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Vom Überwachungsstaat in die Beliebigkeit der
Konsumgesellschaft? : Transformationsprobleme
sozialer Kontrolle im Prozeß der deutschen
Vereinigung
Franz, Peter
Veröffentlichungsversion / Published Version
Konferenzbeitrag / conference paper
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Franz, Peter: Vom Überwachungsstaat in die Beliebigkeit der Konsumgesellschaft? : Transformationsprobleme
sozialer Kontrolle im Prozeß der deutschen Vereinigung. In: Sahner, Heinz (Ed.) ; Schwendtner, Stefan (Ed.) ;
Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Ed.): 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Gesellschaften im Umbruch: Sektionen und Arbeitsgruppen. Opladen : Westdt. Verl., 1995. - ISBN 3-531-12836-1, pp.
368-373. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-141597
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368
Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle
Überwachungsstaat
3. Vom
in die
Transformationsprobleme
Beliebigkeit der Konsumgesellschaft?
sozialer Kontrolle im Prozeß der deutschen
Vereinigung
Peter Franz
1.
Einleitung
Zur
Erinnerung:
In der ersten freien und
zugleich
letzten Wahl
zur
Volkskammer der DDR
fünf Jahren im März 1990 erteilte die Mehrheit der Wähler den Politikern der
für Deutschland" den
Deutschland
den demontierten DDR-Staat in das Gehäuse der
Auftrag,
Bundesrepublik
überführen.
zu
Fünf Jahre später muß
konstatieren, daß die institutionelle Inkorporation der fünf
man
Bundesländer erstaunlich schnell und ohne
ist
vor
damaligen „Allianz
größere
praktisch erfolgreich abgeschlossen.
Den Indikatoren gelungener Systemintegration
Friktionen
stehen
erfolgt
ist: Die
jedoch vielfältige
neuen
Systemintegration
Anzeichen einer noch
befriedigend verlaufenden Sozialintegration gegenüber. Darauf deuten hin:
a) die rückblickende Aufwertung des sozialen Netzes und des solidarischen Umgangs
nicht
der Men¬
schen in der DDR,
b) die zunehmend kritischere Beurteilung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen im
en
neu¬
Deutschland,
c) das anhaltend geringe Selbstwertgefühl der Neubürger im Vergleich
bürgern
d) die
neu
zu
den Alt-Bundes¬
und
entstandenen
Existenzängste
im Hinblick auf drohende
Arbeitslosigkeit
und bedrohli¬
che Kriminalität
Diese offensichtliche
nen
DDR das SED- und
erblicken, dem
zu
Die soeben
„Raus
aus
zu
entrinnen
man nur
als
denjenigen erstaunlich erscheinen, die in der vergange¬
Inbegriff des bevormundenden „Überwachungsstaates"
froh sein konnte.
Überwachungsstaat
dem
um
werden. Im
welche
muß
Stasi-Regime
angesprochenen empirischen
dem
einfach ist,
„Ost-algie"
folgenden
soll
am
Befunde deuten aber darauf hin, daß die Formel
rein in die freiheitlich-demokratische
Ablauf
komplexen
Orientierungsprobleme
-
Grundordnung"
zu
vereinigungsbedingter Umorientierungsprozesse gerecht
Fall der
Veränderungen sozialer
Kontrolle
und Unsicherheiten die „institutionelle
aufgezeigt werden,
Inkorporation"
der Ost¬
deutschen nach sich gezogen hat.
2. Theoretische
Um die
wichtig,
Perspektiven
zur
Erfassung
Transformationsprobleme
des
Systems sozialer Kontrolle
sozialer Kontrolle
analysieren
zu
in der DDR
können, ist
den Kontrollstrukturen und -mechanismen in der DDR-Gesellschaft
rerseits müssen diese
Eigenheiten
mit den in der westdeutschen Gesellschaft
und Weisen sozialer Kontrolle kontrastiert
ständlich
zu
machen.
werden,
um
die
Schwierigkeiten
es
einerseits
nachzugehen.
praktizierten
beim
Ande¬
Arten
Übergang
ver¬
Wandel
von
und Kontrolle
Abweichung
im
vereinigten Deutschland
369
a) Die DDR-Gesellschaft als totale Institution
Vergegenwärtigt man
es
sich die DDR als nahezu reine Form des
nahe, sie als „totale Institution" im Sinn
rechnete Staaten und
Gesellschaftssysteme
zwar
„Überwachungsstaats", so üegt
Goffrnan (1973) aufzufassen. Goffrnan selbst
von
nicht
den totalen Institutionen, doch passen
zu
viele seiner Definitionskriterien erstaunlich gut für den FaU der DDR. Als eines der zentralen
Merkmale totaler Institutionen nennt Goffrnan ihren aUumfassenden
äußert, daß für ihre Insassen der Kontakt
ern,
Stacheldraht"
Charakter, der sich darin
Außenwelt durch „verschlossene Tore, hohe Mau¬
(1973, S. 16) minimiert ist. Außerdem ist darin enthalten, daß aUe Lebensbe¬
reiche ohne Ausnahme durch
Autoritätsprinzipien
von
außen determiniert sind.
Goffrnan, daß „die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten....
Als weiteres Kennzeichen nennt
in einem
zur
einzigen rationalen Plan vereinigt (werden, P.F.),
Ziele der Institution
zu
erreichen" (1973, S. 17),
was
der
angeblich dazu dient, die offizieUen
planwirtschaftlichen Ausrichtung
mit der
Überwachung
der DDR übereinstimmt. Ziel totaler Institutionen ist laut Goffrnan die
schen, „wobei darauf geachtet wird, daß jeder das tut,
und
zwar unter
Bedingungen,
unter
der Men¬
ihm klar und deudich befohlen wurde,
was
denen ein Verstoß des einzelnen sich deudich gegen die
sichtbare, jederzeit überprüfbare Willfährigkeit der anderen abhebt" (1973, S. 18).
Totale Institutionen zeichnen sich nach Goffrnan weiterhin dadurch aus, daß zwischen den
kontrollierten Insassen und dem kontrollierenden Personal eine fundamentale Trennlinie verläuft:
„Das Personal hält sich für überlegen und glaubt das Recht auf seiner Seite, während die Insassen
sich
-
zumindest in
gewissem
Sinn
-
unterlegen, schwach,
(1973, S. 19). Ganz ähnliche Persönlichkeitsmerkmale wurden
lytischer
Sicht für die
im
DDR-Bevölkerung
Trotz dieser
von
Goffrnan
zu
große
Teüe der
rial und betrieblich
Maaz
1990
gegenüber
schuldig
(1990)
aus
diagnostiziert,
fühlen"
psychoana¬
und die bis
den Westdeutschen Schemen
stützen.
auffälligen Entsprechungen
erweist sich die
zepts auf die gesamte Gesellschaft der DDR als
daß
von
Vereinigungsjahr
heute anhaltenden Selbstwert-Defizite der Ostdeutschen
ebenfalls die Sichtweise
tadelnswert und
zu
Übertragung
des Goffmanschen Kon¬
eindimensional. Es bleibt
Bevölkerung
die Kaderherrschaft aktiv
organisierter
Konflikt- und Schiedskommissionen
mitgetragen
unberücksichtigt,
und sich in Form territo¬
an
Kontrollaktivitäten be¬
teiligt haben.
Aber auch unterhalb der mittleren Ebene der Konflikt- und Schiedskommissionen hatten sich
Kontrollformen
wohl formell
-
herausgebüdet,
an
denen sich auch Personen ohne
wie beim Führen der
InformeUe Sozialkontrolle
rige KoUegen aufsuchten,
war vor
häufig
erwähnten Hausbücher
Mayer
rung in
Verwendung
größere politische
als auch üiformeU
aüem im beruflichen Umfeld üblich,
die ohne Grund
von
wo
z.B.
Macht
so¬
beteüigten.
Betriebsangehö¬
der Arbeit fernblieben.
b) Die DDR als „disziplinierte Gesellschaft" im Sinn
Unter
-
von
des individualistischen Ansatzes
Pizzorno
von
Pizzorno (1991) versucht K. U.
DDR-spezifische Profü sozialer Kontrolle herauszuarbeiten. Für die Herrschaftssiche¬
der DDR erscheint typisch eine Kombination aus einer positive Anreize setzenden Wer¬
das
tebindung
für die Kader und
Bevölkerung.
Zu dieser
Parteimitgtieder und
Strategie
der
aus
Disziplinierung
einer
Disziplinierung
trat aber
der breiten Masse der
häufig (in der Spätphase der DDR
370
Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle
öfter) die Steuerung über finanzielle Anreize
gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen.
zunehmend
hinzu (z.B. in der
Familienpolitik),
Hierbei kam den Betrieben eine zentrale Rolle zu, den sozialen Zusammenhalt in Form
Arbeitskollektiven und
Brigaden
zu
stärken und
rieller und immaterieller Gratifikationen
der Betriebe für ihre Mitarbeiter liefen
angepaßtes
von
Verhalten durch die
belohnen. Über diese fast
zu
wichtige
um
Vergabe mate¬
paternalistische Fürsorge
Prozesse sozialer Kontrolle in der DDR.
c) Die Rolle „solidarischen Handelns"
In vielen
in denen
Untersuchungen,
auf die frühere
Erfahrung
Sicht als Verlust
wahrgenommene
Die Herrschaftstechnik der
sation
einen
von
Teil ihrer
Disziplinierung bedingte
Kontakte
zu
den
darität
recht
-
zu
zu
und
produzieren
Aus den bisher
zu
heutiger
die
Verlagerung
weiter Teile der Soziali¬
eine
-
der sich
notwendige Voraussetzung
vor
allem in den
täglichen
In¬
einen weit höheren Stellenwert als in Westdeutsch¬
entstanden aber
mit der
-
war
vertrauensvoller als im Westen.
abweichend
von
der Maxime sozialistischer Soli¬
planwirtschaftlichen Unfähigkeit,
Güter
nachfragege¬
verteilen.
vorgestellten
einzelnen Bausteinen sozialer
Kontrollpraktiken
läßt sich
folgen¬
zusammenfügen:
Ein relativ kleiner Politkader
und
regelmäßig
aus
Dies bewirkte, daß die Heranwachsenden
Umgangs miteinander,
Vorgesetzten
täglichen Kampf
auch im
des Gesamtbild
Einrichtungen.
Arbeitskollegen insgesamt
Beziehungen
genommen. Diese
und Kollektiven der Betriebe fortsetzte. In der DDR hatten die
Brigaden
land, und selbst das Verhältnis
Solidarische
Wort kommen, wird
zu
Bezug
in peer groups verbrachten
Tageszeit
für das Erlernen des solidarischen
teraktionen in den
selbst
Solidarität hatte mehrere Wurzeln:
der Familie auf öffentliche
großen
DDR-Bürger
zwischenmenschlicher Solidarität
erzwingt zunächst auf die dahinterstehende Besatzungsmacht
später zunehmend auf den selbst geschaffenen geheimdienstlich agierenden Stasi-Über¬
-
wachungsapparat gestutzt systemkonformes Verhalten der Bevölkerung. Mit zunehmender Le¬
bensdauer der DDR steigt der Anteil an selbstdiszipliniert agierenden Personen, nachdem immer
größere Teile der Bevölkerung die eigens geschaffenen Sozialisationsagenturen des Systems
durchlaufen haben. Direkt sanktionierende Eingriffe der Judikative können deshalb im Vergleich
zu Westdeutschland zahlenmäßig gering bleiben, sehr viele Konflikte werden informell oder
-
halbformell
geregelt,
sanktioniert wird unterhalb der strafrechtlichen Ebene.
Gleichzeitig
entste¬
hen als Reaktion auf den sich auf sämdiche Lebensbereiche ausdehnenden sozialistischen Herr¬
schaftsanspruch und noch mehr auf die systembedingte Knappheit an Konsumgütern abgeschirm¬
te „Gegenwelten" in Form privater Nischen und einer Tauschökonomie. Diese „Gegenwelten"
bleiben
weitgehend
Reziprozitätsprinzip
frei
von
formellen Sanktionen und werden
orientiert sind. Die
Beteiligten
gang miteinander als solidarisch und als entlastend im
kontrollierten Bereichen. Die meisten
schen diesen beiden Welten
3. Die
Die
zu
Bürger
Vergleich
zu
Normen gesteuert, die
von
am
oben ungesteuerten Um¬
den Interaktionen in staatlich
der DDR erwerben das Geschick,
problemlos
zwi¬
wechseln.
Auswirkungen der Vereinigung auf die
Strukturen sozialer Kontrolle in Ostdeutschland
vereinigungsbedingten Veränderungen von Strukturen
Wechselwirkung: aus dem Zusammenbruch
entstehen in einer
von
erleben diesen
und Praktiken sozialer Kontrolle
des Herrschafts- und
Kontrollsy-
Wandel
von
stems der DDR auf der einen
nahme westdeutscher
Abweichung und Kontrolle
Seite und
Kontrollpraktiken
aus
im
vereinigten Deutschland
den Friktionen und
371
Schwierigkeiten
bei der
Über¬
und -strukturen auf der anderen Seite.
a) Der Einsturz der alten Welten
Die im Herbst 1989
lawinenartig
anwachsende
Wende-Bewegung
richtete ihre
wichtigsten politischen Machthaber sehr schneU darauf aus, den
wachungsapparat der Stasi zu zerschlagen. Noch Ende des gleichen Jahres war
dem Sturz der
Angriffe
verhaßten
nach
Über¬
dieses Ziel prak¬
Vereinigungspro¬
Verschwinden des ungeliebten
tisch erreicht Was den Betroffenen erst nach und nach im weiteren Verlauf des
zesses zu
Bewußtsein kam,
Überwachungsstaates
war
der Sachverhalt, daß mit dem
auch die als Reflex darauf entstandenen und
ihre Funktion verloren.
„Gegenwelten"
„Tauschbeziehungen
aufgebaute Beziehungen,
onslos. Mit diesen
und
Gespräche."
Beziehungen
Kälte der
WegfaU
zu
organisieren,
stets
WegfaU
sehr bald als Verlust erlebt. „Man könnte auch sagen: Die Wärme
durchkapitaüsierten Beziehungen
vor
Unterhaltungen
kurz vorherrschenden Freude über die stark verbesserte Güterver¬
gehorchenden gemeinschaftlichen Beziehungen
stellte
werden über Nacht funkti¬
die damit verbundenen
nur
Nach der
sorgung wurde dieser
der der Not
bestimmte Güter
entfaüen dann auch
bewerteten
überflüssig,
Alternative bereitsteht. Über Jahre mit
die Warenfülle der Einkaufszentren und Baumärkte als
wo
dem Ziel
ungleich positiver
werden in dem Moment
aüem
jene
Personen
vor
in der DDR wird
abgelöst durch
die
der BRD-Gesellschaft" (Franz 1994, S. 321). Dieser
Probleme, die mit dem Aufbau und der Pflege ihrer
Nischen auch etil Stück Lebenssinn verbunden hatten.
b) Orientierungsunsicherheiten in der neuen Welt
Während zentrale Kontrollinstitutionen des DDR-Staats fast über Nacht
von
der Büdfläche
verschwanden, konnten viele der DDR-Bürger ihre im Sozialisationsverlauf eingeübte und auf die
Autoritätsstrukturen des DDR-Staats
ausgerichtete Disziplinierung
der westdeutschen Gesellschaft steUen Gehorsam und
immer seltener als erstrebenswert und
nomere
nicht
wichtig angesehen werden,
während
Verhaltensweisen einen hohen Stellenwert einnehmen. Somit
entierung
so
schnell abstreifen. In
Unterordnung Erziehungsziele dar,
war
Fertigkeiten
die
für auto¬
eine Phase der Desori¬
DDR-Bürger vorprogrammiert, die ihr ansozialisiertes „mentales Gepäck" ja nicht
ablegen konnten. Dabei waren jene Personen am stärksten von Desorientierung und
der
über Nacht
Unsicherheit gegenüber den
Disziplinierungsagenturen
klagte „Verschwinden"
organisatorischen
neuen
der DDR
gesellschaftlichen
Verhältnissen betroffen, die direkt in die
(Schulen, Müitär, Polizei) involviert
der Polizei und ihr Autoritätsverlust nach der
Gründen auch mit auf diese individueüe
waren.
Das
Vereinigung
Verunsicherung
des
häufig
be¬
sind neben
Kontrollpersonals
zurückzuführen
Die
verringerte
Präsenz staadicher
„Ordnungshüter",
die devianzhervorhebende Berichterstat¬
tung in den Medien, die ungewohnten und z.T. betrügerischen Geschäftspraktiken westdeutscher
Firmenvertreter, das neuartige kollektive und eigenwillige Auftreten
von
lichen Raum und die persönliche Unsicherheit über den Wertekanon der
ten
zusammengenommen einen Nährboden für
ansteigende
Furcht
Jugendlichen
neuen
vor
Kriminalität, die weit
Häufigkeit krimineUer Delikte. Eine Konsequenz daraus ist, daß
stieg
troUstil der zu DDR-Zeiten gefürchteten und zur Wendezeit stark kritisierten Polizei
Rückbück wieder wesentlich positiver eingeschätzt wüd.
schneller
als die
im öffent¬
Gesellschaft büde-
der Konheute im
Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle
372
4. Kontrollmechanismen der
An diesem Punkt
strukturen
jener
Konsumgesellschaft
angelangt,
muß
man
sich mit der
wie die Kontroll¬
Frage auseinandersetzen,
Gesellschaft beschaffen sind, in die die Bewohner Ostdeutschlands
worden sind. Aus der Sicht der normativ verunsicherten Ostdeutschen erscheint
Frage drängend,
welches
Wertesystem,
Der Ostberliner
grundeliegt.
erhält für das
Soziologe Reißig
ihrer
neuen
allem die
Gesellschaft
zu¬
schreibt: „Wie historische
eines nationalstaatlichen
Gelingen
Ordnung
welche normative
inkorporiert
vor
Integrations-
Erfahrungen belegen,
Fusionsprozesses das Problem
und
Ordnung einen zentralen Stellenwert" (1993, S. 18). Dies aber
genau ist die Crux im deutschen Vereinigungsprozeß: Während sich die Ostdeutschen über
40 Jahre lang in einer Gesellschaft bewegt haben, in der von der Kinderkrippe bis zum Feier¬
abendheim gemeinsame sozialistische Werte eingeübt, oktroyiert, indoktriniert und z.T. sicherlich
auch internatisiert wurden, hat sich in Westdeutschland im Verlauf der gesellschaftlichen Nach¬
kriegsentwicklung ein gemeinsames Wertesystem als Integrationsmodus verflüchtigt.
einer
gemeinsamen
normativen
Stabilisierung
Welche Faktoren haben aber dann die
nommen? Zur
Beantwortung
dieser
Frage
möchte ich
der westdeutschen Gesellschaft über¬
zum
hebt hervor, daß in modernen Gesellschaften mit hohem
des Marktes immer dominanter wird, während
wirkung
deutung
einen
zurückgreifen
'Disziplin'
der
gen für die
Marktkräfte, indem
sofortige
und kaum
sie mit den Modalitäten der
Währungsunion
die Voraussetzun¬
Warenkonsum auf westdeutschem Niveau schuf. Die
sum
und nicht über den theoretisch
ren.
Mit Hilfe der nach der
praktisch
die
gewählte Wechselkursrelation
Entscheidung, die Ostdeutschen über
möglichen Weg
Währungsunion
Ordnungs¬
'Wertebindung' an Be¬
gesellschaftsintegrierende
Teilnahme der Bewohner Ostdeutschlands
eingeschränkte
Mark der DDR und DM beinhaltete
die
und
verlieren. Die CDU/FDP-Koalition setzte im Jahr 1990 auf die
Wirkung
auf Pizzorno: Er
Individualisierungsgrad
der
sehr schnell
Erhaltung
am
zwischen
den Kon¬
der
Arbeitsplätze zu integrie¬
ansteigenden Transferzahlungen der öf¬
fentlichen Hand wurde die Kaufkraft der ostdeutschen
Diese
der
Entscheidung
Bevölkerung dauerhaft gesichert.
Bundesregierung entspricht genau der Hypothese des polnischen
So¬
ziologen Zygmunt Bauman (1988), daß der Konsumbereich und das Verbraucherverhalten in
heutigen modernen Gesellschaften unter kognitiven und moralischen Gesichtspunkten ständig
stärker in den Mittelpunkt rücken und zu einem integrativen Faktor heranwachsen. Gleichzeitig
verliert die Teilnahme
am
Arbeitsleben ihren zentralen Stellenwert für
gesellschaftliche Integrati¬
on.
Aus einer etwas umfassenderen
Angebot
an
Gesellschaft, derer wir
uns
können. In entwickelten
diese
Perspektive betrachtet,
zählt der Konsumbereich mit seinem
Waren, seinen Geschäften und Einkaufsmöglichkeiten
im
alltäglichen
Leben bedienen,
Industriegesellschaften
alltägliche Lebensführung
um
zur
materiellen Kultur einer
private
Zwecke realisieren
zu
mit einer ausgeprägten materiellen Kultur wird
selbst immer stärker
zu
einem
Integrationsfaktor
und die Gesell¬
schaftsmitglieder sind „in wesentlich geringerem Umfang auf kulturellen Konsens oder auf ein
von allen geteiltes Wertesystem angewiesen als vorindustrielle Gesellschaften oder Industriege¬
sellschaften, die noch in der Entwicklungsphase stecken" (Brock 1993, S. 181).
Während also für die einen Deutschen in einem jahrzehntelangen Prozeß parallel zur wachsen¬
den Fülle und
Ausstattung
ihrer materiellen Umwelt Werte und normative
Gesichtspunkte
als
Wandel
von
Abweichung und Kontrolle
im vereinigten Deutschland
373
Integrationsfaktoren zurückgetreten sind, sind die anderen Deutschen in einer Gesellschaft groß
geworden, in der das Wertesystem als zentraler Integrationsfaktor stark betont wurde. Somit ist
das Defizit-Erleben der Ostdeutschen bei ihrer Suche nach den zentralen Werten und Normen der
Gesellschaft, in die sie inkorporiert worden sind, fast vorprogrammiert.
neuen
Auch die formeUen Instanzen sozialer Kontrolle bleiben nicht unbeeinflußt
lung:
Das Rechtswesen verliert immer mehr seinen
und wüd im
sprechung
zunehmend
seiner
5.
am
privatrechtlichen
aUtäglichen Teilsystem
geschicktesten
der
Bereich
abgehobenen Charakter
zu
einem zunehmend
Konftiktregelung
-
von
dieser Entwick¬
hoheitlicher Recht¬
häufiger genutzten
mit Vorteilen für
diejenigen,
und
die sich
bedienen wissen.
zu
Schluß
Die auch heute noch vorhandenen
Integrationsprobleme
der rühren daher, daß mit der DDR nicht
gangen ist, sondern
die viele
gleichzeitig
gemeinschaftlichen
nur
etil
der Bewohner der
die dort entstandenen
Gegenwelten
funktionslos
Ende ge¬
zu
geworden sind,
Elemente enthielten. Gerade das Verschwinden dieser
lichen Elemente wird als ein Verlust
Bundeslän¬
neuen
ungeliebter „Überwachungsstaat"
gemeinschaft¬
erlebt, zumal sich in der stärker inidividualisierten westdeut¬
schen Gesellschaft kein Ersatz hierfür findet.
Ungewohnt
ist für die über Jahrzehnte mit sozialistischen Werten konfrontierten Ostdeutschen
ebenfalls, daß sich in der
ten zum
neuen
boten werden, die in dieser
würden.
Gesellschaft eine FüUe materieller und immaterieUer
Aufgrund
des
angebotenen
Fülle
Orientierungsrichtungen und -Sicherheit
abrupten gesellschaftlichen
desländer für diese Sinn- und Werte-Defizite der
heutiger
Gelegenhei¬
Gebrauch anbieten, daß darüber hinaus aber keine kohärenten Werte und Normen ange¬
Sicht läßt sich
Umbruchs sind die Bewohner der
„Konsumgesellschaft"
vermitteln
neuen
Bun¬
besonders sensibel. Aus
vorhersagen, daß diese Integrationsprobleme zumindest für die
vor
1960
Geborenen auch mit fortschreitender Zeit anhalten werden.
Literatur
Bauman, Z. (1988), Sociology and postmodernity, in: Sociological Review, 36. Jg., S. 790-813.
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-
-
Reißig,
R.
(1993), Transformationsprozeß Ostdeutschlands
theoretische
Erklärungen,
Dr. Peter Franz, Institut für
WZB Discussion
-
Paper P93-001.
empirische Wahrnehmungen
Berlin.
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