Glaube und Patriotismus:

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Bischof Christopher Hill, Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen
Glaube und Patriotismus: Einige “Momentaufnahmen” und Gedanken zu 1914 und der
Zeit danach
Einleitung
Glaube und Patriotismus – ein komplexes Thema mit offensichtlichen Ungereimtheiten in
jedem Zeitalter. In meinem ‚Ruhestand’ denke ich über die Kostbarkeiten der romanischen
Kathedrale von Gloucester nach. Das Ostfenster stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist eines
der größten gotischen Fenster, das je gebaut wurde: ungefähr 22 Meter hoch und 11,5 Meter
breit. Man nimmt an, dass es sich hierbei um ein Kriegsdenkmal für die Soldaten von
Gloucestershire und dem West Country handelt, die 1346 in der Schlacht von Crécy gefallen
sind. Das Fenster diente sicherlich als ein Symbol für die erfolgreiche englische Vorherrschaft
in den langen Kriegen mit Frankreich. Aber natürlich stritten sie nicht um den Glauben.
Ungereimtheiten sind nichts Neues, doch im 20. Jahrhundert und nach zwei Weltkriegen
haben wir sie zugespitzt kennengelernt. Ich möchte hier nur einige ‚Momentaufnahmen’ für
unser gemeinsames Nachdenken anbieten, ohne Anspruch auf einen systematischen Überblick
zu erheben. Ein solcher würde mehrere Bände füllen und diesen kurzen Vortrag sprengen.
Der Edwardianische Sommer
Zunächst muss ich jedoch den Schauplatz des Geschehens schildern. Während des gesamten
19. Jahrhunderts bestand in England (besonders in der Kirche von England) ein großes
Interesse an der deutschen Theologie. Nicht allem wurde zugestimmt. Dr. Edward Bouverie
Pusey, der große Traktarianer (Oxford Bewegung/ Bewegung der anglikanischen Hochkirche)
studierte in den 1820er Jahren in Göttingen und Berlin. Er lernte die führenden deutschen
Bibelkritiker kennen. Im Jahr 1828 schrieb er gegen den seiner Meinung nach
rationalistischen Charakter der deutschen Theologie. (Ironischerweise befindet sich im Pusey
Haus in Oxford die beste und umfangreichste Sammlung von Originalwerken vieler deutscher
Theologen des frühen 19. Jahrhunderts, die Pusey zusammen getragen hatte. Die Verwüstung
und das allgemeine Chaos im zweiten Weltkrieg brachten es mit sich, dass viele Originale in
Deutschland zerstört wurden.) Mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Bibelkritik an den
britischen Universitäten im 19. Jahrhundert wuchs die Sympathie für die deutsche Theologie.
Vor den radikaleren deutschen Schlussfolgerungen in der Bibelkritik, besonders in Bezug auf
das Neue Testament, scheuten die englischen Theologen allerdings zurück. Dazu gibt es
natürlich zahlreiche Literatur. Eine sehr gute Zusammenfassung über die Beziehung zwischen
englischer und deutscher Theologie im 19. Jahrhundert findet man bei Peter Hinchliff.1 Im
ersten Teil meines Vortrages beziehe ich mich auf dieses Werk zusammen mit einer
Darstellung der englisch-deutschen Friedens-Austausche von 1908–09 von Keith Clements.2
In den Jahren unmittelbar vor 1914 (die im Englischen oft als das “Edwardianische Zeitalter”
nach König Edward VII bezeichnet werden) schien England voller Frieden, Gewissheit und
Optimismus (vielleicht mit Ausnahme von Irland). Es gab legendär heiße Sommer und die
Musik von Elgar schien geradezu passend (was übrigens zuerst in Deutschland erkannt
wurde). In der Theologie spricht man eher von einem ‚silbernen’ als von einem ‚goldenen’
1
Peter Hinchliff, God and History: Aspects of British Theology 1875 – 1914, Clarendon Press, Oxford 1992.
Erschienen in Ecumenical Dynamic: Living in more than one place at once, WCC, Genf 2013, 57-76.
Clements veröffentlichte einen Teil dieses Materials schon früher in The Ecumenical Review, 59, Nr. 2-3, 2007.
2
1
Zeitalter. In der Philosophie war gerade der Idealismus modern und schien mit dem Glauben
gut vereinbar. Man sprach von der „neuen Theologie’.3 Charles Gore, zunächst Bischof von
Oxford, dann von Worcester und Birmingham, entwickelte ein sozial engagiertes,
sakramentales Verständnis des Christentums. Der schottische (reformierte) Philosoph und
Theologe Edward Caird erwies sich als einflussreich, indem er eine neo-Hegelianische
Bewegung in die britische Theologie einführte. R. J. Campbell, ein Kongregationalist, der
später anglikanischer Priester wurde, propagierte diese ‚neue Theologie’, die von Caird und
Hegel, sowie Schleiermacher abstammte und über den französischen Protestanten Sabatier
eingeführt wurde. Nur B. F. Westcott, der Neutestamentler und spätere Bischof von Durham,
beschäftigte sich anlässlich einer frühen Konferenz im Jahr 1889 mit internationalen Fragen,
besonders mit dem Marinewettrüsten (das ein solch ausschlaggebender Faktor für die
Rivalität zwischen Großbritannien und Deutschland war).
Unmittelbar vor 1914 bietet die interessanteste ‘Momentaufnahme’ in der englischen
Theologie wohl B. H. Streeter. So auch für unsere Zwecke, was die kritische Würdigung der
deutschen Forschung betrifft. Streeter interessierte sich vor allem für den Ursprung der
synoptischen Evangelien. Er trat für Q als primäre literarische Quelle vor den Synoptikern
ein. Hier stand Streeter unter dem großen Einfluss von Adolf Harnack. Die Q-Theorie blieb in
der britischen neutestamentarischen Forschung wichtig und hat immer noch Anhänger.
Streeter zeigte auch großes Interesse an der Suche nach dem historischen Jesus. – Dazu
gehörte auch ein groß angelegtes Projekt seines eigenen Mentors William Sanday. Auch
Albert Schweitzers Geschichte der historischen Leben- Jesu-Forschung beeinflusste ihn sehr.
Andere englische Neutestamentler lasen ebenfalls Schweitzer, darunter William Temple, A.J.
Rawlinson und F.C. Burkitt.
Innerhalb der Kirchenleitung gab es auch bedeutende Kontakte zwischen Großbritannien und
Deutschland. Der Quäker Josph Allan Baker hatte an der Hager Friedenskonferenz von 1907
teilgenommen und war davon überzeugt, dass sich hier auch die Kirchen engagieren sollten.
Baron Eduard de Neufville war sein Kollege auf der deutschen Seite. Baker erzielte die
Unterstützung der Regierung und des Erzbischofs von Canterbury Randall Davidson und
konnte dafür auch Fonds vom Schokoladen-Großfabrikanten Joseph Rowntree, ebenfalls
Quäker, sicherstellen. Auch von römisch katholischer Seite kam Unterstützung. Im Juni 1908
gingen 131 deutsche Gäste in Southampton von Bord und wurden in London und Schottland
festlich bewirtet. Darunter befand sich der leitende Hofgeistliche Ernst von Dryander. Sogar
ein Empfang bei König Edward VII gehörte zum Programm. Mit ihren Gastgebern erklärten
sie, dass ein Krieg undenkbar sei. Ein Gegenbesuch in Deutschland fand im Juni 1909 statt.
Unter den Gästen befanden sich sechs Bischöfe. Die Gesinnung des vorangegangenen Jahres
wurde bestätigt und Kaiser Wilhelm II empfing sie mit vielen Emotionen in Potsdam. Man
kam überein, dass den beiden Besuchen mehrere nachfolgen sollten und zwar mit einer
gewissen Struktur verbunden. Somit wurde der Vereinigte Kirchenrat der britischen und
deutschen Reiche zur Förderung der freundlichen Beziehungen zwischen den beiden Völkern
gegründet. Das britische Début fand im Februar 1911 statt und Adolf Harnack war dort
Gastredner.
3
Siehe Hinchliff, op. cit., 199 ff.
2
Mein erster Punkt innerhalb der unvollständigen Zusammenfassung der theologischen
Aktivitäten unmittelbar vor 1914 ist, aufzuzeigen, dass die anglikanischen sowie andere
britische Theologen (und auch führende Kirchenmänner wie Gore und Temple) die deutsche
Theologie sehr wohl kannten, sie lasen und respektierten, selbst wenn sie mit dieser nicht
immer übereinstimmten. Damals gab es auch die breit angelegte Englisch-Deutsche
Bewegung der Freundschaft, die sich nur Tage vor Ausbruch des Krieges wieder am
Bodensee treffen sollte, um die Weltallianz zur Förderung der internationalen Freundschaft
durch die Kirchen zu gründen. Tatsächlich traf sich die Weltallianz während des Krieges 1915
in Bern und danach nochmals 1919. Unter den Abgesandten der letztgenannten Konferenz
befanden sich George Bell und Nathan Söderblom, der Erzbischof von Uppsala. So gab es
viele Kontaktpunkte zwischen den britischen und deutschen Kirchen, sowohl auf
theologischer als auch auf Kirchenleitungsebene.
Als zweiten Punkt möchte ich das Fehlen irgendeiner ernsthaften theologischen Diskussion
weder über den Nationalismus oder den Patriotismus aufzeigen, noch über die dem Krieg
zugrunde liegenden Ursachen. Letzteres mit Ausnahme von Westcott. Die englischen
Theologen beschäftigte vor allem Fragen, wie der Glaube mit dem ‚modernen’ Wissen in
Bezug gesetzt werden sollte oder Fragen der historischen Ursprünge des Christentums. Einer
der anglikanischen Theologen, von dem man hätte erwarten können, dass er Fragen der
Staatsloyalität und des Patriotismus aufgreifen würde, wäre Fr. Neville Figgis von der
Gemeinschaft der Auferstehung gewesen. Er war ein Schüler des ausgezeichneten Historikers
Lord Acton. Aber in seinem sonst sehr sachdienlichen Werk über Kirchen im modernen Staat4
nähert er sich dem Thema Patriotismus nur mit folgender klaren Lehre, dass die soziale
Freiheit nur dann gegenüber dem modernen alles beherrschenden Staat garantiert werden
kann, wenn dabei mehr als die individuelle Freiheit gewonnen wird. Die wahre Frage der
Freiheit bestand für ihn darin, dass kleinere Gemeinschaften die Freiheit haben sollten,
innerhalb der weiteren Gemeinschaft des Staates zu leben.
Um beide Punkte zu illustrieren füge ich hinzu, dass Adolf Harnacks Entstehung und
Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten
innerhalb weniger Monate nach seiner Veröffentlichung in Leipzig 1910 ins Englische
übersetzt worden ist. Die englische Herausgabe erfolgte durch H. A. D. Major, einer der
Begründer des anglikanischen ‚Modernismus’ und ein Verfechter der neuen Theologie.
Weder Harnack noch Major beschäftigten sich mit unserer Frage.
1914
Im Sommer 1914, als die Welt buchstäblich auseinander brach, nahm George Bell seine Stelle
als Privatsekretär von Randall Davidson, dem Erzbischof von Canterbury auf. Bell war
Schüler von William Temple und Henry Scott-Holland, die ihn in punkto soziales und
industrielles Bewusstsein beeinflusst hatten. Beinahe am selben Tag, dem 1. August, schrieb
Davidson an Dryander, den leitenden Hofgeistlichen von Kaiser Wilhelm II:
„Krieg zwischen zwei großen christlichen Nationen einer verwandten Rasse und mit
Sympathien für einander ist oder sollte im 20. Jahrhundert undenkbar sein.“5
4
5
Neville Figgis, Churches in the modern state, Longmans Green, London 1913.
G. K. Bell, Randall Davidson, London 1952, 732-3.
3
Am folgenden Tag hörte der Erzbischof den britischen Außenminister Sir Edward Grey im
Parlament sprechen und verließ dieses mit der Überzeugung, dass es keine Alternative gab.
Anfang September traf in Lambeth ein Brief aus Deutschland ein. Er trug den Titel: „Aufruf
an die Evangelischen Christen im Ausland“. Die Verfasser des Briefes waren die führenden
Köpfe der Englisch-Deutschen Freundschaftsbewegung in Deutschland. Unter den
Unterzeichnern befanden sich Adolf Harnack, Adolf Deißmann und Dryander selbst. Sie
leugneten, dass Deutschland für den Krieg verantwortlich wäre und sprachen von der
Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910. Im Brief stand ferner:
„Aus tiefster Überzeugung heraus schreiben wir ihn jenen zu, die schon lange geheim
und listig ein konspiratives Netz gegen Deutschland gesponnen und nun über uns
geworfen haben, um uns darin zu erdrosseln.“6
Davidson und die anderen Erzbischöfe (York und Armagh) sowie Kirchenleitende aus den
Freikirchen wiesen dies zurück.
Zwei Monate später war Harnack einer der Unterzeichner des sog. Manifestes der
Intellektuellen. Karl Barth sollte dies als eine Perversion der christlichen Ethik, Dogmatik, der
biblischen Interpretation und Geschichte bezeichnen. Britische Theologen waren zutiefst
schockiert über die von ihnen wahrgenommenen Einstellungen ihrer deutschen Kollegen, mit
denen viele unter ihnen so lange theologische Partnerschaften gepflegt hatten. Sowohl
Theologen als auch bekannte Prediger nahmen auf beiden Seiten der Nordsee Stellung.
Bereits damals gab es einige anglikanische Theologen, die sich kritisch über die Annahme
eines ungehinderten, intellektuellen und moralischen Vorankommens äußerten, wie man es
als Erbe von der Theorie des liberalen menschlichen Fortschrittes im 19. Jahrhundert
übernommen hatte. Neville Talbot, der später Erzbischof von Pretoria in Südafrika werden
sollte, schrieb bereits in seinem Buch Foundations (Fundamente), dass sich das ‘moderne
Zeitalter’ vom 19. Jahrhundert durch den Glauben unterschied, dass die Wissenschaft den
Menschen das Gefühl gegeben hatte, dass Materie wichtiger war als Geist und Seele, dass der
unvermeidliche Fortschritt der Menschheit zerstört worden und dass nichts absolut richtig
oder falsch war. Auch dass das Vertrauen in eine ‚Freihandels’-Wirtschaftsideologie
verflogen war.
Von diesen Einsichten abgesehen wurde vor 1914 sehr wenig geschrieben, das uns zeigen
könnte, dass Theologen oder Kirchenleitende vorbereitet gewesen wären, die katastrophalen
Umwälzungen zu verstehen, die bald über die Länder hereinbrechen würden. Laut Peter
Hinchliff:
“Sie waren einfach nicht mit dem notwendigen Handwerkszeug ausgestattet, um eine
Theologie der Tragödie zu schaffen.“7
Und die christlichen Kirchen in Deutschland und Großbritannien beteten um den Sieg und
predigten, dass Gott auf ihrer Seite war. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Predigten in
den Freikirchen und in der Kirche von Schottland in keiner Weise von der Kirche von
England. Die römisch-katholischen Stimmen waren genauso scharf. Polemiker wie Hilaire
Belloc und G. K. Chesterton (der 1922 tatsächlich römisch-katholisch wurde) verglich den
6
7
Ebd., 740 ff.
Hinchliff, op. cit., 246.
4
Krieg mit dem Kampf der deutschen Reformation gegen den Katholizismus!8 Nicht dass alle
Predigten und Erklärungen seitens der Kirchenleitenden kriegstreibend waren. Cosmo Gordon
Lang, brachte sich als Erzbischof von York 1914 selbst in Schwierigkeiten, als er von der
„heiligen Erinnerung“ an Kaiser Wilhelm II sprach, den er kniend im Gebet vor dem Sarg
seiner Großmutter Königin Viktoria vorgefunden hatte. So geschehen in Osborne, auf der
Insel Wight, wo die Herrscherin 1901 verstorben war.
Jedoch kamen auch Beispiele kritischen Bewusstseins auf: Einer davon war Henry ScottHolland (der Bell beeinflusst hatte und 1918 starb). Heute ist er am ehesten auf Grund einer
seltsamen Predigt über den Tod bekannt, sowie wegen eines wunderbaren Kirchenliedes, das
noch immer gesungen wird und die folgenden Zeilen beinhaltet:
„Mit deinem lebendigen Feuer des Gerichtes
Reinige dieses Reich von bitteren Dingen“
und
„Reinige unser ganzes Reich9
Durch die Herrlichkeit des Herrn“.
Entwicklungen nach 1918
George Bell (der selbst in den letzten Kriegswochen seine beiden jüngeren Brüder verloren
hatte) befand sich nach 1918 als Privatsekretär des Erzbischofs von Canterbury im Zentrum
der Versöhnung und des Wiederaufbaus. Die Geschichte von Bell und den deutschen Kirchen
wurde im hervorragenden Werk von Andrew Chandler (deutsch etwa: Brüder im Unglück:
Bischof George Bell und die Krise im deutschen Protestantismus 1933-1939) gut
dokumentiert.10 Dieser Teil meines Vortrages geht auf Andrew Chandlers Arbeit zurück,
obwohl ich selbst als Sekretär des Nachfolgegremiums in Lambeth die einschlägigen
Aufzeichnungen des Rates für Auswärtige Angelegenheiten der Kirche von England, auf die
sich Chandler bezieht, sorgfältig gelesen habe.
Aber zunächst Worte der Vorsicht. Hier ist es wichtig, den historischen Unterschied zwischen
unseren Kirchen in ihrer jeweiligen Beziehung zum Staat zu verstehen. Trotz aufeinander
folgender Übereinstimmungsgesetze [im 16. Jahrhundert, dann nach der Restoration 1662-3],
die implizieren, dass das englische Volk anglikanisch und die Kirche englisch war, entspricht
diese nationale Ekklesiologie nicht der britischen Geschichte. Von Anfang an hatte es
radikalere englische Protestanten gegeben, die mehr Calvin und Zwingli nachfolgten als
Luther, so wie eine Reihe von einheimischen unabhängigen Kongregationalisten und
Baptisten. Rekusanten, ‘Papisten’, hielten an der Gemeinschaft mit der Kirche von Rom fest,
wobei viele sich fallweise in den Rahmen der Kirche von England einfügten. Im 17.
Jahrhundert wurde selbst der Anglikanismus abgeschafft und seine Anhänger unter der
Commonwealth [geführt von Oliver Cromwell] verfolgt. Ab dem 18. Jahrhundert war die
Duldung sowohl katholischer als auch protestantischer „Nicht-Konformisten“ üblich.
Rechtliche Einschränkungen aufgrund von Religion wurden nach und nach bis zur Mitte des
8
Louis Jebb, Tablet, 11. Januar 2014.
„Cleanse the body of our empire“. Das Wort ‚empire‘ wird jetzt meistens durch ‚nation‘ ersetzt.
10
Andrew Chandler, Brethren in Adversity: Bishop George Bell, the Church of England and the Crisis in
German Protestantism 1933-1939. Church of England Record Society, Boydell Press, 1997.
9
5
19. Jahrhunderts abgeschafft. Nur vom 16. Jahrhundert könnte man möglicherweise
behaupten, dass die Theorie cuius regio, eius religio gegolten hat. Ferner ist – seit Elizabeth I
- der oder die Monarch/in Supreme Governor (nicht Oberhaupt) der Kirche von England. Dies
war nie mit dem deutschen Landesherrn als summus episcopus gleichzusetzen, wie es Artikel
37 (der 39 Glaubensartikel) klar macht:
„Wir geben unseren Herrschern weder das Amt des Wortes Gottes noch der
Sakramente.“
Luthers Unterscheidung zwischen den Aufgabengebieten der Kirche und des Gesetzes, scharf
getrennt mit den ‚zwei Reichen’ der Religion und der Politik, konnte man in der Kirche von
England niemals finden. Die Bischöfe sitzen bis heute im Oberhaus als Teil der
Wahlberechtigten innerhalb der gesetzgebenden Gewalt. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden
die Bischöfe aufgrund ihrer loyalen Überzeugung gewählt, also ob Tory oder Whig
(königstreu, konservativ oder liberal). Im 19. Jahrhundert führten evangelikale (nicht
evangelische) Mitglieder des britischen Unterhauses Kampagnen gegen den Sklavenhandel.
Im 19. Jahrhundert bekam die gesamte Kirche durch den Einfluss des christlichen Sozialismus
(durch Schriftsteller wie Charles Kingsley) ein soziales Bewusstsein. Dies führte zu
praktischen Linderungen der Armut so wie zu politischen und wirtschaftlichen
Stellungnahmen. Im 20. Jahrhundert führte diese Tradition mit William Temple in der von
uns in Betracht gezogenen Zeit zu ihrem Höhepunkt.
Eine der maßgeblichen Auswirkungen des 1. Weltkrieges lag darin, dass die britische
theologische Gemeinschaft das Vertrauen in die theologischen Erkenntnissen ihrer deutschen
Kollegen verloren hatte. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund der Bestürzung britischer
Theologen über die scheinbar unkritische Rechtfertigung für das Deutsche Reich
(insbesondere der Invasion von Belgien). Theologen und Kirchenleitende wie Arthur
Headlam (der zusammen mit Sanday an einem wichtigen Kommentar zu den Römerbriefen
arbeitete) sprachen von einer Überfülle an deutschen Theorien. Er wurde zusammen mit Bell
eine wichtige Persönlichkeit in der sich entwickelnden Ökumenischen Bewegung und später
auch Bischof von Gloucester. Wie wir noch sehen werden, unterschied er sich in seiner
Einschätzung des deutschen ‚Kirchenkampfes’ radikal von Bell.
Das Interesse an der deutschen Theologie lebte erst wieder langsam mit dem Diskurs über die
Formgeschichte auf, verbreitete sich aber noch mehr mit Barths Römerbrief, der von Sir
Edwyn Hoskyns übersetzt worden war. Michael Ramsey wurde davon sehr beeinflusst. In der
Zwischenzeit hatte Bell, seit 1924 Domprobst von Canterbury Cathedral, zusammen mit
Adolf Deißman eine Reihe von Konferenzen für britische und deutsche Theologen organisiert
(1927, 1928 und 1931). Dort bemerkte Bell einen radikalen Interpretationsunterschied, was
die Beziehung zwischen dem Reich Gottes und dem Leben der Kirche betraf.11
11
Chandler, op. cit., 5-10 und Clements op. cit., 110
6
Die Kirche von England und der Kirchenkampf
Während Bell, Headlam und andere Anglikaner nicht viel über Luther wussten, noch über die
detaillierte Geschichte der deutschen Kirchen, sei es der lutherischen, reformierten oder der
unierten, so waren sie doch gut und direkt über den sich abzeichnenden Kirchenkampf
informiert. 1933 wurde der Rat für Auswärtige Angelegenheiten der Kirche von England
aufgrund der Bemühungen von Bell und Headlam gegründet. Headlam war nun Bischof von
Gloucester und wurde dessen erster Vorsitzender. Im selben Jahr wurde Adolf Hitler
deutscher Reichskanzler. Manche Anglikaner sahen den Wahlsieg Hitlers als Folge der
erniedrigenden Bedingungen des Vertrags von Versailles. Darunter befand sich auch Cosmo
Gordon Lang, der 1928 Erzbischof von Canterbury geworden war und der das ‚Rachsüchtige
und Willkürliche’ darin verurteilte.12 Andere waren erstaunt, dass viele deutsche
Kirchenmänner der Meinung waren, dass Hitler Deutschland vor dem Kommunismus gerettet
hatte.13
Der Korrespondent Norman Ebbut von der Times in Berlin lieferte genaue Berichte über den
Kirchenkampf und auch die Kirchenpresse in England bot gute Berichterstattung. Headlam
erhielt regelmäßige Berichte für den Rat für Auswärtige Angelegenheiten vom
Botschaftspfarrer in Berlin Ronald Cragg. Auch der Erzbischof von Canterbury erhielt
Informationen durch den Rat und benutzte außerdem offizielle Kontakte durch das Britische
Außenministerium. Bell hatte ‚Freunde’ im Außenministerium, aber auch ein weites
wachsendes ökumenisches Netzwerk. Darunter befand sich auch Dietrich Bonhoeffer, den
Bell kennengelernt hatte, während dieser Mitte der Dreißiger Jahre Pfarrer in der Lutherischen
Kirche in Forest Hill, Süd-London war. Auch stattete er Deutschland regelmäßige Besuche
aufgrund seines Engagements für die Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work
Movement) ab, die schließlich zu einem wesentlichen Bestandteil des Ökumenischen Rates
der Kirchen wurde. Clements sagt über die Oxforder Konferenz der Bewegung von 1937, in
der man sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche beschäftigte, dass ‚die Kirchen 1939
viel besser auf einen Krieg vorbereitet waren als im Jahr 1914’14.
Die beste und genaueste Beschreibung des Kirchenkampfes auf Englisch finden wir in
Chandlers Brethren. Bis zum Jahr 1933 hatten viele englische Bischöfe gegen die
Konzentrationslager und die Verfolgung der Juden protestiert, darunter auch der Erzbischof
von Canterbury mit seiner öffentlichen Verurteilung der Kristallnacht in der Times.15 Der
Bischof von Durham, der legendäre Hensley Henson ging sogar soweit vorzuschlagen, dass
die Ermordung Hitlers eine gute christliche Tat wäre. Sogar jene, die eine pazifistischere
Gesinnung hatten, wie Dick Sheppard an der St. Paul’s Kathedrale, spürten den Ernst und die
Gefahr der Lage.16 Chandler argumentiert überzeugend, dass englische Beobachter den
Kirchenkampf nicht so sehr als Kampf um den Glauben sahen, sondern vielmehr als Konflikt
zwischen Kirche und Staat. Andrerseits sahen deutsche Beobachter vom Standpunkt der
Bekennenden Kirche aus den Kampf als zutiefst doktrinär aufgrund der Bankrotterklärung des
12
Robert Beaken, Cosmo Lang, London 2012, 183.
Chandler, op. cit., 10.
14
Clements op. cit., 111
15
Beaken, op. cit., 185.
16
Vergl. Chandler, op. cit., 11-20.
13
7
liberalen Protestantismus und der Naturtheologie. Bell richtete seine Kritik nicht so sehr
gegen die sich ruhig verhaltende Kirchenleitung, personifiziert im Reichsbischof Müller,
sondern gegen die staatliche Tyrannei, die der Kirche Müller vorsetzte.17
Aber man sieht nicht nur Unterschiede im englischen und deutschen Verständnis des
Kirchenkampfes. Auch unter den anglikanischen Beobachtern gab es wohlbekannte
unterschiedliche Auffassungen. Headlam war, im Gegensatz zu Bell, der Meinung, dass die
deutsche Regierung nicht kritisiert werden solle, da dies die deutsche Kirche politisch
gefährden würde. Er war kein großer Liebhaber der Barthschen Tendenz der Bekennenden
Kirche. Natürlich verwarf er einen Glauben, der die Rasse über Gott stellte. Aber er vertrat
die Meinung, dass es den deutschen Kirchen möglich sein sollte, ihren Glauben in einer
angemessenen deutscher Kultur zum Ausdruck zu bringen. Er unterstützte Pfarrer, die weder
Mitglieder der Partei der Deutschen Christen noch der Bekennenden Kirche waren. Er war
gegen eine Einmischung in die ‚internen Schwierigkeiten einer anderen Kirche’. Der
Erzbischof von Canterbury, obwohl sonst von Natur aus ein vorsichtiger Konservativer, ließ
sich eher von Bell als von Headlam beeinflussen, wenngleich letzterer den Vorsitz in seinem
Rat für Auswärtige Angelegenheiten führte.
Am anderen Ende des Spektrums befand sich der Bibliothekar des Rats für Auswärtige
Angelegenheiten A. J. Macdonald, der der deutschen Regierung und ihren Strohmännern in
der Kirche übermäßige Sympathien entgegen brachte. Einige Zeit lang blieb dies ein interner
und vertraulich behandelter Meinungsunterschied. 1937 kam es aber in einer
Kirchenversammlung (Vorläuferin der Generalsynode) klar ans Tageslicht. Headlam fand die
neo-heidnischen Bewegungen übertrieben und bestritt, dass es in Deutschland religiöse
Verfolgungen gab. Bell erklärte vehement das Gegenteil. Temple (nun Erzbischof von York)
unterstützte Bell. Lang (als Erzbischof von Canterbury) bemerkte zwar diplomatisch, dass
Headlams Ansichten auch seine eigenen wären, fügte aber hinzu, dass Hitler seine Macht
niemals positiv eingesetzt hätte! Später wurde Lang noch weiter durch Headlam in
Verlegenheit gebracht. Öffentliche Brief wurden zwischen ihm und Bell ausgetauscht, in der
jeder seine Position klar darlegte. Diese scharfen englischen Meinungsverschiedenheiten
setzen die unterschiedlichen Standpunkte und Überzeugungen jener Zeit auf der deutschen
Seite in Perspektive.
Viele Jahre später wird Ulrich Simon ein Werk über die Interpretation der Geschichte 1913 –
1963 schreiben.18 So wie das Lesen dieser konfliktreichen vertraulichen Protokolle des Rates
für Auswärtige Angelegenheiten in Lambeth und der Debatte der nachfolgenden
Kirchenversammlung, ist auch Ulrich Simon für mich von persönlicher Bedeutung. Ulrich
Simon war der Sohn jüdischer Eltern und wuchs in Berlin auf. Später kam er als Flüchtling
nach London und wurde dort unter der geistlichen Führung von George Bell getauft, später in
der anglikanischen Kirche ordiniert. Keiner seiner Freunde überlebten den Holocaust. Er war
Professor für christliche Literatur am King’s College, London und lehrte dort Altes
Testament, als ich Student war. Seine Lesungen des Jesajabuches auf Hebräisch sind
unvergesslich. Er fühlte sich dem King’s College in London zu großem Dank verpflichtet, da
17
18
Chandler, op. cit., 21-22.
Sitting in Judgement: An Interpretation of History 1913 – 1963, SPCK, London 1978.
8
er dort als verarmter Flüchtlingsstudent Theologie studieren konnte. Headlam war Rektor des
King’s College Jahre bevor er Bischof von Gloucester wurde. Simon schrieb Folgendes über
Headlam:
„Hier war ein hoch begabter Prälat von außergewöhnlicher Integrität, ein Apostel der
christlichen Einheit, der sich für internationale Verständigung engagierte und sich nun
öffentlich auf die Seite eines beinahe faschistischen Eintretens für die Freundschaft
mit Nazi-Deutschland stellte. Er stellte mich vor das schwere Problem des Erkennens,
was Recht ist. Viele schwache und nicht klar denkende Menschen fühlen, was falsch
ist und meiden dies normalerweise. Aber starke Geister, die sich auf die Seite einer
Partei stellen, die unsere einfachsten moralischen Instinkte verletzt! Wie ist das
möglich? Headlam, z.B., stand für ein sehr englisches Christentum, weil er die
Tradition und Autorität liebte und fiel in die Falle von Schibboleths wie ‚Kirche’,
‚Heimat’ und ‚Vaterland’.“19
Öffentliche Meinung und Pazifismus
In den 1930er Jahren war die öffentliche Meinung in Großbritannien durchwegs gespalten.
Für manche hieß die große Bedrohung Kommunismus. Für andere war es das Ausbrechen des
Faschismus
in
Italien,
Spanien
und
Deutschland.
Politisch
herrschten
‚Beschwichtigungstrategien’ vor. Churchill war politisch ein Rufer in der Wüste. Die
kulturelle Elite des Landes war sich des Gemetzels in den Schützengräben bewusst und der
Pazifismus wurde immer populärer. Gefördert wurde er z.B. durch das Auftauchen von
Schützengrabenlyrik, wie sie Kriegspoeten und Schriftsteller wie Wilfred Owen und Siegfried
Sassoon exemplifizierten. Dichter und Musiker wie W. H. Auden und Benjamin Britten waren
‚Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen’.
Innerhalb der Kirchen führte Dick Sheppard an der St. Paul’s Kathedrale, der selbst
Militärseelsorger während des ersten Weltkrieges gewesen war, die nichtkonfessionelle Peace
Pledge Union. Lang und Temple empfingen ihn, machten es allerdings klar, dass sie seinen
pazifistischen Standpunkt nicht teilten.20 1937 entstand eine anglikanische pazifistische
Gemeinschaft (Anglican Pacifist Fellowship). Lang sprach im Dezember 1939 im britischen
Oberhaus und bekräftigte, dass trotz allem die erste Pflicht des Krieges das Ausmerzen des
Bösen sei. Aber die Kirche müsse zu einem gerechten Frieden beitragen.21 Temple, als
Erzbischof von York, handelte in diesem Sinne im folgenden Jahr, als er eine vielbeachtete
Konferenz in Malvern organisierte. Im II. Weltkrieg gab es in der Kirche von England keine
offiziellen Gebete für einen Sieg wie dies im I. Weltkrieg der Fall war.
Eine faszinierende Momentaufnahme der sich entwickelnden öffentlichen Meinung kann man
in den Schriften von Vera Brittain finden. Sie war eine sozialkritische Kommentatorin,
Tagebuchführerin, Schriftstellerin und Proto-Feministin - dazu Anhängerin von Sheppard in
19
Sitting in Judgement op. cit., 50. Für eine volle Beschreibung von Headlams zweideutiger und verwirrter
Einstellung zum Kirchenkampf siehe Ronald Jasper, Arthur Cayley Headlam: the Life and Letters of a Bishop,
Faith Press, London 1960, 284ff.
20
Beaken, op. cit., 193.
21
Beaken, op. cit., 194.
9
der Peace Pledge Union. Während des Ersten Weltkrieges hatte sie ihren jüngeren Bruder und
ihren Verlobten verloren. Zunächst war sie schockiert, als die Kinderschwester im Jahr 1930
am Jahrestag des Waffenstillstands eine Klatschmohnblüte auf das Bettchen ihrer
neugeborenen Tochter legte. Dann erinnerte sie sich daran, dass die Kinderschwester während
des Krieges erst acht Jahre alt war. Das kleine Mädchen wurde später Baronin Shirley
Williams, ein Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei und immer noch eine
angesehene Rednerin im britischen Oberhaus. Noch bedeutender ist, dass sich die
Überzeugungen von Vera Brittain während des 2. Weltkrieges so verändert hatten, dass sie
ihren pazifistischen Standpunkt einschränkte und sich wieder einem christlichen Glauben
zuwandte.22
1945 und danach
Die Entwicklungen während des 2. Weltkrieges sind gut bekannt, auch Bells andauernde
Verbindungen über Schweden mit Bonhoeffer und seine Verurteilung der Bombardierung von
Dresden durch die Alliierten. Aber Erzbischof Lang hatte selbst Vorsicht in Bezug auf
jeglichen Geist der Rachsucht oder der Vergeltungsmaßnahmen geboten, obwohl seine
Anprangerung des Nazi-Regimes als das Böse mit Andauern des Krieges stärker wurde.
Bereits 1941 wandte er sich öffentlich gegen das wahllose Bombardieren von Zivilisten.23
Lang dachte viel über Friedenspläne nach und dies wurde von William Temple als seinem
Nachfolger im Amt des Erzbischofs von Canterbury weiter geführt. Es ging um Fragen der
Sozial- und Wirtschaftsordnung in Großbritannien, die schließlich zur Geburt des
Wohlfahrtstaates führten.
Was Deutschland betraf, so herrschte beinahe universale Entschlossenheit, dass die
wirtschaftlichen und politischen Fehler von Versailles nicht wiederholt werden sollten.
Churchill war ein eloquenter Verfechter der Großzügigkeit im Sieg und ein Verfechter für die
europäische Zusammenarbeit, besonders mit Frankreich und Deutschland. Außerdem wollte
er eine Organisation der Vereinten Nationen, aber mit mehr Biss, wie ihn der alte Völkerbund
so katastrophal vermissen ließ. Hier nun eine Momentaufnahme aus dem ‚Wiederaufbau nach
dem Krieg’. Robert Runcie, der später Erzbischof von Canterbury wurde, hatte seine Studien
in Oxford unterbrochen, um sich 1942 dem Garderegiment anzuschließen. 1945 bekam er das
22
Am Nachmittag des Tags, an dem Deutschland kapituliert hat (VE-Day, 8. Mai1945), ging ich die WhitehallStraße [in London] hoch; … wie ich dies auch 1918 getan hatte. Trotz der Flaggen, Glocken und
Papierschlangen … brachen die Menschenmengen niemals in den Taumel der Erleichterung aus, wie wir dies am
Tag des Waffenstillstands 1918 gesehen hatten. … Nur bei Zivilisten, die weit weg von der Front gelebt hatten,
kam überlauter Jubel auf. Die Menschen von London mussten mit ansehen, wie ihre Mitbürger getötet, ihre
Häuser zerstört worden waren. Sie hatten Gefahr, Terror, Angst und Erleichterung erlebt. Augrund dieser
Tatsachen ähnelte ihre Haltung zum Kriegsende die der Soldaten an der Front. … Und dann kam eine seltsame
Erfahrung. … Als ich damals sprachlos und blind die Whitehall-Straße am Ende des I. Weltkrieges hoch
gegangen war, hatte ich keinerlei Überzeugung irgendeines göttlichen Prinzips gespürt, irgendeines
Ostermorgens, irgendeines Wiedersehens. Nun, da ich am Ende des II. Weltkrieges dieselbe Straße hoch ging,
wurde mir zutiefst bewusst, dass sich in den letzten fünf Jahren meine Einstellung geändert hatte. … Ich wusste,
dass Gott lebte und dass Kummer und Leid in der Welt um mich herum auf uns gekommen waren, weil sich die
Menschen weigerten, Seinen Geboten zu gehorchen. Die nur auf eigenes Interesse bedachten provokativen
Strategien, die die Menschheit an den Rand des Abgrunds getrieben hatten, schienen mir unbestreitbare
Zeugnisse, dass eine entgegen gesetzte Verhaltensweise – der Weg Gottes, der Weg des Kreuzes – ein entgegen
gesetztes Resultat hervorbringen würde. Testament of Experience, Vera Brittain, Fontana, 1979, 362-3.
23
Beaken, op. cit., 191-2.
10
Militärverdienstkreuz für Tapferkeit in einem Panzerscharmützel. Nach dem Krieg ging er
nach Deutschland zurück, um am Austausch der Universitäten von Oxford und Bonn
teilzunehmen. Dies war ein Teil des Versöhnungsprogramms.
Soweit kamen meine
‘Momentaufnahmen’ von der englischen und anglikanischen
Perspektive. Die letzte Geschichte ist, soweit ich Bescheid weiß, aber noch nie aufgeschrieben
worden. Ich verlasse mich auf ihren Wahrheitsgehalt aufgrund eines Gespräches, das ich viele
Jahre nach dem Ereignis mit einem alten anglikanischen Priester namens Wrangham-Hardy
führte. Während des Krieges war er Militärseelsorger gewesen. Hier geht es um Pfarrer
Martin Niemöller. Niemöllers Geschichte war in britischen Kreisen wohl bekannt und sein
Prozess im Jahr 1938 wurde genau verfolgt. Nach Kriegsende wollte W. A. Visser ’T Hooft
zusammen mit Bell und anderen, Niemöller zur Gründungsfeier des Ökumenischen Rates der
Kirchen in Amsterdam einladen. Niemöller, so dachte man, hatte sich ‚irgendwo’ im britisch
besetzten Sektor in ein Schloss zurückgezogen. Schließlich gelang es dem Militärseelsorger,
mit einer Einladung von Bell in Händen, das Schloss ausfindig zu machen. Am Tor wurde er
von einem alten Grafen empfangen, der meinte, dass er Pfarrer Niemöller fragen würde, ob er
ihn empfangen wolle. Der wollte und der Abgesandte wurde zum Essen eingeladen. Da gab es
wunderbares Silber und Dresdner Porzellan, aber tatsächlich wenig zum Essen. Das war das
Deutschland von 1946–47. Niemöller willigte schließlich in die Reise nach Amsterdam ein,
aber nur unter der Bedingung, dass er mit seinem Weimarer Pass reisen konnte! Bell sprach
mit dem britischen Außenminister Ernest Bevan und es war möglich!
Ich erzähle diese Geschichte mit etwas Vorsicht, da sie in James Bentleys Martin Niemöller
(Oxford 1984) nicht erwähnt wird. Aber ich denke nicht, dass die Geschichte des alten
Militärseelsorgers aus dem Nichts entstanden ist. Die erste ‘Auslandsreise’, die Niemöller
nach dem Krieg unternahm, führte ihn tatsächlich im Februar 1946 nach Genf. Dies war im
Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Ökumenischen Rat der Kirchen, der sich 1948 in
Amsterdam konstituierte. Ich vermute, dass sich diese mündlich überlieferte Geschichte auf
das Treffen in Genf bezog. Danach trat Niemöller viele Reisen zur Unterstützung der
ökumenischen Bewegung an – obwohl er manchmal immer noch als Nationalist gebrandmarkt
wurde. 24
Nachdenkliches
Zu Beginn sprach ich von ‘Ungereimtheiten’. Deshalb will ich mit etwas enden, das sich auf
die vorige Geschichte bezieht. 1939 war Bell verwirrt, als sich Niemöller, den er so
bewunderte, immer noch anbot, zum U-Bootdienst für die deutsche Regierung zurück zu
kehren, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Bell vertraute sich hierin Karl Barth an. Und
Barth antwortete:
„Niemöller ist ein guter – ein zu guter Deutscher und ein sehr guter – ein zu guter
Lutheraner.“
Aber dann fügte er hinzu, dass es solche gäbe, die sehen könnten, was tatsächlich geschah,
dass sie Unterstützung im Gebet und Zuneigung bräuchten und dass sie bald sicht- und hörbar
sein würden.25
24
25
Vgl. Bentley, op. cit., 199-200.
Chandler, op. cit., 32.
11
Die Korrespondenz wurde nicht fortgeführt (oder zumindest finden wir sie nicht unter den
Schriftstücken von Bell). Ein Punkt zum Nachdenken für heute in Bezug auf Glauben und
Patriotismus könnte gut die kryptische Kritik von Karl Barth in Bezug auf Niemöller sein.
Dazu muss hinzugefügt werden, dass diese ausgesprochen wurde, bevor Niemöller selbst
Pazifist wurde. Barth weist hier auf eine Kritik an Luther (oder zumindest am Luthertum) und
am deutschen Nationalismus (so wie er damals bestand) hin.
Als Nachbemerkung biete ich hier zwei Gedanken zur Diskussion über die Zeit von 1914–
1945 an. Erstens gehe ich auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre zurück, die im Wesentlichen
spirituelle Domäne der Kirche und die weltliche und politische Macht des Staates. Während
der Begriff ‚gottesfürchtiger Fürst‘ den Anglikanern vertraut ist und tatsächlich ein wichtiger
Teil der Rechtfertigung seitens der Tudor für die englische Reformation darstellte, gab es
immer, zumindest nach außen, eine Zustimmung der Kirchenleitung. Dies geschah entweder
durch eine Synode oder durch die Bischöfe im Oberhaus des Parlamentes. Luther andrerseits
musste sich bei der Verteidigung der Reformation mehr auf den Staat alleine verlassen.
Summus episcopus. Nach der Vereinigung Deutschlands im 19. Jahrhundert wurde der Staat
zu einem viel ‚wichtigeren’ Faktor in Bezug auf jede der immer noch von einander getrennten
Landeskirchen. Zweitens: Wurde das deutsche protestantische Verständnis der Kirche als
‚göttliche Struktur’ in gewissem Sinne durch das allgemeine Rechtsverständnis im 19.
Jahrhundert geschwächt?
Wir haben Harnacks Kirchenverfassung und Kirchenrecht erwähnt, das am Vorabend zum 1.
Weltkrieg herausgegeben worden war. In seinem Vorwort spricht Harnack von seiner in
manchen Aspekten abweichenden Meinung von, aber auch von seiner Übereinstimmung in
vielen Aspekten mit einem anderen deutschen protestantischen Historiker und Juristen Rudolf
Sohm. Sohm hatte 1909 eine wichtige Studie über Natur und Ursprung des Katholizismus
herausgegeben. Darin und in früheren Werken vertritt Sohm die Meinung, dass die Kirche zur
Gänze spirituell, während das Gesetz zur Gänze weltlich sei. Die Entwicklung von rechtlichen
und institutionellen Strukturen in der Urkirche (im Urkatholizismus) stellte ein Aufgeben der
ursprünglich ‚charismatischen’ Anfänge der christlichen Kirche dar. Sohms Ideen stießen auf
beträchtliches Interesse und hatten Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Kirche und
Staat. Der bereits erwähnte Figgis widersprach der These von Sohms kategorisch. Er vertrat
die Meinung, dass der Respekt für die strukturelle Integrität und die Freiheit anderer
Körperschaften wesentlich für einen gesunden Staat war. Noch fragwürdiger: wenn nach
Sohms (und so scheint es, auch nach Harnacks) Meinung, die Kirche im Wesentlichen in
Bezug auf den Staat nur ein Konglomerat von einzelnen, charismatischen Christen sein soll,
die als Leib Christi keinen ultimativen Status als institutionelle Körperschaft besitzt, dann
könnte ein individuelles prophetisches Zeugnis gegenüber einem absolutistischen Staat
erwartet werden, aber kaum mehr.
Zumindest besteht ein Gegensatz zwischen einem charismatischen Verständnis der Kirche
(heute nicht ohne ähnliche Verfechter, wie z.B. James Dunns Portrait der Urkirche als
chaotische Ansammlung von diversen, vom Geist geführten, von einander getrennten
Gemeinden) und dem Portrait der Kirche im Meißener Abkommen. Im Besonderen die starke
Ekklesiologie, die am Anfang unserer gemeinsamen Feststellung steht:
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„Die Kirche, der Leib Christi, muss stets in dieser Perspektive als Werkzeug zur
Erfüllung des Heilsplanes Gottes gesehen werden. Die Kirche ist zur Ehre Gottes da
und um im Gehorsam gegenüber der Sendung Christi der Versöhnung der Menschheit
und der ganzen Schöpfung zu dienen. Darum ist die Kirche in die Welt als ein
Zeichen, Werkzeug und Vorgeschmack einer Wirklichkeit gesandt, die von außerhalb
der Geschichte hereinbricht - das Reich oder die Herrschaft Gottes. Sie ist bereits eine
vorläufige Verkörperung von Gottes Willen, der auf das Kommen des Gottesreiches
gerichtet ist. Die Kirche ist von göttlicher Wirklichkeit, sie ist heilig, und sie reicht
über die gegenwärtige endliche Wirklichkeit hinaus. Gleichzeitig hat sie als eine
menschliche Institution Anteil an der ganzen Zweideutigkeit und Schwachheit
menschlichen Wesens und bedarf stets der Buße, der Reform und der Erneuerung.“ 26
26
Auf dem Weg zur sichtbaren Einheit. Eine gemeinsame Feststellung, Meißen 1988, Abs. 3.
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