Ethische Probleme bei Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie Prof. Dr. Tilman Steinert Luzern, 22.1.2015 Freiheit Würde Patientenautonomie Menschenrechte Grundrechte Menschenwürde Recht auf Krankheit Stationsöffnung Vermeidung v. Zwangsmaßnahmen Empowerment Ärztliche Berufsordnung Shared Decision Making Sicherheit Fürsorgepflicht Fremdgefährdung Geschlossene Stationen Garantenpflicht Unterlassene Hilfeleistung Sicherheit v. Personal Sicherheit v. Mitpatienten Erwartungen von Dritten Entscheidungen über Zwangsmaßnahmen im ethischen Konfliktfeld Verhinderung von Haftungsansprüche! Fremdgefährdung ?? FürsorgeGarantenpflicht! pflicht Unterlassene Hilfeleistung! Risiko ohne Garantenpflicht! Intervention Unterlassene Hilfeleistung! PatientenFreiheitsberaubung! autonomie Risiko der Kunstfehler! Intervention Selbstgefährdung Wann ist Zwang gerechtfertigt? Wenn ja, wie? Fremdgefährdung Wann ist Zwang gerechtfertigt? Wenn ja, wie? Pinel (1745-1826) befreit 1793 die Insassen der Anstalt Bicêtre von ihren Ketten (Charles Muller, 1849) Arten von Zwangsmaßnahmen • Zwang zu Sicherungszwecken (freiheitsentziehende Maßnahmen) – – – – – – – Fixierung Isolierung Festhalten Bettgitter Ausgangsbeschränkung Geschlossene Station Einschränkungen der persönlichen Freiheit (Rauchen, Alkohol, Mediennutzung, elektronische Kommunikation) • Behandlung unter Anwendung von Zwang – – – – – – Medikamente (Psychopharmaka, andere) 4-Stufen-Programm Ernährung Medizinische Eingriffe Hygienische Maßnahmen unter Zwang Auflagen bei Hilfen („Leverage“) • Zwang als Therapie Elektroschocks und Isolation: Um „Kriegshysteriker“ zurück zur Front zu bringen, wurden in der noch jungen Disziplin drastische Methoden angewandt. „Kriegszitterer“ waren verpönt aus:TAZ „Ganze Kompanien wurden von nervösen Zuständen, Weinkrämpfen, Erbrechen und so weiter befallen“: Soldaten an einem Waldrand an der Westfront. Bild: dpa Zwangsbehandlung - „Chemical Restraint“ Fixierung heute USA, Deutschland, Italien, Norwegen… nicht: UK Fixierungen Bali/Indonesia (2010) Suryani et al., Eur Arch Psychiatr Clin Neurosci 2011 Segregation/Isolierung: Narrenturm in Wien Isolierung heute Schweiz, D, USA, Niederlande, UK, Schweden…nicht: Dänemark Isolierareal (4 Räume/Patient) in Delft/NL (2014) Isolierung Bali/Indonesien (2010) Suryani et al., Eur Arch Psychiatr Clin Neurosci 2011 Netzbett Forensische Psychiatrie, Deutschland 1967 Netzbett Wien, Tschechische Republik, Slowakei, Malta, Luxemburg BMJ 2003;327:1249 29. November Mentally ill patients in central Europe being kept in padlocked, caged beds Katka Krosnar Prague Einwickeln in Tücher 19. Jahrhundert Einwickeln in Tücher (2007) Schweiz, Niederlande Zwangsjacke Finnland 2007 Festhalten („Physical restraint“) UK, Irland 1. Selbstgefährdung Ethische Grundhaltungen in der Psychiatrie Medizinethische Prinzipien (Beauchamp & Childress) der Arzt ist verpflichtet: - Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung des Kranken zu wahren (Autonomie) - zum Wohl des Kranken zu handeln (beneficence) - nicht zu schaden (nonmaleficence) - zur Gerechtigkeit (Fairness) (Beauchamp und Childress 1994) Zwang in der Psychiatrie (und der übrigen Medizin) kann sich nur aus einer Schwächung der Autonomie rechtfertigen! (Ausnahme: Notfallsituationen) Rechtsbegriffe u. korrespondierende medizinethische Konstrukte Geschäftsfähigkeit freier = autonomer Wille Selbstbestimmungsfähigkeit/ Einwilligungsfähigkeit (selektiver) freier Wille Natürlicher Wille unfreier Wille Steinert & Borbé 2013 Kriterien der Einwilligungsfähigkeit • Informationen bezüglich der geplanten Behandlung verstehen können • Die Informationen auf die eigene Situation beziehen können • eine abwägende Entscheidung treffen können • die Entscheidung kommunizieren können Vollmann 2000 Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen unterliegt weiteren grundsätzlichen Einschränkungen… • letztes Mittel (last resort) in Ethik und Politik, • Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Recht (Deklaration von Madrid 1996, US-Kongress 1999, White Paper Europarat 2000, WHO, European Comittee for the Prevention of Torture (CPT), Minister des Europarats 2009) The Committee on the Rights of Persons with Disabilities has interpreted the core requirement of article 12 to be the replacement of substituted decision-making regimes by supported decision-making, which respects the person`s autonomy, will and preferences. … Patients in health-care settings are reliant on health-care workers who provide them services. As the previous Special Rapporteur stated: “Torture, as the most serious violation of the human right to personal integrity and dignity, presupposes a situation of powerlessness, whereby the victim is under the total control of another person”. Deprivation of legal capacity, when a person`s exercise of decision-making is taken away and given to others, is one such circumstance, along with deprivation of liberty in prisons or other places. …For example, the mandate has held that the discriminatory character of forced psychiatric interventions, when committed against persons with psychosocial disabilities, satisfies both intent and purpose required under the article 1 of the Convention against Torture, notwithstanding claims of „good intentions“ by medical professionals. … The doctrine of medical necessity continues to be an obstacle to protection from arbitrary abuses in health-care settings. It is therefore important to clarify that treatment provided in violation of the terms of Convention on the Right of Persons with Disabilities – either through coercion or discrimination – cannot be legitimate or justified under the medical necessity doctrine. Absolute ban on restraints and seclusion The mandate has previously declared that there can be no therapeutic justification for the use of solitary confinement and prolonged restraint of persons with disabilities in psychiatric institutions; both prolonged seclusion and restraint may constitute torture and ill-treatment. … Forced interventions, often wrongfully justified by theories of incapacity and therapeutic necessity inconsistent with the Convention on the Rights of Persons with Disabilities, are legitimized under national laws, and may enjoy wide public support as being in the alleged “best interest” of the person concerned. … Concern for the autonomy and dignity of persons with disabilities leads the Special Rapporteur to urge revision of interventions. domestic legislation allowing for forced • Impose an absolute ban on all forced and non-consensual medical interventions against persons with disabilities, including the non-consensual administration of psychosurgery, electroshock and mind-altering drugs such as neuroleptics, the use of restraint and solitary confinement, for both long- and short-term application. • Any legal provisions to the contrary, such as provisions allowing confinement or compulsory treatment in mental health settings, including through guardianship and other substituted decisionmaking, must be revised. Sicherungsmaßnahmen oder Zwangsbehandlung? Pro Behandlung • Sicherungsmaßnahmen kürzer • Behandlung bessert den Zustand, der zu Zwang Anlass gab • Behandlung ist Aufgabe eines Krankenhauses, Sicherung nicht • Gefährdung ist krankheitsbedingt und behandelbar Pro Sicherung • nicht zusätzlich invasiv • Patientenorganisationen (nicht alle) und Menschenrechtskommissionen wehren sich insbesondere gg. Zwangsbehandlung • Stellungnahme EK Dt. Bundesärztekammer • tlw. Patientenpräferenzen pro Isolierung • Reizabschirmung kann auch therapeutisch wirken • rechtlich größere Hürde Mittlere Dauer von Zwangsmaßnahmen • • • • • • Deutschland: Österreich: Schweiz: Niederlande: Malaysia: England: Fixierung 8 Std.Isolierung 3,6 Std. Fixierung und Isolierung 4,5 Std. Fixierung und Isolierung je 41 Std. Isolierung 16 Tage Anketten 8,3 Jahre Festhalten 20 Minuten Steinert et al. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2010 Training C&R in England (2007) 4-Stufen-Konzept (ProDema 2011) Stufe 3 4-Stufen-Programm als neuer Weg? + + + + + + - keine reine Sicherungsmaßnahme schmerzfreie sichere Haltetechniken Patienten fühlen sich in ihrer Würde respektiert im besten Sinne psychotherapeutisch (wenn richtig angewendet) Medikation spielt eine wichtige Rolle, aber weniger im Sinne einer Zwangsmedikation als im Sinne eines zu erstrebenden Konsensus kurze Dauer nicht für alle Patienten geeignet (z.B. Intoxikierte) ausreichend gut geschultes Personal erforderlich (4) bisher keine vergleichenden Studien, Sicherheit nicht systematisch untersucht (bei anderen Maßnahmen allerdings auch nicht) 2. Fremdgefährdung „…haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen“ Musterberufsordnung für die in Deutschland tätige Ärztinnen und Ärzte (BÄK 2011) Für die Fremdgefährdung erweitert sich die ethische Matrix: Gutes tun Patient Mitarbeiter Angehörige Gesellschaft Schaden vermeiden Autonomie Fairness Anders gelagerte ethische Probleme • Divergierende gesellschaftliche Erwartungen in Bezug auf Selbst- und Fremdgefährdung • Der Grundsatz der weitestmöglichen Respektierung von Autonomie ist bei vorrangiger Fremdgefährdung nicht aufrecht zu erhalten • Krankheitsbedingte und behandelbare FG geht meistens mit Selbstgefährdung und fehlender Selbstbestimmung einher, die Behandlung ist insofern ethisch vergleichsweise unproblematisch • Erhaltene Selbstbestimmung schließt bei FG nicht Zwang aus, sondern wirft die Frage auf, wer ihn ausüben soll Wichtige Fragen • Welche Zwangsmaßnahmen stellen eine ärztliche Behandlung dar? • Was ist die Aufgabe des Arztes bei Zwangsmaßnahmen, die keine Behandlung darstellen? • Darf ein Arzt bei Fremdgefährdung Medikamente ausschließlich zu Sicherungszwecken („Ruhigstellung“) verordnen (mit Medikamenten, die für diesen Zweck nicht zugelassen sind)? • Besteht eine zwangsläufige Zuständigkeit der Psychiatrie für die Sicherung von Personen, die fremdgefährlich und psychisch gestört (i.S. der ICD-10) sind, für die es aber keine Behandlungsoption gibt? Vorläufiges Fazit I • Die Anwendung von Zwang zur Freiheitseinschränkung und Behandlung bei Selbstgefährdung ist ethisch und rechtlich hinreichend geklärt. Dennoch ergeben sich aus fachlichen und menschenrechtlichen Gründen starke Forderungen, Anstrengungen zur Verringerung von Zwangsmaßnahmen zu intensivieren. Vorläufiges Fazit II • Die Anwendung von Zwang jenseits der Behandlung einer Erkrankung wirft grundsätzliche Fragen der ärztlichen Aufgabenstellung auf. Eine vorschnelle Annahme einer „Doppelfunktion“ der Psychiatrie birgt die Gefahr des Missbrauchs. Eine ausschließlich fremdnützige Anwendung von freiheitseinschränkenden Zwangsmaßnahmen oder Verabreichung von Medikamenten zur Sicherung sind primär keine ärztliche Aufgabe.