„Die Freiheit ist unantastbar?“ Zwang und Gewalt im psychiatrischen Kontext 41. BFLK Jahrestagung Göttingen, 11. April 2016 Dr. Ralf Schupp Ziele heute 1. Klärung: Welchen Beitrag kann die Ethik zur Debatte um Zwang und Gewalt in der Psychiatrie leisten? 2. Impuls: Was lässt sich aus ethischer Sicht zum Konzept von Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Zwang und Gewalt im psychiatrischen Kontext sagen? 2 20.04.2016 Agenda I. II. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen a. b. Medizinisch-psychiatrische Indikationsstellung Ethische Abwägung III. Zum Konzept der Selbstbestimmung 3 20.04.2016 I. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen Normative Vorschriften im Gesundheitswesen: Leitlinien: state of the art Rechtssystem: legal – illegal Moral: gut – schlecht; richtig – falsch 4 20.04.2016 I. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen Die moralische Dimension menschlichen Handelns: Freiheit, Verantwortung, Schuld 5 20.04.2016 I. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen Ethik = Wissenschaft von der Moralbegründung Moral Weltanschauung/Dogma Weltverbesserer Entscheidungsinstanz Was hat das mit Psychiatrie zu tun? 6 20.04.2016 I. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen 7 bereichsspezifische Ethiken (Bioethik, Umweltethik, Wirtschaftsethik, Medizinethik …): gesellschaftliche Relevanz enger Bezug zu den Fachdisziplinen Ethik in der Psychiatrie = Teil der Medizinethik 20.04.2016 I. Ethik in der Psychiatrie: Anspruch und Grenzen Unterscheide: deskriptive Ebene (Fakten, Empirie) normative Ebene (moralische Bewertung) → Interdisziplinarität und Dialog! argumentative Autorität der Ethik 8 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Der Hintergrund der aktuellen Debatte: Aufwertung des Rechts auf Selbstbestimmung Rechtsprechung und Gesetzgebung: Urteile von BVerfG und BGH (2011/2012) Novelle des Betreuungsrechts (2013) 9 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Was sind Zwangsmaßnahmen? a. Unterbringung psychisch Kranker im Krankenhaus b. Unterbringungsähnliche Maßnahmen c. Diagnostische und therapeutische Interventionen 10 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen a. Medizinisch-psychiatrische Indikationsstellung: erhebliche Selbst-/Fremdgefährdung Krankheitsspezifität, Unaufschiebbarkeit, Erfolgsaussichten ultima ratio mangelnde Einsichtsfähigkeit aufgrund psychischer Störung [kumulativ!] 11 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Aber: deskriptive Ebene! Gefahr des Sein-Sollen-Fehlschlusses 12 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen b. Ethische Abwägung: gut begründete moralische Bewertung → normative Ebene Prinzip der Fürsorge versus Prinzip der Selbstbestimmung (und des Nicht-Schadens) 13 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Primat der Freiheit: prinzipielle Vorrangstellung der Selbstbestimmung im Konfliktfall → die Nichtbeachtung der Willensäußerung eines Patienten braucht einen guten Grund! 14 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Was sind ethisch gute Gründe? Arbeitserleichterung personelle Unterbesetzung eigene moralische Überzeugung 15 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Ein ethisch guter Grund: mangelnde Fähigkeit zur Selbstbestimmung aufgrund einer psychischen Störung 16 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen schwacher und starker Paternalismus: 17 Maßnahmen gegen den Willen einer selbstbestimmungsfähigen Person = stark paternalistisch Maßnahmen gegen den natürlichen Willen einer selbstbestimmungsunfähigen Person = schwach paternalistisch 20.04.2016 II. Die Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen Die moralische Norm: Schwach paternalistische Maßnahmen sind erlaubt, stark paternalistische Maßnahmen nicht. 18 20.04.2016 Klärung: Der Beitrag der Ethik Klarstellung: Welche normativen Ansprüche stecken in der Debatte um Zwang und Gewalt? Forderung nach Begründung: Warum sind bestimmte Zwangsmaßnahmen unter bestimmten Umständen erlaubt? 19 20.04.2016 III. Zum Konzept der Selbstbestimmung Selbstbestimmung als Kompetenz: Fähigkeit zur rationalen Zweck-Mittel-Abwägung (kognitive Ebene – informed consent) Fähigkeit zur Selbststeuerung (emotionale Ebene) 20 20.04.2016 III. Zum Konzept der Selbstbestimmung Fallbeispiel 1: Patient mit akuter wahnhafter schizophrener Psychose, der imperative Stimmen hört 21 20.04.2016 III. Zum Konzept der Selbstbestimmung Fallbeispiel 2: Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die akut suizidal ist („Ich bringe mich heute um!“) 22 20.04.2016 Impuls: Ein erweitertes Konzept von Selbstbestimmung 23 Kompetenz Kohärenz: Zusammenpassen von Handlungen und langfristigen Werthaltungen des Patienten/der Patientin 20.04.2016 III. Zum Konzept der Selbstbestimmung Schwierigkeiten: Begriffsunschärfe Probleme mit der Feststellung Übertragungsphänomene Und der Richter? 24 20.04.2016 Fazit 25 Selbstbestimmung > Fähigkeit zum informed consent Kompetenz und Kohärenz 20.04.2016 Literatur 26 DGPPN: Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen – eine ethische Stellungnahme der DGPPN (2014) O. Friedrichs/J.-H. Heinrichs, Autonomie als Rechtfertigungsgrund psychiatrischer Therapien, in: Ethik Med (2014) 26, 317-330 M. Quante, Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg ²2014 20.04.2016 Anstoß 27 Welche Erfahrungen machen wir in unseren Einrichtungen mit Zwangsmaßnahmen? Mit welchem Selbstbestimmungskonzept begegnen wir unseren Patienten/Bewohnern? 20.04.2016