Vorlesung Bibelauslegung 2 Handout\374

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Öffentliche Vorlesung
Eine Bibel – viele Interpretationen.
Einführung in die Kunst der Schriftauslegung
Pfr. Markus Anker
Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 22.9. bis 3.11., 20.15 bis 21.30 Uhr,
HSG-Hauptgebäude, Raum 01-U203
22. September
Die Ursprachen und die Schwierigkeiten der Übersetzung
29. September
Die ältesten Texte: Papyrusfetzen und Schriftrollen
6. Oktober
Mündliche und schriftliche Überlieferungen
13. Oktober
Die Evangelisten als Theologen: das theologische Profil biblischer Texte
20. Oktober
Die Evangelisten als Geschichtenerzähler: die literarische Gestaltung biblischer Texte
27. Oktober
Text und Archäologie: Toter Buchstabe, sprechende Steine?
3. November
Gotteswort oder fromme Fiktion? Die umstrittene Bedeutung biblische Texte
Vorlesung 2, 29. September 2010
Die ältesten Texte: Papyrusfetzen und Schriftrollen
Inhalt:
1. Der Codex Sinaiticus
2. Bedeutung alter Handschriften für die Auslegung biblischer Texte
3. Die handschriftliche Überlieferung des Neuen Testaments
a) Die Papyri
b) Die Majuskeln / Codices
c) weitere Handschriften
d) Abweichungen der ältesten Texte von den heutigen
Bibelversionen
4. Textkritische Analyse von Matthäus 8,23
Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
1. Der Codex Sinaiticus
Erste Entdeckung 1844: Der 29 jähriger Privatdozent Lobegott Friedrich Konstantin von
Tischendorf (1815-1874)aus Leipzig findet im
Katharinenkloster am Berg Sinai 129 altgriechisch
beschriebene Pergamentblätter, die Teile der griechischen
Übersetzung des Alten Testaments enthalten.
Weitere Entdeckung 1859: Weitere Teile des Alten
Testaments sowie das vollständige Neue Testament und
zwei frühchristliche Werke (Barnabasbrief; Hirt des
Hermas).
Konstantin von Tischendorf
(1815-1874)
1860: Nach langen Verhandlungen wurde der Codex
Tischendorf zur Veröffentlichung in Leipzig und zur
Überreichung an den Zaren von Russland übergeben
überlassen.
1933: Die UdSSR verkauft den Codex Sinaiticus an Grossbritannien, die Bibelhandschrift
befindet sich noch heute in der British Library und ist dort ausgestellt. Andere Teile liegen
in der Nationalbibliothek Sankt Petersburg, der Universitätsbibliothek Leipzig und der
Bibliothek des Katharinenklosters auf dem Sinai.
1975: Im Katharinenkloster werden 47 Kisten voller Fragmente entdeckt, darunter 15
noch unveröffentlichte Blätter aus dem Codex Sinaiticus.
2006-10: In einem
Gemeinschaftsprojekt der British
Library, der Universitätsbibliothek
Leipzig, der Russischen
Nationalbibliothek und des
Katharinenklosters wird der
gesamte Codex digitalisiert und im
Internet veröffentlicht (
http://www.codexsinaiticus.org/de
).
Katharinenkloster am Berg Sinai, gegründet 557,
Fundort von ca. 3000 alten Handschriften.
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
Codex Sinaiticus in seiner heutigen Version (British Library)
Einst enthielt der Codex die ganze
Bibel in einer sorgfältigen Handschrift,
die aus ca. 720 Blättern bestanden
haben muß. Der erhaltene Codex
besteht aus 393 Blättern. Der Text ist
in vier Kolumnen zu je 48 Zeilen pro
Seite angeordnet, im Format etwa 38 x
34,3 cm, wobei jede Seite 43 x 38 cm
groß ist. Das Material besteht aus
feinem Pergament.
Einige Forscher halten sie für eines der
fünfzig Exemplare, die Kaiser
Konstantin I. als Förderer der
christlichen Kirche ca. 320 in Auftrag
gab.
Detail: Fingerabdruck eines Schreibers
2. Bedeutung alter Handschriften für die Auslegung biblischer Texte
Vor der Erfindung des Buchdrucks musste jedes Buch von Hand abgeschrieben werden.
Jeder Abschreiber, so gewissenhaft er auch sein mag, macht Fehler. Dieser Vorgang
wiederholt sich, so dass ein in dieser Weise überlieferter Text sich im Laufe der Zeit
immer mehr vom Original entfernt. In der Regel ist also der Zustand eines Textes
aus der Zeit vor Gutenberg, wie er in den Handschriften vorliegt, umso schlechter, je
weiter er zeitlich vom Original entfernt ist.
Allerdings hat in der Geschichte vieler Texte des Altertums und ganz besonders des NT
eine Gegenbewegung dieser schleichenden Verschlechterung Einhalt zu bieten versucht.
Es gab immer wieder Bemühungen, den Text zu verbessern. Das konnte durch den
Vergleich mit anderen Handschriften geschehen. Es finden sich in der Überlieferung aber
auch Konjekturen (Vermutungen über den richtigen Text). Durch diese wurden echte
oder vermeintliche Fehler berichtigt, ein tatsächlich oder vermeintlich schwieriger Text
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
geglättet, ein Mangel an Übereinstimmung mit ähnlichen Stücken desselben oder eines
verwandten Buches beseitigt oder auf andere Weise ein tatsächlich oder vermeintlich
besserer Text hergestellt.
So sammelte sich im Laufe der Geschichte des Textes, und in ganz besonderem Maße in
der Geschichte des ntl. Textes, eine ungeheure Menge von Lesarten zu ungezählten
Stellen an. Es gibt zur Zeit etwa 5000 Handschriften des NT in Griechisch, daneben über
10000 lateinische Übersetzungen und weitere 10000 Übersetzungen in andere Sprachen
– sie enthalten rund 200000 verschiedene Lesarten, d.h. 200000 Bibelstellen, die
unterschiedlich aufgeschrieben sind.
Die Textkritik ist nun das Verfahren, diese Fülle der Lesarten zu sichten und die
Entscheidung zu treffen, welche von ihnen im Einzelfall als vermutlich ursprünglich
angesehen werden darf.
Mit Textkritik wird das Bemühen und Verfahren bezeichnet, einen Text in einen Zustand
zurückzuversetzen, der dem Autograph (der Handschrift des Autors) möglichst nahe
kommt. Besser wäre es, wenn sich plötzlich irgendwo die Originalhandschrift – sagen wir
– des Markus fände: In diesem Fall wäre die Arbeit des Textkritikers, was das
Markusevangelium angeht, erledigt. Dieser Glücksfall wird jedoch nicht eintreten. Von
keinem einzigen Autor der Antike sind die Originalhandschriften erhalten.
Beispiel für Abweichungen in der Überlieferung in der Neuzeit:
In Goethes Faust Vers 3964 heißt es in der Hamburger Ausgabe (1949 u.ö.) «So Ehre
denn, wem Ehre gebührt!» In der Frankfurter Ausgabe (1995) heißt es aber: «So Ehre
dem, wem Ehre gebührt.» Die Lesart der Frankfurter Ausgabe findet sich in allen
gedruckten Ausgaben zu Goethes Lebzeiten (entsprechend Röm 13,7: «Ehre, dem Ehre
gebührt»); seit der Weimarer Ausgabe (1887-1919) war sie durchweg als fehlerhaft
durch das «denn» der (nicht als Setzervorlage dienenden) älteren Handschrift ersetzt
worden.
3. Die handschriftliche Überlieferung des Neuen Testaments
Die griechischen Handschriften sind die wichtigste Quelle der ntl.
Überlieferung, weil sie die Kopien von Kopien in der ursprünglichen
Sprache der Texte des NT sind und weil ihre ältesten Vertreter älter
sind als alle anderen Quellen. Es gibt vier Arten von Handschriften:
Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare. Dazu kommen die Übersetzungen und die
Kirchenväterzitate.
a) Die Papyri
Die ca. 100 Papyri mit biblischen Texten
stammen aus dem 2. bis 8.Jh. und
enthalten mehr oder weniger große
Fragmente von allen Büchern des NT.
Schrift: Großbuchstaben, ohne Trennungen,
Satzzeichen und Akzente aneinander
gereiht.
Papyrus (pl. Papyri) war der wichtigste
Beschreibstoff des Altertums. Vor allem in
der Antike erfüllte Papyrus eine ähnliche
Funktion wie unser heutiges Papier. Er
wurde in verschiedenen Qualitäten
gehandelt, wobei die billigste meist als
Verpackungsmaterial, ähnlich unserem
heutigen Packpapier verwendet wurde.
Papyrusstauden in Syrakus (Sizilien)
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
Die Herstellung des Beschreibstoffs Papyrus beschreibt im 1. Jh. n. Chr. Plinius der Ältere
im 13. Buch seiner Naturgeschichte. Das Mark des Pflanzenstängels wird in bis zu 4 cm
breite Streifen geschnitten, die leicht überlappend aneinandergelegt werden. Zwei
einander kreuzweise überlagernde Schichten dieser Streifen werden zu einem festen
Blatt gepresst und geklopft, das von der Klebekraft des stärkehaltigen Pflanzensafts
zusammengehalten wird. Dann wird die „Platte“ getrocknet. Danach kann man den
Papyrus bemalen oder beschreiben. Später wurde der Name Papyrus auf den in China
erfundenen Beschreibstoff – eben das Papier – übertragen, das seit dem 14. Jh. auch in
Europa seinen Siegeszug antrat.
Papyrus ist empfindlich gegen mechanische Beanspruchung, insbesondere Feuchtigkeit
und Wurmfraß, weist aber grundsätzlich eine erstaunlich hohe Haltbarkeit auf. Bis in die
Gegenwart sind Papyri nur im trockenen Wüstensand Nordafrikas (vor allem Ägyptens)
und des Vorderen Orients erhalten geblieben.
Wichtige Papyrusfunde mit biblischen Texten:
- in Oxyrhynchos
- Papyrus Egerton 2
- Papyrus 52: Ältestes Textfragment des Neuen
Testamentes, 1920 in Ägypten entdeckt; heute in
der John Rylands Library, Manchester.
9x5cm; mit 7 Zeilen; Enstehungszeit ca. 125–150
n.Chr.
Inhalt: eine Passage aus Johannes 18.
Papyrus 52
Pfr. Markus Anker
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Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
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b) Die Majuskeln / Codices
Seit dem 4.Jh. wurde der Beschreibstoff Papyrus
immer mehr durch Pergament ersetzt, Die Schrift ist
die gleiche wie die der Papyri. Die Handschriften sind
entweder Rollen – vor der Beschriftung werden
Pergamentblätter seitlich aneinandergeklebt und auf
einen Stock gerollt – oder Kodizes, eine frühe Form
unserer Bücher. Die ältstesten Manuskripte der
hebräischen Bibel sind in Form von Schriftrollen
erhalten. Neutestamentliche Handschriften sind
einzig in Kodex-Form überliefert. Das lässt sich auch
an kleinsten Bruchstücken sicher entscheiden, da
Blätter eines Kodex immer beidseitig beschrieben
wurden. Bis heute sind Rolle und Buch ein
Unterscheidungsmerkmal geblieben zwischen
Judentum und Christentum.
Der Übergang von der Rolle zum Codex/Buch war
eine Medienrevolution, die im 1. Jh.n.Chr. begann.
Bei allen praktischen Vorzügen, die die neue
Buchform des Kodex gegenüber der Buchrolle bot,
dauerte es bis ins 4. Jahrhundert n. Chr., bis der
Kodex diese endgültig verdrängte. So pflegten wohl
zumindest die elitären Gesellschaftsschichten noch
lange eine Vorliebe für die traditionelle Rollenform.
Eine Gruppe von Autoren, die die Kodexform allerdings nicht aus ideologischen, sondern aus
Anders als die Rolle, die vom Leser mit beiden
Händen gehalten werden musste, erforderte der Griff
Pergamentherstellung;
zum Kodex nur eine Hand und ließ die andere zum
Stich aus Frankfurt, 1568
Blättern oder Schreiben frei. Das erleichterte
Auffinden von Textstellen veränderte die
Lesegewohnheiten. Ältere klassische und juristische Literatur, die noch auf Rollen
geschrieben war, wurde systematisch in Kodexform übertragen oder waren aus der
Überlieferung ausgeschieden. Seit dem Ende des 4. Jahrhunderts wurden neu verfasste
Werke sogleich in Kodices geschrieben.
Das Schreibmaterial von Rollen und Codices bestand aus
Pergament. Pergament ist eine leicht bearbeitete Tierhaut.
In den Hochkulturen des Alten Orients und des
Mittelmeerraumes wurde Leder als Beschreibstoff
verwendet. Wie Leder wird auch Pergament aus
Tierhäuten hergestellt, die man allerdings ungegerbt in
eine Kalklösung legt, bevor Haare, Oberhaut und
anhaftende Fleischreste abgeschabt werden. Anschließend
wird die Haut gereinigt, gespannt und getrocknet.
Die Oberfläche wird mit Bimsstein geglättet und mit
Kreide geweißt. Je nach Sorgfalt der Bearbeitung bleibt
die unterschiedliche Oberflächenstruktur von Fleisch- und
Haarseite deutlicher oder weniger deutlich erhalten. Die
feinste Qualität wurde aus Häuten neugeborener oder
ungeborener Ziegen und Lämmer hergestellt. Die Vorzüge
des Pergaments gegenüber dem Papyrus bestanden in
seiner glatteren Oberfläche, in seiner Festigkeit und
Dauerhaftigkeit sowie auch in seiner hellen Farbe. Die
gute Tilgbarkeit der Beschriftung erleichtert die
Skelettspuren auf dem Pergament
Wiederverwendung bereits beschriebenen Pergaments. In
des Codex Sinaiticus
diesem Fall spricht man von einem Palimpsest (griech.
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
palimpsestos „wieder abgekratzt“) oder einem codex rescriptus (lat.
„wiederbeschriebener Kodex“).
Die wichtigsten Codices mit biblischen Texten sind:
- Die Schriftrollen vom Toten Meer
- der Codex Sinaiticus, a oder 01, Neues Testament, 4. Jahrhundert
- der Codex Alexandrinus, abgekürzt A oder 02, Altes und Neues Testament, 5.
Jahrhundert
- der Codex Vaticanus, abgekürzt B oder 03, Altes und Neues Testament, 4. Jahrhundert
Nicht-biblische (apokryphe) Schriftenfunde: Nag Hammadi Bibliothek, entdeckt 1945
Psalmenrolle, bei Qumran gefunden
Inserat Wall Street Journal von 1954,
in dem die Schriftrollen vom Toten Meer
zum Verkauf angeboten werden.
Codex IV aus Nag Hammadi
c) weitere Handschriften
- Die Minuskeln
Ab dem 9.Jh. wurde eine neue, Platz sparende Schrift in kursiven Kleinbuchstaben
eingeführt.
- Die Lektionare
Diese zweitgrößte Gruppe von Handschriften des NT besteht aus Liturgie-Büchern. Die
Bibeltexte wurden entsprechend den täglichen und wöchentlichen Lesungen des
Kirchenjahres abgeschrieben. Die 2432 Handschriften sind sowohl in Majuskeln als auch
in Minuskeln geschrieben.
- Die Übersetzungen
Vor dem Ende des 2.Jh. wurde das NT ins Lateinische, Syrische und Koptische übersetzt,
so dass diese Übersetzungen einen sehr frühen Zustand des Textes des NT widerspiegeln
können, wenn sie Rückschlüsse auf ihre griechische Vorlage erlauben. Weitere
Übersetzungen ins Gotische, Armenische, Georgische, Altkirchenslavische und weitere
Sprachen folgten.
- Die Zitate bei den Kirchenvätern
Auch Theologen und andere Schriftsteller haben in ihren Werken die Bibel zitiert. Der
Wert dieser Textzeugen ist begrenzt, denn antike Schriftsteller haben häufig aus dem
Gedächtnis zitiert.
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
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d) Abweichungen der ältesten Texte von den heutigen Bibelversionen
- Matthäus 6,13: Der heutig gebräuchliche Schluss des Unser-Vater-Gebetes ist in den
ältesten Textzeugen nicht zu finden.
- Johannes 7,53-8,11: Die Geschichte der Ehebrecherin („wer von euch ohne Sünde ist,
der werfe den ersten Stein.“)
Die ganz Perikope fehlt in sämtlichen Bibelhandschriften bis ins 4. Jh. Erstmals ist die
Perikope in der Vulgata (lateinische Bibelübersetzung) aus dem 4. Jh. zu finden.
Text des Codex Sinaiticus: Mt 6-9-13
(Vaterunser)
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
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4. Textkritische Analyse von Matthäus 8,23
Im Verlaufe der Vorlesung untersuchen wir die Geschichte der Sturmstillung als
Musterbeispiel für die einzelnen Methoden der Auslegung.
Schauen wir die Textgeschichte von Mt 8,23-27 an, entdecken wir, dass es auch dort
mehrer Überlieferungsvarianten in den unterschiedlichen Handschriften erhalten sind.
Allerdings sind diese Abweichungen nicht gravierender Natur. Dennoch lässt sich in V.23
zeigen, wie sich eine textkritische Untersuchung durchführen lässt.
Ausgangspunkt: zwei unterschiedliche Lesarten in Mt 8,23: „ins Boot“ (ohne Artikel) oder
„in das Boot“ (mit Artikel).
1. Äussere Textkritik
1.1 Tabelle der Varianten und ihrer Textzeugen:
Variante: Kategorie II
III
IV
I
eivj to.
a*.2
L; Q
W
ploi/on
(txt; „in
das
Boot“)
eivj ploi/on
V1; V13;
a1; B
C; 33;
(„ins
892
565
Boot“)
V
Lektio
nare
Übersetzung Kirchenväte
en
r
J
…
844;
…
2211
1.2 Auswertung
Der äussere textkritische Befund zu Mt 8,23 zeigt ein ausgeglichenes Bild. Die längere
Variante eivj to. ploi/on bildet die ursprüngliche, dann korrigierte Version des Codex
Sinaiticus; ein zweiter Korrektor (a2) revidierte die Korrektur; um diese urspüngliche
Lesart wiederherzustellen. Neben diesen Zeugen der ersten Kategorie listet der Apparat
des NT27 für diese Variante einige wenige Majuskeln der zweiten (Codices Regius und
Coridethianus) und dritten Kategorie (Codex Freerianus) sowie den byzantinischen
Mehrheitstext an.
Demgegenüber ist die Kurzvariante eivj ploi/on breiter bezeugt: Neben dem schon
erwähnten ersten Korrektor des Sinaiticus (a1) gehört auch der Codex Vaticanus zu den
Belegen der ersten Kategorie dieses Textbestandes. Weiter werden als Zeugen der 2.
Kategorie der Codex Ephraemi Rescriptus sowie die Minuskeln 33 und 892 aufgeführt, als
Zeugen der 3. Kategorie die Minuskel-Gruppen V1 und V13.
Fazit: Die äussere Textkritik ergibt zwar leichte, durch die Anzahl der Belege bedingte
Vorteile für die Kurzversion. Doch mit dem Sinaiticus hat auch die Langversion einen
gewichtigen Zeugen. Somit ist kein eindeutiges Urteil zu fällen.
2. Innere Textkritik:
Beide Varianten entsprechen dem mt Stil und sind im ersten Evangelium mehrfach
belegt. Die Kurzversion eivj ploi/on wird verwendet im Nahkontext unserer Perikope, in 9,1,
und in 13,2 – somit ist nicht so ganz klar, dass diese Variante aus der lk Parallelversion
der Perikope stammt, wie dies die Apparatnotiz p) vermuten lässt. Mt Belege der
Langversion befinden sich neben 8,23 noch an drei weiteren Stellen (14,22.32; 15,39).
Mk verwendet mit Ausnahme von 4,1 stets die Konstruktion evmbai,nw eivj to. ploi/on (so in
5,18; 6,45.51; 8,10). Bei Lk lässt sich hingegen in beiden Verwendungen die kürzere
Variante evmbai,nw eivj ploi/on feststellen – so z.B. in der Sturmstillungsgeschichte 8,22 und in
8,37. Es ist auffällig, dass Mt in Erzählstoffen, die er exklusiv mit Mk teilt, also Seewandel
und Speisung der Viertausend, immer die mk Langversion evmbai,nw eivj to. ploi/on verwendet;
somit ist es eher unwahrscheinlich, dass Mt in einer Perikope, die er aus dem Mk
übernimmt und bearbeitet, eine Variante aufnimmt, die eine lk Vorzugsform darstellt.
Fazit:
Pfr. Markus Anker
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Eine Bibel – viele Interpretationen
Vorlesung 2: Die ältesten Texte – Papyrusfetzen und Schriftrollen
29. September 2010
Aus Gründen der generellen Nähe zum Mk-Text und zur inhaltlich und strukturell sehr
ähnlichen Seewandel-Perikope der Mk-Version (Mk 6,45.51) ist der längeren Variante der
Vorzug zu geben und die Auffassung der Herausgeber von NT27 zu unterstützen. Zudem
entspricht diese Hypothese der Faustregel der inneren Textkritik lectio difficilior, lectio
potior.
Die Entstehung der kürzeren Variante eivj ploi/on durch spätere Abschreiber lässt sich als
Harmonisierung mit der lk Parallelstelle zur Sturmstillung Lk 8,22,sowie als Anpassung an
Mt 9,1 im Nahkontext erklären. Somit würde die Kurzvariante der lectio facilior
entsprechen.
3. Resultat:
Während die äussere Textkritik noch kein abschliessendes Urteil zulässt, ja, auf Grund
der Menge der Textzeugen ein leichtes Schwergewicht zugunsten der Kurzvariante eivj
ploi/on aufweist, ist auf Grund der inneren Textkritik klar der Langvariante eivj to. ploi/on der
Vorzug zu geben. Sie entspricht dem Stil, den Mt mit Mk im gemeinsamen Erzählmaterial
teilt. Zugleich stellt sie hinsichtlich des Kontextes und der lk Parallele die lectio difficilior
dar.
Pfr. Markus Anker
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