www.ssoar.info Vom Überwachungsstaat in die Beliebigkeit der Konsumgesellschaft? : Transformationsprobleme sozialer Kontrolle im Prozeß der deutschen Vereinigung Franz, Peter Veröffentlichungsversion / Published Version Konferenzbeitrag / conference paper Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Franz, Peter: Vom Überwachungsstaat in die Beliebigkeit der Konsumgesellschaft? : Transformationsprobleme sozialer Kontrolle im Prozeß der deutschen Vereinigung. In: Sahner, Heinz (Ed.) ; Schwendtner, Stefan (Ed.) ; Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Ed.): 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Gesellschaften im Umbruch: Sektionen und Arbeitsgruppen. Opladen : Westdt. Verl., 1995. - ISBN 3-531-12836-1, pp. 368-373. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-141597 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. 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Einleitung Zur Erinnerung: In der ersten freien und zugleich letzten Wahl zur Volkskammer der DDR fünf Jahren im März 1990 erteilte die Mehrheit der Wähler den Politikern der für Deutschland" den Deutschland den demontierten DDR-Staat in das Gehäuse der Auftrag, Bundesrepublik überführen. zu Fünf Jahre später muß konstatieren, daß die institutionelle Inkorporation der fünf man Bundesländer erstaunlich schnell und ohne ist vor damaligen „Allianz größere praktisch erfolgreich abgeschlossen. Den Indikatoren gelungener Systemintegration Friktionen stehen erfolgt ist: Die jedoch vielfältige neuen Systemintegration Anzeichen einer noch befriedigend verlaufenden Sozialintegration gegenüber. Darauf deuten hin: a) die rückblickende Aufwertung des sozialen Netzes und des solidarischen Umgangs nicht der Men¬ schen in der DDR, b) die zunehmend kritischere Beurteilung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen im en neu¬ Deutschland, c) das anhaltend geringe Selbstwertgefühl der Neubürger im Vergleich bürgern d) die neu zu den Alt-Bundes¬ und entstandenen Existenzängste im Hinblick auf drohende Arbeitslosigkeit und bedrohli¬ che Kriminalität Diese offensichtliche nen DDR das SED- und erblicken, dem zu Die soeben „Raus aus zu entrinnen man nur als denjenigen erstaunlich erscheinen, die in der vergange¬ Inbegriff des bevormundenden „Überwachungsstaates" froh sein konnte. Überwachungsstaat dem um werden. Im welche muß Stasi-Regime angesprochenen empirischen dem einfach ist, „Ost-algie" folgenden soll am Befunde deuten aber darauf hin, daß die Formel rein in die freiheitlich-demokratische Ablauf komplexen Orientierungsprobleme - Grundordnung" zu vereinigungsbedingter Umorientierungsprozesse gerecht Fall der Veränderungen sozialer Kontrolle und Unsicherheiten die „institutionelle aufgezeigt werden, Inkorporation" der Ost¬ deutschen nach sich gezogen hat. 2. Theoretische Um die wichtig, Perspektiven zur Erfassung Transformationsprobleme des Systems sozialer Kontrolle sozialer Kontrolle analysieren zu in der DDR können, ist den Kontrollstrukturen und -mechanismen in der DDR-Gesellschaft rerseits müssen diese Eigenheiten mit den in der westdeutschen Gesellschaft und Weisen sozialer Kontrolle kontrastiert ständlich zu machen. werden, um die Schwierigkeiten es einerseits nachzugehen. praktizierten beim Ande¬ Arten Übergang ver¬ Wandel von und Kontrolle Abweichung im vereinigten Deutschland 369 a) Die DDR-Gesellschaft als totale Institution Vergegenwärtigt man es sich die DDR als nahezu reine Form des nahe, sie als „totale Institution" im Sinn rechnete Staaten und Gesellschaftssysteme zwar „Überwachungsstaats", so üegt Goffrnan (1973) aufzufassen. Goffrnan selbst von nicht den totalen Institutionen, doch passen zu viele seiner Definitionskriterien erstaunlich gut für den FaU der DDR. Als eines der zentralen Merkmale totaler Institutionen nennt Goffrnan ihren aUumfassenden äußert, daß für ihre Insassen der Kontakt ern, Stacheldraht" Charakter, der sich darin Außenwelt durch „verschlossene Tore, hohe Mau¬ (1973, S. 16) minimiert ist. Außerdem ist darin enthalten, daß aUe Lebensbe¬ reiche ohne Ausnahme durch Autoritätsprinzipien von außen determiniert sind. Goffrnan, daß „die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten.... Als weiteres Kennzeichen nennt in einem zur einzigen rationalen Plan vereinigt (werden, P.F.), Ziele der Institution zu erreichen" (1973, S. 17), was der angeblich dazu dient, die offizieUen planwirtschaftlichen Ausrichtung mit der Überwachung der DDR übereinstimmt. Ziel totaler Institutionen ist laut Goffrnan die schen, „wobei darauf geachtet wird, daß jeder das tut, und zwar unter Bedingungen, unter der Men¬ ihm klar und deudich befohlen wurde, was denen ein Verstoß des einzelnen sich deudich gegen die sichtbare, jederzeit überprüfbare Willfährigkeit der anderen abhebt" (1973, S. 18). Totale Institutionen zeichnen sich nach Goffrnan weiterhin dadurch aus, daß zwischen den kontrollierten Insassen und dem kontrollierenden Personal eine fundamentale Trennlinie verläuft: „Das Personal hält sich für überlegen und glaubt das Recht auf seiner Seite, während die Insassen sich - zumindest in gewissem Sinn - unterlegen, schwach, (1973, S. 19). Ganz ähnliche Persönlichkeitsmerkmale wurden lytischer Sicht für die im DDR-Bevölkerung Trotz dieser von Goffrnan zu große Teüe der rial und betrieblich Maaz 1990 gegenüber schuldig (1990) aus diagnostiziert, fühlen" psychoana¬ und die bis den Westdeutschen Schemen stützen. auffälligen Entsprechungen erweist sich die zepts auf die gesamte Gesellschaft der DDR als daß von Vereinigungsjahr heute anhaltenden Selbstwert-Defizite der Ostdeutschen ebenfalls die Sichtweise tadelnswert und zu Übertragung des Goffmanschen Kon¬ eindimensional. Es bleibt Bevölkerung die Kaderherrschaft aktiv organisierter Konflikt- und Schiedskommissionen mitgetragen unberücksichtigt, und sich in Form territo¬ an Kontrollaktivitäten be¬ teiligt haben. Aber auch unterhalb der mittleren Ebene der Konflikt- und Schiedskommissionen hatten sich Kontrollformen wohl formell - herausgebüdet, an denen sich auch Personen ohne wie beim Führen der InformeUe Sozialkontrolle rige KoUegen aufsuchten, war vor häufig erwähnten Hausbücher Mayer rung in Verwendung größere politische als auch üiformeU aüem im beruflichen Umfeld üblich, die ohne Grund von wo z.B. Macht so¬ beteüigten. Betriebsangehö¬ der Arbeit fernblieben. b) Die DDR als „disziplinierte Gesellschaft" im Sinn Unter - von des individualistischen Ansatzes Pizzorno von Pizzorno (1991) versucht K. U. DDR-spezifische Profü sozialer Kontrolle herauszuarbeiten. Für die Herrschaftssiche¬ der DDR erscheint typisch eine Kombination aus einer positive Anreize setzenden Wer¬ das tebindung für die Kader und Bevölkerung. Zu dieser Parteimitgtieder und Strategie der aus Disziplinierung einer Disziplinierung trat aber der breiten Masse der häufig (in der Spätphase der DDR 370 Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle öfter) die Steuerung über finanzielle Anreize gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. zunehmend hinzu (z.B. in der Familienpolitik), Hierbei kam den Betrieben eine zentrale Rolle zu, den sozialen Zusammenhalt in Form Arbeitskollektiven und Brigaden zu stärken und rieller und immaterieller Gratifikationen der Betriebe für ihre Mitarbeiter liefen angepaßtes von Verhalten durch die belohnen. Über diese fast zu wichtige um Vergabe mate¬ paternalistische Fürsorge Prozesse sozialer Kontrolle in der DDR. c) Die Rolle „solidarischen Handelns" In vielen in denen Untersuchungen, auf die frühere Erfahrung Sicht als Verlust wahrgenommene Die Herrschaftstechnik der sation einen von Teil ihrer Disziplinierung bedingte Kontakte zu den darität recht - zu zu und produzieren Aus den bisher zu heutiger die Verlagerung weiter Teile der Soziali¬ eine - der sich notwendige Voraussetzung vor allem in den täglichen In¬ einen weit höheren Stellenwert als in Westdeutsch¬ entstanden aber mit der - war vertrauensvoller als im Westen. abweichend von der Maxime sozialistischer Soli¬ planwirtschaftlichen Unfähigkeit, Güter nachfragege¬ verteilen. vorgestellten einzelnen Bausteinen sozialer Kontrollpraktiken läßt sich folgen¬ zusammenfügen: Ein relativ kleiner Politkader und regelmäßig aus Dies bewirkte, daß die Heranwachsenden Umgangs miteinander, Vorgesetzten täglichen Kampf auch im des Gesamtbild Einrichtungen. Arbeitskollegen insgesamt Beziehungen genommen. Diese und Kollektiven der Betriebe fortsetzte. In der DDR hatten die Brigaden land, und selbst das Verhältnis Solidarische Wort kommen, wird zu Bezug in peer groups verbrachten Tageszeit für das Erlernen des solidarischen teraktionen in den selbst Solidarität hatte mehrere Wurzeln: der Familie auf öffentliche großen DDR-Bürger zwischenmenschlicher Solidarität erzwingt zunächst auf die dahinterstehende Besatzungsmacht später zunehmend auf den selbst geschaffenen geheimdienstlich agierenden Stasi-Über¬ - wachungsapparat gestutzt systemkonformes Verhalten der Bevölkerung. Mit zunehmender Le¬ bensdauer der DDR steigt der Anteil an selbstdiszipliniert agierenden Personen, nachdem immer größere Teile der Bevölkerung die eigens geschaffenen Sozialisationsagenturen des Systems durchlaufen haben. Direkt sanktionierende Eingriffe der Judikative können deshalb im Vergleich zu Westdeutschland zahlenmäßig gering bleiben, sehr viele Konflikte werden informell oder - halbformell geregelt, sanktioniert wird unterhalb der strafrechtlichen Ebene. Gleichzeitig entste¬ hen als Reaktion auf den sich auf sämdiche Lebensbereiche ausdehnenden sozialistischen Herr¬ schaftsanspruch und noch mehr auf die systembedingte Knappheit an Konsumgütern abgeschirm¬ te „Gegenwelten" in Form privater Nischen und einer Tauschökonomie. Diese „Gegenwelten" bleiben weitgehend Reziprozitätsprinzip frei von formellen Sanktionen und werden orientiert sind. Die Beteiligten gang miteinander als solidarisch und als entlastend im kontrollierten Bereichen. Die meisten schen diesen beiden Welten 3. Die Die zu Bürger Vergleich zu Normen gesteuert, die von am oben ungesteuerten Um¬ den Interaktionen in staatlich der DDR erwerben das Geschick, problemlos zwi¬ wechseln. Auswirkungen der Vereinigung auf die Strukturen sozialer Kontrolle in Ostdeutschland vereinigungsbedingten Veränderungen von Strukturen Wechselwirkung: aus dem Zusammenbruch entstehen in einer von erleben diesen und Praktiken sozialer Kontrolle des Herrschafts- und Kontrollsy- Wandel von stems der DDR auf der einen nahme westdeutscher Abweichung und Kontrolle Seite und Kontrollpraktiken aus im vereinigten Deutschland den Friktionen und 371 Schwierigkeiten bei der Über¬ und -strukturen auf der anderen Seite. a) Der Einsturz der alten Welten Die im Herbst 1989 lawinenartig anwachsende Wende-Bewegung richtete ihre wichtigsten politischen Machthaber sehr schneU darauf aus, den wachungsapparat der Stasi zu zerschlagen. Noch Ende des gleichen Jahres war dem Sturz der Angriffe verhaßten nach Über¬ dieses Ziel prak¬ Vereinigungspro¬ Verschwinden des ungeliebten tisch erreicht Was den Betroffenen erst nach und nach im weiteren Verlauf des zesses zu Bewußtsein kam, Überwachungsstaates war der Sachverhalt, daß mit dem auch die als Reflex darauf entstandenen und ihre Funktion verloren. „Gegenwelten" „Tauschbeziehungen aufgebaute Beziehungen, onslos. Mit diesen und Gespräche." Beziehungen Kälte der WegfaU zu organisieren, stets WegfaU sehr bald als Verlust erlebt. „Man könnte auch sagen: Die Wärme durchkapitaüsierten Beziehungen vor Unterhaltungen kurz vorherrschenden Freude über die stark verbesserte Güterver¬ gehorchenden gemeinschaftlichen Beziehungen stellte werden über Nacht funkti¬ die damit verbundenen nur Nach der sorgung wurde dieser der der Not bestimmte Güter entfaüen dann auch bewerteten überflüssig, Alternative bereitsteht. Über Jahre mit die Warenfülle der Einkaufszentren und Baumärkte als wo dem Ziel ungleich positiver werden in dem Moment aüem jene Personen vor in der DDR wird abgelöst durch die der BRD-Gesellschaft" (Franz 1994, S. 321). Dieser Probleme, die mit dem Aufbau und der Pflege ihrer Nischen auch etil Stück Lebenssinn verbunden hatten. b) Orientierungsunsicherheiten in der neuen Welt Während zentrale Kontrollinstitutionen des DDR-Staats fast über Nacht von der Büdfläche verschwanden, konnten viele der DDR-Bürger ihre im Sozialisationsverlauf eingeübte und auf die Autoritätsstrukturen des DDR-Staats ausgerichtete Disziplinierung der westdeutschen Gesellschaft steUen Gehorsam und immer seltener als erstrebenswert und nomere nicht wichtig angesehen werden, während Verhaltensweisen einen hohen Stellenwert einnehmen. Somit entierung so schnell abstreifen. In Unterordnung Erziehungsziele dar, war Fertigkeiten die für auto¬ eine Phase der Desori¬ DDR-Bürger vorprogrammiert, die ihr ansozialisiertes „mentales Gepäck" ja nicht ablegen konnten. Dabei waren jene Personen am stärksten von Desorientierung und der über Nacht Unsicherheit gegenüber den Disziplinierungsagenturen klagte „Verschwinden" organisatorischen neuen der DDR gesellschaftlichen Verhältnissen betroffen, die direkt in die (Schulen, Müitär, Polizei) involviert der Polizei und ihr Autoritätsverlust nach der Gründen auch mit auf diese individueüe waren. Das Vereinigung Verunsicherung des häufig be¬ sind neben Kontrollpersonals zurückzuführen Die verringerte Präsenz staadicher „Ordnungshüter", die devianzhervorhebende Berichterstat¬ tung in den Medien, die ungewohnten und z.T. betrügerischen Geschäftspraktiken westdeutscher Firmenvertreter, das neuartige kollektive und eigenwillige Auftreten von lichen Raum und die persönliche Unsicherheit über den Wertekanon der ten zusammengenommen einen Nährboden für ansteigende Furcht Jugendlichen neuen vor Kriminalität, die weit Häufigkeit krimineUer Delikte. Eine Konsequenz daraus ist, daß stieg troUstil der zu DDR-Zeiten gefürchteten und zur Wendezeit stark kritisierten Polizei Rückbück wieder wesentlich positiver eingeschätzt wüd. schneller als die im öffent¬ Gesellschaft büde- der Konheute im Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle 372 4. Kontrollmechanismen der An diesem Punkt strukturen jener Konsumgesellschaft angelangt, muß man sich mit der wie die Kontroll¬ Frage auseinandersetzen, Gesellschaft beschaffen sind, in die die Bewohner Ostdeutschlands worden sind. Aus der Sicht der normativ verunsicherten Ostdeutschen erscheint Frage drängend, welches Wertesystem, Der Ostberliner grundeliegt. erhält für das Soziologe Reißig ihrer neuen allem die Gesellschaft zu¬ schreibt: „Wie historische eines nationalstaatlichen Gelingen Ordnung welche normative inkorporiert vor Integrations- Erfahrungen belegen, Fusionsprozesses das Problem und Ordnung einen zentralen Stellenwert" (1993, S. 18). Dies aber genau ist die Crux im deutschen Vereinigungsprozeß: Während sich die Ostdeutschen über 40 Jahre lang in einer Gesellschaft bewegt haben, in der von der Kinderkrippe bis zum Feier¬ abendheim gemeinsame sozialistische Werte eingeübt, oktroyiert, indoktriniert und z.T. sicherlich auch internatisiert wurden, hat sich in Westdeutschland im Verlauf der gesellschaftlichen Nach¬ kriegsentwicklung ein gemeinsames Wertesystem als Integrationsmodus verflüchtigt. einer gemeinsamen normativen Stabilisierung Welche Faktoren haben aber dann die nommen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich der westdeutschen Gesellschaft über¬ zum hebt hervor, daß in modernen Gesellschaften mit hohem des Marktes immer dominanter wird, während wirkung deutung einen zurückgreifen 'Disziplin' der gen für die Marktkräfte, indem sofortige und kaum sie mit den Modalitäten der Währungsunion die Voraussetzun¬ Warenkonsum auf westdeutschem Niveau schuf. Die sum und nicht über den theoretisch ren. Mit Hilfe der nach der praktisch die gewählte Wechselkursrelation Entscheidung, die Ostdeutschen über möglichen Weg Währungsunion Ordnungs¬ 'Wertebindung' an Be¬ gesellschaftsintegrierende Teilnahme der Bewohner Ostdeutschlands eingeschränkte Mark der DDR und DM beinhaltete die und verlieren. Die CDU/FDP-Koalition setzte im Jahr 1990 auf die Wirkung auf Pizzorno: Er Individualisierungsgrad der sehr schnell Erhaltung am zwischen den Kon¬ der Arbeitsplätze zu integrie¬ ansteigenden Transferzahlungen der öf¬ fentlichen Hand wurde die Kaufkraft der ostdeutschen Diese der Entscheidung Bevölkerung dauerhaft gesichert. Bundesregierung entspricht genau der Hypothese des polnischen So¬ ziologen Zygmunt Bauman (1988), daß der Konsumbereich und das Verbraucherverhalten in heutigen modernen Gesellschaften unter kognitiven und moralischen Gesichtspunkten ständig stärker in den Mittelpunkt rücken und zu einem integrativen Faktor heranwachsen. Gleichzeitig verliert die Teilnahme am Arbeitsleben ihren zentralen Stellenwert für gesellschaftliche Integrati¬ on. Aus einer etwas umfassenderen Angebot an Gesellschaft, derer wir uns können. In entwickelten diese Perspektive betrachtet, zählt der Konsumbereich mit seinem Waren, seinen Geschäften und Einkaufsmöglichkeiten im alltäglichen Leben bedienen, Industriegesellschaften alltägliche Lebensführung um zur materiellen Kultur einer private Zwecke realisieren zu mit einer ausgeprägten materiellen Kultur wird selbst immer stärker zu einem Integrationsfaktor und die Gesell¬ schaftsmitglieder sind „in wesentlich geringerem Umfang auf kulturellen Konsens oder auf ein von allen geteiltes Wertesystem angewiesen als vorindustrielle Gesellschaften oder Industriege¬ sellschaften, die noch in der Entwicklungsphase stecken" (Brock 1993, S. 181). Während also für die einen Deutschen in einem jahrzehntelangen Prozeß parallel zur wachsen¬ den Fülle und Ausstattung ihrer materiellen Umwelt Werte und normative Gesichtspunkte als Wandel von Abweichung und Kontrolle im vereinigten Deutschland 373 Integrationsfaktoren zurückgetreten sind, sind die anderen Deutschen in einer Gesellschaft groß geworden, in der das Wertesystem als zentraler Integrationsfaktor stark betont wurde. Somit ist das Defizit-Erleben der Ostdeutschen bei ihrer Suche nach den zentralen Werten und Normen der Gesellschaft, in die sie inkorporiert worden sind, fast vorprogrammiert. neuen Auch die formeUen Instanzen sozialer Kontrolle bleiben nicht unbeeinflußt lung: Das Rechtswesen verliert immer mehr seinen und wüd im sprechung zunehmend seiner 5. am privatrechtlichen aUtäglichen Teilsystem geschicktesten der Bereich abgehobenen Charakter zu einem zunehmend Konftiktregelung - von dieser Entwick¬ hoheitlicher Recht¬ häufiger genutzten mit Vorteilen für diejenigen, und die sich bedienen wissen. zu Schluß Die auch heute noch vorhandenen Integrationsprobleme der rühren daher, daß mit der DDR nicht gangen ist, sondern die viele gleichzeitig gemeinschaftlichen nur etil der Bewohner der die dort entstandenen Gegenwelten funktionslos Ende ge¬ zu geworden sind, Elemente enthielten. Gerade das Verschwinden dieser lichen Elemente wird als ein Verlust Bundeslän¬ neuen ungeliebter „Überwachungsstaat" gemeinschaft¬ erlebt, zumal sich in der stärker inidividualisierten westdeut¬ schen Gesellschaft kein Ersatz hierfür findet. Ungewohnt ist für die über Jahrzehnte mit sozialistischen Werten konfrontierten Ostdeutschen ebenfalls, daß sich in der ten zum neuen boten werden, die in dieser würden. Gesellschaft eine FüUe materieller und immaterieUer Aufgrund des angebotenen Fülle Orientierungsrichtungen und -Sicherheit abrupten gesellschaftlichen desländer für diese Sinn- und Werte-Defizite der heutiger Gelegenhei¬ Gebrauch anbieten, daß darüber hinaus aber keine kohärenten Werte und Normen ange¬ Sicht läßt sich Umbruchs sind die Bewohner der „Konsumgesellschaft" vermitteln neuen Bun¬ besonders sensibel. Aus vorhersagen, daß diese Integrationsprobleme zumindest für die vor 1960 Geborenen auch mit fortschreitender Zeit anhalten werden. Literatur Bauman, Z. (1988), Sociology and postmodernity, in: Sociological Review, 36. Jg., S. 790-813. Brock, D. (1993), Wiederkehr der Klassen? Über Mechanismen der Integration und der Aus¬ 198. grenzung in entwickelten IndustriegeseUschaften, in: Soziale Welt, 44. Jg., S. 178 - Typische Verarbeitungsweisen des geseUschafdichen Umbruchs, in: U. Herlyn/L. Berteis (Hg.), Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel in Ostdeutschland. Opladen, S. 310-339. Goffrnan, E. (1973), Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer In¬ Franz, P. sassen. (1994), Frankfurt/M. (1994), Wiedervereinigung, soziale Kontrolle und Generationen. Elemente einer Transformationstheorie, in: L. Berteis (Hg.), Gesellschaft, Stadt und Lebensverläufe im Um¬ Mayer, K.U. bruch. Bad Bentheim, S. 49 66. Pizzorno, A. (1991), On the individuaUstic theory of social order, in: P. Bourdieu/J.S. Coleman (Hg.), Social theory for a changing society. New York, S. 209 234. - - Reißig, R. (1993), Transformationsprozeß Ostdeutschlands theoretische Erklärungen, Dr. Peter Franz, Institut für WZB Discussion - Paper P93-001. empirische Wahrnehmungen Berlin. Wirtschaftsforschung Halle, Postfach 16 02 07, D-06038 Halle an der Saale und