1 Gnadengenossenschaft Predigt zu Philipper 1,3–111 Liebe

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Gnadengenossenschaft
Predigt zu Philipper 1,3–111
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen.
Liebe Lukasgemeinde im Eder- und Elsofftal, und für heute: liebe Christina, lieber Ralf,
wir feiern einen besonderen Gottesdienst heute Nachmittag hier in der Elsoffer Kirche. Es ist
ein Abschiedsgottesdienst. Abschiede führen uns auf die Schwelle2 und damit in einen Raum
und eine Zeit zwischen Drinnen und Draußen, Gestern und Morgen, Eigenem und Fremdem,
Vertrautem und Ungewissem. Auf der Schwelle stehend, werden wir beunruhigt von der
Frage, wer wir sind, wohin wir gehen, wen und was wir zurücklassen. In den Schwellensituationen unseres Lebens zeigt sich unsere Bedürftigkeit und Verletzlichkeit. Da spüren wir,
wie angewiesen wir sind auf das gute, Weg weisende Wort, das wir uns nicht selber sagen
können.
Jeder Segen ist solch’ ein Weg weisendes Wort. Wie wichtig ist es darum, wenn Sie als
Lukasgemeinde3 den beiden, die so viele Jahre in Ihrer Mitte, mit Ihnen und für Sie gelebt,
mit Ihnen gehofft und gebangt, heitere und schwere Zeiten mit Ihnen geteilt, die neue,
anziehende Lebendigkeit der Gemeinde 4 willkommen geheißen und den dabei nicht
ausbleibenden Konflikten sich gestellt haben – wie wichtig ist es darum, wenn Sie als
Lukasgemeinde heute Christina und Ralf Kötter den Segen Gottes als Ihren Segen mit in den
neuen Lebensabschnitt geben. Den beiden und ihren Kindern Gottes Segen gönnen, ihnen
aber auch vorbehaltlos sagen können: «Unseren Segen habt ihr!» und mit dem Segen unseren
Respekt und unseren Dank, unser Gebet und unsere praktische Unterstützung … Wie
befreiend und bestärkend wäre es, wenn jede und jeder von uns, am Ausgang dieses
Gottesdienstes von Herzen und vorbehaltlos diesen Satz sagen könnte: «Segen sei mit euch!»5
1
Gehalten im Abschiedsgottesdienst für Christina und Ralf Kötter am 22. Sonntag nach Trinitatis
(23.10.) 2016 in der Evangelischen Lukasgemeinde im Eder- und Elsofftal (Kirche Elsoff). Als
Liturgin leitete Silke van Doorn den Gottesdienst. Neben dem Predigttext Philipper 1,3–11 kamen
folgende Bibeltexte zur Sprache: Psalm 130,4 als Wochenspruch in der Begrüßung, Psalm 143,1–10,
der Wochenpsalm, als Psalmlesung und Mi 6,6–8 als Evangeliumslesung. Als Kanzelgruß wurde Phil
1,2 (rev. Luther-Übersetzung 1912/1984) gewählt. Gesungen wurden EG 398,1–2 («In dir ist Freude»)
als Eingangslied, EG 262,1.5–7 («Sonne der Gerechtigkeit») vor der Predigt, EG 395,1–2 («Vertraut
den neuen Wegen» – nach der Melodie von EG 302 «Du meine Seele, singe») nach der Predigt, EG
395,3 nach der Entpflichtung und zum Ausgang «Wohl denen, die noch träumen in dieser schweren
Zeit» nach der Melodie von EG 295 («Wohl denen, die da wandeln»), in: Das Liederbuch: lieder
zwischen himmel und erde, hrsg. von Peter Böhlemann und Christoph Lehmann, Düsseldorf 112015.
Wichtige Impulse für diese Predigt verdanke ich Andreas Krebs, Kirche als beziehungsreicher
Zwischenraum: Phil 3,1–11 – 23.10.2016 – 22. Sonntag nach Trinitatis, in: GPM 70 (2016), 477–482.
Die Predigt geht dem biblischen Text so nach, dass durchgängig die aktuelle Situation der adressierten
Gemeinde mit Gemeindeerfahrungen des Paulus (nicht nur in Philippi) verknüpft wird. Bisweilen
verschmilzt dabei der scheidende Pastor mit dem Apostel zu einer Person.
2
Zum Phänomen der Schwelle siehe Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a. M.
1987, 28–31; ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 21991, 28–40; ders., Sinnesschwellen.
Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999.
3
Siehe die Gemeinde-Homepage – URL: www.lukas-aktuell.de (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016).
4
Zum Aufbruch der Evangelischen Lukasgemeinde im Eder- und Elsofftal siehe Ralf Kötter, Das
Land ist hell und weit. Leidenschaftliche Kirche in der Mitte der Gesellschaft, Berlin 2014 (Leseprobe
– URL: http://www.buchgestaltung-online.de/Leseproben/Leseprobe_Koetter.pdf – zuletzt aufgerufen
21.10.2016).
5
Zur Bedeutung des Seg(n)ens siehe Magdalene L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und
dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 52005.
1 Denn ein Abschied mit Segen6 ist ein Abschied, der bei aller Traurigkeit und Ungewissheit,
der trotz Enttäuschung und Unverständnis dennoch erfüllt ist von zurückblickender Dankbarkeit und vorausschauender Hoffnung. Ein Abschied, der dennoch Freude bereitet – eine
Freude7, die darin ihren Grund hat, dass Sie zusammengehören und zusammenbleiben in dem
einen, im Messias Jesus, der uns für immer als Töchter und Söhne Gottes und damit als
Schwestern und Brüder untereinander verbandelt hat. Darum haben wir uns ja zu Beginn
gegenseitig zur Freude angestiftet: «In dir ist Freude in allem Leide …»8
II.
Das Wort, das wir für einen segensreichen Abschied brauchen – dieses gute Wort lassen wir
uns heute Nachmittag vom Apostel Paulus sagen. Der Apostel Paulus ist ja einer, der sich
bestens auskennt mit dem nicht so einfachen Innenleben christlicher Gemeinden. In den
Briefen, die uns von ihm überliefert sind, begegnet uns viel Menschlich-Allzumenschliches,
Beglückendes und Belastendes. Und selten ist Paulus selbst ungeschoren davon gekommen,
wenn Auseinandersetzungen und Konflikte, Kompetenzgerangel, Neid oder üble Nachreden
in den Gemeinden an der Tagesordnung waren und man wieder einmal über ihn in seiner
Abwesenheit zu Gericht saß.9
Aber es gab eine Gemeinde, zu der hatte er ein besonderes Verhältnis, eine ganz innige Beziehung. Es war die einzige Gemeinde, von der er sich etwas schenken ließ10 und der er seine
Bedürftigkeit offen zeigen konnte, ohne dass sie es ausgenutzt hätte. Denn: «Geliebt wirst du
einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.»11 Die Rede ist von
der ersten Gemeinde, die Paulus in der Provinz Makedonien, heute würden wir sagen: auf
europäischem Boden, gegründet hat, nämlich in der römischen Kolonie Philippi im Jahr 49 n.
Chr. auf seiner zweiten Missionsreise.12 Die Gemeinde in Philippi, sie war so etwas wie die
Lieblingsgemeinde des Paulus.13
Und am Anfang dieser Gemeinde steht – und auch das macht sie so einzigartig unter seinen
Gemeinden – eine Frauengruppe14, die Purpurkleidung herstellte und damit einer harten und
schmutzigen Arbeit nachging, für die sich freie Männer zu schade waren. Mit Purpurar 6
Zum Segnen als dem Schwellenritual schlechthin: Magdalene L. Frettlöh, «Das Zeitliche segnen».
Die Bedeutung des Segn(n)ens als rite de passage angesichts des Todes (2004), in: dies., Worte sind
Lebensmittel. Kirchlich-theologische Alltagskunst (Erev-Rav-Hefte: Biblische Erkundungen 8), Wittingen 2007, 171–187.
7
Freude ist auch der Grundton, auf den der Brief an die Gemeinde in Philippi gestimmt ist, vgl. bes.
Phil 4,4; dazu: Anke Inselmann, Zum Affekt der Freude im Philipperbrief. Unter Berücksichtigung
pragmatischer und psychologischer Zugänge, in: Jörg Frey/Benjamin Schliesser (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der römisch-hellenistischen Welt (WUNT 353), Tübingen 2015, 259–288.
8
EG 398,1.
9
Siehe etwa 1Kor 4,1–5; dazu: Magdalene L. Frettlöh, Dem Menschenlob Gottes entgegengehen:
1Kor 4,1–5 – 3. Sonntag im Advent (13.12.2009), in: GPM 64/1 (2009/10), 17–23.
10
Siehe Phil 4,10–20 (vgl. 2Kor 11,9). Zu den Gabebeziehungen zwischen Paulus und der Gemeinde
in Philippi siehe Gerald W. Peterman, Paul’s gift from Philippi. Conventions of gift-exchange and
Christian giving, Cambridge 1997.
11
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (GS 4), Frankfurt
a. M. 1951, 218 (Aphorismus 122, letzter Satz).
12
Siehe Phil 4,15; Apg 16,11–40.
13
Einen instruktiven Überblick über die Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi
gibt Benjamin Schliesser, Paulus und «seine» Philipper: Geschäftspartner, Freund, Vereinsgründer?
Sozialgeschichtliche Perspektiven auf den Philipperbrief, in: Frey/ders. (Hg.), Der Philipperbrief
(Anm. 7), 33–119.
14
Zur Rolle der Frauen in Philippi: Sheila Briggs, Der Brief an die Gemeinde in Philippi. Die Aufrichtung der Gedemütigten, in: Kompendium feministische Bibelauslegung, hrsg. von Luise Schottroff
und Marie-Theres Wacker, Gütersloh 1998, 625–634, bes. 626f.630–634.
2 beiterinnen begann die Geschichte des Christentums in Europa. Von einer wissen wir auch
den Namen: Lydia.15 Ihr hatte Gott das Herz geöffnet16 für die frohe Botschaft von der
Gerechtigkeit Gottes für alle Menschen, unabhängig von ihrer Leistung, ihrem Ansehen und
Auskommen, ihrer Herkunft und Stellung. Im Haus der Lydia und unter jenen Frauen, mit
denen sie ihre Arbeit und ihren Glauben teilte, fing die innige Beziehungsgeschichte zwischen
Paulus und der Gemeinde in Philippi an. Die, denen Gott das Herz für das Evangelium
geöffnet hatte, öffneten ihre Herzen und Türen für den Botschafter Jesu Christi17 und er
schloss sie seinerseits für immer ins Herz.
III.
Ich lese aus dem ersten Kapitel des Briefes an die Gemeinde in Philippi die Verse 3 bis 11:
«Ich danke meinem Gott, so oft ich an euch denke und weil ihr so viel an mich denkt.18
Jederzeit bete ich in jedem meiner Gebete für euch alle mit Freuden
für eure Gemeinschaft zum Evangelium hin vom ersten Tag an bis heute.
Und ich vertraue fest darauf, dass der, der das gute Werk unter euch angefangen hat,
es vollenden wird bis zum Tag des Messias Jesus.
Es ist ja nur gerecht von mir, dieses von euch allen zu denken,
denn ich habe euch im Herzen als die, die ihr alle in meiner Gefangenschaft
und in der Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums
meine Mitgenossen [und -genossinnen] der Gnade seid.
Gott nämlich ist mein Zeuge dafür,
wie ich mich nach euch allen sehne mit der Innigkeit19 des Messias Jesus.
Und darum bitte ich, dass eure Liebe mehr und mehr
überfließe an Erkenntnis und allseitigem Verständnis,
auf dass ihr unterscheiden könnt, worauf es ankommt,
damit ihr lauter und tadellos seid auf den Tag des Messias hin,
erfüllt von der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus, den Messias,
geschieht zur Ehre und zum Lob Gottes.»
Was für ein überschwängliches Dankgebet! Keine Spur von «Man muss doch dankbar sein!»
Keine Dankesschuld, keine Pflicht zur Dankbarkeit, sondern schlicht das unbändige Verlangen, Gott «danke» zu sagen für das, was Paulus mit der Gemeinde in Philippi seit vielen
Jahren verbindet und was sie gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Danken aus vollem
Herzen, zwanglos, anmutig, charmant …20
15
Zu Lydia und den Frauen in Philippi siehe Ivoni Reimer Richter, Die Apostelgeschichte. Aufbruch
und Erinnerung, in: Schottroff/Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung (Anm. 14),
542–556, 551–553.
16
Apg 16,14.
17
Apg 16,15.
18
Der griechische Text ist hier doppeldeutlich: «für euer gesamtes Gedenken»/«für das gesamte Denken an euch». Auch wenn die meisten Übersetzungen mit «sooft ich an euch denke» vermutlich die
intentio auctoris treffen (vgl. auch 1Thess 1,2; Phlm 4), so schließt die intentio operis doch ebenso ein
Denken der Gemeinde an Paulus ein.
19
Wörtlich heißt es hier in V. 8b: «in den Eingeweiden des Christus Jesus». Der Beziehungsraum, der
in Christus zwischen dem Apostel und der Gemeinde in Philippi aufgespannt ist, «ist leibhafte Wirklichkeit; sie umfasst den ganzen Menschen, auch seinen Körper. […] Paulus fühlt in Christus, Christus
fühlt in ihm – ganz körperlich, in und mit den Eingeweiden» (Krebs, Kirche als beziehungsreicher
Zwischenraum [Anm. 1], 480).
20
Zu einem solchen Dank siehe Magdalene L. Frettlöh, «Und … höchst anmutig sei das Danken».
Gabetheologische und -ethische Perspektiven auf den Dank als Ereignis, in: NZSTh 47/2 (2005), 198–
225.
3 Dabei sitzt Paulus, während er dies schreibt, in Haft21, vermutlich in Rom22, und wartet auf
seinen Prozess. Seine Zukunft ist ganz und gar ungewiss. Es steht dahin, ob er noch einmal
freikommen wird und ob es ein Wiedersehen geben wird. Die Hände sind ihm gebunden, sein
Handlungsspielraum ist auf den engsten Raum eingegrenzt. Womöglich macht ihm auch seine
chronische Krankheit, sein «Stachel im Fleisch»23, in der Haft wieder zunehmend zu schaffen.
Wie naheliegend wäre es da, alle Hoffnung auf- und sich der Resignation und Verzweiflung
hinzugeben. Doch Paulus schreibt gerade in dieser für ihn so schwierigen Lage einen Brief an
seine Lieblingsgemeinde und beginnt diesen mit einem vollmundigen Dank an Gott:
«Ich danke meinem Gott, so oft ich an euch denke
und weil ihr so viel an mich denkt …»
Was Paulus jetzt Zuversicht und Halt und Hoffnung gibt, ist das gegenseitige AneinanderDenken: dass er mit seinen Gedanken bei seiner Gemeinde ist und sie bei ihm. Wir kennen
das ja auch, wissen, wie uns das aufrichten kann, wenn jemand uns in dürftigen Zeiten
verspricht: ich denke an dich. Das ist ja etwas Anderes, als sich ab und zu mal ein paar
Gedanken zu machen. Solches Gedenken entfaltet vielmehr eine spürbare, wirksame Kraft. Es
ist ein Segen. Es kann unser ganzes Leben verändern, allemal, wenn es sich zum Gebet
wandelt: Paulus denkt an die Gemeinde in Philippi, in dem er für sie betet, und umgekehrt
weiß er sich selbst in seiner Not getragen und gehalten von ihren Gebeten und ihrer Unterstützung.
Dieses gegenseitige Aneinander-Denken und Füreinander-Beten hält die innige Gemeinschaft
auch über die räumliche Trennung hinweg aufrecht. Denn in ihm zeigt sich eine Verbundenheit, die nicht steht und fällt mit persönlicher Sympathie oder Antipathie. «Gemeinschaft ins Evangelium hinein», wie es wörtlich in unserem Predigttext heißt – das ist gemeinsames Leben im Alltag, das ist tatkräftige Unterstützung, das ist Einsatz von Zeit und Kraft,
das ist ein Teilen von allem, was wir zu einem gerechten Leben brauchen. Eine Gemeinschaft,
die dadurch entstanden ist und dadurch wächst, dass Gott uns im Messias Jesus zu einer
Gemeinde zusammengebracht hat. Dass der Apostel und die Christenmenschen in Philippi
sich gegenseitig so ins Herz geschlossen haben, das ist gott-, nicht menschengemacht.
IV.
Darum nennt Paulus die Gemeinde in Philippi – und ich finde das einen ganz wunderbaren
Ausdruck – «meine Mitgenossen [und Mitgenossinnen] der Gnade».24 Gemeinsam leben sie,
leben wir von der Gnade Gottes, von Gottes anmutiger Zuwendung, von Gottes Erbarmen,
von Gottes Zurechtbringen und Aufrichten: «Gnade – die Einsicht Gottes in die Erbärmlichkeit seines Geschöpfs»25, so hat es der jüdische Dichter Elazar Benyoëtz gesagt. Als Geschöpfe sind wir bedürftig, des göttlichen und mitmenschlichen Erbarmens bedürftig, eben
erbärmlich, angewiesen darauf, dass jemand uns in sein oder ihr Herz schließt und uns
barmherzig begegnet. «Meine Mitgenossen [und Mitgenossinnen] der Gnade» – gemeinsam
dürfen wir Gottes Gnade genießen, uns überschwänglich an ihr freuen und uns von ihr dazu
bewegen lassen, auch mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen und übrigen Mitgeschöpfen gnädig zu sein.
Auch für den Apostel war diese Einsicht ja keineswegs selbstverständlich. Auch er war nicht
frei davon, an seinen Schwächen und Fehlern zu verzagen und sich vom Urteil der anderen
21
Phil 1,7.13f.17.
Siehe Apg 28,17–31.
23
2Kor 12,7.
24
«Mitgenossen der Gnade: das ist das Geheimnis dieser Liebe – und dieses ganzen Abschnitts» (Karl
Barth, Erklärung des Philipperbriefes, Zollikon-Zürich 41943, 11.
25
Elazar Benyoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund, München 2007, 117.
22
4 mehr beeindrucken zu lassen, als ihm gut tat. Gewiss hätte er bisweilen auch gern zu den
Starken gehört, zu denen mit Ellenbogen und Waschbrettbauch, um seine Weichteile, seine
Empfindlichkeit zu schützen, um nicht alles an sich herankommen und sich von allem
mitnehmen zu lassen.26 Immer wieder musste auch er es lernen, zu seinen Schwächen und
seiner Bedürftigkeit zu stehen: «Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in
den Schwachen mächtig.»27 «Fällt man in Ohnmacht, kommt man zu sich»28 – mehr als
einmal hat auch Paulus dies am eigenen Leib erfahren.
V.
Doch bei aller freudigen Dankbarkeit über das Geschenk dieser wunderbaren Gnadengenossenschaft – gewiss hat sich Paulus auch Gedanken und Sorgen gemacht, wie die Gemeinde in Philippi ohne ihn zurechtkommt, wie es ohne ihn dort weitergehen wird, ob das,
was sie gemeinsam aufgebaut haben, Bestand haben wird, ob es bleibt und weiterwächst, ob
die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch ohne ihn und seine motivierende und inspirierende
Gegenwart dabei bleiben, ob die Projekte, die sie gemeinsam angestoßen haben, nachhaltig
sind … Es wäre ja unmenschlich, wenn nicht auch solche Sorgen den Paulus bewegt hätten.
Und wer von uns wollte sie ihm ausreden?! Aber er begegnet ihnen mit einer beeindruckenden Gelassenheit, einem – hoffentlich – ansteckenden Gottvertrauen:
«… ich vertraue fest darauf, dass der, der das gute Werk unter euch angefangen hat,
es vollenden wird bis zum Tag des Messias Jesus.»
Kein Zweifel, Paulus und die, die ihm zur Seite standen, haben unglaublich viel gearbeitet in
Philippi, waren bei Tag und Nacht für die Gemeinde da, haben nach Mitteln und Wegen
gesucht, die frohe Botschaft unter die Menschen zu bringen, haben neue, ungewohnte Wege
beschritten, eine einladende, offene Gemeinde in der Region zu sein, haben das Zusammenleben von Alten und Jungen, Kranken und Gesunden, Ärmeren und Reicheren, Einheimischen
und Fremden … gefördert. Oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit und über diese hinaus
waren sie im Einsatz und ganz nahe bei den Menschen, wenn sie gebraucht wurden, vielleicht
manchmal auch zu nah.
Doch, und das ist die Überzeugung, die den Paulus gerade jetzt, wo er nicht (mehr) in Philippi
sein kann, so gelassen macht: Der eigentliche Bauherr, der die Gemeinde aufgebaut, sie zum
Wachsen, Gedeihen und Blühen gebracht hat, das bin nicht ich, das ist Gott. Darum: Auch
wenn ich jetzt nicht mehr vor Ort bin, wenn mir «nur» noch bleibt, für die Gemeinde zu
beten, so zweifle ich doch nicht daran: Gott wird das, was er angefangen hat, nicht im Stich
lassen. Er wird weiter Mitarbeitende finden, die motiviert sind und andere mitziehen. Mehr
noch: Gott wird nicht nur erhalten, was aufgebaut wurde, Gott wird es auch vollenden, wird
das Angefangene zu einem guten Ziel bringen. Bekennen wir uns nicht am Anfang des Gottesdienstes zu dem Gott, der Bund und Treue hält ewiglich und niemals preisgibt das Werk
seiner Hände?! Es ist dieses Vertrauen in die Treue Gottes, das Paulus nicht verzagen lässt. Er
hat getan, was er tun konnte, was menschenmöglich war; nun sind andere dran, und vor allem
ist Gott jetzt dran.
VI.
Darum belässt es Paulus auch nicht bei seinem Dankgebet und dem Bekenntnis seines unerschütterlichen Gottvertrauens. Darum hat er auch noch eine Fürbitte für seine Lieblingsgemeinde auf dem Herzen:
26
Ähnliche Motive begegnen im Schlusslied des Gottesdienstes «Wohl denen, die noch träumen in
dieser schweren Zeit» (Anm. 1) wieder.
27
2Kor 12,9 (rev. Luther-Übersetzung 1912/1984).
28
Elazar Benyoëtz, Die Zukunft sitzt uns im Nacken, Wien 2000, 21.
5 «… darum bete ich dafür, dass eure Liebe mehr und mehr überfließe an Erkenntnis
und allseitigem Verständnis, auf dass ihr unterscheiden könnt, worauf es ankommt …»
Die Liebe, von der Paulus hier und an manch’ anderen Stellen seiner Briefe29 schreibt, macht
nicht blind, sondern im Gegenteil gerade sehend, einsichtig und vernünftig. Sie steht einer
klaren Erkenntnis nicht störend im Weg, sondern befördert sie. Es ist eine Liebe, die ein
heißes Herz mit einem kühlen Kopf verbindet, die dazu anleitet, Wichtiges von Unwichtigem
zu unterscheiden, «dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine»30. Eine
Liebe, die die Augen öffnet, für das, was jetzt ansteht, für die nächsten Schritte, die zu tun
sind. Denn auch, wenn Paulus selbst nicht mehr leibhaftig in Philippi präsent sein kann – der
Gemeindealltag geht ja weiter, die Kreise und Gruppen, die Gottesdienste und Hausbesuche,
der Unterricht und die Seelsorge und all’ die kleinen und großen Entscheidungen der Gemeindeleitung und -verwaltung …
So bittet Paulus für die Gemeinde in Philippi um eine Liebe, die überströmt an klarer Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, eine Liebe, die darum weiß, was dem guten und gerechten Willen Gottes entspricht und was ihm widerspricht. Eine Liebe, die sich nicht verführen lässt von unseren so menschlich-allzumenschlichen Kleinkariertheiten und Gemeinheiten, die nichts gibt auf böswilliges Gerede und Eifersüchteleien. Eine Liebe, die sich
vielmehr in ihrem Tun und Lassen leiten lässt von Gottes Gerechtigkeit – einer Gerechtigkeit,
die alle und jeden aufrichten und zurechtbringen und niemanden zugrunde richten will. Eine
Liebe, die sehnsüchtig wartet auf jenen Tag des Messias Jesus, an dem unsere unerlöste Welt
mit all’ ihrer Zerrissenheit und Friedlosigkeit endlich im Glanz der Gnade Gottes erscheint.
Dann wird niemand es mehr nötig haben, sich auf Kosten anderer ins rechte Licht zu rücken.
VII.
«… ich vertraue darauf, dass der, der das gute Werk unter euch angefangen hat,
es vollenden wird bis zum Tag des Messias Jesus.»
Geben wir doch diesem Gottvertrauen des Apostels Paulus unter uns Raum – «zur Ehre und
zum Lob Gottes», wie es am Ende unseres Predigttextes heißt. Alles, was wir tun und lassen,
soll zur Ehre und zum Lob Gottes gereichen. Und es wird zur Ehre und zum Lob Gottes
gereichen, wenn es freudig Früchte der Gerechtigkeit trägt. Darum
«Vertraut den neuen Wegen, / auf die uns Gott gesandt! /
Er selbst kommt uns entgegen. / Die Zukunft ist sein Land. /
Wer aufbricht, der kann hoffen / in Zeit und Ewigkeit. /
Die Tore stehen offen. / Das Land ist hell und weit.»31
Und der Friede Gottes, der schützend seine Hand hält
über all’ unser Verstehen, bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, im Messias Jesus. Amen
[email protected]
23.10.2016
29
Bes. 1Kor 13,1–13.
Aus der vierten Strophe von Marie Schmalenbachs Lied «Brich herein, süßer Schein» (EKG 535,
nicht mehr im EG). Indem das Licht der Ewigkeit auf das gegenwärtige Leben fällt, werden die Dinge
zurechtgerückt: «Ewigkeit, in die Zeit / leuchte hell herein, / dass uns werde klein das Kleine / und das
Große groß erscheine, / selge Ewigkeit.»
31
EG 395,3.
30
6 
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