Entwicklungspsychotherapie 2 Auch wenn die Entwicklungspsychopathologie und -psychiatrie heutzutage als das Forschungs- und Interventionsleitende Paradigma im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie angesehen werden kann, so existiert doch bislang kaum ein vergleichbarer Ansatz für den Bereich der Psychotherapie an sich. Zwar richtet sich auch die Interventionsstruktur im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie an diesem Modell aus, jedoch wird noch zu wenig auf den Entwicklungsaspekt in der Lebensspanne des Betroffenen eingegangen. Petzold hat eine entwicklungspsychologische Therapie der Lebensspanne konzipiert, die den Menschen als im Lebensganzen verstehend sieht. Auch die an Entwicklungsstand und Entwicklungsaufgaben orientierte Matrix von Riedesser sieht den Zusammenhang zwischen den zu bewältigenden Aufgaben und den individuellen, systemischen sowie sozialstrukturellen Möglichkeiten. Entscheidend wird sich herausstellen, ob es gelingt, einen auf den weiteren Entwicklungsverlauf bezogenen Ansatz auszuarbeiten, der nicht zum Zeitpunkt der interventionsanlassgebenden Symptomatik ansetzt, sondern die Vorgeschichte und den weiteren Entwicklungsverlauf mit einbezieht. Einflüsse auf das Konzept 3 Entwicklungspsychologie und -soziologie der Lebensspanne Individuelle & soziale Entwicklungsbedingungen Fähigkeitserwerb im sozialen Austausch Entwicklungsfähiges produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt Multidirektionalität & Plastizität Entwicklungsaufgabenkonzept …ergeben sich infolge „Physischer kulturell invarianter Reifungsprozesse“ Entwicklungspsychopathologie Alterstypischer Ausdruck seelischen Befindens vor dem Hintergrund intervenierender Faktoren, Spezifisch gesellschaftlichAnpassungserfordernissen kulturelle Erwartungen und sowie normaler Anforderungen Entwicklungsschritte Individueller Ziele Normalitätsvorstellungen Philosophische Aspekte Reflexivität bzgl. des eigenen Gewordenseins, inkl. Antizipation eigener & gemeinschaftlichen Entwicklungsmöglichkeit Werden & Vergehen Humor, Ironie, Phantasie Wissenschaftstheorie Entwicklungspsychologie und -soziologie 4 Der Ansatz der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Baltes) ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass er einen erweiterten und interdependenten Entwicklungsbegriff verwendet. Insbesondere folgende Aspekte werden in die Betrachtung menschlicher Entwicklung auf individueller und kollektiver Ebene einbezogen: Baltes, P., 1990 Lebenslange Entwicklung Multidirektionalität Aufbau & Abbauprozesse Plastizität Geschichtliche Einbettung Kontextualismus Multiperspektivität Ontogenetische Entwicklung ist ein lebenslanger Prozeß. Keine Altersstufe nimmt bei der Bestimmung dessen, was Entwicklung ist, eine Vorrangstellung ein. Während der gesamten Entwicklung (d. h. in allen Phasen der Lebensspanne) können sowohl kontinuierliche (kumulative) als auch diskontinuierliche (innovative) Prozesse auftreten. Die Richtung der ontogenetischen Veränderungen variiert nicht nur beträchtlich zwischen verschiedenen Verhaltensbereichen (z. B. Intelligenz versus Emotion), sondern auch innerhalb derselben Verhaltenskategorie. In ein und demselben Entwicklungsabschnitt und Verhaltensbereich können manche Verhaltensweisen Wachstum und andere Abbau zeigen. Entwicklung bedeutet nicht nur einen Zuwachs in der Kapazität oder einen Zuwachs im Sinne einer höheren Effizienz. Über die gesamte Lebensspanne hinweg setzt sich vielmehr Entwicklung immer aus Gewinn (Wachstum) und Verlust (Abbau) zusammen. Psychologische Entwicklung ist durch eine hohe intraindividuelle Plastizität (Veränderbarkeit innerhalb einer Person) gekennzeichnet. Der Entwicklungsverlauf einer Person variiert in Abhängigkeit von ihren Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen. Die Hauptaufgabe der entwicklungspsychologischen Forschung liegt darin, das mögliche Ausmaß der Plastizität sowie deren Grenzen zu untersuchen. Ontogenetische Entwicklung variiert auch in Abhängigkeit von historisch-kulturellen Bedingungen. Der Ablauf der ontogenetischen (altersbedingten) Entwicklung ist stark von den vorherrschenden sozio-kulturellen Bedingungen einer geschichtlichen Ära und deren spezifischem Zeitverlauf geprägt. In konzeptueller Hinsicht resultiert jeder individuelle Entwicklungsverlauf aus der Wechselwirkung (Dialektik) dreier Systeme von Entwicklungseinf1üssen: altersbedingten, geschichtlich bedingten und nicht-normativen, d.h. kaum übertragbar oder vorhersagberen. Das Zusammenspiel und die Wirkungsweise der drei Systeme kann innerhalb der metatheoretischen Prinzipien des Kontextualismus charakterisiert werden. Psychologische Entwicklung muß multidisziplinär gesehen werden, also auch im Kontext anderer Disziplinen (z. B. Anthropologie, Biologie, Soziologie), die sich mit menschlicher Entwicklung beschäftigen. Die Offenheit der Lebensspannen-Perspektiven für eine multidisziplinäre Sicht weise impliziere, daß die "rein" psychologische Betrachtung der lebensumspannenden Entwicklung diese immer nur ausschnittsweise repräsentieren kann. 5 Vgl. Baltes, P., 1990, 4 Entwicklungsaufgaben 6 0-6 Monate Aktivitäten Funktionen Lächelt Schläft nachts 6-8 Std. Dreht sich vom Bauch auf den Rücken Lacht Greift mit den Händen Isst Brei Vgl. Largo, R.H.: Babyjahre. 15.Aufl., München, 2007, 483ff. 6-12 Monate Robbt Kriecht Ahmt laute nach Freies Sitzen Steht auf Pinzettengriff Winkt Fremdelt 12-18 Monate Nachahmung von Handlungen Bilder in Büchern anschauen Becher füllen und entleeren Freies Gehen Sagt Mama/Papa Erste Wörter Kennt Körperteile (Auge, Mund) Trumbauen Isst am Tisch 18-30 Monate Spielen mit Puppen Lego, Bauklötzer Verwendung der Vornahmen Ich-Form Einzahl und Mehrzahl Dreiradfahren Treppensteigen Glas- bzw. Bechertrinken Selbstständiges Essen mit Löffel Selbstständiges Ausziehen, ggf. Anziehen Verschränkung sozialer & psychischer Entwicklung Sozialer Rollenerwerb Sprachliche Ordnungsstrukturen der Wirklichkeit 4.-6.Lebensjahr Selbstentwicklung Identifikation mit primären Bezugspersonen 2.-3.Lebensjahr Objektpermanenz Intentionalität 1.-2.Lebensjahr 1.Lebensjahr 7 Selbstbewusstheit Realitätsprüfung Loyalität(-en) Perspektivenübernahme Tiefenpsychologische Aspekte der Entwicklung in den ersten Lebensjahren n. W. Spiel, zit. n. Resch, 1996 Entwicklungsaufgaben II Kindergartenalter 4-6 Jahre 8 Selbstkontrolle Soziale Kooperation Peerbeziehungen Regelerkennen und -anerkennung Regelbefolgung Sprachentwicklung insb. pragmatische Aspekte Realitätskontrolle Symbolisierungen und Bewältigung im Spiel Oerter & Dreher, 2002, 270 Entwicklungsaufgaben III 9 Mittleres Erwachsenenalter (31-50 Jahre) Erschaffung eines eigenen Zuhauses, Familienerhalt und -entwicklung , Übernahme sozialer Verantwortung für andere Reifes Erwachsenenalter (51-70 (75) Jahre) Festigung der Partnerschaft, Erhalt sozialer Beziehungen, Änderung von Rollenverhalten Hohes Erwachsenenalter (>75 Jahre) Selbstkongruenz, Verlusterfahrungskompensation, Selbsterhalt unter einschränkenden Bedingungen, Auseinandersetzung mit Tod, Vergänglichkeit etc. Entwicklungspsychiatrische Matrix n. Riedesser 10 Entwicklungsaufgaben Säuglingszeit Kleinkindzeit Vorschulzeit Schulzeit Adoleszenz Entwicklungsschwierigkeiten Traumatische Krise bzw. Ereignisse Bewältigungsversuche Symptome Intervention lifespan developmental (psycho-)therapy 11 Petzold (1996) sieht den Menschen eingebunden in ein Erfahrungsnetzwerk aus „aufbauenden und niederdrückenden Ketten“ von Lebensereignissen, die sich während eines Menschenlebens ereignen; in dieses Netzwerk gehen wesentlich Erfahrungen zu anderen Bezugspersonen ein. Aber auch transgenerationelle Erfahrungen mit z.T. nicht mehr anwesenden Personen bestimmen unsere Selbstperspektive und sind für unser Selbstverstehen bedeutsam. Petzold spricht in diesem Zusammenhang von einem kontextualisiert und temporalisiertem Prozess in Prozessen in der individuellen Entwicklung. Demzufolge sieht er das Individuum als ein reflexiv-prospektiv-antizipatives, welches temporär Selbstund Fremdinterpretationen vornimmt, die mit Wachstums- und Abbauprozessen korrelieren, dabei sich quasi in unterschiedlichen Persönlichkeitsdimensionen befindet. Eine vom jeweiligen Lebens- und Entwicklungsalter abhängigem Sinnerfassen des eigenen Gewordenseins sowie der Werdensmöglichkeit kommt somit eine enorme Bedeutung in der Psychotherapie zu. … 12 Lifespan developmental therapy geht davon aus, dass Lebenskompetenz und performanz nicht trennbar sind, ebenso wie Lebensgestaltung und -reflexion. Im Sinne einer hier zu entwickelnden Entwicklungspsychotherapie tritt bei Petzold (1998) das Therapeutische kommunikativ, handlungsbezogen, dialogisch auf. Diese soll es ermöglichen Wissensbestände, Operationen sowie sozialisationstheoretische Bezüge auf den Patienten hin anzuwenden, um diesen eine reflexiv-antizipativ-prospektiven Haltung zu ermöglichen. Dabei spielt der Therapeut als ein solches Gegenüber eine besondere Rolle. Methodisch sieht Petzold insb. die PanoramaTechnik (Müller&Petzold, 1998) sowie systematische Tagebucharbeit als Möglichkeit. Ergänzend könnte angefügt werden, dass im Lebensverlauf auch andere Intelligenzformen für die Menschen hinzutreten, insb. der pragmatische Gebrauch von Wissen und Fähigkeiten im Sinne einer Lebensklugheit (Phronesis), Selektionsund Optimierungsstrategien bspw. bei der Biographiearbeit, die sowohl antizipativ als auch reflexiv gedacht werden kann, womit Kapazitätseinschränkungen kompensiert werden können. 13 Nachfolgend soll ein entsprechenden Ansatz entwickelt werden, der bestehende Konzepte aufgreift, Therapie- und Interventionsmöglichkeiten sowohl somatischer, entwicklungsfördernder, als auch psychotherapeutischer sowie sozialer Ausrichtung integriert und im gesellschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Kontext versteht. Ausgegangen werden kann von der Interdependenz von Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsaufgaben. Diese stehen über die makrogesellschaftlichen Erfordernisse und mikrosozialen Umsetzungsbedingungen miteinander in Wechselwirkung. Individuelle Entwicklungsverläufe werden hierdurch nicht unerheblich modifiziert, spielen sich jedoch vor den jeweils individuellen Entwicklungsmöglichkeiten ab. Entwicklungsmoderatoren prägen ein sich entwickelndes Individuum, welches als „produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt“ (Hurrelmann, 2008) sich gestaltend mit diesen Erfordernissen, den protektiven oder destruktiven Gestaltungsmöglichkeiten auseinandersetzen muss. Dabei wirken sich der Entwicklungsstand und die damit verbundenen kognitiven, affektiven und Handlungsmöglichkeiten auf die Rezeption der Erfordernisse sowie deren Gestaltung und den Einsatz der Möglichkeiten aus. 14 Das sich entwickelnde Individuum weist jedoch sowohl eine genetische wie genealogische als auch sozial kulturelle Struktur auf. Diese formt sich unter den vorgenannten Bedingungen zu einer Individualstruktur aus, die sich körperlich, affektiv-kognitiv als auch sozial-volitiv darstellt und aus einer potentiellen Anlagemöglichkeit hin zu einer definitiven realen Gestalt wird, die funktional, selbstkongruent und -kompensatorisch ist. Diese Ausformung bzw. Individualentwicklung steht jedoch mit den Bezugsgruppennormen ebenso wie mit den individuellen Voraussetzungen und den elterlichen Faktoren in interdependenter Gestaltungsbeziehung. Die Integrationsmöglichkeit in soziale und Wissensbeziehungsgefüge sowie die Ausgestaltung von Anregungen aus Schule etc. wird durch diese Bedingungen geformt. Adaptive Persönlichkeitseigenschaften, prospektive Bedürfniserfassung ermöglichen einen entwicklungsstandabhängigen Rollenerwerb sowie deren Ausgestaltung, der zur Bezugsgruppe hin abgeglichen wird. 15 In diesem Zusammenhang gilt therapeutisch zum einen Entwicklungsbeeinträchtigungen zu kompensieren, andererseits Entwicklungskonflikte lösbar zu machen, Entwicklungsstillstände, Entwicklungsstörungen sowie Fehlentwicklungen durch entsprechende therapeutische, lernbezogene sowie sozialtherapeutische und pädagogische Interventionen eine Erreichung von Entwicklungsaufgaben zu ermöglichen. Im Einzelnen wären hierbei zu erwägen, Interventionen in die Erwartungshaltungen, Konsense der Gesellschaft, die sich auf theoretische Konstruktionen des Menschen beziehen und sich auf die Normalitätsannahmen auswirken. Desweiteren sind somatische Interventionen denkbar, die sich auf die Anpassungsfähigkeit des Kindes und damit dessen kognitive, affektive und soziale Entwicklung, diese ermöglichend auswirken. Im weiteren Entwicklungsverlauf sollten dann Interventionen die die Selbstwahrnehmung befördern, sprachliche und handlungsbezogene Auseinandersetzung mit der Umwelt sowie den eigenen Handlungsspielräumen ermöglichen, stehen, so dass ein kognitives, affektives und handlungsfähiges Selbst herausgebildet wird. 16 Im Erwachsenenalter, in welchem bestimmte entwicklungsorientierte Interventionen die sich insb. der Entwicklungsförderung und Beseitigung von Entwicklungsstörungen zuwenden, nicht mehr eine Kompensation versprechen, sollten dann Ichstrukturen entfaltet werden, die die Selbstprognose und -kongruenz befördern und dadurch Resilienz hinsichtlich der Folgeprobleme wie depressiven Reaktionen, sozialen Fehlverhaltensweisen oder Entwicklungsverweigerungen erzeugen, um dadurch im späten Erwachsenen- bzw. Seniorenalter, protektive Strukturen zu erhalten, und autodestruktive zu mindern. Hier kommen wieder mehr die bereits in der frühen Kindheit wichtigen strukturellen Interventionen im psychosozialen Umfeld hinzu, die die Ressourcen erhalten oder nicht mehr vorhandenen, strukturelle entgegensetzen. Versucht man dies zu konkretisieren, so wäre denkbar, dass… 17 Pränatal Genetische Interventionen Ante- und reflexive Fähigkeiten der Eltern Eltern-Kleinkind-Psychotherapie Peri- und Postnatal, insb. frühe Entwicklungsphase Kleinkind- und Schulkindalter Moto- und Sprachtherapie Soziale Kompetenzwahrnehmung und -entwicklung Nachteilsausgleiche, Milieuveränderungen Strukturelle Familientherapie Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentherapien Spiel- und verhaltensbezogene Individualtherapien Pädagogische Interventionen (Eltern & Kind) Adoleszenz und junges Erwachsenenalter Prospektiv orientierte Psychotherapie(-n) Paar- und systemische Familientherapie Reflexionsorientierte Psychotherapie(-n) Erwachsenenalter Seniorenalter Individuelle, systemische Ressourcenaktivierung Erhalt, Etablierung spiritueller und philosophische Re- und Anteflexionsfähigkeiten; Prothetik Einordnung der Störung in den kulturell-gesellschaftlichen Kontext Wissenschaftstheorie Gesellschaftstheorie Metatheoretisch Eingebundensein in die Dialektik von Werden & Vergehen Transzendenz des Selbst in den Vorfahren & Nachkommen Prothetik Genetische Intervention Lebenslaufbezogene Therapie Selbsterfahrung, -erhalt Pädagogische Entwicklungsobjekte Retrograde Erziehung Mehrgenerationenperspektive 18 Entwicklungsfunktion des Therapeuten Kinder & Heranwachsende 19 HALTEN (THERAPEUT ALS CONTAINER) HELFEN, EIGENES UND FREMDES VERHALTEN EINZUORDNEN UND ZU ANTIZIPIEREN (PERSPEKTIVENÜBERNAHME) AUFGREIFEN VON KÖRPERREAKTIONEN, SELEKTIVES VERSPRACHLICHEN VON GEFÜHLEN SPIEGELN UND ÜBERSETZEN VON HANDLUNGEN, GRENZEN SETZEN DIE ERFAHRUNG DES DRITTEN SCHAFFEN ÜBERNAHME VON SELBSTOBJEKTHAFTEN PSYCHOBIOLOGISCHEN REGULATIONSFUNKTIONEN (Z. B. AROUSAL, AMPLIFYING, BREAKING, RECOVERING) MENTALISIEREN DURCH IIM (INTERPERSONELLER DEUTUNGSMECHANISMUS) SOZIALE FEEDBACK-VERHALTENSWEISEN: SPIEGELUNG DER REALISTISCHEN VERSION UND MARKIEREN MIT KIPPEN Streek-Fischer, A.: Trauma und Entwicklung. Stuttgart, 2006, 209