Mariano Delgado - Schweizerischer Katholischer Missionsrat

Werbung
Wo stehen wir heute in der Missionstheologie auf dem Hintergrund von Vaticanum II?*
Von Mariano Delgado / Universität Freiburg1
1. Das Christentum als missionarische Religion
Der Begriff „Mission“ entstand im Umfeld der frühneuzeitlichen Tätigkeit der Gesellschaft Jesu in Übersee. Der
Sache nach bezeichnet er aber die Sendung der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes auf
der ganzen Welt. Daher beginnt das Missionsdekret des 2. Vatikanischen Konzils mit den Worten: „Zur
Völkerwelt von Gott gesandt, soll die Kirche ‚das allumfassende Sakrament des Heils’ sein. So müht sie sich
gemäss dem innersten Anspruch ihrer eigenen Katholizität und im Gehorsam gegen den Auftrag ihres Stifters,
das Evangelium allen Menschen zu verkünden“ (Ad gentes 1). Für das Konzil ist die Kirche „ihrem Wesen nach
‚missionarisch’ (das heisst: als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes
und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäss dem Plan Gottes des Vaters. Dieser Plan entspringt der
‚quellhaften Liebe’, dem Liebeswollen Gottes des Vaters“ (Ad gentes 2). Demnach wurzelt christliche Mission im
innertrinitarischen Sendungsprozess, in der liebevollen Hinwendung des dreifaltigen Gottes zu seiner Schöpfung
(Missio Dei oder Heil von Gott her):

Im Willen des Vaters, “dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen”
(1 Tim 2,4).

In der Sendung des Sohnes, der vom Vater als als “das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet”
(Joh 1,9), gesandt wurde, „damit die Welt durch ihn gerettet wird“ (Joh 3,17), bzw. damit alle „das Leben
haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), besonders die Armen und Bedrängte (Lk 4,18).

In der Sendung der Jünger durch den gesandten Sohn, “zu allen Völkern” zu gehen und “alle
Menschen” zu seinen Jüngern zu machen (Mt 28,19), bzw. “das Evangelium allen Geschöpfen” zu verkünden
(Mk 16,15; ) oder seine Zeugen zu sein, “bis an die Grenzen der Erde” (Apg 1,8), womit die Kirche als
„Sakrament des Heils“ in der Geschichte wirkt (Ad gentes 5).

In der Herabkunft des Heiligen Geistes am Pfingsttage auf die Jünger, um auf immer bei ihnen zu
bleiben, auf dass die Kirche den Mut hat, „das Evangelium vom Reich“ (Mt 24,14) auf der ganzen Welt zu
verkünden, bevor der Herr wiederkommt. Wie das Konzil betont hat (Ad gentes 4), darf dabei nicht vergessen
werden, dass der Heilige Geist schon in der Welt wirkte, ehe Christus verherrlicht wurde, und dass er bisweilen
sogar sichtbar der apostolischen Tätigkeit vorangeht, „wie er sie auch auf verschiedene Weisen unablässig
begleitet und lenkt“ (Ad gentes 4).
Die Missionstheologie hat also vier Grundprinzipien miteinander zu denken und zusammen zu halten: den
allgemeinen Heilswillen Gottes, die universale Mittlerschaft Christi, die Rolle der Kirche als Heilssakrament und
schliesslich den pneumatologisch-eschatologischen Horizont.2
Ausdruck der kirchlichen Sendung ist der so genannte „Missionsbefehl“, der an verschiedenen Stellen im
Neuen Testament vorkommt (vgl. Mt 28,19-20; Mk 16,15-16; Apg 1,8). Die markinische Variante wurde erst im
2. Jahrhundert angefügt und verbindet den Missionsauftrag mit der Betonung der Heilsnotwendigkeit der Taufe
im Schatten der Christenverfolgungen, die als Zeichen für das nahende Ende der Welt betrachtet wurden: „Wer
glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“. Die – von ihrem
paränetischen Entstehungskontext isolierte – Rezeption dieser apodiktischen Stelle in der Missionsgeschichte
entbehrt nicht einer gewissen Tragik: Sie ist für einen Heilsexklusivismus verantwortlich,3 der zu einem
übertriebenen Missionseifer und zu Zwangstaufen führte, um Heiden vor der Verdammung zu bewahren; und
sie stürzte auch Missionare in tiefe Konflikte: „Waren sie bei ausbleibenden Missionserfolg etwa an der
1
Diesem Text liegen folgende Publikationen des Verfassers zugrunde: Das Christentum in der Religionsgeschichte. Unterwegs zu einem
aufgeklärten Inklusivismus , in: Mariano Delgado / Gregor Maria Hoff / Günter Risse (Hrsg.), Das Christentum in der Religionsgeschichte.
Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Festschrift für Hans Waldenfels (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 16),
Fribourg/Stuttgart 2011, 15-31; Das Dekret „Über die Missionstätigkeit der Kirche Ad Gentes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils. Einige
Überlegungen zur Entstehung, zum Inhalt und zur Rezeption, in: Annuarium Historiae Conciliorum 43 (1/2011) 193-206; Mission /
Missionsgeschichte / Missionstheologie: Lehrbrief Nr. 14 von Fernkurs Theologie (Würzburg: in Druck).
2
Deutlich werden diese vier Prinzipien in diesem Text betont: Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen (30.
September 1996) hg. von der Deutschen Bischofskonferenz (Stimmen der Weltkirche 136), Bonn 1996.
3
Vgl. dazu Joseph Ratzinger, Kein Heil ausserhalb der Kirche?, in: ders.: Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969,
339–375.
1
Verdammung der Nichtgetauften mitschuldig? Waren die ungetauften Vorfahren, die als Ahnen besonders in
Asien und Afrika verehrt wurden, zu den Verdammten zu zählen?“4 In vielen Missionskatechismen des
Entdeckungszeitalters wird den Missionierten gesagt, dass ihre Vorfahren in der Hölle brennen.
Im Alten Testament ist bereits eine Universalisierung des Heilswillens Gottes zu beobachten, aber im Rahmen
einer Kommt-her-Denkform, die Israel als „Licht der Völker“ versteht und von diesen die Völkerwallfahrt zum
Berg Zion (Jerusalem) erwartet (vgl. u.a. Jes 2). Mit der aktiven Sendung der Jünger zu den Völkern durch den
Auferstandenen als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ (Mt 5,13-14) macht das Neue Testament daraus eine
missionarische „Geht-hin-Denkform“.
1.1 Grundmerkmale christlicher Mission in der Antike
Das missionierende Christentum war von Anfang an mit drei Merkmalen ausgestattet, die seine Ausbreitung im
Römischen Reich begünstigt haben. Dazu gehören der neue Volk-Gottes-Begriff, seine Translations- und
Inkulturationsfähigkeit sowie schliesslich eine neue Moral. Das erste Merkmal unterscheidet das Christentum
vom Judentum, das zweite vom Islam, während das dritte – zumindest tendenziell – ein gemeinsames
Erkennungszeichen dieser drei Monotheismen sein dürfte.
(1) Volk-Gottes-Begriff. Selbst die engsten Mitarbeiter Jesu scheinen Zeit gebraucht zu haben, um die
logischen Konsequenzen aus der von ihm verkündeten Reich-Gottes-Botschaft zu ziehen. Petrus, z.B., versteht
erst mit Hilfe eines Traumes im Vorfeld des Besuchs beim römischen Hauptmann Kornelius, dass der Gott Jesu
Christi sich eine universale Glaubensgemeinschaft aus allen Völkern ohne Ansehen der Person wünscht:
„Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk
willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist“ (Apg 10,34–35). Paulus ist dann die treibende Kraft, die
christliche Botschaft der Heidenwelt zu verkünden und die Beschneidung als rituelles Symbol religiös-nationaler
Identität aus dem Weg zu räumen. Es gibt keinen Satz in der paulinischen Theologie, der die durch die christliche
Botschaft neu eingetretene Lage in den multikulturellen Städten der hellenistischen Umwelt besser ausdrücken
würde als Gal 3,28: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau;
denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ Und Paulus schliesst folgerichtig daraus: „Wenn ihr aber zu Christus
gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheissung“ (Gal 3,29). Mit der Übertragung
des Volkwerdungsprozesses des Alten Exodus auf die Christengemeinde aus der Heidenwelt wird der
neutestamentliche Konsens bezüglich des Volk-Gottes-Begriffs im ersten Petrusbrief betont: „Ihr aber seid ein
auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes
Eigentum wurde […]. Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk“ (1 Petr 2,9f). Aufgrund dieses
Volk-Gottes-Begriffs, der den jüdischen Partikularismus überwindet und mit dem römischen Universalismus
konvergiert, war das Christentum imstande, Menschen aus verschiedenen Völkern und Kulturen in eine neue
Religion universaler Geschwisterlichkeit zusammenzuführen.
(2) Translations- und Inkulturationsfähigkeit. Das Sich-Einlassen auf die Heidenwelt konnte das Christentum
nur aufgrund seiner Fähigkeit zur Translation und Inkulturation wagen. Für das Christentum ist das „Wort“
(Logos) in Jesus „Mensch“, nicht „Schrift“ geworden. Weil Gott uns sein Antlitz im Geschick Jesu offenbart,
sakralisiert/tabuisiert das Christentum nicht eine Sprache als Offenbarungsvehikel. Mit der Wahl des Griechischen
für die meisten Schriften des Neuen Testamentes nimmt es das Gespräch mit der hellenistischen Welt dezidiert
auf und inkulturiert sich darin, d.h. „hellenisiert“ sich: „Ohne die so genannte Hellenisierung des Evangeliums
kein Heidenchristentum und wohl auch kein missionarisches Eindringen in andere und immer neue Kulturen“.5
(3) Kultur der Barmherzigkeit. Am meisten dürfte die antike Welt die neue Moral beeindruckt haben, die von
der Würde eines jeden Menschen als Abbild Gottes geprägt war. Selbst Kaiser Julian (360-363), der nach der
„Konstantinischen Wende“ die Christen wieder verfolgen wollte, bestätigt ihre moralische Anziehungskraft,
wenn er von ihnen schreibt, dass es deren Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die
Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels seien, die ihre „Sekte“ am meisten
gefördert haben. Moderne Historiker schreiben, dass die christlichen Gemeinden sich umfassend um Kranke,
Arme, Alte, Witwen, Waisen und Hungernde kümmerten, „also um jene marginalisierten Gestalten, die das
Heidentum […] ‚ohne grosse Gewissensbisse […] ihrem Schicksal überlassen’ hatte“.6
1.2 Vielfalt von Missionstypen in der Geschichte
Bereits in den Anfängen des Christentums und in der spätantiken Mission wurde eine Vielfalt von Missionstypen
praktiziert. Wir können grundsätzlich drei Sektoren unterscheiden:7
4
Michael Sievernich, Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2009, 21.
Wolfhart Pannenberg, Notwendigkeit und Grenzen der Inkulturation des Evangeliums, in: G. Müller-Fahrenholz (Hg.): Christentum in
Lateinamerika, Regensburg 1992, 140-154
6
Andreas Merkt, Die Profilierung des antiken Christentums angesichts von Polemik und Verfolgung, in: Christentum I: Von den Anfängen bis
zur Konstantinischen Wende, hg. von Dieter Zeller (Die Religionen der Menschheit 28), Stuttgart 2002, 409–433, hier 432.
7
Vgl. Sievernich, Die christliche Mission (Anm. 4), 11-38.
5
2

im „sozio-kulturellen Sektor“ geht es vor allem um den „kapillaren Typ“, d. h. um die Verbreitung des
Christentums durch das Lebensbeispiel in der Familie, der Nachbarschaft oder im Berufsleben;

im „professionellen Sektor“ geht es um die Personen (Apostel, Wanderprediger, Mönche, freie Lehrer),
die ihr Leben der missionarischen Ausbreitung des Christentums widmen;

als Typen im „institutionellen Sektor“ werden schliesslich jene Missionsformen verstanden, die
ausgehend von einer starken institutionellen Basis mit Mitteln der Überzeugung, der Argumentation, aber auch
der Macht agieren. Das Wirken klösterlicher Zentren oder die christliche Schulbildung stünden für den
argumentativ-persuasiven Typ des institutionellen Sektors, während die machtförmige, zum Zwang neigende
Variante durch den Typ imperialer Mission, die Religionsverbreitung als Herrschaftserweiterung bzw. -festigung
versteht, verkörpert wird.
Mischtypen entstehen zum Beispiel, wenn die professionellen Missionare ihre Tätigkeit im Auftrag oder im
Schutz päpstlicher, bischöflicher oder weltlicher Autorität ausüben. Diese grundlegenden Typen erfuhren in
Mittelalter, Neuzeit und Moderne gewisse Veränderungen, sofern der professionelle und der institutionelle
Sektor ausgebaut wurden (neue Orden und Missionsgesellschaften, Verquickung von Mission und kolonialer
Expansion, interkonfessionelle Konkurrenz, Beteiligung der Frauen an den Missionsaktivitäten …) – unter
Vernachlässigung der kapillaren Verbreitung, die heute wieder gefragt ist. Paul VI. betonte, dass die
überzeugend gelebte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe in der Nachbarschaft der erste Weg der
Evangelisierung ist, da der heutige Mensch „lieber auf Zeugen als auf Gelehrte“ hört, „und wenn er auf
Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind“ (Evangelii nuntiandi 41).
1.3 Licht- und Schattenseiten
Als historisches Ereignis ist die missionarische Ausbreitung des Christentums ein ambivalenter Prozess mit Lichtund Schattenseiten. Er verlangt wissenschaftlich weder nach einer Apologie noch nach einer Hermeneutik des
Verdachts, sondern nach einer „differenzierten Wahrnehmung“.
Während im säkularen Sprachgebrauch der Begriff „Mission“ heute eher mit einem positivem Klang
verwendet wird, so z.B. wenn von einer „diplomatischen Mission“ oder einer „Friedensmission“ der Vereinten
Nationen die Rede ist, steht oft die Geschichte „christlicher Mission“ unter Verdacht. Sie wird mit
Indoktrinierung verbunden, mit Religions- und Kulturvernichtung, mit mangelndem Respekt vor
Andersdenkenden und Andersglaubenden, mit monotheistischer Gewalt und Intoleranz, mit Kolonialismus. Auch
wenn dieser Rundumschlag nicht sachlich ist, lassen sich die Schattenseiten christlicher Mission nicht leugnen.
Aus diesem Grund liess Papst Johannes Paul II. während der Bussfeier zum Aschermittwoch des Jahres 2000 dem
japanischen Bischof Hamao folgendes sagen: „Manchmal haben sich Christen leiten lassen von Hass und vom
Willen andere zu beherrschen, von Feindschaft gegen Anhänger anderer Religionen …“. Wozu der Papst betete:
„Christen haben die Rechte von Stämmen und Völkern verletzt, ihre Kulturen und religiöse Traditionen
verachtet. Sie haben so das Evangelium verleugnet und der Gewalt nachgegeben“.8 Andererseits werden die
zivilisatorischen Errungenschaften der Missionare als Vermittler von Kulturtechniken, Erbauer von Spitälern und
Schulen bewundert, ebenso wie ihre „wissenschaftlichen“ Leistungen als Naturforscher, Völkerkundler und
Linguisten.
Bis Ende des 2. Weltkriegs fand die aussereuropäische Ausbreitung des Christentums in der „Dialektik von
Mission und Kolonialismus“ statt, d.h. in der Dialektik zwischen Imperialismus einerseits und den revolutionären,
modernisierenden und emanzipatorischen Wirkungen westlich-abendländischer, christlicher Kultur andererseits.
Die meisten Missionare waren keine Befürworter der politischen Emanzipation der kolonisierten Völker. Aber es
ist bestimmt kein Zufall, dass viele Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen aus den Missionsschulen kamen.
Durch Schulen aller Art und Druckereien, Armenhäuser und Spitäler, durch die Einführung neuer Kulturtechniken
oder die zahlreichen sozialen und sozialreformerischen Aktivitäten im Geiste der Nächstenliebe förderten
Missionare die menschliche Entwicklung, oft ungeachtet der Religionszugehörigkeit der Adressaten.
Man kann bekanntlich auf die Dauer nicht das Evangelium predigen und den Kolonialismus rechtfertigen.
Denn das Evangelium ist im Grunde „eine Botschaft der Freiheit und der Befreiung“ (Libertatis nuntius 1) für alle
Menschen. Daher gehört auch die Prophetie, die Anklage von Unterdrückung und Sklaverei sowie das Eintreten
für Gerechtigkeit und Recht (auch für das Recht der Anderen) zur Wirkung christlicher Mission. Unter Rückgriff
auf das Evangelium und an die Person Jesu Christi konnten prophetische Missionare die Fehlentwicklungen und
Deviationen zur Anklage bringen, Selbstkorrekturen vornehmen und Partei für die Armen und Bedrängte
ergreifen. Ihre Spiritualität war allgemein von der Überzeugung getragen, dass die anderen Menschen „unsere
Brüder, für die Christus sein Leben hingegeben hat“, wie Bartolomé de Las Casas sagte.9 Das von den
Missionaren eingeklagte Menschenbild, wonach alle Menschen im Prinzip von Gott mit Verstand und freiem
Willen ausgestattet wurden und daher glaubens- und zivilisationsfähig sind, hat zur „Einheit der
Menschheitsfamilie“ wesentlich beigetragen und ist die Bedingung der Möglichkeit einer partnerschaftlichen
Weltordnung, wie sie heute intendiert wird.
8
Internationale Theologische Kommission: Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit. Ins Deutsche
übertr. und hg. v. G. L. Müller, Einsiedeln/Freiburg i. Br. 22000.
9
Bartolomé de Las Casas, Apologia, ed. Angel Losada (Obras completas Bd. 9), Madrid 1988, 664.
3
2. Missionarisches Christentum heute
Die Krise des Eurozentrismus im Windschatten der Entkolonisierung konvergierte nach dem 2. Weltkrieg mit
einer weltweiten Identitäts- und Relevanzkrise des Christentums. Angesichts der erwähnten
Verdachtshermeneutik gegenüber der christlichen Missionsgeschichte im Allgemeinen sowie gegenüber der
neuzeitlichen, eurozentrischen Verquickung mit dem Kolonialismus im Besonderen klagten Christen aus Asien
und Afrika über die mangelnde „Akkomodationsbereitschaft“ der europäischen Missionare; andere stellten
zudem den Sinn von „Mission“ überhaupt in Frage, was missionarischen Defätismus zur Folge hatte, zumal sich
in Europa die traditionellen kirchlichen Milieus, aus denen die Missionare kamen, auflösten.
Auf diese Stimmung am Vorabend des 2. Vatikanischen Konzils reagierte der junge Theologe Joseph
Ratzinger 1960 mit einer bemerkenswerten Klarstellung: „Wir müssen uns endlich eingestehen, dass das
Christentum in der seit Jahrhunderten konservierten Form bei uns im Grunde nicht besser verstanden wird als in
Asien und Afrika. Es ist nicht nur dort fremd, sondern auch bei uns, weil ein Schritt ausgefallen ist: der vom
Mittelalter zur Neuzeit. Das Christentum lebt gerade auch bei uns selber nicht in unserer eigenen, sondern in
einer uns weitgehend fremden Gestalt, der Gestalt des Mittelalters“. Und er fügte hinzu: „So ist die primäre
Aufgabe, die sich Theologie im Hinblick auf die Mission stellt, nicht die ‘Akkomodation’ an östliche oder
afrikanische Kulturen, sondern die ‘Akkomodation’ an unseren eigenen, gegenwärtigen Geist“.10 Ratzinger
brachte damit zur Sprache, was die vorkonziliare Aufbruchbewegung dachte: Das katholische Christentum muss
weltweit aufhören, die Gestalt des Mittelalters zu konservieren; es muss vielmehr seine moderne Gestalt finden
und ein doppeltes Aggiornamento leisten, d.h. eine „Erneuerung aus dem inneren des Glaubens [...] besonders
aus der Heiligen Schrift“ und eine Erneuerung im Sinne der „Verträglichkeit des Christentums in der modernen
Welt“.11 Was bedeutet dieses Aggiornamento für den Missionsauftrag der Kirche? Das soll nun an einigen
Aufgaben verdeutlicht werden.
2.1 Mission und Ökumene
Die neuzeitliche Missionsgeschichte hat die „Konfessionalisierung“ des Christentums in die aussereuropäische
Welt verpflanzt, dies jedoch vielfach nicht in einem ökumenischen Geist, sondern im Geist einer
„Kontroverstheologie“, die der jeweils anderen Konfession absprach, eine „wahre“ Kirche Christi zu sein. Das
Christentum erschien den aussereuropäischen Völkern als eine heillose Vielfalt von miteinander konkurrierenden
Kirchen. Durch die binnenchristlichen Querelen haben die Christen zum „Relevanzverlust“ des Christlichen in der
modernen Welt beigetragen. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass die Wahrnehmung dieser Situation eine
entscheidende Wurzel der ökumenischen Bewegung gewesen ist. Die jungen Kirchen spornen uns dazu an, die
europäischen Christentümer enger zusammenzuführen und gemeinsam nach dem zu suchen, was zwischen uns
und der Offenbarung Gottes in Jesus Christus „trennend und verbindend, verdunkelnd und erhellend, belastend
und bereichernd“ steht.12 Diese Einsicht des evangelischen Theologen Gerhard Ebeling trifft sich mit der vom
Papst Johannes Paul II. in den letzten Jahren eindringlich angemahnten „Reinigung des historischen
Gedächtnisses“ als ökumenische Aufgabe.13
Es geht darum, wie Karl Barth sagte, „im Kleinen und im Grossen gründlich vor unseren eigenen Türen zu
wischen“14. Wenn ein jeder sich an seinem Ort in seiner Kirche zum Glauben an den einen Herrn in seinen Dienst
rufen lässt, so werden wir die historisch gewachsene Vielfalt des Christseins bewahren und dennoch der Welt ein
gemeinsames christliches Zeugnis geben können. Mission kann heute nur in einem ökumenischen Geist
stattfinden, der die anderen Konfessionen nicht als Konkurrenten, sondern als Schwesterkirchen betrachtet und
darüber hinaus um eine möglichst sichtbare „Einheit in Vielfalt“ aller Kirchen bemüht ist. Mission im
ökumenischen Geist bedeutet auch, dass sie als „renovatio ecclesiae in der Dynamik des Heiligen Geistes“ und
als „Selbstevangelisierung“ zu verstehen ist. In allen Konfessionen muss eine missionierende Kirche zuerst
„Hörerin des Wortes“ sein, die sich durch eine beständige Bekehrung und Erneuerung selbst evangelisiert, „um
die Welt glaubwürdig zu evangelisieren“ (Evangelii nuntiandi 15).
2.2 Mission, Inkulturation und Option für die Armen
Inkulturationsprozesse und Option für die Arme müssten für eine Religion wie das Christentum selbstverständlich
sein. Am Anfang der Missionsgeschichte steht der Missionsbefehl (Mt 28,19), aber auch die Aufforderung des
Weltenrichters (vgl. Mt 25, 32.40) in den Armen und Leidenden, das Bild dessen zu erkennen, der die Kirche
10
Joseph Ratzinger, Theologia perennis? Über Zeitgemässheit und Zeitlosigkeit in der Theologie, in: Wort und Weisheit 15 (1960) S. 179188, hier 187f.
11
Joseph Ratzinger, Konzilsaussagen über die Mission ausserhalb des Missionsdekrets, in: Johannes Schütte (Hg.), Mission nach dem Konzil,
Mainz 1967, 21-27, hier 39f.
12
Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu
einer Hermeneutik der Konfessionen. Göttingen 1964, 25.
13
Vgl. u.a. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz . (Verlautbarungen des
Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, Nr. 2, 52.
14
Karl Barth, Ad limina Apostolorum. Zürich 1967, 17f.
4
gegründet hat „und selbst ein Armer und Leidender war“ (Lumen gentium 8). Beides gilt auch für die Mission
heute: auf dem Weg zu den Völkern ist die Kirche aufgerufen, das Evangelium in den verschiedenen kulturellen
und religiösen Kontexten zu verkündigen und die Realpräsenz Christi in den Armen und Leidenden zu
entdecken.
Mit der Inkulturation sind Fragen grundsätzlicher Art verbunden, etwa die nach der Überwindung des Bruchs
zwischen Evangelium und moderner Kultur, den Paul VI. als „das Drama unserer Zeitepoche“ bezeichnete, wie
es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Evangelii nuntiandi, 20), nach dem Pluralismus in der Kirche, nach
der Erkennbarkeit des einen Christentums „in Lehre, Leben und Kult“ (Dei Verbum 8) in den verschiedenen
kulturellen Kontexten (also der Frage nach der Übereinstimmung mit der Tradition der Kirche und dem Recht der
Ortskirchen auf Sonderwege in manchen Bereichen); ebenso die Frage nach einem asiatischen bzw.
afrikanischen Weg zum Christentum und ob dieser ganz vom abendländischen Weg verschieden sein kann, als
ob es einen nackten Glauben ohne seine historische Ursprungsprägung in der jüdischen und hellenistischen
Kultur gäbe. Die Inkulturationsfrage ist eine der offenen Baustellen heutiger Theologie. Manche Entscheidungen
des katholischen Lehramtes im Zusammenhang mit der Entstehung einer lateinamerikanischen, afrikanischen
oder asiatischen Theologie deuten darauf hin, dass für Rom die Kompatibilität mit dem Evangelium und die
Kommunion mit dem Glauben der Universalkirche darin nicht immer klar erkennbar sind. Vor dem Hintergrund
des Ritenstreits wäre allerdings ein wenig mehr Sensibilität und Kommunikationstalent in der
Auseinandersetzung Roms mit den aussereuropäischen Theologien gefragt: Wir brauchen beim Lehramt eine
gute Verbindung von petrinischer Einheitsverantwortung und paulinischer Inkulturationskühnheit.
Im Zusammenhang mit der Inkulturation warnt das Lehramt immer wieder vor jedem Anschein „von
Synkretismus und falschem Partikularismus“ (so etwa Ad gentes 22). Das einschlägige Dokument der
Internationalen Theologenkommission über Glaube und Inkulturation aus dem Jahre 1988 hält auch mit
Nachdruck fest: „Die Inkulturation, die sich der Stimme des Dialogs unter den Religionen bedient, darf auf gar
keinem Fall dem Synkretismus Tür und Tor öffnen“.15 Synkretismus ist in der Sprache des Lehramtes und der
meisten Theologen ein Synonym für eine falsche Inkulturation, in der „heidnische“, d.h. nicht christuskonforme
Werte einer Kultur die Oberhand gewinnen. Diese negative Sicht des Synkretismus kann aber dazu führen, dass
das Lehramt – wie etwa im Fall des chinesischen Ritenstreits – Inkulturationsprozesse autoritär abblockt, weil sie
in der ersten Phase für abendländische Ohren „synkretistisch“ anmuten, wo sie eher gewagte
Inkulturationsprozesse darstellen. Auf der anderen Seite stehen Theologen wie Leonardo Boff, die, anstatt vor
dem Synkretismus zurückzuschrecken, ihn „zum Prozess der Entstehung von Katholizität“ erklären.16 Mit
Synkretismus bezeichnet Boff einfach die Begegnung des Christentums mit den Kulturen, in deren Verlauf jede
Kultur durch die Konfrontation der eigenen Werte mit den Werten des Evangeliums die ihr angemessene
christliche Synthese, ihren Synkretismus, vollzieht. Dazu hat er ein Minimalkriterium aufgestellt: Alles, was der
Freiheit und dem Leben dient, „stellt einen wahren Synkretismus dar und verkörpert die befreiende Botschaft
Gottes in der Geschichte“.17 Eine solche Sicht kann zu einer Reduzierung des Inkulturationsprozesses auf eine
„Regno-Zentrik“ führen, also die praxiologische Zentrierung auf den Aufbau des Reiches als die gemeinsame
Aufgabe aller Religionen, und macht schliesslich die Mission obsolet – genauso wie die „pluralistische Theologie
der Religionen“. Dass der globale ökumenische Einsatz für eine „Kultur des Lebens“ (Weltethos) höchstens nur
die erste Stufe eines Inkulturationsprozesses sein kann und dass die Fragen nach dem Gottesbild, der Bedeutung
Jesu Christi als Erlöser der Welt und dem sakramentalen Wesen der Kirche ebenso unverzichtbar dazu gehören,
wird dann nicht mehr bedacht.18
Inkulturation ist immer auch ein Mittelweg zwischen Dogmatismus und Synkretismus. Beim
Inkulturationsprozess droht nämlich die reale Gefahr der zu leichten Anpassung an Kulturelemente, die sich
letztlich negativ auf die Identität des Christentums selbst auswirken können. Bei der Unterscheidung der Geister
könnte eine aus ihrer Jahrtausende alten Erfahrung lernende europäische Theologie die anderen Theologien
geschwisterlich auf solche Gefahren hinweisen, wie Karl Rahner vorgeschlagen hat.19 Viele Konflikte in der
Katholischen Kirche im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Inkulturationsprozessen in Asien haben nicht
zuletzt damit zu tun, dass die Selbstreinigungskraft der Theologie nicht funktioniert und die petrinische
Wachsamkeit allein dem Lehramt überlässen wird.
Der Pluralismus hat in der Katholischen Kirche seine Daseinsberechtigung, solange in den einzelnen
Ortskirchen die eine katholische Kirche „in Lehre, Leben und Kult“ (Dei Verbum 8) erkennbar bleibt.20 Mehr
Eigenverantwortung der Ortskirchen in Theologie, Kirchenrecht und Liturgie nach dem Prinzip von Einheit in
15
Commissione Teologica Internazionale, Fede e inculturazione (Anm. 13), 173.
Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 21985, 164.
17
Ebd. 189. An dieser Stelle spricht Boff ausdrücklich von den theologalen Tugenden Liebe, Glaube und Hoffnung, aber in den letzten
Publikationen nur noch von dem, was dem „Leben“ dient. Vgl. ders., Christentum mit dunklem Antlitz. Wege in die Zukunft aus der
Erfahrung Lateinamerikas. Freiburg i. Br. 1993; ders., Eine neue Erde in einer neuen Zeit. Plädoyer für eine planetarische Kultur. Düsseldorf
1994.
18
Vgl. Joseph Ratzinger, Der christliche Glaube vor der Herausforderung der Kulturen. In: Paulus Gordan (Hg.), Evangelium und Inkulturation
(1492–1992), Salzburg 1995, 9–26, 21. Vgl. dazu Mariano Delgado, Die Zukunft des Christentums angesichts der „Wiederkehr von
Religion“. Versuch einer Auseinandersetzung mit Leonardo Boff und Johann Baptist Metz. In: ders., (Hg.), Markierungen. Theologie in den
Zeichen der Zeit, Berlin 1995, 37–68.
19
Vgl. Karl Rahner, Aspekte europäischer Theologie, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 15. Zürich 1983, 84–103.
20
Vgl. Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben „Über die Versöhnung in der Kirche“. In: ders., Wort und Weisung im Jahr 1974. VatikanStadt 1974, 512–528, 519ff.
16
5
Vielfalt wäre wünschenswert und würde auch der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils durchaus
entsprechen. Aber der Pluralismus darf nicht anarchisch werden. Seine Grenzen sind dort gegeben, wie Karl
Rahner festgehalten hat, wo Glaubensdogmen frontal angegriffen werden und somit die Einheit des
Bekenntnisses in der Kirche gefährdet ist.21 Nur wenn Theologie und Lehramt paulinische Kühnheit mit
petrinischer Verantwortung für die Einheit der Kirche verbinden, werden wir die gegenwärtigen
Inkulturationsprozesse sinnvoll begleiten können, damit sie „zur Bereicherung sowohl der Kirche wie der
verschiedenen Kulturen“ (Gaudium et spes 58, vgl. auch Lumen Gentium 13, Redemptoris missio 85) beitragen.
Die Option für die Armen und die Verkündigung einer „ganzheitlichen“ Befreiung (von der Macht der Sünde
und von den unmenschlichen Lebensbedingungen) ist nicht neu, hat aber mit Johannes’ XXIII. Traum von einer
„Kirche der Armen und für die Armen“, den Dokumenten des Konzils und des Lateinamerikanischen Episkopats,
und nicht zuletzt mit Papst Franziskus eine besondere Aktualität gewonnen. Wenn etwas den Katholizismus der
letzten vierzig Jahre wirklich kennzeichnet, so ist das vor allem der Versuch, die theologische Dignität der Armen
und Leidenden anzuerkennen, die ja die Mehrheit der Christen wie der Weltbevölkerung darstellen. Der
brasilianische Bischof Dom Hélder Câmara hat dieses neue Bewusstsein in einem kleinen Gedicht auf den Punkt
gebracht: Er wusste, dass der Herr ihn ständig trieb, „hinzugehen und zu verkünden, / dass es notwendig ist, ja
dringend, / von Deiner Gegenwart im Sakrament / überzugehen / zu Deiner anderen Gegenwart / einer ebenso
realen, / im Abendmahl des Armen“.22 Bemühung um Gerechtigkeit und absichtslose Solidarität mit den
Bedürftigen gehören auch zum Missionsauftrag, „weil eben Gottes- und Nächstenliebe im Christentum eine
unaufhebbare Einheit bilden“,23 und weil Christen eine Kultur der Barmherzigkeit bzw. eine „Zivilisation der
Liebe“ aufbauen sollten.
2.3 Mission und (interreligiöser) Dialog
Wie die Schriften des Neuen Testaments und der ersten Theologen zeigen, haben sich Christen von Anfang den
Fragen der philosophischen Vernunft und der Anhänger anderer Religionen gestellt (1 Petr 3,15-16); dabei
haben sie ihren Glauben argumentativ zu begründen und mit dem Leben zu bezeugen versucht. Diese
dialogische, kommuniktive Grundverfassung des Christentums war im Rahmen der christlichen Mission immer
klar, auch wenn im Windschatten des imperialen Typs von Mission Zwangselemente gegeben waren. Die
genannte Grundverfassung ist schliesslich die logische Konsequenz aus der christlichen Anthropologie, wonach
der Mensch mit Verstand und freiem Willen ausgestattet ist. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil erinnert das
katholische Lehramt an die Dringlichkeit des Dialogs und an den inneren Zusammenhang von Mission und
Dialog. Das Dokument Dialog und Verkündigung (19.05.1991) vom Päpstlichen Rat für den interreligiösen
Dialog und der Kongregation für die Evangelisierung der Völker unterscheidet vier Arten des Dialogs: im „Dialog
des Lebens“ geht es um das Zusammenleben in einer offenen und nachbarschaftlichen Atmosphäre und um das
Miteinanderteilen von Freud und Leid sowie den menschlichen Problemen und Beschwernissen; im „Dialog des
Handelns“ setzen sich Christen und Nichtchristen für eine bessere Welt gemeinsam ein; im „Dialog des
theologischen Austausches“ vertiefen die Spezialisten ihr Verständnis des jeweiligen religiösen Erbes und lernen
die gegenseitigen Werte zu schätze; schliesslich im „Dialog der religiösen Erfahrung“ teilen Menschen, „die in
ihrer eigenen religiösen Tradition verwurzelt sind“, ihren spirituellen Reichtum (Dialog und Verkündigung 42).
Von diesen Grundformen des interreligiösen Dialogs ausgehend sollten wir heute über eine „Hermeneutik
des Dialogs“ nachdenken, d.h. über die Dialogfähigkeit der Partner, über Dialogziele und Bedingungen, über
den Zusammenhang von Dialog und Wahrheit, von Dialog und Mission, über den offenen Ausgang des Dialogs,
der auch mit der Bekehrung zur Position des Anderen enden kann. Daher ist „Religionsfreiheit“ die
unverzichtbare Bedingung für den interreligiösen Dialog.24 Hilfreich sind die Worte von Papst Benedikt XVI. im
Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Ecclesia in Medio Oriente vom 14. september 2012 über Toleranz,
Religionsfreiheit und dialogale Suche nach der Wahrheit:
„Die religiöse Toleranz existiert in vielen Ländern, doch sie ist wenig verpflichtend, denn sie bleibt auf ihren
Aktionsradius beschränkt. Es ist notwendig, von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit zu gelangen. Dieser
Schritt öffnet keineswegs dem Relativismus die Tür, wie einige behaupten. Dieser Schritt, der getan werden
muss, ist nicht ein offener Riss im Glauben, sondern eine erneute Berücksichtigung der anthropologischen
Beziehung zur Religion und zu Gott. Er ist keine Verletzung der ‚Grundwahrheiten’ des Glaubens, denn
ungeachtet der menschlichen und religiösen Divergenzen erleuchtet ein Strahl der Wahrheit alle Menschen (Vgl.
Nostra aetate 2). Wir wissen sehr wohl, dass ausserhalb Gottes die Wahrheit ‚in sich selbst’ nicht existiert. Dann
wäre sie ein Götze. Die Wahrheit kann sich nur in der Beziehung zum anderen entwickeln, die auf Gott hin
öffnet, der seine eigene Andersheit durch meine Mitmenschen und in ihnen zu erkennen geben will. So ist es
unangebracht, in ausschliessender Weise zu behaupten: ‚Ich besitze die Wahrheit’. Die Wahrheit ist niemals
Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk, das uns auf einen Weg ruft, sie immer tiefer uns anzueignen.
21
Karl Rahner, Ritenstreit – Neue Aufgaben für die Kirche, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 16. Zürich 1984, 178–184, 183.
Hélder Câmara, Der Traum von einer anderen Welt, München 1987, 139.
23
Michael Sievernich, Mission – mit welchem Recht?, in: Rainer Kampling / Bruno Schlegelberger (Hrsg.), Wahrnehmung des Fremden.
Christentum und andere Religionen, Berlin 1996, 263.
24
Vgl. Mariano Delgado, Vierzig Jahre „Dignitatis humanae“ oder Die Religionsfreiheit als Bedingung für Mission und interreligiösen Dialog,
in: ZMR 89 (2005) 297-310.
22
6
Die Wahrheit kann nur in der Freiheit erkannt und gelebt werden; denn wir können dem anderen die Wahrheit
nicht aufzwingen. Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit.“ (Ecclesia in Medio
Oriente 27).
Interreligiöse Dialoge können gewiss zu einer Reinigung der Religionspathologien (Gewalt, Intoleranz) und zu
einem friedlichen und versöhnten Miteinander der Religionen beitragen, aber sie ersetzen nicht den christlichen
Missionsauftrag, „sondern ergänzen ihn durch eine eigene Dynamik der Gemeinsamkeit und der
Wahrheitssuche“.25 Bei aller Wertschätzung des interreligiösen Dialogs, betont die Kirche daher ihre
Christozentrik:
„Der interreligiöse Dialog begründet sich theologisch folgendermassen: mit dem gemeinsamen Ursprung aller
Menschen, die als Gottes Ebenbild geschaffen wurden, mit dem gemeinsamen Ziel, das die Lebensfülle in Gott
ist, mit dem einzigen göttlichen Heilsplan in Jesus Christus und mit der wirkmächtigen Gegenwart des Heiligen
Geistes unter den Anhängern anderer religiöser Traditionen (DiaVer, 28). Die Gegenwart des Heiligen Geistes ist
aber nicht gleichermassen in der biblischen Tradition und in den anderen Religionen gegeben, denn Jesus
Christus ist die Fülle der Offenbarung. Doch verschiedene Erfahrungen und Wahrnehmungen, Äusserungen und
Verständnisse, die vielleicht alle vom selben ‚transzendentalen Ereignis’ herrühren, lassen dem interrueligiösen
Dialog eine hohe Bedeutung zuwachsen. Gerade durch ihn kann sich der eigene Prozess von Interpretation und
Verstehen des Heilshandelns Gottes entwickeln.“26
2.4 Mission und Religionstheologie
Neben der Dialogfähigkeit war auch das Nachdenken über die angemessene Theologie der Religionen ein
Begleitphänomen der christlichen Mission. Die Kirchengeschichte kennt dazu die Grundtypologien von
Exklusivismus und Inklusivismus. Mit Theologumena wie „Vorbereitung auf das Evangelium“, „Ecclesia ab Abel“
oder „Samen des Wortes“ haben sich die Kirchenväter bemüht, die Religionsgeschichte „vor Christus“ positiv zu
deuten und zu integrieren. Aber in der Missionsgeschichte ist es bekanntlich nicht bei diesem Ansatz geblieben,
obwohl – wie Joseph Ratzinger aufgezeigt hat – die „Heilsausschliesslichkeit der Kirche“ im Neuen Testament
„nirgends“ ausgesprochen wird.27.
Ausgehend von Texten wie Mk 16,16 („Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht
glaubt, wird verdammt werden.“) und Apg 4,12 („Und in keinem anderen ist das Heil zu finden.“) haben
Ignatius von Antiochien und Irenäus über die „Heilsausschliesslichkeit der Kirche“ nachgedacht, bevor im 3.
Jahrhundert „fast gleichzeitig in Ost und West“ bei Origenes und Cyprian das Axiom „Kein Heil ausserhalb der
Kirche“ deutlich formuliert wurde. Doch der Kontext bei Origenes ist eine „Paränese an die Juden, denen er
zuruft: Täuscht euch nicht, ihr glaubt, ihr hättet das Alte Testament und das genüge. In Wirklichkeit braucht
auch ihr das Blut Christi“.28 Auch bei Cyprian handelt es sich um eine Paränese, diesmal an diejenigen gerichtet,
die innerhalb der Kirche für Spaltungen und Schismen sorgen.
Der erwähnte Aufsatz Ratzingers ist voller klugen Überlegungen über den weiteren Verlauf der
Rezeptionsgeschichte dieses Axioms. Er suggeriert, dass es sich bei der Dogmatisierung durch das Konzil von
Florenz (1442) um eine verhängnisvolle Blickverengung handelt, weil der erwähnte paränetische Kontext
vergessen wurde. Ebenso vergessen wurde in der Missionsgeschichte die neutestamentliche Spannung zwischen
dem Tun der Liebe (vgl. u.a. Mt 22,35–40, Mt 25,31–46, Mt 7,21) als Weg zum Heil und der Heilsnotwendigkeit
der Taufe (vgl. u.a. Mk 16,16), eine Spannung, die nicht einseitig zugunsten des Letzteren aufgelöst werden
sollte.29
Heute ist der theologische Hauptstrom durch den christozentrischen Inklusivismus (extra Christum nulla salus)
geprägt.30 Das 2. Vatikanische Konzil hat diesen Inklusivismus mit dem Missionsauftrag und der
heilsnotwendigen Rolle der Kirche verknüpft: „Wenngleich Gott Menschen, die das Evangelium ohne ihre Schuld
nicht kennen, auf Wegen, die er weiss, zum Glauben führen kann, ohne den es unmöglich ist, ihm zu gefallen,
so liegt also doch auf der Kirche die Notwendigkeit und zugleich das heilige Recht der
Evangeliumsverkündigung. Deshalb behält heute und immer die missionarische Tätigkeit ihre ungeschmälerte
Bedeutung und Notwendigkeit“ (Ad gentes 7). Ähnlich wird in der Enzyklika Redemptoris missio (7.12.1990)
festgehalten, „dass das Heil und die Fülle der Offenbarung von Christus kommt und der Dialog nicht von der
Verkündigung des Evangeliums enthebt“; die Tatsache, „dass die Anhänger anderer Religionen auch ausserhalb
der normalen Wege, die Christus festgelegt hat, die Gnade Gottes empfangen und durch Christus erlöst werden
können, nimmt den Aufruf zum Glauben und zur Taufe“ nicht zurück, „die Gott für alle Völker will“. Denn
Christus selbst habe mit der ausdrücklichen Lehre „der Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe ... zugleich
auch die Notwendigkeit der Kirche bekräftigt, in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Tür
25
Sievernich, Die christliche Mission (Anm. 4), 240.
Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen (Anm. 2), Nr. 25).
27
Ratzinger, Kein Heil ausserhalb der Kirche? (Anm. 3), 341.
28
Ebd., 343.
29
Vgl. ebd. 354f.
30
Vgl. u.a. die Betonung der einzigartige Mittlerschaft Jesu in: Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen
(Anm. 2), Nr. 32-49).
26
7
eintreten“. So muss der Dialog in der Überzeugung geführt und realisiert werden, „dass die Kirche der
eigentliche Weg des Heiles ist und dass sie allein im Besitz der Fülle der Heilsmittel ist“ (Redemptoris missio 55).
Jenseits des ekklesiozentrischen Exklusivismus und des christozentrischen Inklusivismus wird in der heutigen
Theologie auch das Modell des Pluralismus vertreten. Es betont die Gleichrangigkeit der Religionen und deren
„Heilswege“, und untersucht ihre Geltungsansprüche vergleichend. Nicht klar ist, wie ein solches Modell die
„Einzigartigkeit“ bzw. die universale Mittlerschaft Christi und die christliche Mission begründen kann. Die
Mission, so sagt man, sei obsolet geworden, denn sie Ziele nur auf Bekehrung aus und übersehe, dass die
anderen Religionen auch legitime Heilswege seien, auf denen die Menschen Gott begegnen und ihr Heil
gewinnen können. Wichtig sei daher nicht die Bekehrung, sondern dass ein jeder zutiefst seinen eigenen
Glauben, den seiner Kultur entsprechenden Glauben lebt. Diese moderne Mentalität, die auch im Hause der
Theologie weit verbreitet ist und zu „falschen“ Weichenstellungen geführt hat, stellt eine „interne
Schwierigkeit“ für die Wahrnehmung der Missionsaufgabe dar.
Gewiss, die Pluralistische Theologie der Religionen hat auch ein edles wissenschaftliches Motiv: sie möchte
allen Religionen gleichermassen gerecht werden. Aber abgesehen davon, ob das wissenschaftlich überhaupt
möglich ist, ohne auf den eigenen theologischen Standort zu verzichten, hat diese Art von Theologie damit den
Abschied von der Theologie als offenbarungsgebundener Glaubenswissenschaft bekundet und den Übergang
zur vergleichenden Religionswissenschaft vollzogen. Der pluralistische Ansatz ist im Grunde nichts anderes als ein
„asiatischer Inklusivismus“: Er lädt uns ein, in’s Pantheon östlicher Religiosität miteinzutreten. Der Titel des
Buches von John Hick kann hier als programmatisch angesehen werden: God Has Many Names.31 Dahinter steht
ein vergleichbares Denkmodell, wie es uns in den neuen universalen Entwürfen der östlichen Religionen
begegnet. Es ist die Vorstellung von einem namenlosen Alleinen, von einem Absoluten, Göttlichen.
Kulturspezifisch und geschichtsbedingt offenbart es sich in den verschiedenen Religionen auf unterschiedliche,
aber auf gleich gültige Weise. Zu ihnen gehört auch die christliche Offenbarung. Auch sie hat nur einen
bestimmten Namen für das Unbenennbare, denn die Offenbarung musste naturgemäss in den unterschiedlichen
Zentren der menschlichen Kultur pluralistisch und getrennt erfolgen. Und Jesus Christus? Er wird zu einem mehr
der mancherlei Namensträger dieses sich kulturspezifisch offenbarenden Alleinen, Göttlichen.32
3. Unterwegs zu einem aufgeklärten Inklusivismus
Sinn macht m. E. ein „aufgeklärter Inklusivismus“, der von folgenden Merkmalen geprägt ist:
(1) Grundsätzlich positive Wertung der anderen Religionen als Ausdruck der semina verbi unter gleichzeitiger
Zulassung gewisser Fragen, ohne sie dogmatisch stillzulegen: Warum haben viele Völker Jahrhunderte lang keine
Kenntnis von der Offenbarungsgeschichte im Alten und im Neuen Testament gehabt? Warum entstehen auch
„nach Christus“ neue Religionen, nicht zuletzt als Folge der christlichen Missionsgeschichte selbst? Gibt es nur in
den anderen Religionen „Ambiguität“, während im Christentum alles klar ist? Warum ist die Religionsgeschichte
des Christentums von vielen Pervertierungen und Depravationen nicht frei, die in der allgemeinen
Religionsgeschichte vorkommen – wenn es auch wahr ist, dass Christen unter Rückbesinnung auf die normative
Kraft des Evangeliums jene immer wieder in Frage stellten und überwanden?
(2) Differenzierte Typologie der Religionen: Das rabbinische Judentum kann als Weiterleben des alten Israels
verstanden werden, aber auch als eine nebenchristliche Religion, sofern es mit dem Christentum um die
Interpretation der Tora und der Propheten konkurriert. Der Islam – als Paradigma einer nachchristlichen Religion
mit einem Beerbungsanspruch gegenüber dem Christentum – stellt die Letztgültigkeit der christlichen
Offenbarung und ihres Gottesverständnisses radikal in Frage, verhält sich also deutlich „divergent“ zum
Christentum. Aber er weist auch in seiner Theozentrik, Eschatologie und Ethik wichtige Konvergenzen auf. Wie
alle nachchristlichen Religionen betreibt er eine Christentumskritik, die als Fremdprophetie zu verstehen ist. Die
ursprüngliche Wahrnehmung des Islam als „christliche Häresie“ muss heute der nachdenklichen Frage nach dem
weichen, was uns Gott mit dem Islam sagen möchte. Ähnliches gilt für die Bahai-Religion und andere Formen
nachchristlicher Religiosität (etwa für die indianischen und afroamerikanischen Synkretismen sowie die CargoKulte), die als indirekte Folge christlicher Mission entstanden sind. Asiatische, afrikanische oder indianische
Religionen sind als ausserchristliche Religionen zu verstehen, die erst durch das missionierende Christentum mit
der biblischen Offenbarungstradition in Berührung kamen, auch wenn sie zeitlich „vor Christus“ entstanden
sind. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass es für weite Teile der Menschheit „ponderable“ Alternativen zum
Christentum gibt, die ihre Faszination nicht verloren haben.33
(3) Pneumatologische Ausrichtung: Wenn wir das Gespräch mit den Religionen Asiens ernsthaft suchen,
werden wir schliesslich in der Missionstheologie stärker pneumatologisch denken müssen im Sinne jener Sätze in
der Schrift, „die den allgemeinen Heilswillen Gottes rühmen, den Geist durch alle Propheten reden lassen und
31
1. Aufl.: Philadelphia 1982, deutsch: Gott und seine vielen Namen, 2. Aufl.: Frankfurt am Main 2002. Vgl. dazu u.a. Charles Morerod, La
philosophie des religions de John Hick. La continuité des principes la période « chrétienne orthodoxe » à la période « pluraliste », Paris 2006.
32
Vgl. dazu Horst Bürkle, Die Pluralität der Religionen und die Sendung der Kirche. (Typoskript), Bonn 1995, S. 10f.
33
Vgl. dazu Carsten Colpe, Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung, München 1980 (darin: Die
Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt, 54-66; Drängt die Religionsgeschichte nach einer Summe?, 251-277; Nicht „Theologie der
Religionsgeschichte“, sondern „Formalisierung religionsgeschichtlicher Kategorien zur Verwendung für theologische Aussagen“, 278-288);
ders., Das Phänomen nachchristlicher Religion in Mythos und Messianismus, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und
Religionsphilosophie 9 (1967) 42-87.
8
ihn ausgegossen wissen über alles Fleisch“.34 Eingangs sagten wir ja mit dem Missionsdekret, dass der Heilige
Geist schon in der Welt wirkte, ehe Christus verherrlicht wurde, und dass er bisweilen sogar sichtbar der
apostolischen Tätigkeit vorangeht. Eine konsequent pneumatologisch geprägte Missionstheologie wäre an der
Zeit.
4. Warum heute noch Mission?
Inklusivistische Ansätze standen immer im Verdacht, missionarischen Defätismus hervorzurufen. Auf einen
solchen infolge der ersten Rezeption des Konzils ging Paul VI. in Evangelii nuntiandi (8.12.1975) ein, nicht
zufällig am 10. Jahrestag des feierlichen Abschlusses des Konzils: „Im übrigen, so fügt man hinzu, wozu
überhaupt das Evangelium verkünden, wo doch die Menschen durch die Rechtschaffenheit des Herzens zum Heil
gelangen können. Ausserdem weiss man doch, dass die Welt und die Geschichte erfüllt sind von ‚semina Verbi‘:
wäre es da nicht eine Illusion zu behaupten, das Evangelium dorthin zu bringen, wo es schon immer in diesen
Samenkörnern anwesend ist, die der Herr selbst dort gesät hat? Wer sich einmal die Mühe macht, in den
Konzilsdokumenten den Fragen auf den Grund zu gehen, welche diese ‚Alibis‘ hier allzu oberflächlich verwerten,
der findet dort eine völlig andere Sicht der Dinge“. Paul VI. bekräftigt dann die Pflicht zur Mission auf der
Grundlage des Konzils, d.h. eingedenk der Religionsfreiheit „und in absolutem Respekt vor den freien
Entscheidungen, die das Gewissen trifft“ (vgl. Dignitatis humanae 4). Gewiss könne Gott das Heil bei wem er
will auf ausserordentlichen Wegen, „die er weiss“ (Ad gentes 7), wirken. Doch sein Sohn sei gerade dazu
gekommen, „um uns durch sein Wort und sein Leben die ordentlichen Heilswege zu offenbaren“, wie es dem
christozentrischen Inklusivismus entspricht. Anschliessend gibt Paul VI. zu verstehen, dass die Evangelisierung
nicht so sehr zum Heil der anderen unerlässlich ist, sondern zu unserer eigenen Rettung: „Die Menschen können
durch die Barmherzigkeit Gottes auf anderen Wegen gerettet werden, auch wenn wir ihnen das Evangelium
nicht verkünden; wie aber können wir uns retten, wenn wir aus Nachlässigkeit, Angst, Scham – was der hl.
Paulus ‚sich des Evangeliums schämen‘ (Röm 1,16) nennt – oder infolge falscher Ideen es unterlassen, dieses zu
verkünden? Denn das heisst, Gottes Anruf zu verraten, der durch die Stimme der Diener des Evangeliums den
Samen wachsen lassen will; es hängt von uns ab, ob dieser zu einem Baum heranwachsen und reiche Frucht
bringen kann“ (Evangelii nuntiandi 80) Hier bekommt das paulinische „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht
verkünde!“ (1 Kor 9,16), eine Pointe, die im Sinne des aufgeklärten Inklusivismus wäre. Denn zur christlichen
Sendung gehört auch ihre inkarnatorische Dynamik: Genauso wie „das Heil von den Juden kommt“ (Joh 4,22)
will Gott, dass wir als Diener des Evangeliums und Mitarbeiter an seinem Weinberg zum Wachsen des Samens
seines Reiches beitragen.
Aber ein aufgeklärter Inklusivismus muss in der Begründung der Mission ein wenig weiter gehen. Die in
vielen lehramtlichen Texten vorhandene Dialektik zwischen der Fülle des Heils, der Gnade und der Wahrheit in
der Kirche einerseits und der defizitären Lage in anderen Religionen andererseits, so dass die Evangelisierung
nötig sei, um die dortigen Schattenseiten mit dem Licht des Glaubens zu erhellen und die Menschen zur Taufe
einzuladen, sollte um folgende Perspektive erweitert werden: dass uns unser Glaube und unsere Hoffnung nur
im Angesicht der Anfechtungen und Standpunkte, ja, der „Fremdprophetie“ der anderen richtig bewusst
werden können (vgl. z.B. Gaudium et spes 44). Das gehört auch zum kenotischen, inkarnatorischen Weg der
Kirche durch die Geschichte. Joseph Ratzinger selbst hat 1967 die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs
ähnlich begründet: weil der Glaube sich besser versteht, „in dem er den anderen verstehen lernt“.35
Angesichts des immer deutlichen Verschwindens der soziologischen Gestalt des Christentums, die seit der
Konfessionalisierung der Normalfall war, wird immer klarer, dass im 21. Jahrhunderts eine missionarische
Pastoral unbedingt nötig ist. Gefragt ist heute nicht die Konservierung des Bestandes oder die bequeme
Verwaltung der kleinen Herde, „sondern missionarische Existenz“,36 wie in der Antike: „Wir treten jetzt in eine
Zeit ein, in der christlicher Glaube missionarisch-evangelisierend in der Generationenabfolge weitergegeben
werden muss. Damit nähern wir uns – freilich in einem völlig anderen gesellschaftlichen Umfeld – in
bemerkenswerter Weise wieder der Situation des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten seines
Bestehens an. Dort trafen die Menschen, die sich einer christlichen Gemeinde anschlossen, in der Regel die
Entscheidung für Taufe und Nachfolge Christi eigenständig. Selbst wenn schon sehr früh auch Kleinstkinder (im
Rahmen der antiken Grossfamilie) getauft wurden, so war der Anschluss an die christliche Kirche für den
Einzelnen eben doch nicht selbstverständlich. Angesichts der ‚Fremdheit’ des Christlichen in einer
religionsgesättigten Welt der Spätantike – übrigens eine interessante Parallele zum heutigen ‚Religionsboom’ in
einer nachchristlichen Gesellschaft – waren die Interessierten immer wieder neu herausgefordert, sich bewusst
für den ‚Mehrwert’ des Christlichen zu entscheiden“.37.
Wenn das so ist, dann ist es auch Zeit, dass wir uns im 21. Jahrhundert wieder auf die Stärken des
Christentums in den Anfängen zurückbesinnen: auf den neuen Volk-Gottes-Begriff (die Migrationsgemeinden
34
Rahner, Aspekte europäischer Theologie (Anm. 18), 102f.
Ratzinger, Konzilsaussagen über die Mission ausserhalb des Missionsdekrets (Anm. 10), 47.
36
Joseph Ratzinger, Weltoffene Kirche?, in: ders., Volk Gottes (Anm. 3), 282–301, hier 300.
37
„Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein (vom 26.11.2000), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen
Bischöfe 68), Bonn 2000, 34.
35
9
und die Migrationspriester bei uns stellen auch eine Chance dar, „lebendige Katholizität“ und Austausch der
Gaben in der Ortskirche zu gestalten),38 auf die Translations- und Inkulturationsfähigkeit, auf die neue Moral
bzw. auf die Kultur der Barmherzigkeit und nicht zuletzt auch auf eine missionarische Spiritualität, die, wie das
2. Vatikanische Konzil betont hat, von Bemühen um die „Christusförmigkeit“ und der Suche nach dem Antlitz
Christi in den Armen und Leidenden geprägt ist (Lumen gentium 8); eine Spiritualität, die „Freude und
Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“, als
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ (Gaudium et spes 1) betrachtet; eine Spiritualität
schliesslich, die mit der mystischen Theologie weiss, dass Gott der Haupthandelnde ist, der alle Menschen zu sich
führen möchte und zu seinem Bild und Gleichnis innerlich bearbeitet (Johannes vom Kreuz, Gaudium et spes
22), während wir nur Mitarbeiter an seinem Acker sind. Wir haben im Bewusstsein der Schattenseiten der
Missionsgeschichte demütig und gelassen zu säen, und für eine gute Ernte zu beten, aber auch dafür zu sorgen,
dass wir Gott mit unserem Gegenzeugnis nicht im Wege stehen: „Das Wachsen und Gedeihen besorgt Gott
selbst“.39
38
Vgl. Mariano Delgado, Lebendige Katholizität Gestalten. Auf dem Weg zu einem Miteinander von einheimischen und zugewanderten
Katholiken, in: Stimmen der Zeit 218 (2000) 595-608.
39
Ebd., 14.
10
Herunterladen