381 © 2005 Schattauer GmbH Therapiealgorithmen in der Depressionsbehandlung – Das Berliner Algorithmusprojekt K. Wiethoff1, M. Bauer1, T. Baghai2, A. Heinz1, M. Adli1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Mitte Charité – Universitätsmedizin Berlin 2 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig Maximilians Universität München 1 Schlüsselwörter Keywords Therapiealgorithmus, Depression, Therapieresistenz, Berliner Algorithmusprojekt treatment algorithms, depression, treatment resistance, German Algorithm Project Zusammenfassung Summary Therapieresistenz stellt in der Depressionsbehandlung nach wie vor ein großes Problem dar. Als ein Mittel zur Optimierung der Behandlung depressiver Erkrankungen gelten Therapiealgorithmen, bei denen es sich um explizite und systematisierte Behandlungsprotokolle handelt. Sie enthalten standardisierte Handlungsanweisungen für therapeutische Entscheidungen, die Diagnosestellung, Definition des Therapieziels, Definition der Kontrollinstrumente und Kontrolle des Therapieerfolges in einem zeitlich festgelegten Rahmen. Ziel des mehrphasigen Berliner Algorithmusprojekt ist die Evaluierung algorithmusgestützter Depressionsbehandlung im Vergleich zur üblichen Therapie nach freier Arztentscheidung. Darüber hinaus werden verschiedene Folgestrategien bei Patienten, die nicht adäquat auf eine initiale antidepressive Monotherapie angesprochen haben, miteinander verglichen. Die vorläufigen Ergebnisse dieser und weiterer Algorithmusstudien zeigen den Nutzen systematischer Therapiealgorithmen in der Depressionsbehandlung in Bezug auf das Therapieergebnis, die Qualität der Behandlung, gesundheitsökonomische Parameter und die Zufriedenheit der Patienten. Treatment resistance remains a major clinical problem in the therapy of major depression. Algorithms are explicit and systematic treatment protocols. They are considered as key instruments in optimizing the therapy of depressive disorders. Treatment algorithms base on standardized procedures for medical decision making, diagnostic consideration, definition of the aim of treatments, definition of evaluation instruments and evaluation of treatment response, all of which within a predefined timeframe. The multiphasic German Algorithm Project („Berliner Algorithmusprojekt”) aims at comparing algorithm guided treatment with treatment as usual. Furthermore it compares different “second-step-strategies” in case of non-response to an initial antidepressant monotherapy. The preliminary results of this ongoing project and other algorithm studies show the benefit of treatment algorithms for treatment outcome, therapy quality, cost-effectiveness and patients’ satisfaction. Algorithms in the treatment of depression – The German Algorithm Project („Berliner Algorithmusprojekt”) Nervenheilkunde 2005; 24: 381 – 7 D ie Behandlungsmöglichkeiten depressiver Erkrankungen wurden aufgrund der Entwicklung neuer Antidepressiva und der Etablierung von Medikamentenkombinationen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Trotz der erheblichen Zunahme an Behandlungsoptionen und neuen, besser verträglichen Substanzen bleiben therapieresistente depressive Störungen jedoch bis heute ein großes Problem (7, 26, 29, 30, 36). Allein der quantitative Zuwachs an Therapiemöglichkeiten ist somit kein Garant für eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse. Während etwa 30% der antidepressiv behandelten depressiven Patienten remittieren, zeigen ca. 30 bis 50% der Patienten unabhängig vom ausgewählten Antidepressivum eine ungenügende Response auf die Behandlung (5, 38). Etwa 10 bis 15% der Patienten sprechen auch auf mehrere Therapieversuche nicht an. Verschiedene Studien zeigen, dass eine unvollständige Response bzw. persistierende subsyndromale Störungen mit einem chronischen Verlauf und einer erhöhten Rezidivrate assoziiert sind (20, 31, 38), und dass darüber hinaus die Responsewahrscheinlichkeit mit der Zahl erfolgter Thera- pieversuche sinkt (5, 34). Vor dem Hintergrund, dass die Major Depression eine mittlere Lebenszeitprävalenz von etwa 16% hat (43) und die mittleren depressions-spezifischen Behandlungskosten pro Patient in Deutschland bei 2.541 Euro pro Jahr liegen (37), spielt die Vermeidung oder Überwindung therapieresistenter Verläufe eine entscheidende Rolle bei der Therapie der Depression. Die herausragende weltweite medizinische und gesundheitspolitische Bedeutung dieser Krankheitsgruppe wurde auch in der Global Burden of Disease Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltbank deutlich (28). Eine inadäquate Behandlungsdurchführung mit teilweise wahllos aneinander gereihten, unkontrolliert oder inadäquat vorgenommenen Therapien, z.B. unzureichende Behandlungsdauer und Dosierung oder fehlende Nutzung von Therapiestrategien, die bei Therapieresistenz empfohlen werden, gelten als Hauptursache für ausbleibende Behandlungserfolge und lange Krankenhausverweildauer trotz medikamentöser Behandlung (3, 10, 14, 19). Die Vielzahl der heute verfügbaren Behandlungsoptionen, die einerseits einen großen medizinischen Fortschritt darstellt, erschwert andererseits im klinischen Alltag häufig die Auswahl der richtigen medikamentösen Behandlungsstrategie für den Einzelfall (26). Vor diesem Hintergrund werden Therapiealgorithmen, die strukturierte und systematische Behandlungsempfehlungen für den Fall anbieten, dass eine adäquat durchgeführte antidepressive Monotherapie nicht den zuvor definierten Behandlungserfolg erzielt, als eine Maßnahme zur Vermeidung und Überwindung von Therapieresistenz angesehen (16). Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Nervenheilkunde 5/2005 382 Wiethoff et al. Therapiealgorithmen – Definition Bei Therapiealgorithmen handelt es sich um explizite Behandlungsprotokolle, die in sequenzieller Abfolge Behandlungsempfehlungen vorgeben. Wesentliche Elemente von Therapiealgorithmen sind ein zuvor festgelegtes Therapieziel (in der Regel: Remission bzw. Response) und die standardisierte Evaluation desTherapieerfolgs (meist in Form von psychopathometrischen Skalen) zu kritischen Entscheidungszeitpunkten. An diesen Entscheidungszeitpunkten wird das Ansprechen auf die Behandlungsstrategie erfasst und es werden spezifische Behandlungsempfehlungen abgeleitet, die den zuvor festgelegten Regeln des Algorithmus entsprechen. Therapiealgorithmen zeichnen sich somit durch eine hohe Spezifität und Standardisierung aus und liefern einen strukturierten Rahmen für das weitere Vorgehen, wenn die bisherige Therapie nicht ausreichend wirksam ist (15). Ziel einer adäquaten Depressionsbehandlung ist die vollständige Symptomremission und Wiederherstellung der psychosozialen Funktionsfähigkeit bei minimaler Belastung durch unerwünschte Nebenwirkungen (9, 34). Nutzen und Risiken algorithmusgestützter Depressionsbehandlung Mit der Entwicklung von systematischen Behandlungsansätzen wird eine Minimierung der Varianz in den Behandlungsstrategien und ein optimierter Einsatz der zur Verfügung stehenden Therapiestrategien angestrebt, mit dem Ziel die Prozessqualität der Behandlung zu steigern. Bessere Behandlungsergebnisse, die Vermeidung therapieresistenter Verläufe und die Senkung der direkten und indirekten Krankheitskosten sind die Konsequenzen (32). Therapiealgorithmen geben den medizinischen Entscheidungen während eines Behandlungsfalles einen einheitlichen und standardisierten Rahmen, sodass es verschiedenen Ärzten, Nervenheilkunde 5/2005 die denselben Patienten behandeln, ermöglicht wird eine aufeinander abgestimmte Therapie durchzuführen. Die standardisierte Dokumentation des Behandlungsverlaufs kann zu einer Verbesserung der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Behandlungsebenen beitragen und kann den Patienten durch diverse ambulante und stationäre Behandlungseinrichtungen begleiten. Die Behandlung wird nahtlos, ohne unnötige Strategiewechsel oder zu lange Beobachtungszeiträume fortgesetzt. Therapiealgorithmen bieten auch die Möglichkeit, individuelle Behandlungsverläufe an einem festgelegten Standard zu messen, um z.B. das Ausmaß an Therapieresistenz eines einzelnen Patienten zu bestimmen. Neben den Vorteilen, die von der algorithmusgestützten Behandlung erwartet werden, bergen Therapiealgorithmen und -leitlinien auch Risiken (25). Mangelnde empirische Evidenz, Expertenbias in der Formulierung der Algorithmen, Schwierigkeiten bei der Umsetzung im klinischen Alltag sowie die falsche Anwendung der Algorithmen sind als die häufigsten Probleme zu nennen (35). In Einzelfällen mag es auch notwendig sein, die Vorgaben des Algorithmus mit den individuellen Bedürfnissen des Patienten abzustimmen. Allerdings entsteht selbst in den Fällen, in denen von Algorithmusvorgaben abgewichen wird, durch die Notwendigkeit der stichhaltigen Begründung und der Entwicklung von Alternativstrategien ein expliziter medizinischer Entscheidungsprozess, der zur Qualitätssicherung in der Behandlung beitragen kann (24). Eine kontinuierliche Anpassung der Algorithmusvorgaben an den aktuellen Stand wissenschaftlicher Evidenz muss selbstverständlich vorgenommen werden. Empirische Studien zur algorithmusgestützten Depressionsbehandlung Die heutigen Leitlinien und Therapiealgorithmen beruhen hauptsächlich auf konsensbasierten Behandlungsprotokollen. Deren Einzelschritte sind zwar evidenzbasiert (6, 7), die optimaleAbfolge von bestimmten Therapieschritten beruht jedoch überwiegend auf Expertenkonsens und weniger auf Ergebnissen kontrollierter, klinischer Studien. Welche Strategie oder welches Medikament bei Non-response auf eine initiale adäquat durchgeführte antidepressive Monotherapie zu wählen ist, kann derzeit nicht anhand empirischer Daten beantwortet werden (1, 12, 34). Ziel des Berliner Algorithmusprojekt ist daher die Evaluierung algorithmusgestützter Depressionsbehandlung im Vergleich zur üblichen Therapie nach freier Arztentscheidung. Darüber hinaus werden verschiedene Folgestrategien bei Patienten, die nicht adäquat auf eine initiale antidepressive Monotherapie angesprochen haben, miteinander verglichen. Die Ergebnisse dieser und weiterer, im folgenden dargestellten Studien zur algorithmus- und leitliniengestützten Therapie depressiver Erkrankungen haben zum Ziel, die Frage nach Durchführbarkeit, Akzeptanz, Wirksamkeit und gesundheitsökonomischer Relevanz algorithmusgestützter Depressionsbehandlung zu beantworten. Das Berliner Algorithmusprojekt ist ein dreiphasiges Projekt zur Evaluierung von Therapiealgorithmen in der Behandlung stationärer Patienten mit depressiven Erkrankungen (2, 3).Von 1990 bis 1992 wurde der Stufenplan für die Therapie von Patienten mit depressiven Syndromen im Rahmen einer offenen Anwendungsbeobachtung hinsichtlich seiner Praktikabilität, Akzeptanz und therapeutischen Wirkungen geprüft (Phase 1) (1, 24). Dieser Stufenplan beinhaltet eine festgelegteAbfolge vonTherapieschritten, regelmäßige Therapiekontrollen in Form standardisierter Befundbeurteilung mithilfe etablierter Fremdbeurteilungsskalen depressiver Symptomatik (Bech-Rafaelsen-Melancholie-Skala, BRMS) (8), wovon die Entscheidung über Beibehaltung oder Änderung der Therapiestrategie zu vorgegebenen Zeitpunkten sowie die konsequente Durchführung einzelner Therapieschritte abhängig gemacht wurden. Der Stufenplan in Phase 1 umfasste die Abfolge von bis zu vier aufeinander folgenden Behandlungsschritten. Von 248 Patienten, die im Studienzeitraum die Einschlusskriterien erfüllten, wurden 119 (48%) eingeschlossen. Von den Patienten, die an der Behandlung nach Stufenplan teil- Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 384 Wiethoff et al. nahmen, wiesen 38% Remission auf (BRMS-Wert ≤ 5), 34% erreichten das klassische Responsekriterium (BRMS-Reduktion ≥ 50%), 15% zeigten eine Teilresponse (BRMS-Reduktion 26% bis 49%) und weitere 13% respondierten nicht (1). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Akzeptanz von Therapiealgorithmen bei nicht geschulten, „algorithmusnaiven“ Klinikärzten eher moderat ausfällt. Entsprechende Vorbereitungen und Instruktion der behandelnden Ärzte sind demnach zu empfehlen. Nach Einschluss in die Studie zeigten sich jedoch eine relativ hohe Therapieerfolgsrate und eine gleichzeitig relativ geringe DropOut-Rate, so dass die Anwendbarkeit des Vorgehens insgesamt als gut bewertet werden kann. Phase 2 („Berliner Stufenplanstudie“) unterzog den Berliner Stufenplanalgorithmus einer randomisierten und kontrollierten Studie im Vergleich mit der üblichen Therapie nach freiem klinischen Ermessen (3, 6). In dieser Phase des Projektes umfasste der Stufenplan bis zu zehn Therapiestufen, wobei das Ansprechen auf die jeweilige Behandlung in 14-tägigen Abständen anhand der BRMS erfasst wurde. Von 160 möglichen Patienten wurden 148 in die Studie einbezogen. Es zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen beiden Behandlungsgruppen, wobei die nach Stufenplan behandelten Patienten u.a. weniger Therapiewechsel und weniger Polypharmazie erhielten (2). Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines definierten Zeitraums Remission zu erreichen, erwies sich unter der Stufenplanbehandlung als doppelt so groß im Vergleich zur Behandlung nach freiem ärztlichen Vorgehen (Hazard-Ratio: 2,0; p = 0,004). Die im Vergleich zu den nach üblichem Vorgehen behandelten Patienten höhere Drop-Out-Rate war größtenteils auf Algorithmusverstöße durch die behandelnden Ärzte („ärztliche Non-Compliance“) zurückzuführen. Der Medianwert für das Erreichen von Remission betrug 7,0 Wochen (± 0,9) für die Gruppe der nach Stufenplan behandelten Patienten sowie 12,3 Wochen (± 1,8) für Patienten der Kontrollgruppe (Survival Analyse, log rank: 8,64; p = 0,003). Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Nervenheilkunde 5/2005 Kompetenznetz Depression (Phase 3: „Algorithmusstudie“) werden zwei verschiedene Therapiealgorithmen (I: Berliner Stufenplan, II: Computerisiertes Dokumentationsund Expertensystem, CDES) mit der Standardbehandlung nach freier Arztentscheidung verglichen (Abb. 1). Innerhalb des Stufenplanalgorithmus werden drei verschiedene Vorgehensweisen bezüglich ihrer Wirksamkeit bei Non-response auf eine vierwöchige antidepressive Monotherapie gegenübergestellt: 1. Lithiumaugmentation, 2. hochdosierte Antidepressiva-Monotherapie, 3. Medikamentenwechsel. Das Ansprechen auf die jeweilige Therapiestufe wird 14-tägig zu kritischen Entscheidungszeitpunkten mittels der Hamilton-Depressionskala (17) untersucht. Beim CDES handelt es sich um eine Datenbank, in die Informationen zu Anamnese, Risikofaktoren und Vorbehandlung sowie Verlaufsinformationen in 14-tägigen Abständen für jeden Patienten eingehen. Ein über einen Algorithmus hieran verknüpftes Expertensystem setzt die Individualdaten mit einer Wahrscheinlichkeitsmatrix aus einem aus 650 Behandlungsfällen gewonne- nen und entsprechend aufbereiteten Datenpool ins Verhältnis (11). Die Wahrscheinlichkeit des therapeutischen Ansprechens auf eine bestimmte Strategie wird hierbei prospektiv berechnet und gegebenenfalls eine Veränderung der Pharmakotherapie vorgeschlagen. Das CDES bietet eine mehr auf den einzelnen Patienten abgestimmte algorithmusgestützte Behandlungsweise auf Kosten einer weniger standardisierten und expliziten Praxis. Hierdurch können verschiedene Grade von Standardisierung (z.B. hoch spezifizierte gegenüber individueller Behandlung) der Therapiealgorithmen miteinander verglichen werden. Die Phase 3 des Projekts begann 1999 und befindet sich noch bis Juni 2005 in der Rekrutierungsphase an sechs akademischen psychiatrischen Kliniken und an vier außeruniversitären psychiatrischen Einrichtungen. Das Ziel ist es, insgesamt 450 Patienten in die Studie aufzunehmen. Bis Ende Januar 2005 waren 403 Patienten rekrutiert. 50 Patienten befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch aktiv im Protokoll, 139 Patienten (34,5%) beendeten das Protokoll vorzeitig (Dropouts), ohne dass sich Abb. 1 Phase 3 des Berliner Algorithmusprojekt („Algorithmusstudie“) im Kompetenznetz Depression Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 385 Therapiealgorithmen in der Depressionsbehandlung diese bezüglich klinischer Variablen unterschieden, und 214 (53,1%) schlossen die Studie als Completer ab. Von diesen waren 192 (89,7%) remittiert (Gesamtscore in der Hamilton Depression Scale, HAMD-21 ≤ 9) (137 mit Bestätigungsrating nach 1 Woche, 56 ohne Bestätigungsrating). Die Remissionsrate betrug insgesamt 55,6% (Intention-to-treat-Ansatz), die der nach Algorithmus behandelten Patienten lag bei 56,3%, von den Patienten, die nach dem üblichen Vorgehen behandelt wurden, remittierten 51,1% (n.s.). Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die ohne weitere Vorgaben nach freier Arztentscheidung behandelt wurde, remittierten algorithmusgestützt behandelte Patienten (Gruppe I + Gruppe II) signifikant schneller (M = 33,14 Tage (± 19,2) vs. M = 39,73 Tage (± 23,8); t = –2,056; p = 0,041) (Completer-Analyse). Beim Texas Medication Algorithm Project (TMAP) handelt es sich um eine prospektive kontrollierte multizentrische USStudie zur Untersuchung der Wirksamkeit algorithmusgestützter Behandlungen bei unipolarer Depression, bipolaren affektiven Störungen und Schizophrenie, welche 1995 von dem Texas Department of Mental Health and Mental Retardation (TDMHMR) entwickelt wurde (34). Ergänzt wird dieser Therapiealgorithmus durch ein Patientenund Angehörigen-Edukationsprogramm, mit dem Ziel, deren Beteiligung an der Behandlungsplanung und -umsetzung auf der Grundlage umfassender Information zu ermöglichen (39). Datenerhebungen fanden zum Zeitpunkt des Studieneinschlusses (Baseline) sowie alle drei Monate für ein Jahr statt. Eine Stichprobe von 350 Patienten wurde in die Auswertung einbezogen – jeweils 175 nachAlgorithmus (ALGO) bzw. nach üblichem Vorgehen (TAU) behandelt. Die algorithmusgestützte Intervention führte zu statistisch und klinisch signifikant besseren Behandlungsergebnissen, was sich in einem signifikant stärkerem Symptomrückgang (IDS-C-30, IDS-SR-30) und einer signifikant stärkerenVerbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (SF-12 MHS) widerspiegelt (40). Die Unterschiede waren bereits nach drei Monaten statistisch signifikant und blieben über den Untersuchungszeitraum von neun Monaten konstant. Bei der Follow-up-Untersuchung nach zwölf Monaten zeigte die LOCF (last observation carried forward)-Analyse eine Response bei 19,4% der Kontrollgruppe und bei 26,4% der Interventionsgruppe. Die Remissionsrate in beiden Gruppen war indes vergleichsweise gering, was vermutlich an Ausmaß und Schwere somatischer Komorbiditäten, den ungünstigen sozialen Variablen und der hohen Rate an Missbrauchsund Abhängigkeitserkrankungen in der untersuchten Stichprobe lag (32). Explorative Analysen deuten ferner darauf hin, dass das algorithmusgestützte Vorgehen bei den schwer (IDS-C-30-Wert = 33–49) und den sehr schwer Kranken (IDS-C-30 >= 50) überlegen ist. Ein weiteres, NIMH-gefördertes Großprojekt, „Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression“ (STAR*D), vergleicht unterschiedliche Folgestrategien bei Non-respondern auf eine initiale Antidepressiva-Monotherapie bei ambulant behandelten Patienten mit Major Depression und befindet sich derzeit noch in der Rekrutierungsphase (12, 33, 42). Patienten ohne ein adäquates Ansprechen auf eine initiale Behandlung mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) werden randomisiert einer von vier Folgestrategien zugewiesen: Wechsel des Medikamentes innerhalb oder zwischen den Wirkstoffgruppen sowie drei verschiedene Augmentationsmöglichkeiten. Outcome-Variablen sind hierbei Symptome, Funktion, Beeinträchtigung durch Nebenwirkungen, Lebensqualität, Behandlungskosten und Zufriedenheit der Patienten. Bei dem Projekt STAR*D handelt es sich um eine multizentrische, prospektive, sequenziell randomisierte, kontrollierte Studie; geplant ist der Einschluss von 4.000 Patienten. Weitere randomisierte kontrollierte Studien an großen Stichproben konnten den Vorteil eines systematischen und standardisierten Managements von Patienten mit depressiven Erkrankungen im Vergleich zur konventionellen Versorgung im primärärztlichen bzw. hausärztlichen Bereich zeigen (21, 22, 23). Katon und Kollegen (23) verglichen im Rahmen ihrer Studie, die im wesentlichen ein multidimensionales Patientenmanagement umfasste, erstmals eine leitliniengestützte Depressionsbehandlung mit der üblichen Behandlung. Diese Studie Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Nervenheilkunde 5/2005 386 Wiethoff et al. zeigte einen Behandlungsvorteil für die Gruppe, die leitliniengestützt und nach dem intensivierten Versorgungsprinzip behandelt wurde, wobei insbesondere Patienten mit einer majoren Depression von der Intervention profitierten (Responseraten: 74% Interventionsgruppe versus 44% Kontrollgruppe). Die Intervention führte darüber hinaus bei den schwer depressiven Patienten zu einer größeren Zufriedenheit mit der Behandlung und sowohl bei Patienten mit einer minoren als auch bei Patienten mit einer majoren Depression zu einer höheren Medikamenten-Compliance im Vergleich zu der Kontrollgruppe, die die übliche Behandlung erhielt. Auch die langfristige Überlegenheit bezüglich Wirksamkeit und Compliance einer derart intensivierten Behandlung nach drei und sechs Monaten (22) sowie 28 Monaten (21) konnte gezeigt werden. Diese positiven Ergebnisse wurden von einer Multicenter-Studie (Improving MoodPromoting Access to Collaborative Treatment, IMPACT) (41) bestätigt. Die Studie zeigte eine höhere Wirksamkeit eines intensivierten Behandlungsmanagements (Psychoedukation und algorithmusgestützte Pharmakotherapie) (n = 906) im Vergleich zur konventionellen Behandlung (n = 895) in einer gerontopsychiatrischen primärärztlich behandelten Stichprobe. Hier ergeben sich demnach Hinweise auf eine Überlegenheit eines standardisierten Patientenmanagements gegenüber der üblichen Patientenführung im ambulanten primärärztlichen Setting. Im Rahmen weiterer Projekte wurden Therapiealgorithmen für spezielle Patientenpopulationen entwickelt (13, 27). Flint und Rifat (13) berichten über eine gerontopsychiatrische Patientengruppe mit Major Depression, deren Behandlung einer systematischen sequenziellen Vorgehensweise folgte. 67% ihrer Stichprobe sprachen auf eine Nortriptylin-Monotherapie, gefolgt von einer Lithiumaugmentation bei Nonrespondern auf Nortriptylin, an (HAMD-17 < 10). Die Gesamtansprechrate lag bei 84% im Intention-to-treat-Ansatz. Ebenfalls speziell für geriatrische, ambulant behandelte Patienten wurde der so genannte PROSPECT (Prevention of Suicide in Primary Care Elderly – Collaborative Trial)-Algorithmus entwickelt, der ein intensives PaNervenheilkunde 5/2005 tientenmanagement umfasst (27). PROSPECT sieht vor, dass ein Spezialist eng mit dem Hausarzt bei der Behandlung des depressiven Patienten zusammenarbeitet. Die Aufgaben des Spezialisten umfassen die Psychoedukation der Patienten und der Angehörigen, die Erfassung und den Umgang mit komorbiden körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen, die mit der antidepressiven Therapie interferieren könnten, die Überwachung der Compliance, die Beachtung und Behandlung von Nebenwirkungen sowie die reguläre Überwachung des Behandlungserfolgs anhand der Hamilton-Depressionsskala. Die Entwicklung des Algorithmus basiert auf bestehenden Leitlinien (4, 15), die aktualisiert und auf die speziellen Belange geriatrischer Patienten angepasst wurden. Eine interpersonelle Psychotherapie ist vorgesehen, wenn die Pharmakotherapie erfolglos ist bzw. nicht toleriert wird. Empirische Ergebnisse zur Anwendbarkeit oder zum Nutzen liegen jedoch bislang nicht vor. Die Evaluierung einer algorithmusgestützten Behandlung an 117 ambulanten Patienten mit depressiven Erkrankungen wird von Hawley et al. (18) referiert. Behandlungsentscheidungen richteten sich nach der Beurteilung der Symptome auf der Montgomery-Asberg-Depression-Scale (MADRS), die in 6-wöchigen Abständen erfolgte. 35 (30%) Patienten sprachen auf die Behandlung an (MADRS < 11 oder MADRS-Reduktion > 67%), 12 (10%) zeigten keine ausreichende Response und 70 (60%) brachen die Studie meist wegen Protokollverstößen auf Patientenseite ab. Die für die Bewertung desTherapiealgorithmus herangezogenen Kriterien der Relevanz und Einfachheit wurden als gegeben betrachtet. Da Behandlungsabbrüche zumeist auf Verstöße auf Patientenseite zurückzuführen waren, wurde von den Autoren auch das dritte Kriterium der Akzeptanz (auf Behandlerseite) als erfüllt angesehen. Schlussfolgerung Angesichts der wachsenden Belastung durch depressive Erkrankungen (28), der steigenden Zahl von Therapieoptionen und der zunehmenden Notwendigkeit die Ge- sundheitskosten zu senken, gewinnt die Algorithmusforschung auch in der Psychiatrie zunehmend an Bedeutung. Insbesondere die häufig mehrere Monate dauernde Behandlung einer depressiven Episode lässt systematische und transparente Behandlungspläne notwendig erscheinen. Mit Einführung des DRG-Systems in der Psychiatrie wird damit zu rechnen sein, dass die stationäre Akutbehandlung psychiatrischer Erkrankungen drastisch verkürzt wird und der Hauptteil der Akuttherapie auch schwerer depressiver Erkrankungen aus der Klinik in den ambulanten und komplentären Bereich ausgelagert wird. In Anbetracht der in diesem Bereich im Vergleich zumAkutbehandlungssektor in der Regel knapperen personellen Ausstattung wird ohne die Anwendung systematischer Behandlungspläne kaum auszukommen sein. Mehrere Großprojekte (Berliner Algorithmusstudie, TMAP, STAR*D) und Studien (13, 18, 21) evaluieren derzeit Anwendbarkeit, Wirksamkeit, gesundheitsökonomische Parameter und Zufriedenheit der Patienten. Die vorliegenden Ergebnisse weisen zusammenfassend auf ein besseres klinisches Ergebnis der nach Algorithmus behandelten Patienten hin. Um die algorithmusgestützte Behandlung zu implementieren, bedarf es einer weiteren Bewertung der Wirksamkeit verschiedener Substanzen oder Behandlungsstrategien in unterschiedlichen Therapiestadien, wie dies bei STAR*D oder der Algorithmusstudie erfolgt. Bei chronischen Krankheitsverläufen mögen Anpassungen im Vorgehen notwendig sein, um die Compliance zu fördern. Welche Rolle beispielsweise Patientenpräferenzen und Werte bei der Entwicklung von Therapiealgorithmen im Hinblick auf Compliance spielen, wurde bislang nicht untersucht. Danksagung Diese Arbeit entstand im Rahmen des Kompetenznetzes Depression, Suizidalität und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt. Literatur 1. Adli M, Berghöfer A, Linden M, Helmchen H, Müller-Oerlinghausen B, Mackert A, Stamm T, Bauer M. Effectiveness and feasibility of a standardized stepwise drug treatment algorithm for Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-10-31 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 387 Therapiealgorithmen in der Depressionsbehandlung inpatients with depressive disorders – results of a two-year observational study. J Clin Psychiatr 2002; 63: 782–90. 2. Adli M, RushAJ, Moller HJ, Bauer M.Algorithms for optimizing the treatment of depression: making the right decision at the right time. Pharmacopsychiatry 2003; 36 (Suppl. 3): 222–9. 3. Adli M, Wiethoff K, Baghai T, Bauer M. 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