Das Heil des Menschen im Islam

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Aus: Geist und Leben 63, 1991, 293-304, mit Nachtrag
Das Heil des Menschen im Islam
Hans Zirker, Duisburg
Man kann mit gutem Grund sagen: Dem islamischen Glauben ist das
Bedürfnis nach Erlösung im biblischen Sinn fremd; zumindest sind die
Unterschiede zur jüdisch-christlichen Tradition in diesem Punkt beträchtlich - nicht etwa nur aus der distanzierten Sicht eines religionswissenschaftlichen Vergleichs, sondern auch im Verständnis der Muslime
selbst1. Ihr Glaube, ganz auf den barmherzigen Gott angewiesen zu sein,
hat seine besonderen theologischen Voraussetzungen und seine eigen
geprägte Spiritualität.
Der Mensch als Gottes Geschöpf in Niedrigkeit und Würde
Wenn wir in biblischer Tradition von der Erschaffung des Menschen
sprechen, denken wir in erster Linie an die beiden urgeschichtlichen Erzählungen vom Sieben-Tage-Werk und von Adam und Eva. Davon ist
andeutungsweise im Koran auch die Rede, aber Erschaffung des Menschen meint hier vor allem: die Erschaffung jedes einzelnen Menschen
in seiner jeweiligen Herkunft von Zeugung und Geburt, in seinem
Wachstum und Alt-werden: •Er ist es, der euch aus Erde erschaffen hat,
dann aus einem Tropfen, dann aus einem Embryo. Dann läßt er euch als
Kind herauskommen; damit ihr dann eure Vollkraft erreicht; dann
Greise werdet - unter euch sind einige, die er vorher abberuft - und eine
bestimmte Frist erreicht. Vielleicht werdet ihr verständig" (40,67). Von
den zwei Perspektiven der Schöpfung - zum einen am Anfang und zum
anderen im ständigen Prozeß - ist also die zweite im Koran viel kräftiger
betont. In der ersten bricht nur das Wirken Gottes an, das sich danach
ungemindert fortsetzt.
Dementsprechend heißt es im Koran nicht, daß Gott am siebten Tag
•ruhte", nachdem er sein •Werk, das er erschuf, vollendet hatte" (Gen
2,2); er überläßt es nicht der eigenständigen Kraft des Menschen (nach
dem biblischen Auftrag von Gen 1,28: •Seid fruchtbar und vermehrt
euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch...!"), sondern er setzt sich
in Herrschaft, führt aus und teilt zu: •Er ist es, der Himmel und Erde in
1
Vgl. L.-Y. Hava, Some religious aspects of Islam, Leiden 1981, 40-57 (mit Anmerkungen
S. 146-148); A. Th. Khoury, Heilsvorstellungen im Islam. In: Ders./P. Hünermann, Hg.,
Was ist Erlösung? Die. Antwort der Weltreligionen, Freiburg 1955, 91-109.
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sechs Tagen geschaffen und sich dann auf den Thron setzte... Er läßt die
Nacht in den Tag übergehen und den Tag in die Nacht..." (57,4.6).
•Gott hat euch aus dem Leib eurer Mütter hervorgebracht, während ihr
nichts wußtet; und er hat euch Gehör, Augenlicht und Herz gegeben.
Vielleicht seid ihr dankbar. Haben sie nicht auf die Vögel gesehen, die in
der Luft des Himmels dienstbar gemacht wurden? Nur Gott hält sie.
Darin sind Zeichen für Leute, die glauben. Und Gott hat euch aus euren
Häusern eine Ruhestätte gemacht; er hat euch aus den Häuten des Viehs
Behausungen gemacht, die ihr am Tag eures Aufbruchs und am Tag eurer Rast leicht benutzen könnt, und aus ihrer Wolle, ihrem Fell und ihrem Haar Ausstattung und Nutznießung für eine Weile. Und Gott hat
euch aus dem, was er erschuf, Schatten gemacht. Und er hat euch aus
den Bergen Verstecke gemacht; und er hat euch Gewänder gemacht, die
euch vor der Hitze schützen, und Gewänder, die euch vor eurer Gewalt
schützen. So vollendet er seine Gnade an euch. Vielleicht seid ihr ergeben" (16, 78-81). Der Anfang, die Dauerund schließlich sogar das Ende
der Welt mit der Auferstehung der Toten verbinden sich im Vertrauen
auf den einen Schöpfer und Herrn aller Dinge (vgl. 30,17-27). •Er ist jeden Tag mit einer Sache befaßt" (55,29). Schöpfung bedeutet Fortbestand ter Ordnung, die der Mensch selbst nie stiften, aber auch nicht bewahren könnte.
Daß der Koran die Menschen derart nachdrücklich auf die ständige
Wirksamkeit des Schöpfers verweist, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem mahnenden und drohenden Ruf zur Umkehr2. Wer
nicht begreift, daß er bis in das kleinste Moment seines Lebens auf Gott
angewiesen ist, verfällt einer gefährlichen Selbstherrlichkeit, aus der es
nur ein böses Erwachen geben kann. Die Rede von der Schöpfung und
vom Gericht gehören im Koran unauflöslich zusammen.
Die Betonung der Allursächlichkeit Gottes führt häufig dazu, daß
man dem Islam irrtümlich einen religiösen Fatalismus zuschreibt. Doch
spricht der Koran den Menschen intensiv auf seine eigene Verantwortlichkeit hin an. Wer sich darauf hinausreden möchte, daß sich das eigene Bemühen erübrigte, da alles ohnehin schon unausweichlich festgelegt wäre, könnte sich nicht auf ihn berufen. Die Spannung von göttlicher Macht und Bestimmung einerseits und menschlicher Freiheit andererseits ist im Islam prinzipiell nicht anders als in jüdisch-christlicher
Tradition.
Weil Gott ständig alles erhält und bewirkt, gibt es für den Islam im eigentlichen Sinn auch keine in sich selbst bestehenden •Naturgesetze";
'• Vgl. T. Nagel, Der Koran. Einführung - Texte - Erläuterungen, München 1983, 175.
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sie sind nur •Gewohnheiten Gottes", von denen er jederzeit auch abgehen kann. Deshalb kennt der Islam nicht die im christlichen Mittelalter
formulierte philosophisch-theologische Lehre, daß die Welt ein System
relativ eigenständiger •Zweitursachen" sei. Ununterbrochen und unmittelbar erfährt der Mensch die Abhängigkeit von Gott. Wohl läßt sich
dies auch christlich sagen, aber nicht mit derselben Radikalität im Blick
auf jedes Ereignis in seiner Besonderheit.
Ob Adam erschaffen wurde oder heute ein Kind entsteht - es ist im
Blick auf Gott kein prinzipieller Unterschied - im einen wie im anderen
Fall eine Neuschöpfung aus dem Willen und der Macht Gottes, demgegenüber die biologischen Zusammenhänge, an denen Menschen beteiligt sind - die Eltern zeugen das Kind - bedeutungslos werden. Deshalb
fügt sich nach muslimischer Sicht auch die Mitteilung des Koran, daß
Jesus ohne Mitwirkung eines Vaters empfangen worden sei, bruchlos in
den Schöpfungsglauben ein: •Jesus ist vor Gott gleich wie Adam. Den
erschuf er aus Erde; dann sagte er zu ihm: ,Sei!', da war er" (3,59).
Da die Welt ständig von Gott erschaffen und erhalten wird, ist sie von
Gott her auch durchweg gut. Wo sie uns dunkel und gestört vorkommt,
liegt es nicht etwa daran, daß wir Menschen sie in einer schuldvollen
Geschichte von Anfang an verdorben hätten - es gibt für den Islam
keine •Erbsünde" -; der Grund ist allein, daß wir Gottes Absichten
nicht durchschauen können. Nicht die Welt steht irgendwie in Frage,
sondern nur das Selbstverständnis und Handeln der Menschen; ob wir
uns ganz als von Gott Geschaffene, von ihm Abhängige, auf ihn Angewiesene, zur Dankbarkeit ihm gegenüber Aufgerufene begreifen.
Deshalb erkennt der Koran selbst dort, wo die Bibel einen deutlichen
Ausdruck menschlicher Verwirrung, eine Folge radikaler Störung sieht:
in der Vielheit der Sprachen, ein rühmenswertes Werk Gottes: •die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben; darin sind Zeichen für die
Wissenden" (30,22); die Vielfalt soll auch hier als ein Moment am
Reichtum der Welt genommen werden, nicht als eine Trennung der
Menschheit in Rassen, Nationalismen, Sprachen usw.
Ein besonders herausgehobenes Moment an der Geschöpflichkeit des
Menschen ist, daß Gott ihn auf Gemeinschaft hin ausrichtete: •Zu seinen Zeichen gehört es, daß er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnt [oder: ruht]. Er hat bewirkt, daß ihr
einander in Liebe und Güte zugetan seid. Darin liegen Zeichen für
Leute, die nachdenken" (30,21). Hier zeigt sich, wie die Überschrift dieses Kapitels •Der Mensch in Niedrigkeit und Würde" nicht in zwei getrennten Teilen ausgeführt werden kann: Es ist der •Klumpen Blut", das
•Stück Ton", das zur Liebe hin geschaffen wird.
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Dabei gehört es aber nicht zum islamischen Verständnis des Menschen, daß er •nach dem Bild und Gleichnis Gottes" geschaffen sei. Das
Wort •Gottebenbildlichkeit"•mit in den Gefühlen der Muslime eine Auflehnung hervor. Denn Gott ähnelt, wie der Koran lehrt, in keiner Weise
der Kreatur"3. Als Schöpfer und Herr steht er der Welt und allen Menschen in ihr als der ganz Andere in völliger Überlegenheit gegenüber.
Das Prädikat, das dem Menschen in erster Linie zukommt und sein
Selbstverständnis auszeichnen soll, heißt: •Diener (oder Knecht, gar
Sklave) Gottes"; der Mensch •ist nur geschaffen, um Gott zu dienen"
(51,56). Freilich ist er damit zugleich auch gegenüber allen anderen
Mächten, die ihn beherrschen wollen, grundsätzlich freigesetzt. Auch
hier zeigt sich, daß Niedrigkeit und Würde zwei untrennbare Seiten der
einen menschlichen Existenz sind. Die radikale Unterordnung unter
Gott gewährt der Welt gegenüber Freiheit und Verfügungsgewalt.
Diese Stellung des Menschen kommt vor allem dort in den Blick, wo
er als •Stellvertreter" bezeichnet wird - in der Sprache des Koran als
•halifa"; das uns vertraute Wort •Kalif" meint also nicht von vornherein das herrschaftliche Amt an der Spitze der muslimischen Gemeinschaft, sondern zunächst eine auszeichnende Stellung aller gläubigen
Menschen in dieser Welt. Freilich sind die entsprechenden Stellen des
Koran in ihrem Sinn nicht eindeutig. Man könnte auch übersetzen, daß
der Mensch •Nachfolger"sei; aber es ist dann nicht gesagt, wem er nachfolge; möglicherweise spricht Sure 2,30 die Menschen als •Nachfolger"
der Engel an4; jedenfalls erfahren diese den Menschen als (unangemessene) Konkurrenz5. Aber der Bedeutungsraum dieses arabischen Wortes
wird schließlich weiter gefaßt: •Da... oft davon die Rede ist, daß die
Schöpfung den Menschen zur Nutzung zur Verfügung steht, lag es nahe,
die Nachfolgeschaft zu einer Stellvertreterschaft umzudeuten; der
Mensch, der gemäß göttlichem Gesetz in die Schöpfung eingreift, wird
zu einem Stellvertreter Gottes."6 Nachfolgeschaft/Stellvertretung •ist
für den Muslim der Inbegriff der Rolle der Menschen im Diesseits...
von Gott mit der Stellvertreterschaft über die übrigen Geschöpfe im
3
S. Balic, Das islamische Verständnis von Judentum und Christentum. In: Martin Stöhr,
Hg., Abrahams Kinder. Juden - Christen - Moslems, Frankfurt 1983, 46-61, hier 55.
4
An einigen Stellen kann man auch einfach annehmen, daß die Menschen als •Nachfolger" der vorausgehenden Generationen angesprochen werden. Doch schon wenn im Koran Gott zu David sagt: •David, wir haben dich als halifa auf der Erde eingesetzt" (38,26)
ist es fraglich, ob man mit R. Paret, Der Koran, Stuttgart 1979, zur Stelle nur lesen soll:
•Nachfolger (früherer Herrscher)"; was besagt das mehr als eine Banalität?
5
Vgl. T. Nagel, Der Koran (s. Anm. 2) 239; R. Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 21981, 16.
6
T. Nagel, Der Koran (s. Anm. 2) 240.
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7
Diesseits betraut" . Gott •lehrte Adam alle Namen" (2,31): damit gab er
ihm eine herausragende Verfügungsgewalt: die Engel nämlich sind in
dieser Szene gerade nicht in der Lage, den Dingen ihre Namen zu nennen. Die Menschen sind ihnen also in der •Nachfolgeschaft" überlegen:
•Einst sagten wir zu den Engeln: ,Werft euch vor Adam nieder!' Da warfen sie sich nieder, bis auf Iblis, der sich weigerte und anmaßend war. Er
gehörte ja zu den Ungläubigen." (V. 34 - ein bezeichnender Begriff von
•Unglaube"!). Die zugesprochene Überlegenheit schließt freilich Verantwortung ein: •Der Mensch ist nicht Eigentümer der Welt, die er seinen Zwecken unterwirt, er ist von Gott lediglich als ein Nachfolger eingesetzt worden"8. In diesem Sinn werden die Gläubigen in Sure 57,7
aufgefordert: •Glaubt an Gott und seinen Gesandten, und spendet von
dem, worüber er euch als Nachfolger eingesetzt hat."
Diese Spannbreite der Stellung des Menschen von Gottes Geschöpf
aus Erde zu Gottes Statthalter über die Erde ist in der Sicht des Koran
von der Schöpfung an grundgelegt, nie aufgehoben und grundsätzlich
nie zu überbieten.
Die Verfehlungen des Menschen und die Barmherzigkeit Gottes
Die radikale Abhängigkeit des Menschen von Gott zeigt sich in besonderem Maß angesichts der Gefährdungen zum Bösen. Zunächst sagt der
Koran allgemein: •Der Mensch ist schwach erschaffen" (4,28). Dies ergibt sich aus seiner Geschöpflichkeit. Darüber hinaus heißt es: •Der
Mensch ist aus Eile erschaffen worden" (21,37); er kann nicht mit Gelassenheit warten, sondern will hastig haben, was ihm möglich scheint.
Und schließlich gilt im Islam das, was Joseph in Ägypten als Einsicht
gewinnt: •Die Seele gebietet mit Nachdruck das Böse; es sei denn, mein
Herr erbarmt sich" (12,53). Die Anfälligkeit zur Sünde ist von Anfang
an mit dem Wesen des Menschen gegeben. Nach einer Überlieferung
sagte Mohammed: •Kein Nachkomme Adams wird geboren, ohne daß
der Satan ihn im Augenblick seiner Geburt berührt; derart, daß der erste
Schrei, den er hören läßt, ein Schrei unter der Berührung Satans ist nur nicht Maria und ihr Sohn, die eine Ausnahme von der Regel sind."9
Dies hört sich an, als ob wir doch auch im Islam die christliche Lehre
der Erbsünde von Adam her fänden, bis hin zur Erlösung aus diesem
7
Ebd. 240.
Ebd. 232.
Vgl. G. C. Anawati, L'Islam ä l'heure du Concile. In: Angelicum 41, 1964, 145-168, hier
153, zit. Bukhan, Nr. 44; Muslim.
8
9
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Schuldzusammenhang durch Jesus - auf besondere Weise repräsentiert
in der Sündenfreiheit Marias. Daß dies nicht so ist, erkennen wir, wenn
wir beachten, wie unterschiedlich der Koran die Konsequenzen des ersten Sündenfalls im Paradies sieht: In Sure 20,121 f heißt es im Anschluß
an den Ungehorsam der ersten Menschen im Paradies: •Adam war gegen seinen Herrn widerspenstig; so irrte er ab. Dann erwählte ihn sein
Herr, er wandte sich ihm zu und leitete recht." Zwar wird auch hier angekündigt: •Geht aus ihm [dem Paradies] hinunter! Die einen von euch
sind den anderen feind"; aber es heißt dann sofort wieder im Blick auf
alle Menschen je für sich: •Wenn dann von mir eine Rechtleitung zu
euch kommt - wer dann meiner Rechtleitung folgt, wird nicht irregehen
und nicht unglücklich sein. Wer sich aber von meiner Ermahnung abwendet, wird ein beengtes Leben führen. Am Tag der Auferstehung versammeln wir ihn blind" (123 f)- Ähnlich lesen wir in Sure 2: •Da ließ sie
Satan beide aus ihm [dem Garten] fallen und schaffte sie hinaus von
dort, wo sie waren. Und wir [d.h. Gott] sagten: ,Geht hinunter! Die einen von euch sind Feinde der anderen. Ihr habt auf der Erde Aufenthalt
und Nutznießung für eine Weile.' Da nahm Adam von seinem Herrn
Worte entgegen; so wandte er sich ihm gnädig zu. Er ist der, der sich
gnädig zuwendet, der Barmherzige" (2,36f)- Das Verhältnis zu Gott ist
also nur kurz gestört: Gott wendet sich Adam zu, und dieser greift seine
Worte auf. Hier ist vor allem die Individualität von Schuld und Verantwortung im Blick, kein Ursprung menschlicher Schuldverfallenheit; hier
beginnt nicht eine Unheilsgeschichte, die von einer Erlösungsgeschichte
überboten werden müßte; hier ist nur das geschehen, was zwischen Gott
und Menschen immer wieder geschieht; also nicht •peccatum originale"
- nicht Urschuld, die über sich hinaus das Unheil zeugt, nicht •Erbsünde" -, sondern Vergehen und Vergebung in typischer Weise, im Urbild.
Dementsprechend ist die häufigste Bezeichnung Gottes im Koran •der
Barmherzige"10. (Beiläufig sei auch angemerkt, daß hier beide, Adam
und seine Frau, gleichursprünglich gesündigt haben; daß nicht wie in der
Bibel Adam von Eva verführt wird; daß auch nicht Adam, der Mann, als
erster haftbar gemacht wird, sondern beide ohne Reihen- und Rangfolge)
Für den Begriff •Heilsgeschichte", der in christlicher Theologie eine
wichtige Rolle spielt, ist hier zunächst kein Platz. Dieser Begriff stammt
zwar nicht aus der Sprache der Bibel, verweist aber darauf, daß in dieser
die Hinwendung Gottes zu den Menschen und deren Weg mit ihm nicht
10
Vgl. Abdoljavad Falaturi, Der Islam - Religion der Rahma, der Barmherzigkeit. In: Ders.
u.a., Hg., Universale Vaterschaft Gottes, Begegnung der Religionen, Freiburg 1987 S
67-87.
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für alle Zeiten gleichförmig gedacht werden, sondern - im Bild gesprochen - wie der Verlauf eines Gesprächs, in dem man einander näherkommt, das aber auch von Mißverständnissen, Verständnislosigkeit, gar
Streit gestört sein kann; das - wenn es dann wieder aufgenommen wird
- nicht einfach dort einsetzt, wo es unterbrochen wurde, oder gar von
seinem ursprünglichen Anfang an neu beginnt, sondern die bisherigen
Erfahrungen mitverarbeitet, Entfremdungen überwindet, daraus neue
Bereicherungen erfährt usw. Hier können Vergangenheiten verabschiedet, zukünftige Verhältnisse, die noch ausstehen, verheißen werden, hier
werden Erfahrungen in Aussicht gestellt, die bislang noch keiner machen konnte. Hier werden neue Wege entworfen, wird neues Verständnis eröffnet, wird zu neuem Handeln befähigt. All dies entspricht nicht
dem Glaubensverständnis des Islam; in seiner Sicht ruft Gott vielmehr
immer wieder einfach zu dem zurück, was von Anfang an war.
Nach dem Koran kann man deshalb auch nicht mit dem Römerbrief
sagen: •Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt"
(5,12) - die Macht des Bösen im Singular, die sich in den unzähligen
späteren Sünden auswirkt; es gibt hier vielmehr nur die immer wieder
neu und doch gleichartig begangenen Vergehen; immer wieder gibt es
die strafende Konsequenz, aber auch das barmherzig vergebende Wort
Gottes. Was von den ersten Menschen erzählt wird, hat keine Wirkungsgeschichte, sondern nur eine herausragende Bedeutung als Exempel. Jeder steht immer wieder in der Verantwortung und hat das Entscheidungsvermögen wie am Anfang der Menschheitsgeschichte. Hier gibt es
keinen prinzipiellen Wandel zum Schlimmen oder Guten.
In einer Hinsicht jedoch überschreitet auch der Islam diese individuelle und gleichartig immer wiederkehrende Wahrnehmung von Schuld
und Verantwortung; denn Gott hat die Menschheit nach dem Koran am
Anfang anders angelegt, als sie sich schließlich selbst realisierte; immer
wieder betont er mit Nachdruck: •Die Menschen waren eine einzige Gemeinschaft..." (2,213). •Die Menschen waren nur eine einzige Gemeinschaft. Dann wurden sie uneins..." (10,19). Dieser Zustand, der bis zur
Gegenwart nicht überwunden ist, verweist auf die soziale Dimension
menschlicher Schuld. Dementsprechend ist dann auch Gottes Vergebung
darauf gerichtet, solche Zerrüttung zu überwinden. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Berufung Abrahams; hier geht es nicht um ihn
und seine nähere Umgebung allein, bittet er doch gerade Gott: •Herr,
mache uns beide [Abraham und Ismael] dir ergeben und aus unserer
Nachkommenschaft eine Gemeinschaft, die dir ergeben ist!" (2,128)
und: •Gib mir einen guten Ruf bei den Späteren!" (26,84) - nicht zur
bloßen Ehre Abrahams selbst, sondern zum Zeichen dafür, daß es in der
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Folge dieses Gerechten eine gottgefällige Gemeinschaft gibt. Und im
Blick auf das Bekenntnis Abrahams, Gott werde ihn recht leiten, heißt
es: •Er [Gott] machte es zu einem bleibenden Wort unter denen, die
nach ihm kamen, damit sie vielleicht umkehren" (43,28). In christlichtheologischer Sprechweise kann man dies - daß Gott durch die Erwählung Abrahams und durch seinen Glauben ein •bleibendes Wort" stiftet
- als ein entscheidendes Stück •Heilsgeschichte" und •Erlösung" ansehen, auch wenn diese Begriffe in islamischer Theologie so nicht vorkommen.
Zwar werden die Propheten zunächst immer wieder nur für einzelne
Stämme und Völker berufen, damit sie durch ihre Warnung und Weisung aus dem drohenden Unheil herausführen; aber letztlich bezieht
sich Gottes •Rechtleitung" doch auf die Menschheit als ganze. Er stiftet
mit der Verkündigung des Koran durch Mohammed eine Glaubensgemeinschaft mit universaler Verantwortung: •So haben wir euch zu einer
in der Mitte stehenden Gemeinschaft gemacht, auf daß ihr Zeugen seid
über die Menschen und daß der Gesandte Zeuge sei über euch" (2,143).
•Aus euch wird eine Gemeinschaft entstehen: Sie rufen zum Guten auf,
gebieten das Rechte und verbieten das Verwerfliche" (3,104). •Ihr Menschen, zu euch ist eine Ermahnung von eurem Herrn gekommen und
eine Heilung für das, was in eurem Inneren ist, Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Gläubigen" (10,57). Was durch Mohammed vermittelt
wird, ist •eine Ermahnung für die Menschen aller Welt" (6,90); er ist gesandt •für die Menschen allesamt" (34,28).
Dabei richtet sich Gottes Absicht auf eine gelungene Gemeinschaft
der Menschen, in der •die gläubigen Männer und Frauen untereinander
Freunde werden" (9,71). Es geht also nicht in erster Linie darum, daß
die Menschen eine •Gottesferne" überwinden, sondern die Zwietracht
und Zerklüftung der Menschheit aufgehoben werde. Dementsprechend
mahnt der Koran: •Haltet euch zusammen fest am Seil Gottes, und zerteilt euch nicht! Gedenkt der Gnade, die Gott euch erwies, als ihr
Feinde wart und er eure Herzen in Freundschaft miteinander verband,
so daß ihr in seiner Gnade Brüder wurdet!" (3,103). Von dieser Gemeinschaft, wie Gott sie will, heißt es schließlich aber auch, daß sich in ihr
die Menschen finden, •die er liebt und die ihn lieben" (5,54).
Freilich ist in diesem Glauben an Gottes Heilswirken im entscheidenden Unterschied zum christlichen Erlösungsglauben für zwei Momente
kein Ansatz: Erstens fehlt völlig der Gedanke, daß jemand •stellvertretend" für andere eintrete; daß durch sein Leben die Geschichte der
Menschheit neu qualifiziert werde; vielmehr ist hier jeder gleichermaßen als einzelner mit dem Aufruf Gottes konfrontiert: •Dies ist mein
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Weg; er ist gerade. Folgt ihm!" (6,153). Es steht nichts anderes an als
die persönliche Entscheidung aller Menschen. Deshalb kann auch zweitens - dem Leiden keine heilsstiftende Kraft zukommen. Als einen
Grundsatz, der gegen die christliche Erlösungstheologie spricht, kann
man in islamischer Literatur die Aussage des Koran zitiert finden: •Keiner wird die Last eines anderen tragen" (6,164)". Nach allgemeinem
muslimischen Verständnis starb Jesus nicht am Kreuz, sondern wurde
von Gott dem Zugriff derer, die ihn töten wollten, entzogen: Die Juden
•sagten: ,Wir haben den Christus Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet' - sie haben ihn aber nicht getötet, und sie haben ihn
nicht gekreuzigt, sondern er wurde ihnen so ähnlich gemacht12. Die über
ihn uneins sind, sind im Zweifel über ihn. Sie haben kein Wissen über
ihn; sie folgen nur Vermutungen. Sie haben ihn nicht mit Gewißheit getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise"
(4,157f). Wohl werden im Islam - und in besonderem Maß in der Schia
die Glaubenszeugen gepriesen, die um Gottes willen ihr Leben verlieren; aber dies ist ihr Einsatz, der ihnen jeweils - prinzipiell wie ihre anderen guten Taten - von Gott belohnt wird.
Doch trotz dieser zwei Einschränkungen bleibt der gelegentliche Einwand, daß dem Islam mit der Leugnung des Kreuzestodes Jesu die
•Möglichkeit einer wahren Erlösung" verstellt sei, zu oberflächlich13.
Entscheidend ist, daß nach dem Glauben der Muslime die Menschen
ganz auf das entgegenkommende, rettende Handeln Gottes angewiesen
sind.
Die Hoffnung auf die Gärten des Paradieses
Der Islam hält wie keine andere Religion die entschlossene Zuwendung
zum Diesseits - im sinnenfrohen Genuß seiner Güter wie in der Gestaltung seiner Verhältnisse bis hin zu den politischen Strukturen - mit einer radikalen Jenseitsorientierung zusammen. Deshalb kann dem Gläubigen auch beides vorbehaltlos zugesprochen werden: •So gab ihnen
Gott den Lohn des Diesseits und den schönen Lohn des Jenseits. Gott
11
Ausdrücklich gegen den christlichen Erlösungsglauben zitiert diesen Vers z.B. M. Gazäli, humüm dä'iya, Kairo 21405 (1985), 89.
12
Man könnte auch übersetzen: •Es wurde ihnen einer [ein anderer] so ähnlich gemacht."
13
Vgl. G. Jaeschke, Sucht ein Muslim nach Erlösung, und wo findet er sie? In: ZMR 41,
1957, 294-301, hier 295: •Mit der Leugnung des Kreuzestodes Jesu bzw. seiner doketischen Umdeutung beraubt Muhammed seine Gemeinde der Möglichkeit einer wahren Erlösung."
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liebt die Rechtschaffenen" (3,148). Ein Gegensatz zwischen beidem tut
sich nur für den auf, der nicht sieht, daß das diesseitige Leben befristet
ist, und der deshalb sein Herz ganz an das hängt, was er jetzt hat. Dieser
Gefahr gegenüber warnt der Koran: •Mein Volk, dieses irdische Leben
ist nur Nutznießung! Das Jenseits aber ist die Wohnstätte zum Bleiben"
(40,39). •Wißt, daß das diesseitige Leben nur Spiel und Zerstreuung ist,
Schmuck und Prahlerei unter euch und Sucht nach mehr Vermögen und
Kindern. Es ist wie mit reichlichem Regen, dessen Pflanzenwuchs den
Ungläubigen gefällt. Dann aber verdorrt er, und du siehst, wie er gelb
wird. Dann wird alles zu brüchigem Zeug. Im Jenseits gibt's eine heftige
Strafe, aber auch Vergebung von Gott und Wohlgefallen. Das dieseitige
Leben ist nur betörende Nutznießung" (57,20).
Was den Menschen in den Gärten des Paradieses erwartet, kann der
Koran in bunter Szenerie malen, aber auch mit dem schlichten Wort
vorstellen, mit dem der Gläubige einst begrüßt werden soll: •Du beruhigte Seele, kehre zu deinem Herrn zufrieden und beruhigt zurück! Tritt
ein in die Reihen meiner Diener, tritt ein in meinen Garten!" (89, 27-30)
Doch muß man auch hier wieder von vornherein einen erheblichen Unterschied zur eschatologischen Hoffnung in biblischer Tradition festhalten, wenn man nicht einem Mißverständnis verfallen will: Diese •Rückkehr zu Gott besagt nicht, daß der Mensch in die •Gemeinschaft mit
Gott" eingehe; einen solchen Gedanken faßt allenfalls die islamische
Mystik14. Im Sinn des Koran ist den Menschen nach ihrem Tod jedoch
nur die Begegnung mit ihrem Herrn bei Auferstehung und Gericht verheißen, darüber hinaus die dauernde, unzerstörbare und ungetrübte Gemeinschaft der Glaubenden - Gott •nahe gebracht" (z.B. 56,11). Nach
einem überlieferten Wort sagte Mohammed zu dieser Nähe und Distanz
Gottes: •Er schaut zu ihnen, und sie schauen zu ihm. Und sie kümmern
sich um nichts mehr von der Wonne, solange sie zu ihm schauen, bis er
ihnen verhüllt wird. Jedoch verweilen sein Licht und sein Segen über ihnen in ihren Behausungen."15
So sind also die paradiesischen Gärten des Koran nicht der Ort Gottes selbst, sondern der der Menschen; sie sind nicht •der Himmel", sondern das erhöhte, ideale Diesseits! Wie weit man die Schilderungen, die
der Koran entwirft, als offene •Bilder" verstehen dürfe oder als unmit14
A. Schimmel, Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers,
Köln 1984, bes. 152-169. Das Gebet: 171-201: Die läuternde Flamme der Liebe; darüber
hinaus umfassend: dies., Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus,
Köln 1985; T. Andrae, Islamische Mystiker, Stuttgart 21980.
15
Ein Hadith aus der Sammlung des Muslim, zitiert in: So sprach der Prophet. Worte aus
der islamischen Überlieferung. Ausgew. und übers, von A. Th. Khoury, Gütersloh 1988,
110.
Islam
303
telbare •Abbilder" lesen müsse, wird innerhalb der muslimischen theologischen Traditionen unterschiedlich beantwortet. In ihrer Sinnenfreudigkeit heben sie sich jedenfalls von vergleichbaren biblischen Texten
deutlich ab. •Da bewahrt sie Gott vor dem Unheil jenes Tages und läßt
sie strahlendes Glück und Freude finden, und er vergilt ihnen dafür, daß
sie geduldig waren, mit einem Garten und mit Seide. Sie liegen in ihm
auf Ruhebetten, und sie sehen in ihm weder Sonne noch bittere Kälte.
Seine Schatten sind niedrig über ihnen, und seine Früchte hängen ihnen
herunter. Man macht bei ihnen die Runde mit Gefäßen aus Silber und
Humpen, die Gläser sind, Gläser aus Silber, die sie nach Maß bemessen.
Ein Becher wird ihnen darin zu trinken gegeben, dem Ingwer beigemischt ist, aus einer Quelle, die Salsabil genannt wird. Bei ihnen machen
ewig junge Knaben die Runde. Wenn du sie siehst, hältst du sie für ausgestreute Perlen. Wenn du dort hinschaust, siehst du Wonne und ein
großes Königreich. Sie haben grüne Gewänder aus Seide an und Brokat,
und sie sind mit Armreifen aus Silber geschmückt. Ihr Herr gibt ihnen
ein reines Getränk zu trinken. Das ist die Vergeltung für euch; euch
wird für euer Mühen gedankt" (76,11-22). •Die von der rechten Seite
[bei der Aufteilung der Menschen im Gericht] - was sind die von der
rechten Seite?... Das sind die, die [Gott] nahe gebracht werden, in den
Gärten der Wonne... Auf durchwobenen Betten liegen sie einander gegenüber. Unter ihnen machen ewig junge Knaben die Runde mit Humpen, Krügen und einem Becher aus einem Quell, von dem sie weder
Kopfweh bekommen noch sich berauschen, und mit Früchten von dem,
was sie sich auswählen, und Fleisch von Geflügel wonach sie begehren.
Und Huris [die Mädchen des Paradieses] mit großen Augen, gleich
wohlverwahrten Perlen - als Lohn für das, was sie taten. Sie hören darin
kein Geschwätz und keine Sündhaftigkeit, sondern nur das Wort:
,Friede! Friede!' ... Sie sind unter Zyziphusbäumen ohne Dornen und
Bananen mit übereinandergeschichteten Früchten und langgestrecktem
Schatten, an Wasser, das sich ergießt, mit vielen Früchten, die weder abgehauen noch verwehrt sind, und auf erhöhten Polstern. Wir haben sie
[die Huris] eigens entstehen lassen und sie zu Jungfrauen gemacht, liebevoll und gleichaltrig, für die von der rechten Seite" (56, 8-38).
Um eine unter Christen weit verbreitete falsche Vorstellung abzuwehren, sei besonders betont, daß diese paradiesischen Gärten selbstverständlich nicht nur den Männern verheißen sind - selbst wenn die Schilderungen manchmal der Männerphantasie entsprungen zu sein scheinen-; prinzipiell gilt: •Die etwas von den rechten Werken tun, ob
Mann oder Frau, und dabei gläubig sind, werden in den Garten eingehen, und ihnen wird nicht ein Dattelgrübchen Unrecht getan" (4,124).
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•Die Leute des Gartens sind heute beschäftigt und heiter. Sie und ihre
Gattinnen liegen im Schatten auf Ruhebetten. Sie haben darin Früchte
und was sie sich wünschen. ,Friede!' als Anrede von einem barmherzigen Herrn" (36, 55-58). •Gott hat den gläubigen Männern und den gläubigen Frauen Gärten versprochen, unter denen Bäche fließen und in denen sie ewig weilen werden, und gute Wohnungen in den Gärten von
Eden. Aber Wohlgefallen von Gott ist mehr. Das ist der gewaltige Erfolg" (9,72).
Mit dem letzten Zitat ist zugleich noch einmal die theologisch angemessene Perspektive betont: Es geht bei all dem in erster Linie um die
Bejahung der Gläubigen durch Gott; das Leben in den Gärten ist seine
Anerkennung dafür, daß das irdische Leben rechtgeleitet und also gut
war.
Deshalb bleibt •das jenseitige Haus" (6,32) auch kein äußerlicher
Lohn, sondern läßt die Menschen in sich selbst aufatmen und zueinander freiwerden: •Wir nehmen weg, was in ihrem Inneren an Groll ist, so
daß sie Brüder sind - auf Ruhekissen einander gegenüber" (15,47). Das
ganze Leben überschauend können die Gläubigen letztlich dankbar sagen: •Lob sei Gott, der uns hierher geleitet hat! Wir wären unmöglich
rechtgeleitet worden, hätte uns Gott nicht rechtgeleitet. Die Gesandten
unseres Herrn sind wirklich mit der Wahrheit gekommen" (7,43).
Aber selbst bei der Frage danach, worin schließlich das menschliche
Leben zu seiner Erfüllung gelange, kann der Koran Diesseits und Jenseits zusammensehen, denn für beide gilt das Wort: •Im Gedenken Gottes findet das Herz Ruhe" (13,28).
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Nachtrag
In zweierlei Hinsicht seien die Ausführungen korrigierend ergänzt:
1. Dass der Mensch mit dem Begriff „ḫalīfa“ als Gottes „Stellvertreter“ bezeichnet wird (296 f), entspricht zwar der islamischen Tradition, doch nur unter
Vorbehalt auch schon der Sprache des Koran. Hier ist der Begriff in erster
Linie mit der Vorstellung verbunden, dass Spätere die Verfügungsmacht einnehmen, die zuvor andere innehatten, denen sie aber genommen wurde. Deshalb liegt es nahe, von „Stellvertretern“ oder besser „Statthaltern“ nur dort zu
sprechen, wo „ḫalīfa“ absolut gebraucht wird, somit nicht zu erkennen gibt,
auf wen sich die Nachfolge bezieht und worin sie besteht; wo also der bloße
Begriff „Nachfolger“ zu dürftig wäre (im Koran außer in 2,30 z. B. auch in 35,39;
38,26). Demgegenüber wird etwa in 10,14.73 die zeitliche und implizit funktionale Beziehung zu denen, die vorausgehen, mitgenannt, so dass deutlich von
„Nachfolgern“ die Rede ist. Vgl. meine Studie „Der Koran. Zugänge und Lesarten“, Darmstadt 22012, unter dem Registerstichwort „ḫalīfa (‚Statthalter‘, ‚Nachfolger‘)“.
2. Die Feststellung, dem Islam sei der Gedanke, dass jemand vor Gott „‚stellvertretend‘ für andere eintrete“ völlig fremd (300), darf nicht übersehen lassen,
welche Bedeutung in der islamischen Frömmigkeit der Fürbitte, besonders der
Mohammeds, zukommt (vgl. Annemarie Schimmel, Und Mohammed ist sein
Prophet. Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit, Köln
1981, 60–68; Hermann Stieglecker, Die Glaubenslehren des Islam, Paderborn
2
1983, 678–683). Selbst am Jüngsten Tag noch wird des Propheten Ruf „yā
ummatī, yā ummatī“ – „Meine Gemeinde, meine Gemeine!“ denen, die sich zu
ihm bekennen, zum Heil gereichen.
25.09.2011
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