Bewegung und Schmerz - eine psychologische Annäherung

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Bewegung und Schmerz - eine psychologische
Annäherung
Dipl.psych.Dr.Kirsten Kaya Roessler
2001
Inhalt
1. Ein Tanz auf Dornen
2. Deutungen des Schmerzes
2.1. Elementenpsychologie und Narzissmus
2.2. Voluntarismus
2.3. Holismus...und seine Rückseite
2.4. Schmerz als Objekt oder Subjekt
3. Zur Praxis des Bewegungslernens
4. Schmerz in der integrativen Bewegungslehre?
1. Ein Tanz auf Dornen
Rose Gad lebt in einer Welt aus Tüll, Balletschuhen und konstantem Schmerz. Als
Solotänzerin am königlichen dänischen Ballet trainiert sie sechs Stunden am Tag. Seit ein
paar Monaten jedoch zwingt eine Verletzung sie zu pausieren
"Jetzt wo ich verletzt bin, kann ich nicht abschalten, ich denke die ganze Zeit daran, ich will
wieder tanzen. Dahinter liegt die grosse Angst, abgeschoben zu werden, nicht ausgewählt zu
werden, der Tanz ist ja ein Teil meiner Identität. Man wird Tänzer, weil man stark ist und
Liebe zum Tanzen hat. Eine Liebe, die der Liebe zu Deiner Familie entspricht. Du musst Dir
vorstellen, dass Tänzer fast ihr gesamtes Leben, aber doch mindestens ab dem sechsten
Lebensjahr getanzt haben, der Schmerz ist etwas, womit man zu leben lernt. Als Kind hat
man nicht so viele Schmerzen, die kommen erst später und das hat sicherlich mit den vielen
Jahren der Belastung zu tun. Wenn Dein Trainer sagt, du sollst dich mehr zur Seite beugen,
dann sagst du nicht "au, das tut weh", dann machst du das. Es tut weh, aber deshalb ist es
wohl auch schön. Aus dem Schmerz heraus wächst das Schöne. Es ist nicht gratis, diese
Form von Kunst zu produzieren."
(Rose Gad, Mai 2000)
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2. Deutungen des Schmerzes
Bewegung und Schmerz können auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sein.
Bewegung kann Schmerz ungewollt auslösen, Schmerz betäuben, aber auch Schmerz
willentlich hervorrufen. In der westlichen Kultur ist der Sport eine mögliche Szene des
Schmerzes.
Auch die Verbindung von Sport und Schmerz ist vielfältig. Sie reicht von Sportverletzungen
zur Identitätssuche, z.B. beim Erproben körperlicher Belastungsgrenzen in den
Extremsportarten, beinhaltet aber auch den Sportmissbrauch von anorektischen Mädchen
oder Doping. Die etablierte Sportpsychologie hat sich in ihrer Forschung der vergangenen
Jahrzehnte vor allem mit den Sportverletzungen beschäftigt.
Eine Anlage zu Sportverletzungen wurde früher in Zusammenhang mit
Persönlichkeitsfakoren gebracht. Anlagen zu Depression, Schuldgefühlen, Introvertiertheit
oder zu hohem Erwartungsdruck (OGILVIE 1966, ROSENBLUM 1979, WILLIAMS/
ROEPKE 1993) wurden als Ursache für Verletzungen oder chronische Schmerzen gesehen.
Diese Untersuchungsergebnisse sind umstritten, weil sie eine Kausalität postulieren, die in
dieser Form schwerlich nachweisbar ist. Neuere Untersuchungen sehen
Persönlichkeitseigenschaften als nur einen unter mehreren möglichen psychologischen
Faktoren für Sportverletzungen und chronische Schmerzen und bevorzugen eine
multifaktorielle psychologische Herangehensweise, bei der besonders die Rolle von Stress
diskutiert wird. Verschiedene Stressoren, die vorhandenen Coping-Ressourcen und
Persönlichkeitseigenschaften spielen zusammen in der Psychologie der Sportverletzungen
(PENSGAARD/URSIN 1998, JOHNSON 1997, RAEDEKE 1997, NIXON 1996, HEIL
1993).
Warum bewegen Menschen sich eigentlich, obwohl es wehtut, und welche psychologischen
Perspektiven sind damit verbunden? Bewegung oder Sport "schmerzt" auf ganz verschiedene
Weisen. Es tut weh, hart zu trainieren. Man leidet darunter, zu verlieren. Es ist anstrengend,
wenn der Laufrhythmus ständig unterbrochen wird. Es ist peinlich, das Staffelholz zu
verlieren. Seinen Körper konsequent auszuhungern und physisch zu Höchstleistungen zu
treiben, ist eine Form von Gewalt gegen sich selbst. Aber der Schmerz im Sport ist auch
verlockend. Immer mehr Menschen lassen sich anziehen von der reizvollen Mischung aus
Angst, Schmerz und Grenzerlebnissen, die in den extremen Körpererfahrungen bei Marathon,
Triathlon, Klettern oder ähnlichem liegen.
Sprechen wir über Schmerz, so deckt dieser Begriff ein breites Spektrum an Erfahrungen,
Erlebnissen und Gefühlen ab.
Eine mögliche Abgrenzung des Schmerzbegiffs kann ihren Ausgangspunkt in der Definition
der International Association for the Study of Pain (IASP) nehmen. Schmerz ist dort an
unpleasant sensory or emotional experience associated with actual or potential tissue
damage, or described in terms of such damage. Schmerz ist also eine subjektive Erfahrung,
die mit einem Gewebeschaden verbunden sein kann, aber nicht zwangsläufig sein muss.
Welche Rolle spielt der Schmerz nun in der psychologischen Theorie?
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2.1. Wilhelm Wundt und Sigmund Freud: Elementenpsychologie und Narzissmus
Als Wilhelm Wundt Ende des 19. Jahrhunderts die akademische Psychologie begründete,
baute er seine Lehre auf einer Theorie der psychischen Elemente und Gebilde auf. Er teilte
die Elemente in reine Empfindungen (der Sinne) und einfache Gefühle ein. Bei den einfachen
Gefühlen lassen sich drei Hauptrichtungen feststellen: "wir wollen sie die Richtungen der
Lust und Unlust (ab), der erregenden und beruhigenden (cd) und endlich der spannenden und
lösenden Gefühle (ef) nennen" (WUNDT 1913, 99). Jedes einzelne Gefühl kann einer oder
mehreren Hauptrichtungen angehören.
Erregung (c)
Lösung (f)
Lust (a)------------------------------------------Unlust (b)
Spannung (e)
Beruhigung (d)
"Bei einer Schmerzempfindung z.B. nehmen wir ein Unlustgefühl in der Regel ohne jede
Beimischung einer anderen Gefühlsform wahr.(...)Spannende und lösende Gefühle endlich
sind durchweg an die Vorgänge der Aufmerksamkeit gebunden: so ist bei der Erwartung
eines Sinneseindrucks ein Gefühl der Spannung, bei dem Eintritt eines erwarteten
Ereignisses ein Gefühl der Lösung zu bemerken. Dabei kann allerdings sowohl die
Erwartung wie ihre Erfüllung zugleich vom Gefühl der Erregung, oder sie können je nach
besonderen Bedingungen von Lust- und Unlustgefühlen begleitet sein" (WUNDT 1913,100).
Der Schmerz ist eine einfache Empfindung, begleitet von einem Unlustgefühl, gleichgestellt
mit dem Empfinden von Wärme, Kälte oder Druck, eine mechanische Qualität, die eine
bestimmte Ursache hat. Wundts Verständnis des Schmerzes ist nicht so weit entfernt von
einem kausalistisch geprägten Verständnis des Schmerzes. Läuft man zuviel auf Asphalt,
dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die Häute der Schienbeine schmerzhaft
entzünden; hier findet sich ein kausaler Zusammenhang zwischen einer mechanischen
Überbelastung und physischen Schmerzen.
Sigmund FREUD übertrug die mechanistische Theorie vom Körper auf die Psyche. Wenn der
Körper verletzt werden kann, so gilt dies auch für die Seele. Beide können gleich behandelt
werden nach dem Prinzip "cessante causa cessat effectus", wenn die Ursache verschwindet,
dann verschwinden auch die Symptome. Freud bewegte sich im Rahmen des cartesianischen
Paradigmas, das Schmerz als etwas Objektives behandelt. Freud selbst unterschied zwischen
somatischem und visceralem Schmerz und verband ausserdem Schmerz und Narzissmus
miteinander (1926, cit. 1971, 305). Somatischer Schmerz kann nämlich zu einer
narzisstischen Besetzung des schmerzenden Körperteils führen. Alle Energie (Libido) wird
hier konzentriert, und in diesem Prozess verliert das Ich an Energie. Anders ausgedrückt:
Schmerz, psychoanalytisch gesehen, entleert das Ich.
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Diese psychologischen Differenzierungen haben eine Bedeutung für Sport und Bewegung.
Ein grosser Teil des Schmerzes im Sport kann nämlich nicht allein von einem
mechanistischen Schmerzmodell her verstanden werden. Der Sportler kann unter vielem
leiden. Er kann sich in einem Team allein und isoliert fühlen, die Erwartungen der
Mannschaft enttäuscht haben, er kann sich aber auch von einem Berggipfel zum nächsten
quälen, um nicht die Nähe einer Beziehung aushalten zu müssen (AUFMUTH 1986).
Seine eigenen Grenzen zu überschreiten, charakterisiert eine Seite des Schmerzes, die über
ein mechanistisches Verständnis hinausgeht. Schmerz ist mehr als ein neuronaler Impuls,
ausgelöst durch einen Gewebeschaden. Schmerz im Sport ist verbunden mit Willen und mit
Leidenschaft. Hier unterscheidet sich der Schmerz im Sport deutlich vom Krankheitsschmerz.
Schmerz wird zu einer Dimension der Psyche, zu einem subjektiven Gefühl.
Diese subjektive Seite des Schmerzes wird oft heroisiert. Dass sie auch problematische Seiten
hat, zeigt sich bei einer näheren Betrachtung der Schrift Ferdinand SAUERBRUCHs über
den Schmerz (1936).
2.2. Die Kraft des Wortes und des Willens - der Voluntarismus
SAUERBRUCH, ein deutscher Chirurg, kritisierte entschieden Freuds Verständnis, dass
Schmerz zu einer Entleerung des Ichs führe.
"...in den vorliegenden Erklärungen der Freud'schen Psychoanalyse bleibt das menschliche
Erleben auf einer Stufe unbewusster Dumpfheit, die allen Erfahrungen
widerspricht" (SAUERBRUCH 1936, 85).
Er postulierte das Gegenteil, nämlich dass der Einzelne seine inneren Kräfte mobilisieren
könne, um dem Schmerz zu begegnen. Mit Hilfe der Technik einer Distanzierung des
'vernünftigen' Ich von seinen Empfindungen, von seinen Zuständen, unter denen es leidet
(92), könne man den Schmerz herabsetzen. Das Individuum sei in der Lage, mit Hilfe seines
Willens die Intensität des Schmerzes zu verändern und ihn somit besser auszuhalten.
Sauerbruch sucht Vorbilder in der antiken griechischen Literatur, besonders in Homers
Werken. Der griechische Krieger konnte physische und psychische Schmerzen nicht
voneinander trennen. Konnte der psychische Schmerz überwunden werden, so würde der
physische automatisch mitfolgen. Dies sei vor allem eine Frage des Willens und des Wortes.
Das Wort und der Wille wurden als pädagogische Instrumente zur Schmerzüberwindung
betrachtet. Die Krankheit ist ein Unglück für den Körper, für den Willen aber nicht, wenn er
es nicht selber will (93). SAUERBRUCH's Versuch, den Schmerz der Krankheit mit seinem
Willen zu bekämpfen, hat Paralellen zu einem Verständnis des Schmerzes im Sport.
Die Sportgeschichte zeigt viele Beispiele für diese Denkweise. Die Athleten, die trotz
Schmerzen und Verletzungen sich selbst überwinden, werden zu Helden.
Der deutsche Springreiter Hans-Günther Winkler wurde 1956 zusammen mit seiner Stute
Halla zu einer Legende, weil er den Parcour trotz eines gebrochenen Schlüsselbeins
bewältigte und so die Goldmedaille für die deutsche Mannschaft sicherte. Kerri Strug, die
amerikanische Turnerin, wurde bei der Olympiade 1996 zu einem Medienstar hochstilisiert,
weil sie trotz einer Knöchelverletzung Anlauf nahm zu dem Sprung über das Turnpferd, der
der amerikanischen Mannschaft die Goldmedaille einbrachte. "Meister der Schmerzen" lautet
der Titel einer Biographie über u.a. den dänischen Radfahrer Bjarne Riis (HANSEN 1997),
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sie handelt von den Athleten, die mit Hilfe ihres Willens - und eventuell etwas chemischer
Unterstützung - die Schmerzen überwinden.
Den Fokus auf das Wort und den Willen zu setzen, hat in der klinischen Schmerzforschung
eine theoretische Entsprechung bekommen. 1965 revidierte der kanadische Psychologe
Ronald MELZACK (1978) das Schmerz-Paradigma, das stark vom cartesianischen Denken
geprägt war.
Im Sinne von Descartes war es üblich, zwischen Körper und Seele zu trennen und damit
zwischen physischem und psychischem Schmerz. Schmerz ist insofern entweder ein Zeichen
eines Gewebeschadens oder aber, im Sinne Freuds, eine Verletzung der Seele. Der Schmerz
hat die wichtige Funktion, den Körper zu warnen und Körper und Psyche zu beschützen.
Aber Schmerz kann auch anders interpretiert werden.
2.3. Ein holistisches Verständnis des Schmerzes
Der notwendige Schmerz ist ein Begriff aus der psychologischen Trauerarbeit. Stirbt ein
Mensch, der einem nahesteht, so kann man eine Vielfalt an Gefühlen durchlaufen:
Verleugnung, Wut, Verzweiflung, Angst und Trauer. Dieses Leiden zu integrieren und die
eigene Trauer zu akzeptieren, hilft über den Verlust hinwegzukommen. Sich den Schmerz
einzugestehen und ihn zuzulassen, beschützt und hilft zugleich. Die deutsche Situation nach
dem Zusammenbruch 1945 lässt sich als Unterdrückung des kollektiven Schmerzes
verstehen, die zu einer nationalen Neurose führte, wie Alexander MITSCHERLICH (1970) in
seinem Buch Die Unfähigkeit zu trauern deutlich gemacht hat. Die Reaktion der Deutschen
auf den Zusammenbruch des Dritten Reichs erschien als ein kollektiver Verdrängungsprozess
eines Schmerzes, eine Verdrängung, die zugleich Leiden hervorbrachte (auch ROESSLER
1996).
Aus der klinischen Psychologie wissen wir, dass psychiatrische Patienten, die unter einer
bipolaren Depression leiden, am ehesten in Gefahr sind, sich das Leben zu nehmen, wenn sie
aus dem Tief auftauchen, also theoretisch am schmerzfreiesten sind. Man sollte glauben, es
verhielte sich umgekehrt. Hier verweist der Schmerz auf einen komplexeren und eher
ganzheitlichen Zusammenhang.
Das ganzheitliche Schmerzverständnis bekam seine theoretische Basis wie bereits erwähnt
vor 35 Jahren in Form der Gate-control-Theorie. Der Psychologe Ronald MELZACK
postulierte in den frühen 60er Jahren, dass es sich beim Schmerz nicht um einen einfachen
mechanischen Prozess zwischen einem Stimulus und einem Respons handele, sondern um ein
komplexes Ereignis. Anders könnte man Phänomene wie Anästhesien bei existierenden
Gewebeschäden (wie im Beispiel Kerri Strugs) oder auch den umgekehrten Fall, das
Vorhandensein von Schmerz ohne somatische Ursache, nicht erklären. Eine Unzahl von
Menschen, die in unseren Gesundheitssystemen zirkulieren, bekommen niemals eine
ursächliche Erklärung für ihr Leiden. Von ihrem Arzt bekommen sie zu hören, dass ihnen
nichts fehle. Aber sie haben Schmerzen.
Schmerz kann auf viele verschiedene Weisen beschrieben werden: als sensorische Qualität
(beissend, brennend, pulsierend), als affektive Qualität (gnadenlos, strafend) oder als
relativierende Qualität (unbehaglich, unaushaltbar). MELZACK (1978) entdeckte ein Tor
(gate) im Rückenmark, welches kontrolliere und reguliere, ob Schmerzimpulse zu einem
höheren zerebralen Niveau weitergesandt werden. Die Intensität des Schmerzimpulses wird
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damit nicht länger als eine absolute Grösse gesehen, sondern wird abhängig von subjektiven
Faktoren wie Aufmerksamkeit, Angst oder Konzentration. Es gibt keinen objektiven
Schmerz, sondern das Schmerzerleben ist abhängig von subjektiven Faktoren. Deshalb kann
man beispielsweise in der emotionsgeladenen Athmosphäre eines Wettkampfes, aber auch z.
B. in der Sexualität über Grenzen hinausgehen und sich dessen erst später - gelegentlich
schmerzhaft -bewusst werden. Die Gate-control-Theorie wurde zum dominierenden
Paradigma der Schmerzforschung, auch wenn seit den 90er Jahren die Neuromatrix-Theorie
Schmerzempfinden und Schmerzgedächtnis genetisch verankern will.
Mit der Gate-control-Theorie wurde es möglich, viele Phänomene zu erklären, die dem
cartesianischen Paradigma Kopfschmerzen bereiteten. Dazu gehören der Phantomschmerz
nach Amputationen, das unterschiedliche Erleben von Geburtsschmerzen, kulturelle
Unterschiede im Schmerzerleben - und eben auch das Schmerzerleben im Sport. Zum
Beispiel werden in der Wettkampf- und in der Trainingssituation Schmerzen unterschiedlich
stark erlebt.
... und die Rückseite des Holismus
Einem Schmerzpatienten wird vielseitige Hilfe angeboten. Der moderne Patient ist mehr als
ein Objekt, er ist Partner eines interdisziplinären Teams. Schmerzkliniken arbeiten mit
fachübergreifenden Teams, die aus Ärzten, Krankenschwestern, Psychologen und
Physiotherapeuten bestehen. Der bio-psycho-soziale Blick auf die Gesundheit, der Krankheit
als mehr denn nur einen körperlichen Defekt versteht, führt zu einem neuen Verständnis. Der
Kranke wird zu einer Person, während er vorher ein Objekt war, das von Technikern
behandelt und administriert wurde. Die moderne Gesundheitswissenschaft erfasst alle
möglichen Ursachen für die Krankheit des Patienten. Das holistische Paradigma hat auf eine
gewisse Weise den Einzelnen befreit und aufgewertet. Er wird nicht länger auf ein
symptombeladenes Objekt reduziert, sondern als eine Ganzheit gesehen, in der Körper und
Geist zusammenspielen.
Das holistische Paradigma hat jedoch eine überraschende Rückseite. Es macht den Menschen
zunehmend abhängig und schuldig und konfrontiert uns mit einem Paradox, auf das bereits
FOUCAULT (1976) aufmerksam gemacht hat. Wenn Krankheit nicht mehr nur Schicksal
oder ein mechanischer Deffekt ist, sondern etwas, was mit der eigenen Lebensführung oder
sogar der Lebenszufiedenheit zu tun hat, dann wird der einzelne plötzlich für seine
Gesundheit verantwortlich. Wenn der Sportler oder der Patient nicht als reine Objekte
verstanden werden, sondern als Subjekte, dann fordert dies einen neuen Typ von Wissen ein,
ein Wissen um Subjektivität. Bezogen auf den Schmerz bedeutet dies, dass dem Patienten,
dem verletzten Sportler, zwar geholfen wird, sich zu kontrollieren, zu akzeptieren und den
Schmerz zu integrieren mit Methoden wie Entspannung, Atemübungen oder kognitiven
Verfahren. Beide werden aber gleichzeitig einem System unterworfen, das FOUCAULT als
Disziplinierungstechniken bezeichnet. Ein Wille zum Wissen generiert das Subjekt der
Moderne. Er zeigt sich in der Leidenschaft, mit der man der Wahrheit auf der Spur ist. In der
Beichte, in der medizinischen Anamnese, auf der psychoanalytischen Couch, aber auch im
Sport findet sich immer das gleiche Bedürnis, wissen zu wollen. Der Sportler ist damit, vor
allem auch in seinem Schmerz, zu einem Objekt der Begierde der Medien geworden.
Das Interesse am Schmerz ähnelt hierbei dem an der Sexualität, über die man auch alles
wissen will. Experten folgen dem Patienten bis tief in sein Privatleben hinein. Der Schmerz
wird nicht mehr als etwas akzeptiert, das mit zum Leben gehört, Schmerz ist etwas, das
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überwunden werden soll. Eine Erklärung und eine Interpretation des Schmerzes sollen
geliefert werden, die das Selbst-Verständnis des Subjektes erweitern. Der ganze Mensch mit
seinen Gefühlen, Wünschen und seiner Angst unterliegt diesem Kontrollsystem. Sportler
genauso wie Patienten. Ihr Körper ist sichtbar. Leichtathleten beispielsweise sind nur noch
rudimentär mit Kleidung bedeckt, für Scham ist kein Platz vorhanden. Interviews, die 15
Sekunden nach einem 400-Meter Lauf aus einem schweissüberströmten und
schmerzverzerrten Athleten herausgefragt werden, gelten als authentisch und geben kaum
Raum zum Luftholen. Auch die Gefühle werden auf neue Weise zugänglich. Enttäuschung
und Leiden rücken ins Lampenlicht. Das Interessanteste an der kubanischen Läuferin Ana
Fidelia Quirot war, dass sie trotz schwerster Brandverletzungen nach einem Unglück
weiterlief. Das Verhältnis der Tennisspielerinnen Monika Seles und Steffi Graf zu ihren
Vätern und Michael Jordans Trauer über seinen ermordeten Vater - all das sind plötzlich
interessante Tatsachen im Sport. Das Verhältnis von Sportlern zu ihren Trainern wird
untersucht, der Schmerz, genau wie die Lust gehen in ein neues System von
Sichtbarmachung ein. Das Leiden des einzelnen wird zu einem allgemeinen Interesse.
2.4. Schmerz als Objekt oder Subjekt
Die Verbindung von Schmerz, Bewegung und Sport thematisiert sich vor allem im
Dualismus aus Objekt und Subjekt. Entweder ist der Schmerz ein Objekt, ein kausal zu
verortender Defekt oder er ist ein Teil meiner selbst, ein Gefühl, eine Wahrnehmung.
Schmerz als Empfindung und Nervenimpuls
Der "objektive" Schmerz kann umgesetzt werden in physiologische Termini.
Der Leichtathlet, der über eine Hürde fällt, verletzt sich dabei, vielleicht erleidet er einen
Kreuzbandriss. Beim Fussballspielen auf der Strasse kann man umknicken, beim Waldlauf
kann man über eine Wurzel fallen. Die letzten 50 Meter eines 400-Meter Laufes sind
schmerzhaft wegen des Sauerstoffmangels und der beginnenden Übersäuerung. Demjenigen,
der sich einen Tag lang in Berlin bewegt hat, schmerzen die Füsse. Dies sind Empfindungen,
die mechanisch, konkret und fast objektiv zu nennen sind. Der Schmerz kann in physischen
Rezeptoren lokalisiert werden.
Dem schmerzenden Körperteil Ruhe gönnen, in mit Eis zu versorgen oder hochzulegen, kann
Wunder wirken, aber auch chemische Stoffe oder operative Eingriffe können den Schmerz
bannen. Der objektive Schmerz beschreibt die aktuelle Verletzung von Haut-, Nerven- oder
Muskelgewebe, the actual or potential tissue damage der anfänglich erwähnten
Schmerzdefinition. Die Kontrolle dieser Form des Schmerzes ist eine Erfolgsgeschichte der
Sportmedizin.
Der Schmerz als Emotion und Erfahrung
Aber bereits derjenige, der sich zu Neujahr mehr Bewegung und tägliches Joggen verordnet
hat und am zweiten Tag starken Muskelkater hat, steht vor einer andersgearteten
Entscheidung. Soll er sich dem Schmerz und der Müdigkeit stellen und diese überwinden,
oder soll er es beim guten Vorsatz belassen? Jeder Sportler muss sich im Training
entscheiden, ob er die Schmerzgrenze überschreiten will. Krafttraining und Intervallläufe mit
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Gewichten in der Leichtathletik sind kein Vergnügen, sondern mit Schmerzen verbunden.
Der klassische griechische Athlet, der Spartaner - so wie ihn die Willensphilosophie sieht überwindet seinen Schmerz, indem er ihn akzeptiert.
Hier kommt eine subjektive Dimension des Schmerzes mit ins Spiel. Viele Menschen, die
Marathonlauf betreiben, erzählen, dass die Faszination im Überwinden der eigenen Grenzen
liege. Man kontrolliert seinen Schmerz mit dem Willen und erlebt dies als Selbst-Kontrolle
und Selbst-Erweiterung. Die phänomenologische Sicht des Schmerzes rehabilitiert den
subjektiven Schmerz. "Ich will, ich kann, ich tue es", das Credo der modernen
Sportpsychologie, fordert den ganzen Athleten. Du musst in der bestmöglichen körperlichen
Verfassung, aber auch mental in Top-Form sein. Ein winner muss den Schmerz integrieren
können, er muss ihn copen können. Der 3000-Meter-Hindernisläufer soll in seinen
Bewegungsablauf einbauen, dass sein Rhythmus von den Hürden und dem Wassergraben
unterbrochen wird. Es schmerzt, wenn der Rhythmus zerhackt wird, weil die Konzentration
jedesmal aufs neue unterbrochen wird. Die Trance, die aus der Leerung des Ich erwächst,
zerbricht oder wird unmöglich.
Der Schmerz hier ist subjektiv und dem Ich zugeordnet, ich bin für ihn verantwortlich und
kann ihn verändern. Ich bin das Subjekt meines eigenen Schmerzes geworden.
Aber wer profitiert eigentlich von diesem Selbst-Quälen, dem einst Emil Zatopek mit seinem
stöhnenden gequälten Laufstil Ausdruck verlieh? Oder andersherum gefragt, gibt es mehr als
die Aufteilung in subjektiven und objektiven Schmerz?
Schmerz als Sinn - und Bewegung als Therapie
Der romantische Weltschmerz beschreibt das schmerzvolle Zusammentreffen zwischen
Individuum und Umwelt auf eine andere Weise als die klassische Sportmedizin. Die Welt ist
schön - und deswegen tut sie weh. Es liegt etwas Ästhetisches im Schmerz. Es gibt Sinn, die
Welt leidend und mit Leidenschaft zu betrachten. Nur der, der leidet, ohne hart und
unsensibel zu werden, ist im Stande, Liebe zu erleben.
Dieser Sinnzusammenhang zwischen Schmerz und Welt kann auch mehr aktionsorientiert
und kritisch erlebt werden. Peggy PARNASS, eine kritische Journalistin, führte ein Interview
mit dem deutschen Schriftsteller Günther WALLRAFF (1982):
"Günter, du warst immer mein Bruder im Leid: Ausgezehrt, heruntergekommen, kaputt, am
Rande des Zusammenbruchs oder gerade dabei oder danach. Jetzt sehe ich dich seit einiger
Zeit als das blühende Leben. Hast du alle deine Süchte aufgegeben?"
Was war passiert? WALLRAFF, der früher mit Alkohol, Zigaretten und Tabletten gegen
seine Depressionen anging, hatte begonnen zu laufen. Nun erzählte er Parnass von seinem
neuen Selbstbewusstsein und der neuerworbenen Fähigkeit zu kommunizieren, die er sich
durch das Laufen erworben hatte. Für ihn war Laufen eine neue Art und Weise, mit anderen
und sich selbst zusammen zu sein geworden, eine Möglichkeit, die Angst zu überwinden.
Laufen als Kommunikation, als Dialog mit dem eigenen Körper - und mit anderen. Walraff
lief zusammen mit dem Sänger Wolf Biermann und dem Regieseur Hark Bohm von Köln
nach Bonn, um an einer Friedensdemonstration teilzunehmen. Wolf Biermann, auf dem
Fahrrad, hielt dabei Vorträge über Marxismus und Stalinismuskritik, während WALRAFF
seinen Schmerz beim Laufen in dieser kommunikativen Situation erlebte und überwand.
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Bewegen ist in diesem Beispiel ist mehr als physische Aktivität. Das Laufen ist eine neue
Möglichkeit, mit sich selbst, dem Schmerz und den anderen in Kontakt zu kommen. Laufen
ist eine Alternative zur Entfremdung. Auf diese Weise verstanden, hat die Existenz von
Schmerz und Leiden eine dialogische Dimension, die eine kritische Haltung mit dem
selbstbearbeitenden Handeln verbindet.
Das Beispiel zeigt den fliessenden Übergang vom Schmerz über die Bewegung zur
Behandlung. Der kettenrauchende, depressive Journalist wird durch Lauftraining zu einem
"neuen" Menschen. Sein psychisches Leiden bekommt im Bewegungserleben, im Laufen, in
der Konfrontation mit der Freude an der Bewegung, aber auch im Dialog mit dem
körperlichem Schmerz, eine neue Bedeutung. Bewegung kann Teil eines
Gesundheitsprograms sein, Laufen wird hierbei zur Therapie von Depression, Angst oder
Sucht (siehe auch: BÖS/BREHM 1998, WERLE 1997, ROESSLER 2000).
3. Zur Praxis des Bewegungslernens
Menschen bewegen sich, obwohl oder weil es ihnen wehtut. Der Zusammenhang von Sport
und Schmerz wurde im zweiten Abschnitt von einer psychologischen Perspektive her
analysiert. Mechanistische, voluntaristische und holistische Aspekte wurden dazu aus der
Psychologiegeschichte herangezogen. Der Schmerz kann als objektive Empfindung, als
subjektivierendes Gefühl, als Sinnfindung oder als Kontrolle verstanden werden.
Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Aufteilung - die zugleich wissenshistorischer Art ist für die Praxis einen Sinn gibt. Hat man die Möglichkeit, eine bestimmte Kategorie zu
wählen? Lädt die Klassifikation zu einer Art Arbeitsteilung ein, bei der der Arzt mit dem
Objektiven arbeitet, der Physiotherapeut mit den Erfahrungen und der Psychologe mit den
Emotionen? Oder ist die Arbeitsteilung selbst ein Problem? Welche Bedeutung hat es, dass
die verschiedenen Kategorien in der Praxis zusammenfliessen?
Die Vorteile der analytischen Aufteilung liegen in den Wahlmöglichkeiten für Subjekt und
Behandler. Im Spannungsfeld zwischen Sport und Schmerz ist es erlaubt auf die Verletzung
als rein mechanisches Problem zu fokussieren, aber die Vielfalt der Modelle eröffnet
gleichzeitig den Blick auf andere Möglichkeiten im Umgang mit Schmerz.
Mit Blick auf die Praxis lässt es sich in zwei Richtungen weiterdenken, einerseits mit
Hinblick auf Verletzungsprophilaxe beim Bewegungslernen und andererseits mit Fokus auf
Selbst- und Körpererfahrung. Die Bewegung in Verbindung mit dem Schmerz befindet sich
zwischen mehreren Polen.
Verletzungsprophylaxe
Schmerz hat etwas mit Verletzung und Schädigung von Gewebe zu tun. Dafür kann eine
Ursache - Trauma - gefunden werden und mit physiologischen, pharmakologischen und
psychologischen Mitteln behandelt werden (BASELER 1996). Hier kann vorgebeugt werden
mit Balanceübungen zur Koordinationssteigerung, mit Aufklärung über die Rolle von
Aufwärmen und Ausstrecken und geeigneten Trainingsprogrammen. Haltungsübungen,
Rückenschulen, Bewegungsprogramme oder Informationen über richtiges Schuhwerk
vervollständigen diesen Reigen. Hier gibt es eine hochentwickelte Praxis und gute
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Vorschläge von beispielsweise Medizinern, Physiotherapeuten oder Motopädagogen.
Körpererfahrung
Schmerz hat mit subjektiven Erfahrungen und dem Kontakt zum eigenen Körpererleben zu
tun. Entdecke ich die existenzielle Dimension in meinem Schmerz - was sagt er mir? -, dann
kann ich ihn deuten. Schmerz ist dann beispielsweise verbunden mit kindlichen
Erwartungsängsten oder Traumata, die sich in körperlichen Schutzhaltungen wiederfinden.
Ein Beispiel
Ein Universitätsprofessor hat chronische Rückenschmerzen. In einer Therapie findet er eine
Verbindung zwischen seinen Bandscheibenproblemen, seiner eigenen Körperhaltung und der
Körperhaltung seiner Eltern heraus. Er war das Kind armer Emigranten, die durch Nähen
versuchten, sich über Wasser zu halten und die Ausbildung ihres Sohnes zu finanzieren. Eine
der frühesten Erinnerungen des Klienten ist die gebeugte Haltung, mit der die Eltern über
der Nähmaschine sitzen. Eine gebeugte Haltung wurde für ihn zu einem unbewussten
Masstab für Leistung. Eine Haltung, die dem Mann Rückenschmerzen verursachte
(ROESSLER 1996, 211).
Dies ist seine subjektive Erfahrung und Erkenntnis, die in einer anderen Therapieform
vermutlich anders ausgesehen hätte. Wichtig ist jedoch, das die Selbst-Erfahrung, die
körperliche Erfahrung, hierbei ein Schritt zur Selbst-Behandlung darstelt. Neben klassischer
Psychotherapie können Bewegungsformen wie Yoga, Tai'Chi oder Qi-gong hier
ganzheitlichere Begegnungen vermitteln. Körpererfahrung oder Körpertherapie sind andere
Möglichkeiten, sich der subjektiven Ebene des Schmerzes anzunähern. Auch hier gibt es eine
nuancierte pädagogische und psychologische Praxis.
Kultur des Schmerzes
Schmerz ist jedoch mehr als eine Gewebeverletzung oder eine individuelle Selbsterfahrung.
Er hat eine kulturhistorische Dimension. Der einzelne Körper bringt etwas zum Ausdruck,
das mehr ist als individuelle Schutzhaltung.
"Das 'Bündel aus Muskeln, Haut und Blut und Knochen und Sehnen', das ist der Ort, wo die
Gefühle sein dürfen, nicht irgendwo anders. Jede Drillaktion ist wie ein Hinweis darauf und
jede ist danach strukturiert, ebenso wie die Strafaktionen(...). Und nach und nach akzeptiert
der Körper die Schmerzeingriffe an seiner Peripherie als Antwort auf sein
Lustbegehren" (THEWELEIT 1987, 151)
Anhand von Soldatenerinnerungen und Freikorpsromanen hat man die Schulung der
Rekruten im ersten Weltkrieg beschrieben. THEWELEIT sprach vom Umbau des Leibs in
der Kadettenanstalt. Entscheidend ist hierbei die Verbindung von Bewegungslernen und
Schmerz. Im Drill, beim Schleifen, lernt der Kadett seine Gefühle auszuschalten und seinen
Körper gegen Schmerz abzuhärten.
Die kulturell verankerte Disziplinierung oder Entfremdung des Körpers nehmen diesem die
freie Wahl. Die Verbindung von Schmerz und Bewegung erzählt eine Geschichte, die über
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eine Trennung in Subjekt und Objekt hinausgeht. Die Verbindung von Schmerz und Körper
erzählt auch eine kulturhistorische Geschichte. Wie in diesem Bereich eine - revolutionäre Praxis aussähe, wäre eine spannende Frage.
Die Verbindung von Schmerz, Körper und Bewegung befindet sich damit in einem Dreieck
aus medizinischer, psychologischer und kulturhistorischer Kausalität. Der physische Körper,
das psychische Ich und die soziale Beziehung greifen ineinander mit sehr unterschiedlichen
praktischen Konsequenzen.
4. Schmerz in der integrativen Bewegungslehre
"Damit ich aber diesen Körper spüren und auf ihn hören kann, muss ich ihn auch richtig
gebrauchen und bewegen, ich muss ihn regelmässig richtig "auf Touren bringen", der
frischen Luft und der Sonne aussetzen und möglichst aller seiner Hüllen
entledigen" (CIOMPI 1988, 289)
Die integrative Bewegungslehre muss sich den Schmerz aneignen. Sowohl in ihrem
Verständnis von Gesundheitsprophylaxe, bei der Behandlung und Prävention von Krankheit,
im Unterricht, in der Analyse des Gesundheitssystems als auch bei der Entwicklung von
Gesundheitspolitik. Bewegung und physische Aktivität spielen in diesem Zusammenhang
eine wichtige Rolle. Es besteht eine enge Verbindung zwischen Sich-Bewegen und SichWohlfühlen. Bewegung - unter passenden Voraussetzungen betrieben - kann gesund sein und
gesund machen. Physische Aktivität kann Zivilisationskrankheiten - z.B. Osteoporose, HerzKreislauf-Problemen, Diabetis II - vorbeugen, ja sogar mitwirken bei der Behandlung von
psychischen Problemen, z.B. durch Laufen als (unterstützende) Therapie von moderaten
Depressionen oder Angstneurosen. Laufen kann psychische Schmerzen vermindern, aber
auch ein Rheumatiker oder Asthmatiker, der den Widerstand des unmittelbaren
Bewegungsschmerz überwindet, zieht daraus einen gesundheitlichen und psychischen
Nutzen.
Die Erkenntnisse der Biopsychologie und Psychoneuroimmunologie zeigen, wie eng
verbunden körperliche und seelische Prozesse zusammenspielen. Je grösser z.B. die Angst
vor einem operativen Eingriff ist, desto grösser sind auch die postoperativen Schmerzen.
Menschen, die sich viel bewegen, haben ein besseres Körpergefühl, bessere Kontrolle und
weniger Stress (siehe auch BÖS/BREHM 1998)
Gesundheit wird normalerweise definiert als physisches, psychisches und soziales
Wohlbefinden (World Health Organisation/WHO). Das ist eine Möglichkeit. Eine andere
Möglichkeit ist es, Gesundheit als eine adäquate Bewältigung von Lebenskrisen zu verstehen.
Das Interessante daran ist die Verbindung von Körper, Bewegung und Identität, wie sie durch
Krisen hervorgebracht wird. Der Körper hat ein kulturelles und biographisches Gedächtnis
(ROESSLER 1996). Mein Körper erzählt etwas über meine Geschichte, biographisch,
familial und national, auch wenn dies verdrängt sein kann. Hier wird die Sache spannend.
Zumal gerade der Schmerz in Verbindung mit Bewegung eine zentrale Rolle spielt.
Im zu Beginn erwähnten Tanz auf Dornen ist es der Schmerz, der sowohl die Bewegung
hemmt, als auch die Ursache für die Entstehung des Schönen ist. Es hat seinen Preis, Kunst
zu produzieren. Der Schmerz ist zugleich der Störfaktor der Bewegung und der
Bewegungslehre und das subversive Element, das die Regeln durchbricht. Der Schmerz
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entzieht sich den Regeln. Er stellt den Dialog her zwischen dem verletzten Fuss und dem Rest
des Körpers, zwischen WALRAFF und seinen Mitläufern, zwischen einer Körperhaltung, der
Biographie und der Kulturgeschichte. Der Schmerz entsteht im Zwischenraum, dort wo die
einzelnen ihre Grenzen überschreiten, sei es beim Laufen, beim Klettern oder in der
Verletzung. Der Schmerz beschreibt die Grenze, die Berührungsfläche, zwischen Objekt und
Subjekt.
In der Bewegung treffen sich Geschichte und Körper, die aktualisert sich im Schmerz. Ihn
wahrzunehmen, zu beachten und zu bearbeiten wird eine Aufgabe der Bewegungslehre und
Bewegungskultur der Zukunft sein.
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