Erklärung durch Zurückführen des Äußeren auf das innere der Schrift Ta’wil Die wahre Bedeutung des Heiligen Qur’an B. Khorramshahi* Die Frage, ob die wahre Erklärung und Interpretation des Qur’an nur Gott allein kennt, haben die Muslime seit der Offenbarung des Heiligen Qur’an immer gestellt. Diese Frage wurde auf zweierlei Weise beantwortet. Die meisten sunnitischen Gelehrten sind der Überzeugung, dass dieser „tÁ’wÍl“ des Qur’an, d. h. seine inneren und esoterischen Bedeutungen und die Interpretation mehrdeutiger und schwieriger Qur’anverse, die auch als mutaÊÁbihÁt bezeichnet werden, nur Gott bekannt sind. Die Mehrheit der schiitischen Gelehrten und einige der sunnitischen Gelehrten glauben, dass die wahre Interpretation der mehrdeutigen Qur’anverse auch jenen bekannt ist, die fundiertes und tiefgründiges Wissen von dieser göttlichen Schrift haben und die mit dem qur’Ánischen Ausdruck rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm (d. h. jene, die ein tiefbegründetes Wissen haben) bezeichnet werden. Dieser Meinungsunterschied resultiert aus verschiedenen Interpretationen von Vers 7 der Sure Àl-þImrÁn, in dem dieser Ausdruck gebraucht wird. Einführend sollen jedoch zunächst einige qur’Ánische Begriffe und damit zusammenhängende Fragen erörtert werden. Eine dieser Frage ist das Problem der unterschiedlichen Interpretationen. Drei Begriffe, 14 Al-Fadschr Nr. 125 die hierbei von Bedeutung sind, sind mutaÊÁbihÁt, tÁ’wÍl und rÁsi¿Úna fi-lþilm, die wir in diesem Artikel im hinreichenden und notwendigen Maße klären wollen. Unterschiedliche Interpretationen Im Bereich der menschlichen Sprache gibt es keine Schrift in einer der bekannten Sprachen, die auf perfekte Weise die Laute dieser Sprache wie sie von jenen ausgesprochen werden, die diese Sprache fließend sprechen, zum Ausdruck bringen. Offensichtlich stellt die geschriebene Form von Worten oftmals nicht ihre genaue phonetische Form und Aussprache dar. Alle Schriften weisen gewisse Unzulänglichkeiten und Mängel auf, die die Möglichkeit des Irrtums im Lesen und Schreiben einräumen. Die arabisch-persische Schrift ist im Grunde die ursprüngliche Schrift des Qur’an, die zunächst im kufischen Stil geschrieben wurde. Später entwickelte sich dann die Nas¿-Schrift und im Iran die Nastaþliq-Schrift. In der kufischen Schrift gibt es etliche Buchstaben oder Buchstabengruppen, die voneinander nur mittels diakritischer Zeichnen unterschieden werden, die jahrhundertelang in den frühen Texten überhaupt nicht verwendet wurden. Selbst später, als ihr Gebrauch üblich wurde, blieb die Möglichkeit des Irrtums im Schreiben und Lesen erhalten und besteht bis zum heutigen Tag fort. Aus diesen Gründen wie auch aufgrund der ursprünglichen oder früheren Unzulänglichkeiten einiger Schriften, wie z. B. das Fehlen geschriebener Zeichen für Vokale, entstand das Problem unterschiedlicher Lesarten, insbesondere in alten Texten. Derartige Probleme gibt es auch hinsichtlich späterer Texte, wie z. B. dem Diwan von Hafez, der im 14./15. Jahrhundert entstand und damit acht oder neun Jahrhunderte jünger ist als der Qur’Án. Einige Beispiele für unterschiedliche Lesarten in der Gedichtesammlung von Hafez sind z. B. dieBegriffe muhayya/muhanna oder Êay¿-e ºam/Êay¿-e ¿am. Dieses Problem der verschiedenen Lesarten entstand natürlich auch im Hinblick auf den Heiligen Qur’an in der Frühzeit aufgrund etlicher Schwierigkeiten wie z. B. dem Fehlen der diakritischen Punkte und anderer diakritischer Zeichen, der Interpunktion und einer wissenschaftlichen Tradition des Schreibens und darauf bezogener Fragen. Angesichts dieser Faktoren war es praktisch unmöglich, dass ein solches Problem nicht entstand, und es war in Wirklichkeit das natürliche Produkt dieser Mängel. Unterschiedliche Es gibt viele zuverlässige Schriften, die diese unterschiedlichen Lesarten aufgezeichnet haben, so z. B. AlQirÁ’at al-Sabþ von Ibn MuºÁhid (gest. 324/935), Al-TaysÍr fÍ alQirÁ’at al-Sabþ von AbÚ þAmr DÁnÍ (gest. 444/1052), Al-Huººah alqurra’ al-Sabþah von AbÚ þAlÍ FariªÍ (gest. 377/987) und Al-NaÊr fÍ alQirÁ’at al-‘aÊr von Ibn al-¹azÍrÍ (gest. 833/1428). Um den Charakter der meisten unterschiedlichen Lesarten, die sich auf die sieben- oder zehnfachen Rezitationen beziehen, zu zeigen, können wir einige Beispiele zitieren. In der ersten Sure des Qur’ans haben einige Rezitatoren al-¼amd mit fatha oder kasra auf dem dÁl (und somit al¼amda bzw. al-¼amdi) gelesen. Oder in der gleichen Sure wurde in dem Ausdruck Malik yaum al-dÍn (in dem das Wort m-l-k in der osmanischen Schrift ohne ein alif geschrieben ist) der Ausdruck als malaka yawmid-din oder maliki yawmid-din Eine Qur’anseite mit den ersten vier Versen der Sure al-Baqara Lesarten gab es auch zu Lebzeiten des Propheten (o). Die Tradition der sieben Buchstaben, womit gemeint war, dass der Qur’an in sieben annehmbaren Lesarten rezitiert werden konnte, bezieht sich auf diesen Punkt. Die Sammlung und das Zusammentragen des ersten Qur’ankodex (mushaf-e imam), eine Aufgabe, deren Beginn in die Zeit des Gesandten Gottes zurückreicht, wurde während der Herrschaft þUÝmÁns beendet unter Beteiligung einer Reihe herausragender Prophetengefährten und Leute, die den gesamten Qur’an auswendig kannten. Mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit, die während dieser Ära der islamischen Geschichte möglich war, wurde die offizielle Version der Schrift des Islam in mehreren Ausgaben vorbereitet, einige Jahre vor dem Ende des Kalifats von þUÝmÁn, etwa im Jahre 28 n. H. Eine der Ausgaben wurde in Medina aufbewahrt, eine andere in Mekka und vier oder fünf andere wurden in wichtige Gebiete der islamischen Welt entsandt, einschließlich Kufa, Basra, Syrien und Bahrain, wobei jedes Exemplar von einem Rezitator und einem Experten für den qur’anischen Text begleitet wurde. Die mündliche Überlieferung der Rezitation des Qur’an gab es seit den Lebzeiten des Propheten und sie besteht bis in die heutige Zeit fort. Heute gibt es Meister der Rezitationskunst und -wissenschaft, deren Tradition zurückgeht auf die Rezitatoren und Experten der Lesekunst der islamischen Frühzeit. Sie sind die Hüter der korrekten Lesart und Rezitation des Heiligen Qur’an, und die heutigen offiziellen Versionen des Qur’an (die Kairoer Ausgabe und die neue Medina-Version) wurden unter ihrer Aufsicht und Obhut geschrieben. In der Geschichte der Rezitationswissenschaft gab es sieben Lesarten (die auf die sieben führenden Rezitatoren zurückgeführt werden) und zehn weitere Lesarten, von denen eine jede ihren Ursprung in den herausragendsten und ältesten Experten der Qur’anrezitation der ersten Jahrhunderte der islamischen Geschichte hat. Al-Fadschr Nr. 125 15 anstatt der üblichsten Lesart maliki yawmid-din (in Übereinstimmung mit der offiziellen Version des Qur’an). Die Beispiele für unterschiedliche Lesarten im Qur’an belaufen sich nach Danis Schrift auf ca. elfhundert, von denen die meisten unbedeutend sind und sich z. B. auf den Unterschied von Pronomen und Änderungen in Verben von der zweiten zur dritten Person oder umgekehrt beziehen, wie z. B ya’malun/ta’malun. Das wichtigste und bedeutendste Beispiel für die Unterschiedlichkeit in den Lesarten des Qur’an bezieht sich jedoch auf den siebten Vers der Sure Àl-þImrÁn, den wir detailliert erörtern werden. Mehrdeutige sabihat) Qur’anverse (muta- Ein Bereich der Quranstudien befasst sich mit den eindeutigen (mohkam) und den mehrdeutigen (mutaÊÁbih) Versen im Qur’an. Auf die gleiche Weise wie die Verse des Qur’an unterteilt werden in mekkanisch und medinensisch, abrogierend (nÁsi¿) und abrogiert (mansÚ¿), werden sie auch in eindeutig (mo½kam) und mehrdeutig (mutaÊÁbih) unterteilt. Der Begriff mo½kam ist abgeleitet von i½kam, d. h. fest und stark machen; und ein Begriff oder Vers, der mo½kam ist, ist ein Wort oder Vers, dessen Bedeutung klar und ohne Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit ist. In den Worten von Raghib Isfahani ist ein mo½kam-Vers ein Vers, der frei ist von Ambiguität hinsichtlich des Wortlauts und der Bedeutung, wie die meisten Verse, die sich auf die Rechtsprechung, Ethik und moralischen und spirituellen Ermahnungen beziehen. MutaÊÁbih ist abgeleitet von taÊabuh, was Ähnlichkeit bedeutet, und entstammt der gleichen Wurzel wie Êubbah (Ambiguität, Ungewissheit, Unsicherheit, Zweifel) und iÊtibah (d. h. anzweifeln oder bezweifeln). Raghib Isfahani zufolge ist ein mutaÊÁbih-Vers oder Ausdruck einer, dessen wörtliche Bedeutung mit seiner wirklichen Bedeutung nicht identisch ist. Nach Scheich Tusi ist 16 Al-Fadschr Nr. 125 ein mo½kam-Vers einer, dessen Bedeutung aufgrund seiner Klarheit aus seiner wörtlichen Bedeutung heraus zu verstehen ist und ohne die Notwendigkeit irgendeines Hinweises (von außen), und ein mutaÊÁbih-Vers ist einer, dessen wörtliche Bedeutung seine tatsächliche Bedeutung nicht enthüllt ohne auf irgendeine Führung und einen Hinweis von Außen zurückzugreifen.1 Anders gesagt bezieht sich mutaÊÁbih auf Texte mit einem mehrdeutigen Charakter, die einer Interpretation (ta’wÍl) bedürfen und richtige wie auch falsche Interpretationen haben, wie im Falle der meisten Verse im Qur’an, die sich mit der Schöpfung, der Schöpfung des Menschen, den Himmeln, dem Wesen der göttlichen Voraussehung (taqdÍr), göttlichen Eigenschaften und Handlungen befassen.2 Die große Mehrheit der Qur’Ánverse sind mo½kam, und etwa zweihundert sind mutaÊÁbih. Einige dieser mutaÊÁbih-Verse sind jene, die Gott Hände, Augen, Ohren und ein Antlitz zuschreiben und Sein Sitzen (istiwa) auf dem Thron (’arÊ) erwähnen, Sein „Kommen“ oder Seine Fähigkeit, zu sehen beschreiben.3 Der Qur’an selbst bezieht sich in seinen Versen wiederholt explizit oder implizit auf die Eigenschaften von i½kam und taÊÁbuh, und der bekannteste dieser Verse ist der besagte Vers 7 der Sure Àl-þImrÁn. Die Frage, die sich hier natürlich stellt, lautet, warum es im Grunde in einer Schrift wie dem Qur’an mit seiner erhabenen Klarheit und Eloquenz irgendwelche mehrdeutigen und schwierigen Verse geben soll. Wäre es nicht besser, wenn alle qur’anischen Verse und Abschnitte mo½kam wären, d. h. klar und frei von jeglicher Mehrdeutigkeit? Als Antwort muss gesagt werden, dass der Qur’an offenbart wurde im Gewand der menschlichen Sprache und Rede und in Übereinstimmung mit den normalen Kriterien der linguistischen Ausdrucksweise. Die menschliche Sprache umfasst eine Bandbreite linguistischer Formen, von einfachen und gewöhnlichen Worten und Ausdrücken bis zu subtilen, literarischen und künstlerischen metaphori- schen Formeln, Gleichnissen, Allegorien und Parabeln, und Mehrdeutigkeit ist immer verbunden mit metaphorischem Ausdruck. Zama¿ÊarÍ und Fa¿r al-DÍn RÁzÍ sehen die Existenz der mutaÊÁbihÁt nicht als einen Mangel an, sondern als ein Zeichen ästhetischer Auszeichnung und als förderlich für die Entwicklung von Kultur und Wissenschaft.4 ImÁm þAlÍ (o) stellt fest, dass der Qur’an verschiedenen Interpretationen aufgeschlossen ist,5 und dass es einen Konsens der Meinungen zwischen den meisten Qur’anexperten gibt, insbesondere den Mu’taziliten und den Schiiten, dass die mutaÊÁbihÁt nicht in ihrem wörtlichen Sinn zu verstehen sind, sondern der Interpretation bedürfen. Einzig die Buchstabengläubigen und einige Extremisten unter den Aschariten und Ahl al¼adÍt sind der Meinung, dass sie in ihrem wörtlichen Sinn zu verstehen sind. So gibt es einen berühmten Ausspruch von MÁlik ibn Anas im Hinblick auf die Bedeutung von IstiwÁ’ (das sich Niederlassen Gottes auf dem himmlischen Thron) in Bezug auf Gott: „IstiwÁ’ ist bekannt; das Wesen davon ist unbekannt; der Glaube daran ist Pflicht; und jegliches Infragestellen im Hinblick darauf ist Häresie.“6 Zu den wichtigsten frühesten Werken über das Thema Ta’wÍl und Interpretation der mehrdeutigen Qur’anverse gehören MutaÊÁbih al-Qur’Án von QÁ±Í þAbd al-¹abbÁr HamadÁnÍ (gest. 415/1024), dem großem mu’tazilitischen Theologen, HaqÁ’iq al-Ta’wÍl von ÉarÍf Ra±Í, dem Sammler der Nahºu-l-BalÁ™a (gest. 406/1015), von dem nur der fünfte Band existiert und veröffentlicht wurde, und MutaÊÁbih al-Qur’Án wa Mu¿talifuh von Ibn Éahr ÀÊÚb. Erklärung durch Zurückführen des Äußeren auf das Innere (Ta’wil) Auf die gleiche Weise wie der Begriff mutaÊÁbih im Unterschied zum Ausdruck mo½kam zu verstehen ist, ist auch ta’wÍl im Unterschied zu tafsÍr zu verstehen. Die einfachste Bedeutung von TafsÍr ist die einer Wissenschaft vom Verstehen des Qur’an oder Erklärung der Bedeutungen der Worte Gottes im Qur’an in den Grenzen der menschlichen Fähigkeit.7 Der Ausdruck Ta’wÍl ist abgeleitet von awl im Sinne von „zurückkehren“, auf etwas „zurückgeifen“.8 Sowohl TafsÍr wie auch Ta’wÍl wurden im Qur’Án gebraucht im Sinne von Erläuterung und Erklärung. (15:32). Mu½ammad HÁdÍ Maþrifat ist der Meinung, dass der Begriff ta’wÍl siebzehn Mal im Heiligen Qur’an vorkommt. · Fünfmal im Sinne von Endergebnis (4:59; 17:35; 7:35 zweimal, 10:39). · Achtmal im Sinne von Traumdeutung (12:6, 24, 36, 37, 44, 45, 100, 101). · Viermal im Sinne von Interpretation der mutaÊÁbihÁt (3:7 zweimal, 18:78, 82). Einigen Gelehrten zufolge ist Ta’wÍl das der wörtlichen Bedeutung eines Textes Vorausgehende, ohne die Normen der arabischen Sprache für den metaphorischen Gebrauch zu verletzen und in Übereinstimmung mit metaphorischen Beziehungen, wie z. B. sich auf eine Sache zu beziehen mittels des Namens von etwas ähnlichem oder etwas, was nah damit verbunden ist.9 Einige haben die Ansicht vertreten, dass Ta’wÍl die Interpretation der mehrdeutigen Verse bedeutet und das Herausfinden einer zweiten Bedeutung für den Text, der als sein innerer oder esoterischer Sinn (bÁÔin) bezeichnet wird im Unterschied zu seiner offensichtlichen und wörtlichen Bedeutung (ãÁhir).10 Beim TafsÍr braucht man keinen Hinweis von außerhalb des Textes um ihn zu verstehen, einschließlich jeder rationalen oder theoretischen Erklärung. Aber beim Ta’wÍl bedarf man eines klaren Hinweises von außerhalb des mehrdeutigen Textes. Einige haben festgestellt, dass sich TafsÍr auf die Ausdrücke (þibÁrat) bezieht, während Ta’wÍl sich auf die Bedeutungsinhalte (iÊÁrat) bezieht. Muhammad Hussein Dhahabi, ein Gelehrter des Qur’an und der Geschichte der Qur’anexegese schreibt, dass TafsÍr sich auf die Erzählung bezieht und Ta’wÍl auf die kritischer Untersuchung.11 Der Qur’an selbst spricht über die Notwendigkeit von Ta’wÍl und dies haben auch die Imame, die Gefährten und die Qur’angelehrten späterer Zeitalter getan. Aber nicht jeder ist kompetent, Ta’wÍl des Qur’an durchzuführen, und der Qur’an selbst wie auch viele Überlieferungen heben hervor, dass falscher und unzulässiger Ta’wÍl des Qur’an das Ergebnis der Opfer falscher und irreführender Überzeugungen ist. Ein korrekter und legitimer Ta´’wÍl, der die Bedeutungen der mehrdeutigen Qur’anverse enträtselt, ist die Aufgabe derjenigen, die ein tiefbegründetes Wissen haben (rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm), d. h. derjenigen, die Wissen von der Religion haben und die Feinheiten der Sprache und des Diskurses verstehen. Im weiteren Verlauf dieses Artikels werden wir mehr über diese Wissenden sprechen, die die Erklärung (Ta’wÍl) des Qur’an kennen. Sure Al-þImran, Vers 7 Wir bereits zuvor hervorgehoben, ist dieser Qur’anvers das Hauptthema unserer Diskussion, der unter den Qur’angelehrten seit der Zeit der Offenbarung immer Gegenstand von Kontroversen gewesen ist. Dieser Vers lautet: „Er ist es, Der dir das Buch herabgesandt hat. Darin sind eindeutig klare Verse – sie sind die Grundlage des Buches – und andere, die verschieden zu deuten sind. Doch diejenigen, in deren Herzen (Neigung zur) Abkehr ist, folgen dem, was darin verschieden zu deuten ist, um Zwietracht herbeizuführen und Deutelei zu suchen, (indem sie) nach ihrer abwegigen Deutung trachten. Aber niemand kennt ihre Deutung außer Allah und diejenigen, die ein tiefbegründetes Wissen haben; diese sagen: ‚Wir glauben wahrlich daran. Alles ist von unserem Herrn.’“ Der Unterschied in den Lesarten besteht im Vorhandensein bzw. dem Fehlen eines Halts nach dem Wort „Gott“ in dem Vers. Es ist der bedeutendste Fall in Bezug auf die unterschiedlichen Lesarten im ganzen Qur’an und in der Geschichte der qur’anischen Hermeneutik. Beide Lesarten sind vom Standpunkt der Grammatik und der Syntax her zu rechtfertigen. Lesart mit Halt In dieser Lesart, die einen Halt (waqf oder fasl) nach dem Wort „Allah“ (die im weiteren Verlauf als Lesart mit waqf im Unterschied zur Lesart mit þaÔf oder waÈl bezeichnet werden wird) bedeutet dieser Vers, dass niemand außer Gott den Ta’wÍl der MutaÊÁbihÁt kennt. Nach dieser Lesart steht der Ausdruck „wa rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm“ zu Beginn des nächsten unabhängigen Satzes. In derartigen Übersetzungen lautet der entsprechende Satz: „…Aber niemand kennt ihre Deutung außer Allah. Und diejenigen, die ein tiefbegründetes Wissen haben, sagen: ‚Wir glauben wahrlich daran. Alles ist von unserem Herrn.’“ Gemäß der Lesart mit þaÔf (Verbindung) gibt es keine Unterbrechung im Text nach dem Wort „Allah“; d. h. „wa rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm“ ist verbunden mit „Allah“. Auf dieser Grundlage bedeutet der Vers, dass diejenigen mit tiefbegründetem Wissen ebenfalls die Erklärung der mehrdeutigen Verse kennen. Zu denjenigen, die die Rezitation mit waqf gutheißen, gehören z. B. Ubay ibn Kaþb, Ibn MasþÚd, þUrwah ibn Zubayr, ¼asan BaÈrÍ, þUmar ibn þAbd alþAzÍz, MÁlik, KisÁ’Í, Farrþ, A¿faÊ, ¹ubba’Í, ÓabrÍ, MaybÚdÍ, ImÁm Fa¿r ad-DÍn RÁzÍ, QurÔubÍ, Ibn ¹auzÍ, AbÚ AsyÁn ³arÚdÍ, NayÊÁbÚrÍ, WÁþã KsafÍhÍ und QasÍmÍ. Die Rezitation mit þAÔf schreiben einige sunnitische Gelehrte und die Mehrheit der schiitischen Gelehrten vor. Zu den bekanntesten sunnitischen Vertretern dieser Lesart gehören MuºÁhid, die Grammatiker Na½½as und UkbarÍ, QÁ±Í þAbd al¹abbÁr in TanzÍh al-Qur’Án, Zama¿ÊarÍ, Ibn FurÁk, Ibn AbÍ al¼adÍd, BaydawÍ, ZarkaÊÍ in alBurhÁn, AbÚ al-SuþdÚ‚ þImÁdÍ, AusÍ, Ma½mÚd ÆÁfÍ und Scheich Mu½ammad þAbdÚh; seitens der Schia die Al-Fadschr Nr. 125 17 Qur’anseite mit der ersten Sure des Heiligen Qur’an, Sure al-Fatiha unfehlbaren Imame (a.s.), die gemäß einer Überlieferung von ImÁm aÈÆÁdiq (a.s.) in al-KÁfÍ und þAyyÁÊÍs Exegese gesagt haben: „Wir sind die ‚rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm’ und wir kennen den Ta’wÍl des Qur’Án.“ Ferner QummÍ, þAyyÁÊÍ, ÉarÍf Ra±Í, ÉarÍf Murta±a in al-AmÁlÍ, ÓabrisÍ, AbÚ alFutÚ½ RÁzÍ, MullÁ Fat½ AllÁh KaÊÁnÍ, MullÁ Mu½sin Fay±, Éubbar, BalÁ™Í und Mu™niyyah. Es gibt eine dritte Gruppe von denjenigen, die eine neutrale Haltung ein- 18 Al-Fadschr Nr. 125 nehmen und beide Lesarten als zulässig ansehen. Zu dieser Gruppe sind Ibn þAbbÁs, Ibn KaÝÍr, Scheich ÓÚsÍ, ÉaykÁnÍ, þAllÁmeh ÓabÁÔabÁ’Í und Mu½y al-DÍn DarwÍÊ zu rechnen. Gründe, die für die verbindende Lesart sprechen Es wurde bereits erwähnt, dass in Übereinstimmung mit der verbindenden Lesart, d. h. ohne eine Pause zwischen „Allah“ und „rÁsi¿Úna fÍ-lþilm“ der Vers so zu verstehen ist, dass neben Gott auch diejenigen mit tiefbegründetem Wissen die Erklärung des Qur’Án kennen. Es gibt einen Konsens unter den Schiiten im Hinblick auf diese Lesart, und nur zwei führende schiitische Exegeten (Scheich ÓÚsÍ von den frühen Gelehrten und AllÁmeh ÓabÁÔabÁ’Í von den zeitgenössischen Gelehrten) haben beide Lesarten als akzeptabel angesehen. Das bedeutet, auch sie lehnen die verbindende Lesart nicht ab. Hätten einzig nur Schiiten dieser Lesart zugestimmt, hätte man sagen können, dass die Schiiten diese Lesart favorisieren aufgrund ihrer Verehrung für die Imame und ihres Glaubens vom Wesen ihres Imamats. Aber glücklicherweise gibt es auch eine beachtliche Anzahl an sunnitischen Autoritäten (Zama¿ÊarÍ, BaydwÍ und þAbdÚh unter den Exegeten und Na½½as und Ma½mÚd ÆÁfÍ von den früheren bzw. zeitgenössischen Grammatikern, ZarkaÊÍ von den Gelehrten der qur’anischen Wissenschaften und QÁ±Í þAbd al¹abbÁr, Ibn FurÁk und Ibn AbÍ al¼adÍd von den herausragenden Theologen), die mit dieser Lesart dieses Verses übereinstimmen. Es gibt Verse im Heiligen Qur’an, die jene erwähnen, die ein besonderes Wissen haben und die die inneren Bedeutungen des Qur’an kennen. „Nein, es sind klare Zeichen in den Herzen derer, denen das Wissen gegeben wurde…“ (Sure alþAnkabÚt, Vers 49). „Hätten sie es aber vor den Gesandten und jene gebracht, die unter ihnen Autorität haben, dann würden es sicherlich die unter ihnen wissen, deren Aufgabe das Herausfinden ist….“ (Sure an-NisÁ’, Vers 83). Der Qur’an ist eine Schrift der Rechtleitung in klarem Arabisch, in der Sprache der Menschen, und Träger der göttlichen Botschaft. Wenn die Bedeutung (Ta’wÍl) des Qur’an für die Gelehrten und Wissenden unter den Menschen unmöglich wäre, würde das bedeuten, dass Gott eine Schrift gesandt hat, die undurchschaubare Rätsel und Paradoxien enthält, während die gleiche Schrift wiederholt behauptet, ein klares Buch zu sein, das Zweifel beseitigt. Das steht im Widerspruch zu seinem eigenen Zweck. Darüber hinaus hat Gott das Hören des Qur’an geboten, um über seine Bedeutungen nachzudenken und nachzusinnen, und das ist eine vernünftige Einladung. Wenn auch nicht jeder diese Bedeutungen verstehen kann, dann doch zumindest die Gelehrten und Wissenden in den Bereichen der Religion. Der Kontext des Verses lässt eher erwarten, dass die „rÁsi¿Úna fÍ-lþilm“ die Bedeutung (Ta’wÍl) des Qur’an kennen, als dass sie sie nicht kennen. As-Sayyid þAlÍ Kamali hat hervorgehoben, dass die Auszeichnung, ein tiefbegründetes Wissen zu haben, bedeutungslos wäre, wenn die beiden Ausdrücke „Allah“ und „rÁsi¿Úna fÍ-l-þilm“ nicht miteinander verbunden wären, wie viele Gläubige, die zwar keine besondere Bildung, aber einen vernünftigen Glauben haben, deutlich machen: „Wir glauben, und alles ist von unserem Herrn.“, denn ein solcher Glauben ist ein wesentlicher Teil der islamischen Überzeugung und ist nicht begrenzt auf jene, die ein tiefbegründetes Wissen haben. Folglich hat Mujahid gesagt: „Wenn das einzige Unterscheidungsmerkmal der ‚rÁsi¿Úna fÍl-þilm’ darin besteht, dass sie erklären ‚Wir glauben’, dann gibt es keinen Fehler, wenn diejenigen, die kein tiefbegründetes Wissen haben, ebenfalls eine solche Erklärung abgeben, und dann gäbe es keinerlei Unterschied zwischen den Menschen mit tiefbegründetem Wissen und jenen, die ein solches Wissen nicht haben. Wenn wir die Lesart mit waqf akzeptieren, dann würde das bedeuten, dass selbst der Prophet des Islam, der Träger des Prophetentums und Erhalter der qur’Ánischen Offenbarungen den Ta’wÍl der mehrdeutigen Qur’Ánverse nicht kannte, und eine solche Sichtweise würde dem allgemeinen Konsens der Muslime in dieser Frage widersprechen. Wenn wir jedoch akzeptieren, dass der Prophet den Ta’wÍl des Qur’Án kannte, dann würde das bedeuten, dass er dies tat aufgrund seines tiefbegründeten Wissens, ansonsten gibt es keinen anderen Vers im Qur’Án, das sein Wissen vom Ta’wÍl des Qur’Án rechtfertigen könnte. Da also das Ta’wÍl-Wissen aus einem tiefbegründeten Wissenresultiert, folgt, dass auch andere, einschließlich der unfehlbaren Imame und anderer, die Wissen von der Religion haben, das Ta’wÍl-Wissen haben können. Prof. Mu½ammad HÁdÍ Maþrifat schreibt, dass es in Übereinstimmung mit dem Prinzip der göttlichen Gnade notwendig erweist, dass es Gelehrte geben muss, die das Wissen vom korrekten Ta’wÍl der mehrdeutigen Qur’Ánver-se haben, um den Glauben und die Lehren des Qur’Án gegen Fehlinterpretationen abirrender Menschen zu verteidigen.12 Sayyid þAli KamÁlÍ DezfÚlÍ haben seine Forschungen zu der Erkenntnis geführt, dass der Prophet (s.a.s) und Imam þAlÍ (a.s.) die „rÁsi¿Úna fÍ-lþilm“ par excellence sind. Nach Ansicht von Prof. Maþrifat können viele der islamischen Gelehrten, die sich im Bereich der Qur’anwissenschaften spezialisiert haben, von ÓabarÍ bis zu AllÁmeh ÓabÁÔabÁ’Í, zu den rÁsi¿Úna gezählt werden. Offensichtlich sind Unfehlbarkeit oder das Amt des Imamats nicht notwendig, um sich für diese Kategorie zu qualifizieren. Es gibt jedoch Überlieferungen, die in frühen ¼adÍtquellen enthalten sind, die darauf hinweisen, dass die Imame von der Familie des Propheten die rÁsi¿Ún sind. Es gibt z. B. eine berühmte Überlieferung, die in sunnitischen und schiitischen Quellen wiedergegeben wird, die sehr bedeutsam ist für diese Diskussion, und das ist eine Überlieferung, die ein Gebet enthält, dass der Gesandte Gottes für Ibn þAbbÁs gemacht hat, dem herausragenden Gelehrten des Qur’an und bedeutenden Prophetengefährten: „O Gott, lasse ihn in der Religion gelehrt sein und lehre ihn Ta’wÍl.“ Diese Überlieferung weist klar darauf hin, dass Ta’wÍl etwas ist, was durch Bildung und Gelehrsamkeit gelernt und erworben werden kann.13 An diejenigen, die sich für die Lesart mit waqf aussprechen, sei die Frage gerichtet, ob sie den diskutierten Vers der Sure Àl-þImrÁn als mo½kam oder als mutaÊabih ansehen? Wenn sie sagen, er sei mo½kam, dann würde das dem widersprechen, was ziemlich offensichtlich und klar ist, denn dieser Vers hat eine größere Unklarheit als jeder andere Vers im Qur’Án, und aus diesem Grund ist er seit mehr als 1400 Jahren Gegenstand einer Kontroverse unter Gelehrten des Qur’an. Folglich sind sie gezwungen, zuzugeben, dass dieser Vers mutaÊabih, also mehrdeutig ist. Dann sollten sie eine andere Frage beantworten: Wollen sie versuchen, die Bedeutung (Ta’wÍl) dieses mehrdeutigen Verses herauszufinden, oder nicht? Wenn ihre Antwort negativ ist, können wir sie fragen, wie sie seine Bedeutung verstehen. Und wenn ihre Antwort positiv ist, dann weist das darauf hin, dass sie sich selbst als fähig ansehen, seine Bedeutung zu verstehen. Folglich ist ihre Haltung ein Widerspruch in sich, denn in Übereinstimmung mit ihrer gutgeheißenen Lesart sehen sie nur Gott allein als den Ta’wÍl der mutaÊabihVerse kennend an. Folglich lautet die Schlussfolgerung, dass sie wissentlich oder unwissentlich mit den Vertretern der gegenteiligen Meinung übereinstimmen, und praktisch bestätigen, was sie wörtlich ablehnen. Folglich sind diese Kontroverse und dieser Disput nur verbaler Natur. * Bahu’uddin Khorramshahi ist islamischer Theologe und befasst sich vorwiegend mit qur’anischen Themen und Fragestellungen. Anmerkungen: 1 Al-ÓÚsÍ, Tafsir al-ÓibyÁn. Mu½ammad HÁdÍ Maþrifat, AlTam½Íd, Bd. 3, S. 8. 3 Ebd., S. 14. 4 Al-Zama¿ÊarÍ, Al-TafsÍr al-KaÊaf; Fa¿r al-RÁzÍ, Al-TafsÍr al-KabÍr, 5 ImÁm þAlÍ, Nahºul-BalÁ™a, Brief 77. 6 Al-QurÔubÍ, TafsÍr 7 Seyyed Ali KamÁli, QÁnÚne-TafsÍr, S. 27, S. 46f. 8 FirÚzÁbÁdÍ, Al-QÁmÚs. 9 ³azzÁlÍ, Al-MustaÈfÁ fÍ þilm al-uÈÚl. 10 Maþrifat, Al-Tam½Íd, Bd. 3, S. 28. 11 Mu½ammad ¼usayn Al-©ahabÍ, Al-TafsÍr wa al-MufassirÚn. 12 Maþrifat, Al-Tam½Íd, Bd. 3, S. 36. 13 S. QÁnÚn-e TafsÍr, a.a.O., S. 314. 2 Al-Fadschr Nr. 125 19