 Meint die MG also, daß dieser Gott ebenso wie die Natur, die Gesellschaft und der Staat zur objektiven Welt gehört und damit, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiert? Marx jedenfalls hat einen Gott nicht der objektiven Welt zugeschlagen, sondern ihn in die „Nebelregion der religiösen Welt“ verbannt; dort „scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit dem Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten“38 zu sein. Wie es um die Objektivität einer Welt bestellt ist, der man zusammen mit Hegel, aber gegen Marx - ein Produkt des menschlichen Kopfes als ihre Grundlage unterschiebt, mag der Leser selbst entscheiden. Wenn also die MG verbal zugesteht, daß die Gegenstände ihrer Erkenntnis vorausgesetzt sind, so gerinnt diese Einsicht bei ihrer eigentümlichen Wissenschaftsauffassung zur Phrase. Denn wurde sie ihre eigene Aussage ernst nehmen, müßte sie auch eine prinzipielle Differenz eingestehen, die zwischen dem Gegenstand besteht, der der wissenschaftlichen Erkenntnis vorausgesetzt ist und dem wissenschaftlich erkannten Gegenstand. Denn auch für das wissenschaftliche Erkennen gilt, daß Begriff und Sache, Theorie und Wirklichkeit, identisch und unterschieden sind, in Einheit und im Unterschied zueinander stehen, d.h., daß auch in der Wissenschaft Begriff und Sache nicht unmittelbar identisch sind, sondern in einer vermittelten Identität stehen. Ist diese Einsicht einmal gegeben, ergibt, sich sodann die Notwendigkeit eines Kriteriums der Wahrheit, das selbst weder bloß in der Theorie liegen kann, wegen des darin enthaltenen regressus in infinitum, noch im bloß vorgefundenen wicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist“. (MEW 32, S. 538) Vgl. auch MEW 23, S. 27 f 37 G.W.F. Hegel. Wissenschaft der Logik, a.a.O., S. 44. 38 MEW Bd. 23, S. 86. Martin Schraven gegebenen Gegenstand, d.i. in der Empirie, da dieser Gegenstand im Erkennen selbst ein vom erkennenden Subjekt affizierter Gegenstand ist. Das Kriterium der Wahrheit muß demzufolge dort zu finden sein, wo der Gegenstand ein erkannter ist und er trotzdem sich in seiner vom Bewußtsein unabhängiger Objektivität behaupten kann. Dieser Ort ist die Praxis. Die Begriffe, durch die ein Gegenstand erkannt werden soll, müssen sich bewähren, müssen ihre Wahrheit erweisen. Indem der Gegenstand seinen eigenen, immanenten, vom Bewußtsein unabhängigen Gesetzen gemäß sich bewegt, sich verändert; und der Begriff, die Theorie bewährt sich dann, wenn die Sache, je nach Bestimmtheit mit oder ohne menschliches Zutun, sich so verändert, entwickelt, wie es den vorher bestimmten Begriffen gemäß ist. Dies ist auch der Sinn der 2. These von Marx Über Feuerbach. „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukommt - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage.“39 5. Die dialektische Methode Mit ihrem Dogma von der unmittelbaren Identität von Begriff und Sache glaubt die MG, sämtliche metatheoretischen Probleme erledigt zu haben. Auffällig ist dies bei ihrem Umgang mit Theorien, die sich mit der Marxschen dialektischen Methode befassen. Für die MG ist nichts einfacher, als jede Behandlung der wissenschaftlichen Methode zu denunzieren. Daß die MG sich dabei methodologischer Argumente bedient - denn Methodologie unterstellt einen Gegenstand, nämlich die Methode -, um gegen Methodendiskussionen zu wettern, ist ein Indiz für die Fehlerhaftigkeit der MGschen Wissenschaftsauffassung. In ihrer Polemik gegen Reichelt glaubt, die MG, Marx als banalen Hegelschüler erkannt zu haben. „Ging es MARX auch in seiner HEGEL-Kritik um nichts anderes 39 MEW Bd. 3, S. 5. Zur Kritik der Philosophie der „MG“ als um das Festhalten der von HEGEL selbst geleisteten Kritik“ (das Verdienst Marxens in seiner Hegelkritik ist, daß er Hegel nicht kritisiert hat!!)“der Organon- Theorie des Erkennens (derzufolge das Instrument zum Erkennen vor und getrennt vom Gegenstand, den es zu erkennen gilt, vorhanden sein muß), insistierte er auf der immanenten Gesetzlichkeit der Sache gegen jede davon getrennte Methode, so hält MARXMethodologe Helmut REICHELT konsequent an 'der Methode' gegenüber der Marxschen Theorie fest: Die Methode, die bleibt bestehen, nur nicht als das, was sie als Methode bei Helmut REICHELT gerade auszuzeichnen pflegt, sondern als einer Art theoretischer Girlande, welche sich dem bereits als erkannt unterstellten Gegenstand möglichst eng um den Hals legt. Da die Methode sich dem erkannten Gegenstand unterwerfen soll, gesteht Helmut REICHELT die Überflüssigkeit der Methode ein; dies jedoch nur in der Absicht, weiter zäh an ihr festzuhalten.“40 Die MG ist nicht in der Lage, die in der Tat kritikable Position Reichelts in dieser Frage adäquat zu kritisieren, da sie ebenso wie Reichelt Marx als einen (schlechten) Hegelschüler betrachtet. Aus den Schwierigkeiten, die aus Reichelts unzulässiger Marxrezeption folgern, folgert die MG, daß die dialektische Methode für Marx überflüssig sei. Diese ist umso erstaunlicher, als Marx selbst oft genug von seiner eigenen dialektischen Methode gesprochen und sie als materialistische der idealistischen Methode Hegels entgegengesetzt hatte.41 Überflüssig ist eine relativ eigenständige Methode nur dann, wenn das oben schon widerlegte MGsche Dogma der unmittelbaren Identität von Begriff und Sache im wissenschaftlichen Erkennen gilt. Aber selbst für Hegel gilt diese Identität von Begriff und Sache ausschließlich für die Logik; für jeden anderen Teil der Hegeischen Philosophie ist die Methode mit der Logik vorausgesetzt.42 Der gemeinsame Fehler von Reichelt und der MG ist, daß beide die 40 Rote Zellen/Marxistische Gruppen, Die linken Kritiker, a.a.O., S. 66. Vgl. z.B. MEW Bd. 23, S. 27 f. 42 Vgl. Hegel, a.a.O., S. 36. Die falsche Marxrezeption von Helmut Reichelt und die unzulässige Hegelianisierung der Marxschen Theorie durch Reichelt ist ausführlich dargestellt in der Dissertation von Reinhard Heiners, Methodenprobleme bei Marx und ihr Bezug zur Hegelschen Philosophie. München 1980. 41 Martin Schraven Bestimmungen der Methode, wie sie Hegel für den eigentümlichen Gegenstand „Logik“ gegeben hat, daß nämlich in der Logik Methode und Gegenstand in Einheit sind, auf eine völlig andere Wissenschaft, die politische Ökonomie überträgt. Neben der Eskamotage des Materialismus hat die MG Marx auf die Stufe eines zweitrangigen Hegelianers herabgezerrt. Marx selbst hat sich des öfteren gegen beide Einwände, d.h. er habe keine Methode und seine Methode sei die hegelsche, direkt und indirekt zur Wehr gesetzt. So beklagt sich Marx im Nachwort des „Kapital“, daß die im „Kapital „angewandte Methode wenig verstanden worden sei. Nach einem ausführlichen Zitat aus einer Rezension zum „Kapital“ schreibt Marx: „Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode?“43 Wie kann Marx, so muß man die MG fragen, etwas verteidigen, das für Marx, glaubt man der MG, doch so völlig überflüssig war? oder, wenn die MG sich in ihrem Namen auf einen Herrn Marx beruft, meint sie dann wirklich den allgemein bekannten Verfasser des „Kapital“ und den Begründer des Marxismus? 43 MEW Bd. 23. S. 27.